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VIII

Das nationale System

Die Huldigungen, die List in Thüringen dargebracht wurden, und der ihm von mehreren Seiten ausgesprochene Dank dafür, daß er die drei Herzogtümer Weimar, Koburg und Meiningen aus einer tötlichen Gefahr errettet habe, verleiteten ihn zu der Hoffnung, es werde ihm hier eine feste Stellung angeboten werden, und er ließ daher seine Familie nach Weimar kommen. Allein auch diese Hoffnung trog. Der Dank der thüringischen Eisenbahngesellschaft bestand aus einem Geldgeschenk, dessen Höhe der Leser aus Lists Scherz berechnen mag, jedes der drei geretteten Fürstentümer scheine demnach 33? Louisd'or wert zu sein. Er siedelte daher nach Augsburg über, wo er einen Freundeskreis fand, dessen Mittelpunkt Kolb war, und wo er, nebenbei die Beziehung zur Allgemeinen Zeitung enger knüpfend, in Ruhe sein Buch vollenden konnte. Es erschien im Mai 1841 unter dem Titel: »Das nationale System der Politischen Ökonomie. Der internationale Handel, die Handelspolitik und der deutsche Zollverein«, mit dem Motto: Et la patrie et l'humanité.

In der (in Häussers Ausgabe 46 Seiten umfassenden) Vorrede erzählt er, wie er als junger Mann angefangen habe, an der Wahrheit der herrschenden Theorie der politischen Ökonomie zu zweifeln, wie »das Schicksal den Widerstrebenden mit unwiderstehlicher Gewalt zu weiterer Verfolgung der betretenen Bahn des Zweifels und der Forschung gespornt« habe, wie ihm in der Schule des Lebens der wahre Zusammenhang der ökonomischen Erscheinungen klar geworden sei, wie er gearbeitet und gekämpft habe, um mit der gewonnenen Erkenntnis sein Vaterland aus wirtschaftlichem und politischem Elend zu befreien, wie er jedoch überall auf Unverstand gestoßen und mit gröbstem Undank, ja mit Verleumdungen belohnt worden sei. Er wolle sich gegen diese nichtswürdigen Verleumdungen nicht verteidigen. »Nur das darf und muß ich sagen, daß ich mißhandelt, auf unverantwortliche Weise mißhandelt worden bin, weil ich gewissen Personen und Privatinteressen im Wege stand, und daß man nachher, gleichsam als Zugabe, mich öffentlich verunglimpfte, weil man, aus Furcht, ich werde die gegen mich gespielten Intriguen in ihrer ganzen Nacktheit ans Licht stellen, bei dem deutschen Publikum glaubte das Prävenire spielen zu müssen.« Er sei jedoch schon am Anfang dieser Intriguen zu dem festen Entschluß gekommen, alle öffentlichen und Privatverleumdungen stillschweigend über sich ergehen zu lassen: »einmal um die gute Sache, der ich nun schon so viele Jahre meines Lebens und so bedeutende Summen meines sauren Erwerbes zum Opfer gebracht, nicht in ein nachteiliges Licht zu stellen, sodann um mir die zur Verfolgung meines Zieles erforderliche Geistesruhe nicht zu rauben, und endlich weil ich der getrosten Hoffnung war und noch immer bin, daß mir am Ende doch Gerechtigkeit werde zu teil werden. Unter solchen Umständen darf ich wohl auch nicht befürchten, der Ruhmredigkeit angeklagt zu werden, wenn ich die in den Leipziger Berichten enthaltenen nationalökonomischen Argumente und Darstellungen, mit Ausnahme der die Lokalverhältnisse betreffenden Notizen, als eine ausschließlich mir angehörige Arbeit in Anspruch nehme, wenn ich sage, daß ich – ich allein! – es bin, der von Anfang an der Thätigkeit des Leipziger Eisenbahnkomitees jene nationale Tendenz und Wirksamkeit gab, die in ganz Deutschland so großen Anklang gefunden und so reiche Früchte getragen hat, daß ich während der verflossenen acht Jahre Tag und Nacht thätig gewesen bin, um durch Aufforderungen und Korrespondenzen und Abhandlungen die Sache der Eisenbahnen in allen Gegenden Deutschlands in Bewegung zu bringen. Ich spreche alles dieses mit der Überzeugung aus, daß mir kein Mann von Ehre aus Sachsen öffentlich und unter seinem Namen in irgend einem der angeführten Punkte wird widersprechen können oder wollen. Diese Bestrebungen und meine früheren praktischen Beschäftigungen in Nordamerika verhinderten mich, meine schriftstellerischen Arbeiten fortzusetzen, und vielleicht hätte dieses Buch nie das Licht der Welt erblickt, wäre ich nicht durch die erwähnten Mißhandlungen geschäftlos und aufgestachelt worden, meinen Namen zu retten.« Er erzählt von seinen Studien in Paris, schildert den dortigen Zustand der nationalökonomischen Wissenschaft, dankt Kolb, dem Leiter der Allgemeinen Zeitung, der seinen oft gewagten Behauptungen in dem berühmten Blatte Raum gegeben, und dem Freiherrn von Cotta, der mehr als irgend ein anderer für das deutsche Eisenbahnwesen geleistet und ihn zu litterarischer Thätigkeit, auch zur Veröffentlichung dieses Buches aufgemuntert habe. Kräftig nimmt er die Priorität der in diesem Buche entwickelten Ideen für sich in Anspruch, verwahrt sich gegen den Vorwurf, daß er Plagiator sei oder längst Gesagtes aufwärme, und unterwirft die damaligen deutschen Vertreter der ökonomischen Wissenschaft einer scharfen und nicht eben höflichen Kritik, nachdem er unmittelbar vorher gesagt hat, er wolle keinen lebenden deutschen Schriftsteller namentlich angreifen oder herausfordern. Mit Anerkennung spricht er von Nebenius, Mohl und Hermann, und überschwängliches Lob spendet er dem ganz jung gestorbenen Alexander von Marwitz.

Was seine eigene Arbeit angehe, so denke er sehr bescheiden davon; er sei kein Genie, sondern habe lange Jahre saurer Arbeit gebraucht, um etwas Leidliches zustande zu bringen, und auch so noch werde man viel darin zu tadeln finden, werde man Irrtümer aufdecken. Aber neben den Irrtümern werde man doch auch Neues und Wahres finden, das seinem deutschen Vaterland zum Nutzen gereichen dürfte. »Hauptsächlich dieser Absicht zu nützen ist es zuzuschreiben, daß ich vielleicht oft zu keck und zu entschieden über die Ansichten und Leistungen einzelner Autoren und ganzer Schulen ein Verdammungsurteil fällte, Wahrlich, es geschah dies nicht aus persönlicher Arroganz, sondern überall in der Überzeugung, die getadelten Ansichten seien gemeinschädlich, und um in solchem Falle nützlich zu wirken, müsse man seine entgegengesetzte Meinung unumwunden und auf energische Weise aussprechen. Gewiß ist es auch eine falsche Ansicht, wenn man glaubt, Männer, die in der Wissenschaft Großes geleistet, seien darum in Anlehnung ihrer Irrtümer mit großem Respekt zu behandeln; sicher ist just das Gegenteil wahr. Berühmte und zu Autorität gelangte Autoren schaden durch ihre Irrtümer unendlich mehr, als die unbedeutenden, und sind daher auch um so energischer zu widerlegen. Daß ich durch eine wildere, gemäßigtere, demütigere, hinlänglich verklausulierte, links und rechts Komplimente ausstreuende Einkleidung meiner Kritik in Ansehung meiner Person besser gefahren wäre, weiß ich wohl, auch weiß ich, daß, wer richtet, wieder gerichtet wird. Aber was schadens? Ich werde die strengen Urteile meiner Gegner benützen, um meine Irrtümer wieder gut zu machen, im Fall, was ich kaum zu hoffen wage, dieses Buch eine zweite Auflage erleben sollte. So werde ich doppelt nützen, wenn auch nicht mir selbst.«

Auch die Mangelhaftigkeit der Form erkennt er an, nur daß die Sprache des Buches nicht schön sei, will er als einen Fehler nicht gelten lassen. »Ich erschrak, als mir ein Freund nach Durchsicht des Manuskripts sagte, er habe schöne Stellen darin gefunden. Ich wollte keine schönen Stellen schreiben. Schönheit des Stils gehört nicht in die Nationalökonomie.« Es sei ihm bei seiner Arbeit weder darum zu thun gewesen, sich in eine Kameraderie einzuschmeicheln, noch sich für einen Lehrstuhl zu habilitieren, noch als Verfasser eines von allen Kathedern adoptierten Handbuchs zu glänzen, noch auch darum, seine Brauchbarkeit für ein hohes Staatsamt darzuthun; »ich hatte einzig die Förderung der deutschen Nationalinteressen im Auge, und dieser Zweck forderte gebieterisch, daß ich meine Überzeugung frei und ohne Beimischung von süßlichen Ingredienzien aussprach; und vor allem, daß ich populär schrieb. Sollen in Deutschland die Nationalinteressen durch die politische Ökonomie gefördert werden, so muß diese aus den Studierstuben der Gelehrten, von den Kathedern der Professoren, aus den Kabinetten der hohen Staatsbeamten in die Komptoire der Fabrikanten, der Großhändler, der Schiffsreeder, der Kapitalisten und Banquiers, in die Bureaux aller öffentlichen Beamten und Sachwalter, in die Wohnungen der Gutsbesitzer, vorzüglich aber in die Kammern der Landstände herabsteigen, mit einem Wort, sie muß Gemeingut aller Gebildeten werden.«

Wahrscheinlich geht es allen Bibellesern, die Lists Herzensergießungen in der Vorrede lesen, so wie es uns gegangen ist: wir dachten an die beiden Korintherbriefe des Apostels Paulus, als wir sahen, wie sich List bald im Hochgefühl seines Werts und seiner Sendung überhebt, bald im Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit zusammensinkt, wie er seine Gegner bald mit Hohn und Spott überschüttet, bald sie demütig um Verzeihung zu bitten scheint dafür, daß er auch noch da ist. Übrigens rechtfertigt schon gleich die Einleitung sein Bekenntnis, daß die Form mangelhaft sei. Sie mischt geschichtliche Rückblicke, Tagesfragen, Persönliches, Theoretisches bunt durcheinander, enthält aber, wie alles, was List schreibt, prächtige Schlager, z. B., den Vereinigten Staaten sei es infolge der Druckfehler der Smithschen Theorie beinahe so gegangen, wie jenem Patienten, der an einem Druckfehler des Rezepts gestorben sei. »Wir fürchten, Kanonen werden früher oder später die Frage lösen, die der Gesetzgebung ein gordischer Knoten war; Amerika werde seinen Saldo an Amerika (seine durch die passive Handelsbilanz entstandene Staatsschuld) in Pulver und Blei abtragen. Seltsame Ironie des Schicksals, daß eine auf die große Idee des ewigen Friedens basierte Theorie einen Krieg zwischen zwei Mächten entzünden soll, die, wie die Theoretiker behaupten, ganz für den Handel mit einander geschaffen sind, fast so seltsam wie die Wirkung der philanthropischen Abschaffung des Sklavenhandels, infolge deren nun tausende von Negern in die Tiefe der See versenkt werden.« Er zeigt bei der Gelegenheit, wie unvernünftig die Emanzipation der Neger sei, und wie vernünftigerweise mit ihnen verfahren werden müßte.

Versuchen wir nun, von dem Gedankenbau, den List im »System« errichtet hat, einen Abriß zu entwerfen! In einem historisch-geographischen Überblick, der mit den Italienern beginnt, sucht er zu zeigen, daß alle Staaten, die reich geworden sind, es durch Befolgung des seit Colbert nach diesem benannten Systems geworden seien. Wenn dieses im Vaterlande Colberts nicht sofort, sondern erst seit der Zeit Napoleons Frucht getragen habe, so seien daran nicht Colbert und sein System, sondern die Aufhebung des Ediktes von Nantes, der auf dem Bauernstande lastende feudale Druck und die harte Besteuerung für unproduktive Zwecke schuld gewesen. Gerade die Engländer hätten nie, seitdem sie gewerbfleißig geworden seien, eine andere Politik befolgt als die später nach Colbert benannte. Anfänglich ein reiner Ackerbaustaat, der Getreide und Wolle ausführte und von den Italienern, Niederländern und Hansekaufleuten ebenso ausgebeutet wurde, wie er später die übrigen Staaten ausbeutete, fing England im sechzehnten Jahrhundert an, sich dieser Ausbeutung zu erwehren. Statt Tuch führte man niederländische Weber ein, und nachdem man von diesen die Tuchbereitung gelernt hatte, sperrte man das Land gegen die fremden Fabrikate ab, erschwerte die Ausfuhr der heimischen Rohstoffe und sicherte sich den Bezug billiger Rohstoffe durch die Gründung von Kolonien, die man zwang, als Bezahlung englische Fabrikate zu nehmen. Elisabeth schloß den Stahlhof der deutschen Kaufleute, Cromwell zwang die Engländer durch die Navigationsakte, sich eine eigene Marine zu schaffen und den holländischen Frachthandel zu vernichten; durch den Methuen-Vertrag 1703, der den englischen Textilwaren den portugiesischen Markt erschloß, und den Assiento-Vertrag 1713, der ihnen das Monopol des Sklavenhandels sicherte, verschafften sie sich die Mittel zur Unterjochung Ostindiens, dessen Reichtümer sie sich zuerst durch einfache Plünderung und dann durch ihre Handelspolitik aneigneten. Unter anderem verboten sie die Einfuhr indischer Gewebe in England, obwohl diese weit billiger und schöner als die englischen waren. Wo ihnen, wie das in Portugal nach Abschluß des Methuen-Vertrages anfänglich der Fall war, noch eine kleine Zollschranke im Wege stand, wurde diese durch den großartigsten Schmuggel und den frechsten Betrug unschädlich gemacht. Den Hauptgrundsatz der richtigen Handelspolitik erkannte die Regierung, und das bedeutet in England die Gesamtheit der herrschenden Klassen, im Anfang des vorigen Jahrhunderts, und hat ihn seitdem planmäßig durchgeführt. »Es ist einleuchtend,« lasten die Minister den König bei Eröffnung des Parlaments von 1721 sagen, »daß nichts so sehr zur Beförderung des öffentlichen Wohlstandes beiträgt, als die Ausfuhr von Manufakturwaren und die Einfuhr fremder Rohstoffe.« List selbst drückt das so aus: »Man kann als Regel aufstellen, daß eine Nation um so reicher und mächtiger ist, je mehr sie Manufakturprodukte exportiert, je mehr sie Rohstoffe importiert und je mehr sie an Produkten der heißen Zone konsumiert.«

Den Erfolgen dieser Politik versetzte der amerikanische Unabhängigkeitskrieg den ersten, die Kontinentalsperre den zweiten Stoß. Jener Krieg beraubte England nicht allein eines ungeheuren Kolonialgebiets, sondern begründete auch eine eigene Industrie in den Vereinigten Staaten, die nach List nur den Fehler begingen, nicht folgerichtig genug beim Ausschluß englischer Waren zu beharren. Dieselbe Wirkung brachte die Kontinentalsperre in Deutschland und Frankreich hervor; Napoleon wird daher von List als größtes politisches Genie gefeiert, an dem nur die maßlose Herrschsucht zu beklagen sei. Um die in Amerika, Deutschland und Frankreich neubegründeten Industrien wieder zu vernichten, fingen jetzt die Engländer an, den Völkern die Smithsche Freihandelstheorie zu predigen, denn, wie ein Amerikaner witzig bemerkt hat, die Engländer fabrizieren ihre Theorien wie ihre Waren weniger für den eigenen Gebrauch als für den Export. Sie selbst machten davon nur so weit Gebrauch, als es ihnen zuträglich schien, und führten sogar agrarische Schutzzölle ein, womit sie allerdings nach Lists Ansicht eine Dummheit begingen. Die englischen Fabrikanten waren »patriotisch« genug, in kritischen Zeiten ihre Waren unter dem Herstellungspreise ins Ausland zu verkaufen, und Henry Brougham, der spätere Lord Brougham, sagte 1815 im Parlament, solche Opfer machten sich bezahlt, denn sie würden zu dem Zwecke gebracht, die ausländische Industrie in der Wiege zu ersticken.

Zur Durchführung ihrer Handelspolitik zettelten die Engländer unzählige Kriege an. Diese waren, wie List beweist, nicht allein als Mittel zum Zweck, sondern an sich vorteilhaft, indem sie den Bedarf an Schiffen und Industrieerzeugnissen steigerten und den Engländern Gelegenheit gaben, ihren lieben Bundesgenossen Subsidien zu zahlen und sie damit auszusaugen, wie vormals Rom die Staaten ausgesaugt hatte, die so unglücklich waren, für Freunde des römischen Volks erklärt zu werden. Denn die gezahlten Subsidien wurden regelmäßig in englische Fabrikate umgesetzt, bereicherten so die Engländer und erstickten das Gewerbe der Bundesgenossen, während die Feinde durch den Krieg zur gewerblichen Selbständigkeit gezwungen wurden und so Vorteil davon hatten. Auch die ungeheure Staatsschuld, die sich England durch seine Kriege zugezogen hat, »wäre kein so großes Übel, als es uns jetzt scheint, wollte nur Englands Aristokratie zugeben, daß diese Last von denen getragen würde, denen der Kriegsaufwand zu gute gekommen ist – von den Reichen. Nach M. Queen beträgt das Kapitalvermögen der drei Königreiche über 4000 Millionen Pfund Sterling, und Martin schätzt die in den Kolonien angelegten Kapitalien auf ungefähr 2600 Millionen. Hieraus ergiebt sich, daß der neunte Teil des englischen Privatvermögens zureichen würde, die ganze Staatsschuld zu decken. Nichts wäre gerechter, als eine solche Repartition oder wenigstens die Bestreitung der Interessen der Staatsschuld vermittelst einer Einkommentaxe. Die englische Aristokratie findet es aber bequemer, sie durch Konsumtionsauflagen zu decken, wodurch der arbeitenden Klasse ihre Existenz bis zur Unerträglichkeit verkümmert wird.« Hierzu müssen wir doch bemerken, daß die indirekten Steuern und die Lebensmittelzölle keineswegs die Hauptursache des Elends gewesen sind, worin die englischen Lohnarbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschmachtet haben, und daß die eben angeführte Stelle eine der wenigen ist, wo List dieses Elend andeutet. Für gewöhnlich malt er die englischen Arbeiterzustände rosenfarben. Ein Mann, der eine weltgeschichtliche Wendung herbeizuführen hat, muß gegen die Bedenken, die ihn auf seiner Bahn aufhalten könnten, blind sein. List hat das englische Elend einfach nicht gesehen, und wenn es sich ihm in einzelnen Augenblicken aufdrängt, so läßt er es als Einwand gegen den Industrialismus nicht gelten. Einmal schreibt er: »Wenn wir das Bestreben, die monarchische Gewalt und die Existenz des Adels zu untergraben, für gemeinschädlich und thöricht halten, so erscheint uns Haß, Mißtrauen, Eifersucht gegen das Aufkommen eines freien, industriellen und reichen Bürgertums und gegen die Gesetzesherrschaft (er meint den Verfassungsstaat) als ein noch größerer Fehler, weil in ihnen für Dynastie und Adel die Hauptgarantie ihrer Prosperität und Fortdauer liegt. Ein solches Bürgertum nicht wollen, heißt der Nation die Wahl stellen zwischen fremdem Joch und innerlichen Konvulsionen. Darum ist es auch so traurig, wenn man die Übel, von denen in unseren Tagen die Industrie begleitet ist, als Motive geltend machen will, die Industrie selbst von sich abzuweisen. Es giebt weit größere Übel als einen Stand von Proletariern: leere Schatzkammern – Nationalunmacht – Nationalknechtschaft – Nationaltod.« Man kann sagen: da Elend in der einen oder in der anderen Form auf Erden nun einmal unabwendbar zu sein scheint, so habe List das englische Elend dem russischen vorgezogen, weil jenes nur Begleiterscheinung einer die Zukunft in sich tragenden Kraftentwickelung, dieses dagegen, wo nicht Fäulnissymptom, so doch Wirkung der Unmacht und Kraftlosigkeit ist.

In folgenden Sätzen faßt List die Grundsätze der englischen Staatskunst zusammen. Es sei Regel: »die Einfuhr von produktiver Kraft der Einfuhr von Waren stets vorzuziehen; das Aufkommen der produktiven Kraft sorgfältig zu pflegen und zu schützen; nur Rohstoffe und Agrikulturprodukte einzuführen und nur Manufakturwaren auszuführen; den Überschuß an produktiver Kraft auf Kolonisation und die Unterwerfung barbarischer Völker zu verwenden; die Versorgung der Kolonien und unterworfenen Länder mit Manufakturwaren dem Mutterlande ausschließlich vorzubehalten, dagegen aber denselben ihre Rohstoffe und besonders ihre Kolonialprodukte vorzugsweise abzunehmen; die Küstenfahrt, die Schiffahrt zwischen dem Mutterlande und den Kolonien ausschließlich zu besorgen, die Seefischerei durch Prämien zu ermuntern und an der internationalen Schiffahrt den möglichst größten Anteil zu erlangen; auf diese Weise eine Seesuprematie zu gründen und vermittelst ihrer den auswärtigen Handel auszubreiten und den Kolonialbesitz fortwährend zu vergrößern; Freiheit im Kolonialhandel und in der Schiffahrt nur zuzugeben, insofern dabei mehr zu gewinnen, als zu verlieren ist; unabhängigen Nationen Zugeständnisse in der Einfuhr von Bodenerzeugnissen nur zu machen, wenn dadurch Zugeständnisse für die englische Ausfuhr zu erlangen sind; wo dergleichen Zugeständnisse nicht zu erlangen sind, den Zweck durch Schmuggel zu erreichen; Kriege zu führen und Allianzen zu schließen, mit alleiniger Rücksicht auf das Interesse von Gewerbe, Handel und Schiffahrt; die wahre Politik Englands durch die von Adam Smith erfundenen kosmopolitischen Redensarten und Argumente zu verdecken, um fremde Nationen abzuhalten, diese Politik nachzuahmen.«

Und diese englische Politik ist es nun, die List in seinem »System« wissenschaftlich begründet und – ohne ihre Übertreibungen – seinen Deutschen empfiehlt. Im großen und ganzen geschieht das in Form einer Polemik gegen Adam Smith, dessen Lehre er als das Gegenteil der englischen Politik darstellt. Was er »der Schule«, wie er die Anhänger des großen englischen Nationalökonomen zu nennen liebt, zunächst und zumeist vorwirft, ist dieses, daß sie nur eine Wissenschaft der Tauschwerte lehre, während die echte Nationalökonomie eine Wissenschaft der Produktivkräfte sei. »Wer Schweine züchtet, ist nach jener Schule ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Wer Dudelsäcke oder Maultrommeln zum Verkauf fertigt, produziert; die größten Virtuosen sind nicht produktiv, da man das, was sie spielen, nicht zu Markte tragen kann. Der Arzt, der seinen Patienten rettet, gehört nicht in die produktive Klasse, aber der Apothekerjunge, obgleich die Tauschwerte, die er produziert, die Pillen, nur wenige Minuten existieren und dann ins Wertlose übergehen. Ein Newton, ein Watt, ein Kepler ist nicht so produktiv wie ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugstier. Wenn von zwei Gutsbesitzern jeder fünf Söhne hat und 1000 Thaler jährlich erübrigt, der eine aber seinen Überschuß auf Zinsen anlegt und seine Söhne auf dem Acker arbeiten läßt, während der andere ihn darauf verwendet, zwei seiner Söhne zu rationellen Landwirten auszubilden, die drei übrigen Gewerbe erlernen zu lassen, so handelt jener nach der Theorie der Werte, dieser nach der Theorie der produktiven Kräfte. Bei seinem Tode mag jener an Tauschwert weit reicher sein, als dieser, anders aber verhält es sich mit den produktiven Kräften. Der Grundbesitz des einen wird in zwei Teile geteilt werden, und jeder Teil wird mit Hilfe einer verbesserten Wirtschaft so viel Reinertrag gewähren, wie vorher das Ganze, während die übrigen Söhne in ihren Geschicklichkeiten reiche Nahrungsquellen erworben haben. Der Grundbesitz des anderen wird in fünf Teile geteilt werden, und jeder Teil wird ebenso schlecht bewirtschaftet werden, wie früher das Ganze. In der einen Familie wird eine Menge verschiedenartiger Geisteskräfte und Talente geweckt und ausgebildet werden, die sich von Generation zu Generation vermehren, während in der anderen Familie die Dummheit und Armut mit der Verminderung der Anteile am Grundbesitz steigen muß. So vermehrt der Sklavenbesitzer durch die Aufzucht von Sklaven die Summe seiner Tauschwerte, aber er ruiniert die produktive Kraft künftiger Generationen. Aller Aufwand auf den Unterricht der Jugend, auf die Pflegung des Rechts, auf die Verteidigung der Nation ist eine Zerstörung von Werten zu Gunsten der produktiven Kraft.« Mögen immerhin die marktgängigen Tauschwerte das ausmachen, was man gewöhnlich Reichtum nennt, aber »die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist unendlich wichtiger, als der Reichtum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Erworbenen, sondern auch den Ersatz des Verlorenen. Dies ist noch viel mehr der Fall bei ganzen Nationen, die nicht von Renten leben können, als bei Privaten. Deutschland ist in jedem Jahrhundert durch Pest, durch Hungersnot oder durch äußere und innere Kriege verheert worden; immer hat es aber einen großen Teil seiner produktiven Kräfte gerettet, und so gelangte es schnell wieder zu einigem Wohlstand, während das reiche und mächtige, aber despoten- und pfaffengerittene Spanien, im vollen Besitz des inneren Friedens, immer tiefer in Armut und Elend versank. Der nordamerikanische Befreiungskrieg hat die Nation hunderte von Millionen gekostet, aber ihre produktive Kraft ward durch die Erwerbung der Selbständigkeit unermeßlich gestärkt, darum konnte sie im Laufe weniger Jahre nach dem Frieden ungleich größere Reichtümer erwerben, als sie je zuvor besessen hatte. Man vergleiche den Zustand von Frankreich im Jahre 1809 mit dem von 1839, welch ein Unterschied! Und doch hat Frankreich zwischen 1809 und 1839 seine Herrschaft über einen großen Teil des europäischen Kontinents verloren, zwei verheerende Invasionen erlitten und Milliarden an Kriegskontributionen und -Entschädigungen entrichtet.«

In welchem Grade aber die geistigen Mächte wirtschaftlich produktiv sind, sehen wir, wenn wir den Blick von dem verkommenen Spanien auf England lenken. Die unermeßliche Produktivkraft dieses Landes und sein Reichtum, lehrt List, sind keineswegs nur eine Wirkung der physischen Macht der Nation und der Habsucht der Individuen; »das ursprüngliche Freiheits- und Rechtsgefühl, die Energie, die Religiösität und Moralität des Volkes; die Konstitution des Landes, die Institutionen, die Weisheit und Kraft der Regierung und der Aristokratie; die geographische Lage, die Schicksale des Landes, ja auch die Glücksfälle haben daran ihren Teil. Es ist schwer zu sagen, ob die materiellen Kräfte mehr auf die geistigen, oder die geistigen mehr auf die materiellen, ob die gesellschaftlichen Kräfte mehr auf die individuellen Kräfte, oder diese mehr auf jene wirken. So viel ist aber gewiß, daß beide in gewaltiger Wechselwirkung stehen, daß das Wachstum der einen das Wachstum der anderen fördert, und daß die Schwächung der einen stets die Schwächung der anderen zur Folge hat. Die die Grundursachen der Größe Englands einzig in der Mischung des angelsächsischen mit dem normannischen Blut suchen, mögen auf den Zustand dieses Landes vor Eduard III. einen Blick werfen. Wo war da der Fleiß und die Wirtschaftlichkeit der Nation? Die sie allein in der konstitutionellen Freiheit des Landes suchen, mögen bedenken, wie noch Heinrich VIII. und Elisabeth ihre Parlamente behandelt haben. Wo war da konstitutionelle Freiheit? Zu jener Zeit besaßen Deutschland und Italien in ihren Städten eine unendlich größere Summe von individueller Freiheit als England. Nur ein Kleinod der Freiheit hatte der angelsächsisch-normannische Stamm vor anderen Völkern germanischer Abkunft bewahrt – es war der Kern, dem aller Freiheits- und Rechtssinn der Engländer entsprossen ist – das Geschworenengericht. Als man in Italien die Pandekten aus dem Grabe holte und der Leichnam (eines großen Toten, eines Weisen bei Lebzeiten!) die Rechtspest über die Völker des Kontinents brachte, da thaten die englischen Barone den Ausspruch: keine Änderung in den englischen Gesetzen! Welche Summe von geistiger Kraft sicherten sie dadurch den künftigen Generationen!« Nirgends trete der Einfluß von Freiheit und Intelligenz auf die Macht und den Reichtum der Nationen so deutlich hervor, wie in der Schiffahrt. Denn sie erfordere mehr als die meisten anderen Gewerbe Energie, Mut, Unternehmungsgeist und Ausdauer, »Eigenschaften, die nur in der Luft der Freiheit gedeihen. Bei keinem Gewerbe haben Unwissenheit, Aberglaube und Vorurteil, Indolenz, Feigheit, Verweichlichung und Schwäche so verderbliche Folgen, nirgends ist das Gefühl persönlicher Selbständigkeit so unerläßlich. Daher weist auch die Geschichte kein einziges Beispiel auf, daß sich ein versklavtes Volk in Schiffahrt hervorgethan hätte.« Nach alledem sei das Smithsche System gar kein System der Volkswirtschaft, sondern bloß eine Handelslehre, und verdiene den Namen Merkantilsystem, den man dem Colbertschen fälschlich beigelegt habe. Den Prozeß der Reichtumsanhäufung habe es ja sehr gut dargestellt, aber einer seiner Hauptmängel bestehe darin, »daß es nur ein System der Privatökonomie aller Individuen eines Landes oder auch des ganzen menschlichen Geschlechts war, wie sie sich bilden und gestalten würde, wenn es keine Staaten, Nationen und Nationalinteresse, keine besonderen Verfassungen und Kulturzustände, keine Kriege und Nationalleidenschaften gäbe.«

Damit ist der zweite Grundfehler ausgesprochen, dessen List »die Schule« beschuldigt, sie übersieht das Mittelglied zwischen dem Privatwirt und der Menschheit: die Nation. »Auf die Natur der Nationalität als des Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit ist mein ganzes System gegründet. Einigung der individuellen Kräfte zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke ist das mächtigste Mittel zur Bewirkung der Glückseligkeit der Individuen. Allein und getrennt von seinen Mitmenschen ist das Individuum schwach und hilflos. Je größer die Zahl derer ist, mit denen es in gesellschaftlicher Verbindung steht, je vollkommener die Einigung, desto größer und vollkommener das Produkt – die geistige und körperliche Wohlfahrt der Individuen. Die höchste zur Zeit realisierte Einigung der Individuen unter dem Rechtsgesetz ist die des Staats und der Nation; die höchste gedenkbare Vereinigung ist die der gesamten Menschheit.« Aber diese letzte sei noch nicht hergestellt, deshalb eine von der Politik losgetrennte Volkswirtschaft nicht denkbar. Die produktiven Kräfte bloß vom politischen Standpunkte, und die besonderen Interessen der Nationen vom kosmopolitischen aus betrachten, das sei beides gleich verkehrt. Die kosmopolitische Ökonomie zu verwerfen, sei er weit entfernt; »nur sind wir der Meinung, daß auch die politische Ökonomie auszubilden, und daß es immer besser sei, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, als ihnen Benennungen zu geben, die mit der Bedeutung der Worte im Widerspruch stehen. Will man den Gesetzen der Logik und der Natur der Dinge getreu bleiben, so muß man der Privatökonomie die Gesellschaftsökonomie gegenüberstellen und in der letzteren unterscheiden: die politische oder Nationalökonomie, welche lehrt, wie eine gegebene Nation bei der gegenwärtigen Weltlage und bei ihren besonderen Verhältnissen ihre ökonomischen Zustände behaupten und verbessern kann, von der kosmopolitischen oder Weltökonomie, welche von der Voraussetzung ausgeht, daß alle Nationen der Erde nur eine einzige, unter sich in ewigem Frieden lebende Gesellschaft bilden. Setzt man dieses voraus, so erscheint die internationale Handelsfreiheit als vollkommen gerechtfertigt. Je weniger jedes Individuum in der Verfolgung seiner Wohlfahrtszwecke beschränkt, je größer die Zahl und der Reichtum derer ist, mit denen es in freiem Verkehr steht, je größer der Raum ist, auf welchen sich seine Thätigkeit zu erstrecken vermag, um so leichter wird es ihm sein, die ihm von der Natur verliehenen Eigenschaften, die erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten und die ihm zu Gebote stehenden Naturkräfte zur Vermehrung seiner Wohlfahrt zu benutzen. Man denke sich alle Nationen auf gleiche Weise vereinigt (wie Großbritannien und Irland; heute würden wir lieber sagen, wie die Gebiete des anglo-indischen Reiches), und die lebhafteste Phantasie wird nicht imstande sein, sich die Summe von Wohlfahrt und Glück vorzustellen, die daraus dem menschlichen Geschlecht erwachsen müßte.«

Leider seien wir noch lange nicht so weit, und darin eben bestehe ein dritter Fehler der Schule, daß sie den Idealzustand, die Völkerverbrüderung, als gegenwärtig schon verwirklicht voraussetze. Anzustreben sei er ohne Zweifel, der Schutzzoll sei nicht Selbstzweck, sondern nur Erziehungsmittel, als solches aber vorläufig unentbehrlich. Denn Freiheit werde erst dann vorhanden sein, wenn gleich starke Nationen ihre Erzeugnisse auf gleichem Fuße miteinander austauschen würden, gegenwärtig aber sei England allein stark, und alle übrigen Nationen würden von ihm ausgebeutet. Bei dieser Lage der Dinge würde Handelsfreiheit zur Folge haben, »daß sich ganz England zu einer einzigen unermeßlichen Manufakturstadt ausbildete. Asien, Afrika, Australien würden von England zivilisiert und mit neuen Staaten nach englischem Muster besät. So entstände eine Welt von englischen Staaten, unter dem Präsidium des Mutterstaates, in welchem sich die europäischen Kontinentalnationen als unbedeutende, unfruchtbare Volksstämme verlören. Frankreich würde sich mit Spanien und Portugal in die Aufgabe teilen, dieser englischen Welt die besten Weine zu liefern und die schlechten selbst zu trinken; höchstens dürfte den Franzosen die Fabrikation einiger Putzwaren verbleiben. Deutschland aber würde dieser englischen Welt schwerlich noch etwas anderes zu liefern haben als Kinderspielwaren, hölzerne Wanduhren, philologische Schriften und zuweilen ein Hilfskorps, das sich dazu hergäbe, in den Wüsten Asiens und Afrikas für die Ausbreitung der englischen Manufaktur- und Handelsherrschaft, der englischen Litteratur und Sprache zu bluten. Nicht viele Jahrhunderte dürfte es anstehen, so würde man in dieser englischen Welt mit derselben Achtung von den Deutschen und den Franzosen sprechen, womit wir von den Asiaten reden.« Also ein Zustand, wo ungerüstete und ungeschützte Kinder mit einem Riesen zu ringen haben, das sei, für die Kinder wenigstens, keine Freiheit. Keineswegs wünsche er, daß England gedemütigt werde und verarme. Es könne reich und mächtig bleiben, wenn auch sein Monopol gebrochen werde, und die Kontinentalmächte ihre Stellung als unabhängige Industriestaaten neben ihm behaupteten.

Der Zollschutz, heißt es weiter, ist nicht etwa ein unberechtigter Eingriff des Staates in die individuelle Freiheit. Der Staat schreibt dadurch nicht vor, welchen Beruf einer ergreifen und wie er sein Kapital verwenden soll. Der Staat sagt nur: »Es liegt im Interesse unserer Nation, daß wir die und die Manufakturwaren selbst fabrizieren; da wir uns aber bei freier Konkurrenz des Auslandes diesen Vorteil nicht verschaffen können, so haben wir sie insoweit beschränkt, als wir es für nötig erachteten, um solchen unter uns, die ihr Kapital auf diesen neuen Industriezweig verwenden, und denen, die ihm ihre körperlichen und geistigen Kräfte widmen, die Garantie zu geben, daß sie ihr Kapital nicht verlieren und ihren Lebensberuf nicht verfehlen, und um die Fremden anzureizen, mit ihren produktiven Kräften zu uns überzutreten. Weit entfernt davon, hierdurch die Privatindustrie zu beschränken, verschafft so der Staat den persönlichen, den Natur- und Kapitalkräften der Nation ein größeres und weiteres Feld der Thätigkeit. Damit thut er nicht etwas, was die Individuen besser wüßten und thun könnten; im Gegenteil, er thut etwas, was die Individuen, selbst wenn sie es verständen, nicht für sich selbst zu thun vermöchten. Die Behauptung der Schule, das Schutzsystem fordere rechtswidrige und antiökonomische Eingriffe der Staatsgewalt in die Kapitalverwendung und Industrie der Privaten, erscheint im mindest vorteilhaften Lichte, wenn wir bedenken, daß es die fremden Handelsregulationen sind, die sich dergleichen Eingriffe in unsere Privatindustrie zu Schulden kommen lassen,« indem z. B. die Überschwemmung des heimischen Marktes mit einer wohlfeilen, ausländischen Ware die Erzeugung dieser Ware im Inlande unmöglich macht.

Aber, führt List weiter aus, die Natur des Schutzzolls als eines Erziehungsmittels müsse scharf im Auge behalten werden, sonst verirre man sich zu falschen Anwendungen. Nicht schon auf der untersten Stufe sei er zulässig. »Je weniger die Agrikultur sich ausgebildet hat, und je mehr der auswärtige Handel Gelegenheit bietet, den Überfluß an einheimischen Agrikulturprodukten und Rohstoffen gegen Manufakturwaren zu vertauschen; je mehr die Nation dabei noch in Barbarei versunken ist und einer absolut monarchischen Regierung und Gesetzgebung bedarf, um so förderlicher wird der freie Handel ihrem Wohlstande und ihrer Zivilisation sein.« Erst wenn die gewerblichen Kräfte der Nation, ihre Einsicht und ihre Handfertigkeit, so weit entwickelt sind, daß sie Aussicht hat, konkurrenzfähig zu werden, darf sie anfangen, vorsichtig niedrige Schutzzölle einzuführen, die dann in dem Maße, als die ausländischen Waren überflüssig werden, allmählich zu erhöhen sind. (Da unter den Produktionskräften, wollen wir hier, List ergänzend, einschalten, die geistigen den höchsten Rang einnehmen, so konnten den Deutschen, den Franzosen und den Nordamerikanern die Schutzzölle nützen, während die Russen, d. h. die Hauptmasse des russischen Volkes, durch jede Zollsperre nur mehr verarmen, wenn auch die in einigen Grenzprovinzen unter der Leitung ausländischer Ingenieure und Werkführer gewaltsam großgezogenen Industrien ganz gut rentieren. Rußland steht heute noch auf jener unentwickelten Stufe, die den Freihandel und – die Freizügigkeit, die freie Einwanderung gebildeter und gewerbthätiger Ausländer fordert.) Prohibitivzölle sind, außer als nach kurzer Anwendung wieder zu beseitigendes Kampfmittel, verwerflich, Handelsverträge dagegen nützlich; nur vom Standpunkte des absoluten Freihandels kann man sie bekämpfen, wie Smith gethan hat; wenn Schutzzöllner Feinde von Handelsverträgen sind, so wissen sie nicht, was sie wollen und was sie thun. Aus alledem geht hervor, einmal, daß für die verschiedenen Staaten, die ja zur selben Zeit auf verschiedenen Stufen der gewerblichen Entwickelung stehen, verschiedene Systeme angezeigt sind, und zum anderen, daß jeder Staat im Laufe der Zeit öfter mit den Systemen wechseln muß. Ist ein Staat konkurrenzfähig, das Erziehungsmittel also überflüssig geworden, so müssen die Zollschranken fallen. England, meint List, habe einen großen Fehler begangen und zugleich seinen Konkurrenten einen großen Gefallen damit erwiesen, daß es nicht rechtzeitig die Krücken vollständig weggeworfen habe. Die allergrößte Thorheit aber, sagt er, hat es mit Einführung der Kornzölle begangen. Zölle auf Nahrungsmittel und Rohstoffe sind unter allen Umständen verwerflich, sie wirken ganz anders wie die Schutzzölle auf Erzeugnisse des Gewerbes. Ganz thöricht sei es, wenn die Landwirte die Agrarzölle als eine ihnen gebührende Entschädigung für die Bewilligung von Industriezöllen forderten. »Wenn früher die Grundbesitzer Opfer brachten, um eine eigene National-Manufakturkraft zu pflanzen, so thaten sie, was die Ansiedler in der Wildnis thun, wenn sie Opfer bringen, damit in der Nähe ihrer Farmen eine Mahlmühle oder ein Eisenhammer angelegt werde. Wenn aber die Grundbesitzer nunmehr auch Schutz für ihre Landwirtschaft verlangen, so thun sie, was jene Ansiedler thun würden, wenn sie, nachdem die Mühle mit ihrer Beihilfe errichtet worden ist, von dem Müller verlangten, daß er ihnen ihre Felder bestellen helfe.« Die Landwirte könnten ohne Gewerbe nicht wohlhabend werden, die Gewerbe aber könnten nicht blühen ohne billige Rohstoffe und Lebensmittel; indem ihnen die Grundbesitzer beides verteuerten, schlachteten sie die Henne, die ihnen goldene Eier lege. Die Lebensmitteleinfuhr hält List für kein Übel; in einer anderen Schrift spricht er die Hoffnung aus, daß Deutschland noch einmal ein korneinführendes Land werden werde. Den reinen Agrikulturstaat, dessen Bevölkerung arm, roh und ohnmächtig bleiben müsse, behandelt er geringschätzig; er tadelt Smith und die Physiokraten, daß sie das Landleben und den Ackerbau überschätzt hätten, preist dagegen das geistig bewegte Leben der Städte und – wie der Leser schon weiß – den Luxus als Stachel zur Produktion. »Beim rohen Ackerbau herrscht Geistesträgheit, körperliche Unbeholfenheit, Festhalten an alten Begriffen, Gewohnheiten, Gebräuchen und Verfahrungsweisen, Mangel an Bildung, Wohlstand und Freiheit. Den Manufaktur- und Handelsstaat dagegen charakterisiert der Geist des Strebens nach steter Vermehrung der geistigen und der materiellen Güter, des Wetteifers und der Freiheit. Der Landwirt hat weniger mit Menschen, als mit der Natur zu thun, die Gewerbetreibenden dagegen leben nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft, nur im Verkehr und durch den Verkehr.« Wo der Landwirt intelligent und strebsam sei, da habe er es den Gewerben zu danken. Sie allein auch bereichern ihn, schaffen die Bodenrente und steigern sie fortwährend. »Ganz Kanada, in seinem ursprünglichen Zustande, bloß von Jägern bewohnt, würde an Fleisch und Häuten schwerlich Rente genug abwerfen, um einen einzigen Professor der politischen Ökonomie zu besolden.«

Aber auch dem Landwirt erwächst Rente erst aus dem Absatz seiner Erzeugnisse an die Stadt. Ohne städtisches Leben kann der Menschengeist nicht alle seine Anlagen entfalten, und kann eine Nation nicht den höchsten Grad von Wohlstand und Wohlbefinden erlangen. Und zwar ist für die höhere Kultur wie für den Wohlstand das Gewerbe wichtiger als der Handel, und der Binnenhandel wiederum wichtiger als der Auslandshandel. Dieser macht das Einkommen schwankend und erzeugt Abhängigkeit vom Auslande, namentlich in der Form der Verschuldung. Was die Bedeutung des Bargeldes anlangt, so ist dessen Quantität an sich allerdings gleichgiltig, da es keinen Unterschied macht, ob man sein Erzeugnis um 100 Centimes oder um 100 Franken verkauft, vorausgesetzt, daß man im ersten Fall für 100 Centimes ebensoviel Waren bekommt, wie im zweiten für 100 Franken. Aber die Preisfälle und die Preissteigerungen, die vorzugsweise durch den Auslandsverkehr hervorgerufen werden, verursachen große Leiden. Daher ist ein Zustand zu erstreben, wo die meisten und wichtigsten Bedürfnisse durch die inländische Produktion befriedigt werden, und der Auslandshandel sich, von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, auf den Austausch von Manufakturwaren gegen Tropenprodukte beschränkt. Je leichter der Verkehr im Innern, desto lebhafter und einträglicher ist die Produktion; wo Landwirt und Manufakturist nicht in unmittelbarer Nähe nebeneinander produzieren können, da müssen sie durch gute Verkehrsanstalten einander nahe gerückt werden. »Gesetzt, hatte er in den Outlines den Amerikanern gesagt, gesetzt, ihr verstündet nicht die Kunst, das Getreide zu mahlen, was sicherlich seinerzeit eine große Kunst gewesen ist, und auch die Kunst des Brotbackens wäre euch verborgen geblieben; gesetzt also, ihr müßtet euer Getreide nach England schicken, um es dort zu Mehl vermahlen und zu Brot verbacken zu lassen, wie viel von diesem Getreide würden die Engländer als Lohn für das Mahlen und Backen in Händen behalten? Wieviel davon verzehren würden die Fuhrleute, die Seefahrer, die Kaufleute, die es übernähmen, euer Getreide zu exportieren und euch Brot zu importieren?« Ähnlich ergehe es dem Landwirt, der keine Stadt in der Nähe hat; er kann nur solche Produkte absetzen, die einen weiten Transport vertragen, und das sind die wertloseren, und einen großen Teil des Wertes dieser Produkte verschlingen die Transportkosten. Das Ideal Lists ist also der sich selbst genügende Agrikultur-Manufakturhandelstaat, wie er ihn nennt.

Die Wahl des für einen Staat passenden Handelssystems hängt aber nicht allein von der Kulturstufe ab, die er erreicht hat, sondern auch von seiner Größe. Nicht jedes kleine Völkchen, wie etwa die Schweizer oder die Holländer (denen eine vorübergehende Konjunktur zu einer vorübergehenden Weltstellung verholfen hat) darf sich einbilden, eine Nation zu sein und nationale Handelspolitik treiben, ein selbständiges Wirtschaftsgebiet bilden zu können; in Zwergstaaten wird, wie schon bemerkt wurde, jeder Zollschutz zum Privatmonopol. »Große Bevölkerung und ein weites, mit mannigfaltigen Naturfonds ausgestattetes Territorium sind wesentliche Erfordernisse der normalen Nationalität.« Die Schweiz, Belgien, Holland und Dänemark müssen Deutschland wirtschaftlich eingegliedert werden, so daß ein einziges großes Handelsgebiet daraus wird; weiterhin haben sich alle Staaten des europäischen Festlands zu verbinden, um Englands Monopol zu brechen. Ganz Asien ist von diesem europäischen Bunde »in Zucht und Pflege zu nehmen, wie bereits Ostindien von England in Zucht und Pflege genommen worden ist«. Steigt die Volkszahl eines Landes bis zum Sättigungsgrade, so hat jedem weiteren Bevölkerungszuwachs eine entsprechende Ausdehnung des Ernährungs- und Wirkungsbereichs zu folgen; man dürfe nicht kaltherzig, wie die Schule es thue, die Überzähligen zum Verhungern verurteilen, noch dazu in einem viel zu frühen Stadium. »Nur die Verkennung der kosmopolitischen Tendenz der produktiven Kräfte konnte einen Malthus zu dem Irrtum verleiten, die Volksvermehrung beschränken zu wollen, nur infolge dieses Irrtums konnte bei neueren Volkswirten die sonderbare Ansicht entstehen, die Vermehrung der Kapitalien und die unbeschränkte Produktion seien Übel, deren Grenzen zu setzen die allgemeine Wohlfahrt erheische, konnte Sismondi die Fabriken für gemeinschädliche Dinge erklären. Die Theorie gleicht hier dem Saturn, der seine eigenen Kinder verschlingt. Sie, die aus der Vermehrung der Bevölkerung, der Kapitalien und der Maschinen die Teilung der Arbeit hervorgehen läßt und aus dieser den Wohlstand der Gesellschaft erklärt, betrachtet zuletzt diese Kräfte als Ungeheuer, die den Wohlstand der Völker bedrohen, weil sie, nur den gegenwärtigen Zustand einzelner Nationen im Auge, die Zustände des ganzen Erdkreises und die künftigen Fortschritte der Menschheit unberücksichtigt läßt. Es ist Beschränktheit, die gegenwärtigen Leistungen der Produktivkräfte zum Maßstabe dafür zu nehmen, wie viel Menschen sich auf einer gegebenen Bodenfläche nähren können.« Wo beim Jäger- und Fischerleben nicht für eine Million, beim Hirtenleben nicht für zehn Millionen Raum ist, da können vom Ackerbau hundert Millionen, und wenn Gewerbe den intensiven Ackerbau möglich machen, noch weit mehr Menschen leben. Im Mittelalter erntete man von einem Weizenkorn vier Körner, heute zehn bis zwanzig. Dazu kommen heute statt der Brache Kartoffeln, Wurzelgewächse und Futterkräuter. Und wer dürfte sich vermessen, den Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen Schranken zu setzen? »Und welche Kräfte mögen noch in den Eingeweiden der Erde verschlossen sein? Man setze nur den Fall, durch eine neue Entdeckung werde man in den Stand gesetzt, ohne Hilfe der jetzt bekannten Brennmaterialien überall auf wohlfeile Weise Wärme zu erzeugen; welche Strecken Landes würden dadurch der Kultur gegeben, und in welcher unberechenbarer Weise könnte die Produktionsfähigkeit einer gegebenen Strecke Landes gesteigert werden?« Eugen Dühring hat diese Wahrheit, die dann Carey noch weiter entwickelt hat, das Gesetz der Bevölkerungskapazität getauft. List fährt an der zuletzt angeführten Stelle fort: »Erscheint uns die malthusische Lehre als ein Erzeugnis beschränkter Einsicht, so stellt sie sich in ihren Wirkungen als eine naturwidrige, Moral und Kraft tötende, horrible dar. Sie will einen Trieb töten, dessen sich die Natur als des wirksamsten Mittels bedient, die Menschen zu Anstrengungen anzuspornen und ihre edleren Gefühle zu wecken und zu nähren, einen Trieb, dem das Geschlecht den größeren Teil seiner Fortschritte zu danken hat. Sie will den herzlosesten Egoismus zum Gesetz erheben; sie verlangt, daß wir unser Herz gegen den Verhungernden verschließen, weil wenn wir ihm Speise und Trank reichen, vielleicht in dreißig Jahren ein Anderer statt seiner verhungern müßte. Sie will einen Kalkül an die Stelle des Mitgefühls setzen. Diese Lehre würde die Herzen der Menschen in Stein verwandeln. Was aber wäre von einer Nation zu erwarten, deren Bürger Steine statt Herzen im Busen trügen? Was sonst als gänzlicher Verfall aller Moralität und damit aller produktiven Kräfte und somit alles Reichtums und aller Zivilisation und Macht der Nation? Wenn in einem Lande die Bevölkerung höher steigt als die Produktion von Lebensmitteln, wenn sich die Kapitale so anhäufen, daß sie im Lande kein Unterkommen mehr finden, wenn die Maschinen Menschen außer Thätigkeit setzen und die Fabrikate sich bis zum Übermaß anhäufen, so ist dies nur ein Beweis, daß die Natur nicht haben will, daß Industrie, Zivilisation, Reichtum und Macht einer einzigen Nation ausschließlich zu teil werden, daß ein großer Teil der kulturfähigen Erde nur von Tieren bewohnt sei, und daß der größte Teil des menschlichen Geschlechts in Roheit, Unwissenheit und Armut versunken bleibe.«

Die Grundsätze, nach denen die Auswanderung zu regeln wäre, hat List in der 1842 veröffentlichten Abhandlung dargelegt: » Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung.« Leider verbietet uns Raummangel den wörtlichen Abdruck schöner Stellen, unter denen die Auswahl schwer sein würde. Er preist die alte germanische Gauverfassung, empfiehlt eine gesunde Mischung von großen, mittleren und kleinen Landgütern und sagt von den Großgrundbesitzern, vorausgesetzt, daß man ihnen keine Privilegien einräume, seien sie »in der konstitutionellen Monarchie die unabhängigsten Verteidiger der Freiheit, die natürlichsten Vertreter der Rechte des mittleren und kleinen Grundbesitzes und zugleich die sichersten Freunde und Beförderer der Künste und Wissenschaften«, was alles vom englischen Großgrundbesitz freilich gilt, kaum im vollen Umfang von unserem ostelbischen, noch weniger vom österreichischen, ganz und gar nicht vom italienischen. Auch das englische Pachtsystem findet List vorteilhafter als den mittleren und kleinen Eigenbesitz, weil der Pächter nicht durch Grundschulden ruiniert werden könne. Auswanderung sei überall dort vernünftig, wo wirklich Übervölkerung herrsche, ein Krebsschaden in Ländern, wo Mißregierung oder eine fehlerhafte Ackerverfassung oder beides die Leute forttreibe. Ein ungesunder Zustand sei es, wenn an die Stelle der nationalen Arbeitsteilung, d. h. des Übergangs der überschüssigen Bauernsöhne in die Gewerbe, Bodenzerstückelung trete, und die Güter zu klein würden, um einer Familie den anständigen Lebensunterhalt zu gewähren und den rationellen Betrieb zu ermöglichen. Auch politisch sei dieser Zustand gefährlich, weil verelendete Zwergwirte keine Vollbürger mehr sein könnten. Um die größte mögliche Zahl leistungsfähiger Bauerngüter zu erhalten, müsse die Güterteilung gesetzlich beschränkt werden; sogar Heiratsbeschränkungen seien unter Umständen nicht ganz ungerechtfertigt; ferner sei die Gemenglage zu beseitigen, der Domänen- und Gemeindebesitz zu vermindern. »Man denke sich ganz Deutschland auf diese Weise (wie kürzlich im bayerischen Schwaben geschehen war) agrarisch organisiert, man denke sich eine halbe Million Ackerhöfe, von wohlhabenden und gebildeten Landwirten bewirtschaftet und bewohnt, wovon jeder zur Nationalwehr seinen Mann, nötigenfalls zu Pferde, stellt und überhaupt seine Staatsbürgerpflichten in ihrem vollen Umfange erfüllt, und man wird sich überzeugen, daß die Ackerverfassung eine der wichtigsten Fragen ist, und daß diese Frage nicht nach der Theorie der Werte entschieden werden darf.« Bei Auswanderung wird das Gedeihen der Neuansiedlung am sichersten verbürgt, wenn die Auswanderer nicht einzeln vorgehen, sondern sich gemeindeweise ansiedeln.

Statt der überseeischen Gebiete empfiehlt List die Länder an der unteren Donau: Ungarn und die Türkei. Schon um den Levantehandel wieder zu gewinnen, müßten wir uns der Donau versichern; »allein der Weg dahin geht über Ungarn, und so lange Ungarn nicht mit Leib und Seele eins ist mit Deutschland, ist weder dort noch weiterhin etwas Tüchtiges für uns zu machen, im Verein mit Ungarn dagegen alles! Ungarn ist für Deutschland der Schlüssel zur Türkei und zur ganzen Levante, und zugleich ein Bollwerk gegen nordische Übermacht.« Seinen Prophetenblick bewährt er im Schlußkapitel des Systems (»Die Handelspolitik des deutschen Zollvereins«). Er fordert, daß das noch mangelhafte Schutzsystem ausgebaut, zunächst durch Vermehrung der Spinnereien die deutsche Textilindustrie ganz auf eigene Füße gestellt werde, daß mit Holland ein Vertrag geschlossen, der Handel mit Amerika erweitert, eine regelmäßige Dampfschiffahrt dahin eingerichtet, die Auswanderung geordnet werde. In Erwartung des Anschlusses der deutschen Seestädte und Hollands an den Zollverein müsse Preußen schon jetzt mit Schaffung einer deutschen Handelsflagge und mit Grundlegung einer künftigen Kriegsflotte den Anfang machen, auch untersuchen, ob und wie in Australien, oder in Neuseeland, oder auf anderen Inseln des fünften Weltteils deutsche Kolonien angelegt werden könnten.

Dabei erinnert er wieder an die Notwendigkeit, ein deutsches Eisenbahnsystem zu schaffen; zu alledem gehöre nichts als Energie, alle übrigen Erfordernisse seien vorhanden. Auf der Ausbildung des Schutzsystems beruhe die Existenz, die Unabhängigkeit und die Zukunft der deutschen Nationalität. »Nur in dem Boden des allgemeinen Wohlstands wurzelt der Nationalgeist, treibt er schöne Blüten und reiche Früchte, nur aus der Einheit der materiellen Interessen erwächst die geistige und nur aus beiden die Nationalkraft. Welchen Wert aber haben alle unsere Bestrebungen, seien wir Regierende oder Regierte, vom Adel oder vom Bürgerstande, Gelehrte, Soldaten oder Zivilisten, Gewerbtreibende, Landwirte oder Kaufleute, ohne Nationalität, und ohne Garantie für die Fortdauer unserer Nationalität!« Mut und Energie, das, wiederholt er immer scheltend und aufmunternd, sei das einzige, was dem von der Natur mit allen Gaben gesegneten deutschen Volke fehle. »Manufakturen, Handel und Schiffahrt gehen einer Zukunft entgegen, welche die Gegenwart so weit überragen wird, als die Gegenwart die Vergangenheit überragt, nur muß man den Mut haben, an eine große Nationalzukunft zu glauben und in diesem Glauben vorwärts zu schreiten.«

Zu den Irrtümern, durch die nach Lists Meinung Adam Smith die Völker am Fortschreiten hindert, gehört auch seine Lehre, daß die Kapitalien ausschließlich durch Sparen gebildet würden. Er »reduziert den Prozeß der Kapitalbildung in der Nation auf die Operation eines Rentners, dessen Einkommen von der Höhe seines Kapitals abhängt, und der dieses Einkommen nur durch Ersparnisse, die er zum Kapital schlägt, vermehren kann. Smith bedenkt nicht, daß diese Spartheorie, die im Kaufmannskontor allerdings richtig ist, von einer ganzen Nation befolgt, zur Armut, zur Barbarei, zur Unmacht, zur Nationalauflösung führen muß. Wo jeder soviel spart und entbehrt, wie er kann, da ist kein Reiz zur Produktion vorhanden. Wo jeder nur auf die Anhäufung von Tauschwerten Bedacht nimmt, da schwindet die zur Produktion erforderliche geistige Kraft. Eine aus so thörichten Geizhälsen bestehende Nation würde aus Furcht vor den Kriegskosten die Nationalverteidigung aufgeben, und erst nachdem all ihre Habe fremden Erpressungen zum Opfer geworden, gewahr werden, daß der Reichtum der Nationen auf einem anderen Wege zu erzielen ist, als auf dem des Rentners.« Gewöhnung an geistige Genüsse regt nicht bloß das geistige Leben im allgemeinen an und steigert dadurch auch die Produktionskraft, es spornt diese auch noch dadurch, daß Kunstgenüsse gekauft werden müssen und daß man durch Arbeit die Mittel zum Kauf erwerben muß. Ähnlich wirkt die Verfeinerung der leiblichen Genüsse, wirkt überhaupt aller Luxus. »Man kann in einer Bretterhütte so gut wohnen, wie in einer Villa, man kann sich für wenige Gulden so gut gegen Regen und Kälte schützen, wie durch die schönste und eleganteste Kleidung; Gerät von Silber und Gold trägt nicht mehr zur Bequemlichkeit bei, als solches von Stahl und Zinn; aber die mit solchem Besitz verbundene Auszeichnung reizt zur Anstrengung des Körpers und Geistes, und diesem Anreiz verdankt die Gesellschaft einen großen Teil ihrer Produktivität. In manchen Ländern herrschen unter denen, die von Besoldung und von Renten leben, sehe irrige Begriffe von dem, was sie den Luxus der niederen Stände zu nennen pflegen: man entsetzt sich darüber, daß die Arbeiter Kaffee mit Zucker trinken, und lobt sich die Zeit, wo sie sich mit Haferbrei begnügten; man bedauert, daß der Bauer seine ärmliche Uniform, den Zwillichanzug, mit Wollentuch vertauscht; man fürchtet, die Dienstmagd werde bald von der Frau des Hauses nicht mehr zu unterscheiden sein; man rühmt die Kleiderordnungen früherer Jahrhunderte. Vergleicht man aber die Leistungen des Arbeiters in den Ländern, wo er wie ein wohlhabender Mann gespeist und gekleidet ist, mit seinen Leistungen in solchen, wo er sich mit der gröbsten Kost und Kleidung begnügt, so findet man, daß dort die Genußvermehrung nicht auf Kosten des allgemeinen Wohlstandes, sondern zum Vorteil der produktiven Kräfte der Gesellschaft vor sich gegangen ist; das Tagewerk des Arbeiters ist dort doppelt und dreimal so groß, wie hier. Kleiderordnungen und Aufwandbeschränkungen haben in den Massen die Nacheiferung getötet und sind nur der Trägheit und dem Schlendrian zugute gekommen. Allerdings müssen die Produkte vorher geschaffen sein, ehe sie konsumiert werden können, und insofern muß im allgemeinen die Produktion dem Konsum vorhergehen. In der Volks- und Nationalwirtschaft geht aber oft der Konsum der Produktion voraus. Manufaktur-Nationen, unterstützt durch große Kapitale und in ihrer Produktion weniger beschränkt, als reine Bauernvölker, nehmen daher in der Regel Vorschüsse auf den Ertrag ihrer künftigen Ernten; sie konsumieren, bevor sie produziert haben, sie produzieren später, weil sie früher konsumiert haben. Dieselbe Erscheinung tritt in einem viel größeren Maßstabe hervor in dem Verhältnis zwischen Stadt und Land: je näher der Gewerbetreibende dem Bauer steht, desto mehr wird jener diesem Anreiz und Mittel zur Konsumtion geben, desto mehr wird sich daher dieser zur Produktion gespornt fühlen.«

Aus alledem geht hervor, daß sich die Politik und das Wirtschaftsleben einer Nation nicht von einander trennen lassen, daß die Regierungen eine Menge wirtschaftspolitischer Aufgaben zu lösen haben, und daß es ein vierter Irrtum der Smithschen Schule ist, wenn sie behauptet, das Wirtschaftsleben gehe den Staat nichts an, er habe sich nicht hineinzumischen. Blüte und Niedergang der Gewerbe hängen sogar vorzugsweise von der Politik der Staaten ab. »Die Geschichte lehrt, daß die Künste und Gewerbe von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gewandert sind. Verfolgt und unterdrückt in der Heimat, flüchteten sie nach Städten und Ländern, die ihnen Freiheit, Schutz und Unterstützung gewährten. So wanderten sie aus Griechenland und Asien nach Italien, von da nach Deutschland, Flandern und Brabant, von da nach Holland und England. Überall war es der Unverstand und die Despotie, wodurch sie verjagt wurden, der Geist der Freiheit, der sie anzog. Ohne die Thorheit der Kontinentalregierungen wäre England schwerlich zur Gewerbesuprematie gelangt. Was erscheint aber mehr der Weisheit angemessen: daß wir warten, daß andere Nationen thöricht genug sind, ihre Gewerbe zu vertreiben und sie zu nötigen, bei uns Unterkunft zu finden, oder daß wir, ohne solche Zufälle abzuwarten, sie durch Vorteile, die wir ihnen bieten, einladen, sich bei uns niederzulassen? Es ist wahr, die Erfahrung lehrt, daß der Wind den Samen aus einer Gegend in die andere trägt, und daß auf diese Weise öde Heiden in dichte Wälder verwandelt worden sind; wäre es aber darum weise, wenn der Forstwirt zuwarten wollte, bis der Wind im Laufe von Jahrhunderten diese Kulturverbesserung bewirkt?«

Endlich verleitet die Schule noch zu einem fünften Fehler: indem sie die Nationalwirtschaft in eine Summe unter sich nicht zusammenhängender Einzelwirtschaften auflöst, übersieht sie das Gesetz der Werkfortsetzung und stellt die wirtschaftliche Zukunft der Nation, damit aber auch die jedes Einzelnen in Frage. »Forschen wir nach dem Ursprung und Fortgang einzelner Gewerbe, so finden wir, daß sie nur nach und nach in den Besitz verbesserter Verfahrungsweisen, Maschinen, Gebäude, Produktionsvorteile, Erfahrungen und Geschicklichkeiten und aller der Erkenntnisse und Geschäftsverbindungen gekommen sind, die ihnen den vorteilhaften Bezug ihrer Rohstoffe und den vorteilhaften Absatz ihrer Produkte sichern. Wir überzeugen uns, daß es ohne alle Vergleichung leichter ist, ein bereits begonnenes Unternehmen zu vervollkommnen und auszudehnen, als ein neues zu gründen. Wir sehen überall alte Geschäfte mit größerem Vorteil betreiben, als neue. Wir beobachten, daß es um so schwerer ist, ein neues Geschäft in Gang zu bringen, je weniger Geschäfte ähnlicher Art in der Nation bereits bestehen, weil hier erst Unternehmer, Werkführer, Arbeiter dafür erzogen werden müssen, und weil seine Einträglichkeit noch nicht hinlänglich erprobt ist, um den Kapitalisten Vertrauen in den Erfolg einzuflößen. Es springt, mit einem Wort, in die Augen, daß, wie bei allen menschlichen Stiftungen, so auch in der Industrie, ein Naturgesetz waltet, das Vieles gemein hat mit dem Gesetz der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung. (List hat an anderen Stellen ausgeführt, daß die Teilung der Arbeit in einer Nation weit wichtiger sei, als die in einer Fabrik, und an der gesamten Organisation der Arbeit wiederum die von Smith nicht hervorgehobene Seite: Das Zusammenwirken der die Teilarbeiten Vollziehenden, die Vereinigung der Produktivkräfte, wie er es gern nennt, wichtiger als die Teilung selbst, die ohne die Vereinigung zu dem vom Arbeitsleiter bestimmten Zweck nichts nützen würde.) Dieses Gesetz besteht darin, daß ein Volk in den Gewerben nur dann Bedeutendes leistet, wenn mehrere aufeinanderfolgende Generationen ihre Kräfte zu einem und demselben Zweck vereinigen und die dazu erforderlichen Anstrengungen unter sich teilen. Es ist dasselbe Gesetz, wonach das Erdreich der Erhaltung und Kraftvermehrung der Nation über alle Vergleichung förderlicher gewesen ist, als der Wechsel der herrschenden Familien im Wahlreich. Einzelne Städte, Korporationen, Klöster haben in jahrhundertelanger Arbeit Werke hergestellt, deren Gesamtkosten vielleicht den Wert des ganzen Besitztums der beginnenden Generation überstiegen. Betrachten wir das Kanal- und Deichsystem Hollands: es enthält die Anstrengungen und die Ersparnisse vieler Generationen. Nur einer Reihe von Generationen ist es möglich, ganze National-Transportsysteme, ein ganzes System von Festungen und Verteidigungswerken herzustellen.« Ein Mittel dieser »Werkfortsetzung« ist der Staatskredit; Staatsschulden sind Wechsel, welche die lebende Generation auf die nächste zieht. Mehr noch als der Ackerbau, der sich nach gewaltsamen Unterbrechungen durch Krieg oder Aufruhr immer rasch erholt, bedarf die Industrie der Werkfortsetzung. Ihr fügt jede Unterbrechung unersetzlichen Schaden zu. »Maschinen und Gerätschaften werden zu altem Eisen und zu Brennholz, die Gebäude zu Ruinen; die Arbeiter und Techniker ziehen fort. So geht in kurzer Frist ein Komplex von Kräften und Dingen verloren, der nur durch die Anstrengungen von mehreren Generationen hatte gebildet werden können.« Solchem Unheil soll der Staat vorbeugen, und ein Vorbeugungsmittel ist unter Umständen der Zollschutz. Andererseits erklärt sich aus dem Gesetz der Werkfortsetzung die wirtschaftliche Übermacht Englands, die darauf beruht, daß jahrhundertelang Volk und Regierung, einmütig demselben Ziele zustrebend, Kapitale, Geschicklichkeiten, Handelsverbindungen, Kolonialbesitz aufgehäuft haben.

List hat also die relative Berechtigung beider Systeme, des Colbertschen, das er das Industriesystem nennt, und des Smithschen, das seiner Ansicht nach eigentlich Merkantilsystem heißen müßte, anerkannt, dem ersteren aber für die Staaten des europäischen Kontinents bei ihrer damaligen Lage den Vorzug gegeben und es durch die Aufnahme von Grundsätzen aus dem anderen System verbessert. Er verkennt nicht, daß es gemißbraucht werden könne, und verzeichnet sieben Fehler, die bei seiner Anwendung gemacht zu werden pflegten. 1. Werde nicht klar erkannt, daß der Schutzzoll nur als Erziehungsmittel Wert hat; 2. werde er von kleinen Staaten angewendet und von solchen, deren Bewohner wegen Unkultur oder wegen ihres Klimas keine Maschinenindustrie betreiben können; die Tropen seien dafür ganz ungeeignet; 3. werde der Schutz auch auf Landwirtschaft und Rohproduktion ausgedehnt; 4. werde die Landwirtschaft der Industrie zu Liebe durch Erschwerung der Rohstoffausfuhr geschädigt; 5. versäumten es Staaten, in denen die Industrie schon blüht, durch Zulassung fremder Waren ihre eigenen Fabrikanten und Kaufleute vor Indolenz zu bewahren; 6. verkennten die Schutzzöllner die Notwendigkeit des Zusammenhangs der Nationen miteinander, und verleiteten, um diesen Zusammenhang zu zerreißen, die Regierungen zur Übertreibung des Zollschutzes; 7. in dieser Verkennung des dem nationalen Prinzip gleichberechtigten kosmopolitischen sträubten sie sich gegen die Wahrheit, daß die zukünftige Verbrüderung aller Völker, der ewige Frieden und die allgemeine Handelsfreiheit das Ziel sind, das die Nationen erstreben sollen und dem sie sich mehr und mehr zu nähern haben.

Seit 1841 hat sich die Weltlage gar sehr verändert. Deutschland und Nordamerika sind ebenbürtige Konkurrenten Englands geworden, und Deutschland war es schon in den sechziger Jahren, wo es nach Lists Rat unter Preußens Führung die nicht mehr nötige Schutzzollkrücke weggeworfen hat. Die Schwierigkeiten, mit denen dann von 1879 ab die Rückkehr zum Schutzzoll begründet wurde, haben mit der Lage der Dinge, die Lists System gezeitigt hat, nicht das Geringste zu schaffen. Diese Schwierigkeiten entspringen aus dem Umstande, daß es die bestehende Staats- und Rechtsordnung unmöglich macht, die von der ungeheuren Produktivkraft der modernen Nationen hervorgetriebenen Güter an den Mann zu bringen. An dieser Schwierigkeit leidet das hochschutzzöllnerische Nordamerika nicht weniger wie das jetzt freihändlerische England, und das Deutsche Reich leidet außerdem noch daran, daß zwei Grundlehren Lists gänzlich unbeachtet bleiben: die beiden Lehren, daß zur nationalen Wirtschaftspolitik ein angemessen großes Gebiet gehöre (die Angemessenheit ändert sich im Laufe der Zeit mit den Verhältnissen) und daß der Überfluß von Menschen und Kapital stetig in Kolonien abgeschoben werden müsse. Was man heute bei uns nationale Wirtschaftspolitik nennt, das ist nicht die Politik Lists, sondern die Politik der sieben Fehler, vervollständigt durch eine Reihe anderer Fehler. Man will die Bewohner von Gebieten, die zu klein dazu sind, zwingen, sich selbst zu genügen. Anstatt den Produktivkräften des Volks freien Spielraum zu schaffen, fesselt man sie durch Erschwerung der Auswanderung und durch ein Übermaß von Polizeivorschriften und Strafgesetzen. Man will den Überschuß der inländischen Erzeugnisse ans Ausland absetzen, aber aus dem Auslande nichts hereinlassen, während doch unsere Ausfuhr mit gar nichts anderem als mit Einfuhr bezahlt werden kann. Man fordert Schutzzölle, wo kein zu schützendes und zu erziehendes Kindlein mehr vorhanden ist, da – zur Ehre unserer Fabrikanten und Gutsbesitzer, unserer Gelehrten und Techniker sei es gesagt – unsere Industrie, von der Landwirtschaft gar nicht zu reden, auf dem höchsten Gipfel der Vollkommenheit und Konkurrenzfähigkeit angelangt ist. Nicht um die Erziehung der Industrie handelt es sich bei der heutigen Zollpolitik, sondern um zwei ganz andere Dinge. Erstens um Finanzzölle, die unter dem Namen von Schutzzöllen erhoben werden; dieser Name ist sehr bequem, die Thatsache zu verdecken, daß unsere Reichen dasselbe thun, wie nach Lists Ausspruch die englischen, nämlich sich die Kosten der Staatseinrichtungen und Unternehmungen, die vorzugsweise ihnen zu gute kommen, von den Armen bezahlen lassen. Zweitens ist das neue sogenannte Schutzzollsystem ein Krieg auf Leben und Tod zwischen gleich starken Konkurrenten, der kein anderes Ergebnis haben kann als allgemeine Erschöpfung. Es ist ein Wettklettern auf der Tarifleiter; hat man eine gewisse Sprosse erreicht, so muß man wieder herunterklettern, denn keine irdische Leiter reicht bis in den Himmel. Unsere Schutzzöllner weisen mit Genugthuung darauf hin, daß nun auch schon in England eine starke schutzzöllnerische Bewegung in Fluß geraten ist, d. h. sie freuen sich darüber, daß uns auch der bis jetzt offene englische Markt nächstens vielleicht erschwert oder gesperrt werden wird. Übrigens ist ein Teil des Listschen Programms vom Zollverein, ein anderer Teil 1866 und 1870 von Bismarck verwirklicht worden; was die neueste Zeit Gutes hinzugefügt hat, das ist die Vervollständigung des Eisenbahnnetzes, der Bau von Kanälen und von Kleinbahnen, die deutsche Kriegsflotte, die Subvention von Dampferlinien.

Lists Buch machte gewaltiges Aufsehen. Die Kritik der akademischen Kreise fiel so aus, wie sich hatte voraussehen lassen. Man bestritt List das Recht, über die ganze deutsche Wissenschaft abzusprechen, leugnete, daß das, was er »die Schule« nannte, vorhanden sei, wies auf die Nationalökonomen hin, die Ähnliches wie er gesagt hatten (namentlich auf Adam Müller, der freilich ein Gegner Smiths und des Individualismus war, aber nicht, wie List, ein fortschrittlich-industriefreundlicher, sondern ein romantisch-reaktionärer). Am schärfsten war Brüggemann, der ein ganzes Buch zu seiner Widerlegung schrieb, worin er ihn als oberflächlichen Plagiator und Nachbeter Adam Müllers denunzierte. Gerecht wurde ihm Roscher, damals ein 25jähriger Privatdozent; seine sehr ausführliche und gründliche Rezension in den Göttingischen gelehrten Anzeigen schließt mit den Sätzen: »Wie ich in Bayern gehört habe, so geht eine beträchtliche Anzahl süddeutscher Fabrikherrn mit dem Plane um, Herrn List zu einer Stellung zu verhelfen, wo er die Gesamtinteressen der deutschen Industrie praktisch vertreten könnte. Jeder Unbefangene wird den besten Erfolg wünschen. Ich scheide von dem Verfasser mit vorzüglicher Hochachtung. Wäre sein Buch von geringerer Bedeutung, so würde ich es weniger streng beurteilt haben. Ich zweifle nicht, daß es sein Jahrhundert überleben werde.« Später haben sich die meisten akademischen Lehrer der Nationalökonomie dem Urteil von Knies angeschlossen: »Unleugbar gehört List zu jenen hervorragenden Männern, die man nicht leicht ohne starken Tadel loben und ohne großes Lob tadeln kann.« Unbefangene Rezensenten lobten besonders die Frische seiner Darstellung; das Buch dufte nicht nach der Lampe, schrieb Einer. Daß es binnen Kurzem eine zweite und dritte Auflage erlebte, hatte es freilich nicht den gelehrten Rezensenten, sondern den Praktikern zu danken. Übersetzt wurde es ins Französische, Englische und Ungarische. Der Herausgeber der englischen Übersetzung, der Amerikaner Colwell, sagt von dem Buche, obwohl in mancher Hinsicht unvollkommen, sei es das originellste und wertvollste aller deutschen Bücher über Nationalökonomie. Sehr wichtig ist die Übersetzung, die der Franzose Richelot 1851 geliefert hat, durch die Anmerkungen, die Lists Angaben vielfach berichtigen. In der zweiten Auflage von 1857 hat er noch die ebenfalls wertvollen Noten Colwells beigefügt. In Deutschland geriet während der politischen Aufregung, die 1847 begann, Lists Buch samt seinem Verfasser in Vergessenheit. Das Verdienst, es zu neuem Leben erweckt zu haben, kann Eugen Dühring für sich in Anspruch nehmen, ein Verdienst, das er leider durch die ganz ungerechtfertigte Beschimpfung Roschers schmälert, wozu er das Lob Lists mißbraucht. Die schutzzöllnerische Bewegung der achtziger Jahre stützte sich dann – mit zweifelhaftem Recht, wie wir gesehen haben – auf List, und der siebenten Auflage des nun aufs neue vielbegehrten Buches hat Eheberg eine lange biographisch-nationalökonomische Einleitung beigegeben. Zur Abfassung der geplanten zwei weiteren Bände ist List nicht gekommen.



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