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Zwei Stunden später stand derselbe Herr von Boltenstern vor dem Nachtbeamten der Polizeiwache.
»Mir ist meine Brieftasche, enthaltend zweitausend Mark in verschiedenen Scheinen, gestohlen worden.«
»Immer dasselbe. Warum nehmen die Herren auch mehr Geld mit, als sie ausgeben wollen, wenn sie auf Abenteuer ausgehen. Bitte, erzählen Sie, wo Sie überall waren.«
»Zuletzt in der Wunder-Bar, aber – nein, Sie sehen, ich bin durchaus nicht betrunken, und ich glaube, da war die Tasche schon weg.«
»Vorher?«
»Im Zigeunerkeller.«
»Allein?«
Er erzählte sein fruchtloses Abenteuer.
»Also war das junge Mädchen die Diebin.«
»Ausgeschlossen, es waren sehr anständige Damen, übrigens, ich hatte die Tasche in der rechten Rockhälfte, und die Damen saßen zur Linken. Es wäre auch ganz unmöglich gewesen. Das Fräulein saß immer zurückgelehnt und hat mich gar nicht berührt.«
»Weiter war niemand am Tische?«
»Ein junger, eleganter Herr saß noch da, aber der hat sich gar nicht um uns gekümmert, ist dann aufgestanden und fortgegangen.«
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Durchaus nicht, ich habe ihn gar nicht weiter angesehen.«
»Verehrter Herr, ich fürchte, dieser elegante Herr war ein gewerbsmäßiger Taschendieb, der Ihren Flirt mit dem Mädel benutzt hat. Gerade heute sind Sie durchaus nicht der einzige. Es ist sogar wahrscheinlich, daß die beiden Frauen die Schlepper des Diebes waren und Ihre Aufmerksamkeit ablenkten.«
Herr von Boltenstern dachte nach.
»Es ist mir allerdings aufgefallen, daß die junge Dame zuletzt sehr viel ablehnender war, während ich zuerst glaubte – –.«
»Können Sie das Mädchen genau beschreiben?«
»Dunkles Haar, wunderbare, tiefe Augen, ein entzückendes Gesichtchen.«
Der Beamte lachte.
»Von der Sorte haben wir mehrere in Berlin.«
»Ein rotes, einfaches Kleidchen – nein, Herr Kommissar, die Mutter habe ich gar nicht so genau angesehen, und das Mädchen – nein, das waren sehr anständige Damen.«
»Nun also, bei diesen etwas dürftigen Angaben wird es sehr schwer sein. Jedenfalls, ich habe alles notiert. Es ist ja möglich, daß der Kerl bei einer anderen Sache geklappt wird und wir die Tasche bei ihm finden. Viel Hoffnung habe ich nicht, wenn nicht etwa dieser Herr hier Ihnen helfen kann. – Mister Allan, haben Sie Lust, dem Herrn zu helfen?«
Frank Allan, der auf der Nachtwache vergeblich auf eine Botschaft gewartet hatte und eben im Begriff war, zu gehen, schritt mit dem Gutsbesitzer, der jetzt über den Verlust seiner Reisekasse völlig geknickt war, die Treppe hinunter.
»Geben Sie mir auf alle Fälle Ihre Adresse. Noch besser, kommen Sie morgen nachmittag um 5 Uhr zu mir ins Zentralhotel.«
Erfreut, wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer zu haben, ging nun der Agrarier in seine Pension. – – –
Frank Allan saß in der »Traube« mit dem Juniorchef der Berliner Niederlassung der Firma Weppler & Wilson, Neuyork, zusammen, mit dessen Vater er oft zu tun gehabt hatte.
»Mister Weppler, was machen Sie für ein Gesicht?«
»Bei diesen Geschäften!«
»Unsinn! Darum kümmern Sie sich doch nicht! Wenn Bob Weppler so aussieht, dann hat er sicher wieder einmal eine unglückliche Liebe.«
»Sie sind ein schrecklicher Mensch!«
»Habe ich etwa nicht recht?«
»Mister Allan, Sie sind doch ein Menschenkenner. Ich habe da in der Tat einen Fall – nein, keinen Kriminalfall, aber wenn Sie auch einmal über andere Dinge reden können. Sie sind doch Menschenkenner.«
»Es gibt Leute, die das behaupten.«
»Also, eine ganz gewöhnliche Liebesgeschichte, ohne jeden kriminalistischen Beigeschmack; aber die Sache interessiert mich rein psychologisch. Ich brauche so vor drei Wochen eine Sekretärin, inseriere – fünfundsiebzig stellungslose junge Mädchen im Alter von sechzehn bis sechzig belagern am nächsten Tage mein Kontor. Ich wähle also aus.«
»Selbstverständlich die Hübscheste.«
»Zufällig war ein allerdings bildhübsches Mädchen außerdem die Tüchtigste. Ich sage Ihnen, ein Bild!«
»Dunkelbraun, große, schwärmerische Augen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil das gewöhnlich so ist.«
»Also, ich bin ganz verschossen in das junge Ding. Es war so etwas Eigenartiges an ihr. Zugleich lockend und zurückstoßend. Wenn sie so an der Maschine saß, die zarten, fleißigen Händchen nur so über das Papier jagten, ihre herrlichen Augen mich bisweilen verschleiert ansahen.«
»Briefsteller für Liebende Seite 348«, neckte ihn der Detektiv.
»Spotten Sie nicht! Jawohl, ich war bis über beide Ohren verliebt, und, obgleich sie mir nicht die geringste, aber auch nicht die allergeringste Zärtlichkeit gestattete, sah ich ihr an, daß sie mich auch gern hatte.«
»Kunststück! Weppler junior!«
»Es war also ein ganz zarter, ich möchte sagen hauchzarter Flirt zwischen uns. Jede Einladung lehnte sie ab, dann aber, endlich –«
»Gingen Sie mit ihr ins Theater, und Ihr Pelz wurde gestohlen.«
»Mister Allan, ich werde ernstlich böse. Ich sage Ihnen doch, es war ein sehr anständiges Mädel, und es ist mir überhaupt gar nichts gestohlen. Nur eins stimmt. Auf mein dauerndes Drängen gab sie endlich nach und erklärte: ›Wenn Sie durchaus wollen, dann können wir ja einmal in ein Theater gehen, aber, das sage ich Ihnen gleich: nach der Vorstellung muß ich sofort heim, meine Mutter ist sehr streng.‹«
»Und weiter?« fragte Frank Allan.
»Ich besorge also Karten zur Staatsoper. Ich weiß eigentlich selbst nicht, ob sie sich freute. Jedenfalls war es vorgestern abend. Sie war ganz entzückend angezogen. Ein grünseidenes Kleid. Sehr reizend, – ich war begeistert. Das Kontor war bereits geschlossen, wir beide also ganz allein. Zum ersten Male versuche ich etwas Süßholz zu raspeln, sehe ihr in die Augen – ich weiß nicht, es war an dem ganzen Mädel so etwas Seltsames. Ich hätte es gar nicht fertiggebracht, etwa den Versuch zu machen, sie zu küssen. Ich behandelte sie also ganz als Dame und sprach davon, daß sie mir gleich gefallen, wie ich sie liebgewonnen hätte, und da – ja, da kam eben das Unerklärliche, das Rätselhafte. Sie weinte plötzlich laut auf, ich will sie trösten, aber sie stammelt:
›Ich möchte nicht in die Oper, ich bitte, ich flehe Sie an, nicht in die Oper!‹
Ich denke also, ich hätte doch unbewußt ihr Gefühl verletzt, und rede ihr zu, daß ich ja nur im Theater bei ihr sitzen, sie näher kennenlernen wolle, daß ich mich ihr in allen Ehren nähere, – aber sie wird immer erregter, gerät ganz außer sich, und endlich schreit sie in voller Ekstase:
›Nicht in die Oper! Alles, nur nicht in die Oper! Führen Sie mich, wohin Sie wollen, machen Sie mit mir, was Sie wollen! Alles, nur nicht in die Oper!‹
Ich verstehe das nicht, bin ganz fassungslos; da greift sie nach ihrem Mantel, und ehe ich es mich versehe, ist sie die Treppe hinab und läuft über die Straße.
Ist das nicht ganz toll? Ganz unverständlich? Es war das alles, als würde sie von einer grenzenlosen Angst gefoltert.
Ich warte also ab, was am nächsten Tage geschieht. Sie kommt ins Kontor. Sieht schrecklich aus, hat ein ganz blau geschlagenes Gesicht und erzählt mir, sie sei auf der Straße gestürzt, ist überhaupt ganz verstört und erklärt, daß sie sich krank fühle, daß sie gar nicht mehr in Stellung gehen wolle, und bittet um ihre sofortige Entlastung.
Ich kann sie natürlich nicht halten, zerbreche mir den Kopf, womit ich sie gestern so gekränkt haben könnte, beuge mich über sie und frage, ob ich sie denn beleidigt hätte. Da sieht sie mich wieder so groß und ernst an; dann sagt sie:
›Sie nicht! Sie ganz gewiß nicht! So gut wie Sie ist ja noch nie ein Mensch zu mir gewesen.‹
Dann fängt sie wieder an zu weinen, ich werde geschäftlich abgerufen; und als ich zurückkomme, ist sie weg. Dafür liegt ein Zettel auf meinem Tisch:
›Bitte, bitte, ich bin wirklich nicht schlecht! Ich kann ja nicht anders.‹
Ich setze mich hin, schreibe ihr einen sehr verständigen Brief, schicke ihn an die Adresse, die sie beim Antritt angegeben hatte. Heute früh kommt der Brief zurück mit dem Vermerk:
›Adressat in dem angegebenen Hause vollkommen unbekannt.‹
Was sagen Sie als Mensch zu diesem durchaus nicht kriminellen, aber wirklich rührenden Erlebnis!«
Frank Allan hatte während der ganzen Erzählung vollkommen ruhig dagesessen. Jetzt aber zog er seine Brieftasche hervor, kramte darin herum und holte eine kleine Photographie heraus.
»Ist das die junge Dame?«
Erstaunt nahm Weppler das Bild und sagte:
»Das ist sie, – aber wie kommen Sie denn zu dieser Photographie?«
Der Detektiv lächelte geheimnisvoll.
»Sehr einfach. Ich trage immer die Bilder aller hübschen jungen Mädchen mit mir herum.«
Weppler schüttelte den Kopf. Dann fragte er:
»Kennen Sie die junge Dame?«
»Durchaus nicht, ich habe sie nie gesehen.«
»Ist das vielleicht – halten Sie das Mädchen etwa für eine Verbrecherin?«
Frank Allan schüttelte den Kopf und erwiderte in herzlichem Tone:
»Nach alledem, was Sie mir gesagt haben, gewiß nicht. Ich halte sie aber für ein armes, sehr, sehr unglückliches Geschöpf und werde versuchen, mich ihrer anzunehmen.«
»Und wenn Sie etwas erfahren?«
»Sage ich Ihnen Bescheid.«
Der Detektiv war sehr ernst geworden.
»Lieber Freund, es gibt so unendlich traurige Schicksale in der Großstadt, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen. Jetzt aber – ich muß an die Arbeit.« – –
Es war in dem düsteren Hause in der Straße im Schatten.
Wütend stand Karl Weber vor dem jungen Mädchen.
»Dumme Gans! Läßt mich vergebens warten!« schrie er Grete an.
»Weil ich nicht wollte, ich hatte es dir ja gesagt«, erwiderte sie.
»Nicht wollte! Nicht wollte! Du hast zu gehorchen, verstanden. Ein guter Griff wäre es geworden. Den Pelz hätte ich gar nicht gestohlen. Ich weiß, habe es beobachtet, daß der Mensch immer sein Schlüsselbund in der Pelztasche läßt. Habe es gesehen, wenn er sein Auto abschließt. Ich hätte es in der ersten Pause aus dem Mantel geholt, in der zweiten zurückgebracht, inzwischen den Geldschrank geleert, und kein Mensch hätte etwas gemerkt. Also gut, dann wirst du eben in ein paar Tagen vernünftiger sein.«
»Nein.«
»Du wirst!«
»Nie!«
In aufloderndem Zorn stand sie vor ihm.
»Hast dich wohl gar selbst in den Kerl vergafft?«
»Ich will nicht, hörst du, ich will nicht!«
Seine Faust schlug mitten in ihr junges Gesicht; das Mädchen brach stöhnend in die Knie, die alte Frau sprang dazwischen.
»Ich dulde nicht, daß du sie schlägst.«
Er lachte laut auf.
»Du duldest es nicht, alte Hexe? Duldest nicht, da –«
Er griff nach dem Beil, das neben dem Herde stand; gellend schrien die beiden Frauen auf, Männer huschten herein.
»Willst uns wohl die Polente auf den Hals hetzen? Laß die Weiber in Ruhe!«
Wütend stülpte Karl die Mütze auf, sah jetzt durchaus nicht elegant aus in seiner geflickten Joppe, ging in den Bouillonkeller im Vorderhause, und es war schon fast morgens, als er, sinnlos betrunken, die Stiege hinauftaumelte und brummend ins Bett fiel.
»Ich gehe ins Wasser! Ich gehe ins Wasser!«
Mit diesen Worten war Grete aus der Wohnung gelaufen, als der Vater gegangen. Sie eilte durch die düstere Straße, war wie gehetzt, und dann – da führten Stufen hinab – vor ihr, schwarz, kalt, unheimlich, übersät von schmutzigen Eisschollen, floß die Spree.
Das junge Mädchen stand zögernd, die Augen in maßlosem Grauen weit aufgerissen, blickte in die Tiefe. Aber das Frösteln, das ihr über den Körper glitt, lähmte ihre Kraft. Sie weinte laut auf, aber sie hatte nicht den Mut, in das schwarze, häßliche, kalte Wasser zu springen.
Ganz langsam drehte sie sich um, schlich mit schleppenden Füßen zurück.
»He, Kleine!«
Betrunkene Männer, deren Finger nach ihr griffen. Grete begann zu rennen, war wieder in ihrer Straße, ging über die Höfe, schlich die Stiegen hinauf und trat ein.
Die alte Frau saß auf dem Stuhle, ihr Haar war zerzaust, ihr jetzt ungeschminktes Gesicht gedunsen, die Augen stierten gläsern vor sich hin.
»Sie hat wieder Kokain geschnupft.«
Grete sank matt und zerschlagen in ihr Bett.