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Frank Allan war während der Haussuchung, nachdem er festgestellt, daß das junge Mädchen nicht daheim war, die Treppe hinuntergegangen. Er war ja keine Polizeiperson, konnte sich also bewegen, wie er wollte, und unterstand nicht dem Kommando des Kommissars.
Nun wartete er vor der Tür und spähte die Straße hinab.
Er brauchte nicht einmal lange zu warten, schon kam eine junge Gestalt langsam in die Straße im Schatten. Rasch trat der Detektiv an sie heran.
»Fräulein Grete Weber?«
Sie zuckte zusammen.
»Was wollen Sie von mir?«
»Frank Allan, Detektiv. Hier ist meine Legitimation. Ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften.«
Das junge Mädchen schrie leise auf.
»Seien Sie ruhig, es braucht nicht jeder zu wissen. Kommen Sie schnell!« verlangte der Detektiv.
Willenlos, an allen Gliedern zitternd, mit bebenden Knien schritt Grete neben dem Amerikaner, der sie zu raschem Gehen zwang, ihre Hand nicht losließ und in der Alexanderstraße ein Auto heranwinkte.
»Steigen Sie ein!«
Leise weinend saß Grete in der Ecke des Wagens. Der Amerikaner sprach während der Fahrt kein Wort, aber das junge Mädchen war riesig verwundert, als es – ein großes Hotel war, in das der Detektiv sie führte, nicht das Gefängnis.
Im Hotel schien jeder den Detektiv zu kennen. Sie fuhren im Lift in eine der oberen Etagen, dann stand Grete in einem Hotelzimmer.
»Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?«
Grenzenlose Angst lag in ihrem Gesicht.
»Ich bin der Detektiv Frank Allan; jetzt werden Sie meine Legitimation besser lesen können.«
Grete vermochte noch immer nicht zu verstehen.
»Setzen Sie sich, und beruhigen Sie sich.«
Sein Ton war sehr ernst, aber fast väterlich.
»Ihre Mutter und Ihr Stiefvater sind verhaftet und werden wohl auf lange Zeit nicht mehr das Gefängnis verlassen. Wenn Sie in diesem Augenblicke nicht auch im Polizeipräsidium, sondern hier sitzen, verdanken Sie das mir und Mister Weppler.«
»Was wissen Sie von Mister Weppler?«
»Hören Sie mich an. Ich bin Privatdetektiv. Wissen Sie, was Detektiv heißt? Es würde auf deutsch etwa ›Aufklärer‹ heißen. Ich bin also ein Mann der aufklärt, Rätsel löst und allerdings auch Schuldige der Bestrafung zuführt. Ich bin aber kein Beamter, der nach den Buchstaben des Gesetzes einfach seine Pflicht tun muß. Ich bin ein Mensch!
Ich weiß alles. Weiß, zu welchem schmählichen Handwerk Sie benutzt wurden. Weiß von dem Pelzdiebstahl in der Oper, von Ihren Lockvogeldiensten im Zigeunerkeller, bin auch davon unterrichtet, daß dies sicher nur ein paar Stichproben sind. Nun erzählen Sie mir alles. Sagen Sie mir ganz offen die Wahrheit, und seien Sie überzeugt, daß ich es gut mit Ihnen meine.«
Ganz langsam hatte Grete den Kopf gehoben. Es war etwas in der Stimme dieses Mannes, das ihr Vertrauen einflößte.
Es wurde ein langes, ein sehr langes Gespräch, das Frank Allan im Hotelzimmer mit Grete Weber hatte, und – er lieferte sie nicht im Polizeipräsidium ein!
Dafür aber hatte er ganz spät in der Nacht noch eine lange Unterredung mit dem Amerikaner Bob Weppler, während Grete allerdings im Zimmer des Detektivs eingeschlossen war und wieder in Tränen zerfloß.
Endlich öffnete sich die Tür – das junge Mädchen hatte mehr als zwei Stunden gewartet – und diesmal war der Detektiv nicht allein.
Eine Frau in mittlerem Alter in der Tracht einer Fürsorgeschwester begleitete ihn.
»Dies ist das junge Mädchen.«
Erstaunt sah Grete in ein sanftes, gutes Gesicht, hörte eine freundliche Stimme:
»Kommen Sie, mein Kind, es wird sich alles zum Guten wenden.«
Frank Allan stand ernst vor ihr.
»Nun beweisen Sie durch Ihr ganzes künftiges Leben, daß ich und auch Herr Weppler, dem Sie viel verdanken, uns nicht in Ihnen getäuscht haben.«
Wie im Traume, immer noch nicht begreifend, schwankend zwischen den widerstrebendsten Gefühlen, verließ Grete Weber an der Seite der Fürsorgeschwester das Hotel. Sie zuckte zusammen, als sie einen Polizeibeamten davor stehen sah, aber der Mann kümmerte sich gar nicht um sie und ließ sie vorüber. – –
Frank Allan saß im Polizeipräsidium dem Kriminalrat gegenüber, der allerdings diesmal durchaus kein so freundschaftliches Gesicht als sonst machte und sogar sehr förmlich war.
»Mister Allan, es ist mir da eine höchst merkwürdige Geschichte zu Ohren gekommen.«
»Hoffentlich kein neuer Fall.«
»Es ist durchaus kein Scherz. Sie erinnern sich an die Verhaftung des gefährlichen Taschendiebes Karl Weber und seiner Mutter, bei der wir ein ganzes Warenlager an Hehlergut fanden.«
Der Detektiv lächelte fein.
»Ich glaube, ich war der Behörde in diesem Fall ziemlich behilflich, denn ich brachte Sie ja wohl auf die Spur und lieferte Ihnen die beiden in die Hände.«
»Ganz recht, und es denkt auch niemand daran, Ihre Verdienste in diesem Falle schmälern zu wollen.«
»Bitte, ich begehre keinen Dank, wenn ich Verbrecher der Strafe überliefere.«
»Aber leider ist uns die Dritte im Bunde entwischt. Das junge Mädchen, das von den beiden als Lockvogel verwendet wurde und die Männer ins Garn zu locken hatte.«
»Ganz recht, dieses junge Mädchen ist nicht verhaftet.«
»Mister Allan, wir wollen nicht miteinander Versteck spielen. Ich habe aus ganz bestimmter Quelle die Meldung erhalten, daß Sie selbst dem jungen Mädchen zur Flucht verholfen haben.«
»Zur Flucht? Das ist wohl nicht das richtige Wort. Ich habe allerdings dafür gesorgt, daß sie nicht von der Polizei gefunden wurde.«
»Mister Allan! Es scheint mir ganz unglaublich! Wenn Sie uns nicht schon so oft außerordentliche Dienste geleistet hätten, wenn Sie nicht auch diesmal – –.«
Der Detektiv unterbrach ihn lächelnd:
»Ganz recht, nehmen wir einmal an, wir hätten gemeinsam einen Raubzug veranstaltet und die Beute geteilt. Ich habe mir eben als mein Teil das junge Mädchen genommen.«
»Bitte, bleiben Sie ernst. Sie haben, ich begreife nicht, aus welchen Beweggründen, eine junge Verbrecherin der Bestrafung entzogen. Wenn ich Sie nicht so genau kennen würde, müßte ich glauben, daß Sie es taten, eben, weil es ein hübsches Mädchen ist –«
»Herr Kriminalrat, jetzt muß ich sehr bitten.«
»Also, ich darf erwarten, daß Sie uns augenblicklich behilflich sind, das Mädchen in unsere Gewalt zu bekommen.«
»Ich bedauere, Ihrem Wunsch nicht entsprechen zu können.«
»Ich verlange es! Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Befreiung einer verhafteten Person –«
»Sie irren. Sie war nicht verhaftet, es lag kein Haftbefehl gegen sie vor; im Gegenteil, in dem Augenblick, als ich Grete Weber unter meinen Schutz nahm, hatten Sie, verehrter Herr Kriminalrat, noch gar keine Ahnung von ihrer Existenz, geschweige denn von etwaigen Straftaten. Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden und versuchen Sie während einer halben Stunde nicht nur Beamter, sondern auch ganz einfach fühlender Mensch zu sein.
Ich habe nicht eher gehandelt, bevor ich selbst einen sehr gründlichen Einblick in ein unglaublich trauriges Schicksal getan habe.
Denken Sie sich ein Mädchen, das eine vollkommen verwahrloste Mutter hat. Eine Frau, die nach dem Tode des ehrlichen, braven, aber ständig vom Unglück verfolgten Mannes von Stufe zu Stufe gesunken ist, bis aus dem redlichen Althandel, den sie vordem betrieben, ein wüstes Hehlernest geworden ist. Eine Frau, die sich dann noch in einen rohen Verbrecher verliebt, ihm vollkommen hörig wird und von ihm nur geheiratet wird, um sich in jeder Hinsicht ausnutzen zu lasten.
Und zwischen diesen beiden, allen Lastern ergebenen Menschen lebt Grete Weber, die schon vierzehn Jahre alt war, als ihr braver Vater starb.
Lebt und – steht unbedingt unter der Gewalt dieser beiden. Sie ist von Herzen ein anständiger Mensch. Ihr ganzes Ehrgefühl lehnt sich auf; mehr als einmal faßt sie den Entschluß, sich das Leben zu nehmen, und findet in ihrer weichen Natur nicht den Mut dazu.
Soll sie die eigene Mutter der Polizei anzeigen? Soll sie sich von dem rohen Patron totschlagen lassen? Sie hat oft genug seine Fäuste gefühlt, wenn sie ihm nicht gehorchte.
Sie haben recht. Grete Weber hat geholfen, dem Taschendiebe seine Opfer zuzuführen. Selbst hat sie nie gestohlen, immer hat sie unendliche Qualen gelitten, wenn sie gezwungen wurde. Und doch ist sie in dieser furchtbaren Umgebung selbst innerlich ein rechtlich denkender Mensch geblieben.
Und dann trat sie einem Manne gegenüber, der in ihr nicht einfach das Weib sah, das ihm gehören mußte, der sie achtete. Da war es zu Ende, da weigerte sie sich, da hätte sie alles getan, um den Mann, den sie ins Garn locken sollte, zu retten, – da ließ sie sich willig von dem Rowdy, der ihr Stiefvater war, mit der Faust ins Gesicht schlagen und weigerte sich.
Herr Kriminalrat, ich weiß es nicht, ob das Mädchen imstande war, sich auch moralisch rein zu bewahren; ihr Charakter ist unverdorben, und – es wäre schade, sehr schade um sie gewesen. Sie können mir glauben, daß ich so nicht urteilen würde, wenn ich nicht in der langen Unterredung, die ich mit ihr hatte, selbst diese Überzeugung gewonnen hätte.«
»Sie sprechen wie ein glänzender Verteidiger, das ist eine ganz neue Seite, die ich bei Ihnen kennenlerne.«
»Durchaus nicht. Ich habe mich immer bemüht, das Unrecht zu verfolgen und ein Verteidiger der Unschuld zu sein.«
»Sie hätten das alles zu Protokoll geben können, und wenn es sich so verhält, wäre sie freigesprochen wor– –«
»Und hätte wahrscheinlich Wochen oder Monate in Untersuchungshaft gesessen, wäre vielleicht, ja, wahrscheinlich mit schlechten Frauen in Berührung gekommen, und, wenn sie jetzt noch zu retten ist – dann wäre sie wahrscheinlich verloren gewesen. Dann hätte für immer ein Brandmal auf ihrer Seele geruht.
Seien Sie Mensch, Herr Kriminalrat. Denken Sie nicht an dieses arme Geschöpf, lassen Sie den Versuch geschehen, sie zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft werden zu lasten.
Verfolgen Sie das Mädchen, das ja in keinem Falle mehr war als ein gegen seinen Willen gezwungenes Objekt in Händen zweier Schufte, nicht weiter.«
»Wollen Sie mir sagen, wo sie ist?«
»Sie befindet sich augenblicklich in London in einem dortigen, deutschsprachlichen Fürsorge-Asyl. Herr Weppler, den sie vor großem Schaden bewahrte, hat dem Asyl auf meine Bitte eine Summe zur Verfügung gestellt, um das Mädchen zunächst wieder seelisch in Ordnung zu bringen und sie dann auf eigene Füße zu stellen. Herr Kriminalrat, unser Beruf ist so schwer, so traurig, daß es ein Lichtblick ist, wenn wir auch einmal im Guten ein wenig Vorsehung spielen können.«
Über das Gesicht des Kriminalrats zuckte ein Lächeln.
»Also, Sie haben das Mädchen ohne Paß über die Grenze geschafft?«
Auch der Detektiv lächelte.
»Nur aus Deutschland hinausgeschmuggelt. In England weiß jeder, daß, wenn Frank Allan für jemand bürgt, es eines weiteren Passes nicht bedarf.«
»Lieber Mister Allan, Sie sind ein unheilbarer Optimist. Lassen wir also das Mädel laufen.«
»Das Ihnen ja doch nicht ausgeliefert würde.«
»Also, Mister Allan, auf weitere gute Freundschaft!« – –
Frank Allan saß mit Bob Weppler zusammen.
»Bob, wir können zufrieden sein; ich denke, wir haben in diesem Falle wirklich etwas Gutes getan, und das kann ein Mensch nur sehr selten von sich sagen.« – –
Während Frau Weber und der »vornehme Karl« auf lange Jahre ins Zuchthaus wanderten, begann Grete Weber langsam die Schrecknisse ihrer Jugend zu vergessen, und – – Frank Allan hatte einen frohen Tag, als er sie nach Jahren in einem kleinen, gutgehenden Geschäftchen als Gattin eines braven deutschen Handwerkers in der Charlottestreet in London wiederfand.
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