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»Guten Tag, Mister Allan! Wieder einmal auf ›Jagd‹ in Berlin?«
»Eigentlich mehr zur Erholung nach getaner Arbeit, wenn Sie nicht etwa –«
Fabrikbesitzer Manders lachte.
»Einen Kriminalfall hätte ich schon, wenn er auch weiter nicht von Belang ist, und – wenn ich Ihnen den erzählte oder Ihre Hilfe in Anspruch nähme, wäre es, als wenn ich mir von einem berühmten Chirurgen die Hühneraugen schneiden lassen wollte.«
»Erzählen Sie immerhin, während wir ja doch warten müssen. Es gibt schließlich nichts, aus dem nicht etwas zu lernen wäre.«
Die beiden, der Fabrikbesitzer und der Detektiv Frank Allan, saßen in zwei Klubsesseln im Vorraum einer Großbank und warteten auf die Erledigung ihrer Aufträge.
»Also, lieber Mister Allan, ich hatte da eine wirklich bildhübsche, so etwa siebzehnjährige Schreibmaschinendame in meinem Büro, die nicht nur hübsch und jung, sondern auch ganz hervorragend tüchtig war. Wissen Sie, das Mädel interessierte mich geradezu. Nicht nur, sagen wir, wegen ihres Aussehens, sondern wegen ihrer ganzen fast melancholischen Art.
Also, wir gehen eines Abends zusammen ins Theater, in die Staatsoper. Aber, was ich Ihnen bisher erzählt habe, war Unsinn. Das Mädel hatte mit der ganzen Geschichte gar nichts zu tun. Kurz und gut, als wir nach der Oper unsere Garderobe haben wollten, war mein sehr wertvoller Pelz spurlos verschwunden, und ich mußte bei der schauderhaften Kälte ohne Mantel heimfahren. Das ist alles. Geschichte ohne rechte Pointe, denn selbstverständlich hat mir die Versicherung der Theatergarderobe den Pelz ersetzen müssen.«
Der bekannte Detektiv hatte schweigend zugehört.
»Wer hat die Garderobe geholt, Sie oder die junge Dame?«
»Ich natürlich.«
»Wer hat die Garderobemarken gehabt?«
»Selbstverständlich ich!«
»Und während der ganzen Zeit hat das Mädchen Sie nicht verlassen, war nicht etwa einmal in der Toilette?«
»Gewiß nicht, sie ist nicht eine Sekunde von meiner Seite gegangen. Nein, Mr. Allan, das Mädel hatte damit nichts zu tun.«
»Und ist noch bei Ihnen?«
»Leider nein. Ein paar Tage später meldete sie sich krank, und wieder ein paar Tage später bat sie um ihre Entlassung.«
»Sie machen ja ein geradezu trauriges Gesicht.«
»Sehen Sie her – ich habe – alle Wetter, am Tage vor dem Theaterbesuch hatte ich sie mit hinaus in den Grunewald genommen – Skischanze bei Onkel Toms Hütte, und da habe ich sie geknipst. Ist's nicht ein Prachtmädel?«
Er nahm eine kleine Photographie aus der Tasche, die er dem Detektiv hinüberreichte, und dieser betrachtete das Bild sehr eingehend.
»Sie haben recht, ein bildhübsches Ding, aber – mein Name wird aufgerufen! Auf Wiedersehen, lieber Direktor.« – –
Unweit des Alexanderplatzes stoßen an lebhafte Geschäftsstraßen einige enge, uralte Gassen. Es ist noch gar nicht so lange her, daß hier ein ganzes Stadtviertel bestand, das in der Hauptsache von lichtscheuen Elementen aller Art bewohnt wurde, das sogenannte »Scheunenviertel«, das dann, eben um diese Elemente auszurotten, zum großen Teil abgerissen wurde und dem Bülowplatz und dem stattlichen Gebäude der Volksbühne Platz machen mußte. Aber einige dieser Gassen sind noch geblieben. Straßen im Schatten! Straßen, in die nicht gern jemand geht, der dort nicht daheim ist, – mit alten, schmutzigen Häusern, großen Toreinfahrten, die sich auf Höfe öffnen, die wieder von windschiefen, baufälligen Häusern umgrenzt sind und hinter sich andere Höfe haben. Keine Straßenbahn, kein Omnibus fährt durch die »Straße im Schatten«, sehr selten verirrt sich ein Auto hierher, aber eilige Menschen, viele in ärmlichen Kleidern, aber auch nicht wenige elegant angezogen, huschen durch die Haustore und verschwinden in jämmerlichen Wohnungen, in denen unglaublich viel Menschen zu hausen scheinen.
Die Polizei weiß Bescheid, wer hier wohnt, und daß galizische Schacherer, die tagsüber mit Kleidern und Wäsche hausieren, – Schmuggler und Hehler, die Diebesbeute aufkaufen und weiter verschärfen –, hier mit Bettlerbörsen zusammenhausen, und daß hinter mancher schwach erleuchteten Fensterscheibe die »großen Dinger« beraten werden, die »gedreht« werden sollen.
Durch das Haustor eines dieser Gebäude ging ein junges, bildhübsches Mädel von etwa siebzehn oder achtzehn Jahren. Wer sie irgendwo in einer anderen Straße gesehen und sich Mühe gegeben hätte, in diesem Gesichtchen zu lesen, hätte sie sicher für ein braves Mädel gehalten, dessen große, immer etwas verschleierte Augen einen traurigen, melancholischen Ausdruck hatten, und die, ohne es selbst vielleicht zu wissen, das besaß, was man modern » sex appeal« nennt, das heißt, einen unwillkürlichen Anreiz für die Männerwelt.
Jetzt durchschritt sie also das Haustor, ohne aufzublicken, wie jemand, der eben in diesem Milieu daheim ist, ging über den ersten Hof, achtete nicht auf allerhand Worte, die Vorübergehende ihr zuflüsterten, schien sich auch nicht vor den unheimlichen Gestalten zu fürchten, die in den Ecken umherlungerten, ging durch das Quergebäude hindurch, stieg dann eine windschiefe, knarrende, altersschwache Stiege hinauf und öffnete endlich eine Wohnungstür, von denen immer vier auf einen Treppenabsatz mündeten, denn es waren ganz kleine Quartiere.
Sie trat in einen düsteren, muffigen Korridor. Eine Tür war halboffen. An dem wackeligen Tisch saßen vier Galizier, deren elegante Pelze gegen die Umgebung abstachen, und zählten Brillanten, die vor ihnen lagen, wogen sie sorgfältig auf feinen Waagen ab und packten sie in kleine Papiertüten.
Das Mädchen warf nicht einmal einen Blick zu ihnen hinein, aber wenn sie schon ganz langsam über den Hof gegangen, blieb sie jetzt stehen und seufzte tief auf. Hinter der zweiten Tür war lauter Wortwechsel zu hören. Die Stimme eines alten Weibes und eines jungen Mannes klangen durcheinander. Das junge Mädchen öffnete. Es war ein kleiner, häßlicher Raum. In einer Ecke ein Bett, auf dem verschiedene Pelze lagen, hinter einem Vorhang in einem fensterlosen Alkoven ein zweites Bett, in der Mitte ein Tisch. An diesem saß ihre Mutter. Vielleicht fünfzig Jahre alt, aber mit grauem Haar. Ein schmutziger Kittel hing um sie herum, aus dem ihr bereits früh verwelkter Hals und die mageren, häßlichen Arme herausragten, während sie sich bemühte, vor ihrem Spiegel ihr Gesicht mit allerhand Schminken zu bearbeiten.
Vor ihr stand ein junger Mensch, sehr elegant, im Smoking, das Monokel an einem schwarzen Band aus der Brust, das Haar glatt gescheitelt, die Lackstiefel tadellos blank. Und dieser Mann war der um fast fünfundzwanzig Jahre jüngere Gatte des alten Hehlerweibes – der Stiefvater des jungen Mädchens, der es barsch anfuhr:
»Wo bleibst du denn wieder solange, Grete?«
Jetzt war ein trotziger, verbissener Zug in das junge Gesicht getreten.
»Ich hatte Überstunden.«
»Mach rasch, wir wollen heute in den Zigeunerkeller. Wir müssen Geld haben. Übrigens, was ist mit deinem neuen Chef?«
Glühendes Rot stieg in ihr Gesicht.
»Nichts ist.«
Der junge Mensch mit dem brutalen Gesicht stand dicht bei ihr.
»Vierzehn Tage bist du bei ihm. Beißt er denn nicht an?«
»Ich will nicht! Nein, diesmal mache ich nicht wieder mit.«
Karl Weber, unter seinen Freunden der »vornehme Karl« genannt, bekam einen Wutanfall.
»Was heißt: du willst nicht? Du mußt!«
»Nein, diesmal nicht!«
»Soll ich dir wieder die Faust ins Gesicht schlagen?«
Die Augen blitzten böse, aber sie sah ihn groß an und hob den Kopf.
»Tu's doch, dann kann ich wenigstens nicht ins Büro.«
»Canaille!«
»Ich tu's nicht! Nein, lieber gehe ich ins Wasser.«
»Bist ja viel zu feige dazu.«
»Dazu bist du erst recht zu feige. Also – spätestens in drei Tagen. Uns fehlt gerade der Sealpelz, den der Mann trägt. Ist schon ein Freier dafür da.«
»Und ich tu's nicht! Ach, warum bin ich so jämmerlich feige.«
Jetzt mischte die Alte sich ein.
»Laß jetzt das Mädel in Ruhe; wenn sie verheulte Augen hat –«
Der Mann lachte roh.
»Sieht sie höchstens noch interessanter aus.«
»Zieh dich an, Grete, der Vater meint's nicht so böse, komm, sei ein gutes Mädel. Jetzt wollen wir in den Zigeunerkeller, es ist ›Grüne Woche‹.«
»Ach, wäre ich tot!«
Noch immer schluchzte sie herzzerbrechend, während der Mann hinausging.
Weit draußen, im Westen Berlins, am Kurfürstendamm war ein originelles Lokal, das besonders von Fremden, mit Vorliebe besucht wurde.
Ein großer Kellerraum, zu dem man auf Stufen hinabstieg, dessen Wände mit allerhand humorvollen Bildern aus dem Zigeunerleben bemalt waren. Originelle Beleuchtungskörper warfen gedämpftes Licht; Holzstühle und Schemel standen um kleine Tische, in der Mitte ein Podium, auf dem eine schmissige Zigeunerkapelle fast pausenlos ihre leidenschaftlichen Weisen hinausfiedelte, dazu den Takt mit den Füßen stampfte, bisweilen ihre Instrumente toll durch die Luft wirbelte und dazu laut aufjauchzte oder auch sang.
Dichtgefüllt war der Raum. Gutes Bürgerpublikum, junge Männer mit ihren Mädels, aber an diesem Tage viel breitschultrige, behäbige Männer, deren gesunden, geröteten Gesichtern man den Agrarier ansah, der zur »Grünen Woche« nach Berlin gekommen.
An einem Tisch unweit des Musikpodiums saßen drei Personen. Ein bildhübsches, blutjunges Mädel in einfachem, aber geschmackvollem Kleide. Neben ihr eine recht würdig aussehende Matrone, wohl die Mutter, und gegenüber ein sehr elegant gekleideter junger Mann, der augenscheinlich nicht zu den beiden gehörte, auch nie das Wort an sie richtete und bisweilen sein monokelbewaffnetes Auge durch den Raum schweifen ließ, dann aber wieder in seine Abendzeitung vertieft schien.
Es war entschieden ein interessantes Mädel, die Kleine. Über ihr lag eine gewisse Trauer; dann aber sah sie mit Augen umher, in denen etwas leise Lockendes und zugleich auch wieder Abwehrendes lag.
Am Nebentische saß ein älterer Herr, der schon einmal eine recht vertrauenerweckende Brieftasche gezückt hatte.
»Donnerwetter!«
Gerhard von Boltenstern, Rittergutsbesitzer aus Groß-Werdauen in Ostpreußen, einer der wenigen, die von der allgemeinen Not der Landwirtschaft noch nicht allzu sehr betroffen schienen, der mit gewissen heimlichen Nebenwünschen in das »Sündenbabel Berlin« gekommen war, zuckte zusammen. Ein großer voller Blick der ernsten, dunklen Augen des Mädchens hatte ihn getroffen.
Es dauerte nicht lange, dann trat Herr von Boltenstern an den Nebentisch.
»Gestatten gnädige Frau.«
Die Matrone nickte gnädig, und bald war der Herr mit dem jungen Mädchen in lebhaftestem Gespräch.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich der Herr mit dem Monokel, der weder von den beiden Damen, noch auch von dem Agrarier irgendwelche Notiz genommen, grußlos erhob, dem Kellner die Zeche bezahlte und dann wieder ging.
Herr von Boltenstern, erfreut, daß er jetzt mit den Damen allein war, versuchte etwas zärtlicher zu werden, griff nach der Hand des Mädchens, aber während er vorher den Eindruck gehabt, daß sein Flirt durchaus auf fruchtbaren Boden fiel, war sie jetzt auffallend zurückhaltend.
»Es ist so heiß hier. Würden die Damen nicht gestatten, daß ich Sie noch in ein Café einlade.«
Das Mädchen sah fragend die Mutter an; aber diese sagte mit einem strengen Blick:
»Sie scheinen sich in uns zu irren. Es ist überhaupt spät, Grete, wir wollen heim.«
»Bitte tausendmal um Verzeihung.«
Herr von Boltenstern wagte nicht einmal einen Versuch, für die Dame zu zahlen, begleitete sie zur Garderobe, half ihnen in die Mäntel.
»Darf ich ein Auto – –?«
»Danke, ich fahre mit dem Omnibus.«
Schon kam der Wagen heran; der Gutsbesitzer sah mit bedauerndem Blick den Entschwindenden nach, dann blickte er sich um und – verschwand in der gegenüberliegenden Wunderland-Bar.