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VII

Wiederum heimatlos

Die Behandlung, die List in Leipzig erfahren hatte, bewog ihn, im Herbst 1837 sein Vaterland wieder zu verlassen und sich über Belgien nach Paris zu begeben. In Brüssel fand er ehrenvolle Aufnahme und Anerkennung; König Leopold versprach, ihn seinem Schwiegervater Louis Philipp zu empfehlen. In Ostende, wo er zur Erholung einige Zeit weilte, traf er Kolb, den Leiter der Augsburger Allgemeinen Zeitung, und knüpfte durch ihn die Verbindung mit dem damaligen Weltblatte wieder an; er blieb von da ab ständiger Korrespondent. Auch in Paris wurde List von den Ministern und vom Könige selbst, der sich lange mit ihm unterhielt, freundlichst aufgenommen.

Seine Tochter Emilie – geboren in Tübingen am 10. Dezember 1818; sie ist unvermählt geblieben und lebt heute noch – die ihn auf der Reise begleitete, diente ihm zur Erheiterung und als Sekretär. Seine zweite Tochter Elise – am 1. Juli 1822 in Stuttgart geboren; sie heiratete den Fabrikbesitzer Gustav von Pacher in Wien und ist 1893 in München gestorben – gedachte er zur Sängerin ausbilden zu lassen. Wenn sie wirklich befähigt sei, schreibt er in einem Briefe, so würde es Thorheit sein, dieses Talent ungenützt zu lassen; es sei ein kleinstädtisches Vorurteil, die Ausübung dieser Kunst anstößig zu finden.

Da auch in Paris kleinliche Sonderinteressen vorherrschten und an die Ausführung des großartigen Eisenbahnsystems, das List vorschlug, und wobei ihm das Wohlwollen der Staatsmänner eine leitende Stellung verschafft haben würde, vorläufig nicht zu denken war, so warf er sich zunächst auf die Theorie und bereitete eine zusammenhängende Darstellung und Begründung seiner volkswirtschaftlichen Ideen vor. Die Akademie hatte gerade folgende Preisaufgabe gestellt: Lorsqu'une nation se propose d'établir la liberté du commerce, ou de modifier sa législation sur les douanes, quels sont les faits, qu'elle doit prendre en considération pour concilier de la manière la plus équitable les intérêts des producteurs et ceux de la masse des consommateurs? List beschloß sie zu lösen. Nur wenige Wochen waren noch übrig bis zum Ablieferungstermin, aber seine wunderbare Arbeitskraft brachte das scheinbar Unmögliche fertig. Am 1. Januar 1838 schrieb er seiner Gattin:

»Wir haben hier die Neujahrsnacht flott gefeiert und sind erst um 4 Uhr zu Bett gekommen. Ich bin nämlich mit meiner Arbeit fertig. Du kannst Dir einen Begriff von meiner Leistung machen, wenn ich Dir sage, daß sie gedruckt zwei Bände füllen wird, daß ich sie in sechs Wochen deutsch geschrieben, ins Französische übersetzt und mit Noten versehen habe. Ich arbeitete zu Hause von morgens 1 oder 2 Uhr bis 10, dann auf der Bibliothek bis 3 Uhr, dann wieder zu Hause bis 5½, dann zu Tisch und um 7 oder 8 Uhr zu Bett. In meinem Leben ist mir die Arbeit nie besser von statten gegangen, und nie war ich gesünder. In der letzten Zeit habe ich sogar, ohne zu Bett zu gehen, nur auf dem Sofa ein paar Stunden geschlafen.« Ob er den Preis bekommen werde, sei fraglich. Er habe ein neues System, und seine Richter seien noch alten Glaubens. Jedenfalls aber werde er seine Abhandlung drucken lassen, er verspreche sich denselben Erfolg davon wie von der amerikanischen. »Während dieser Arbeit mußte ich alles andre suspendieren: König, Minister, alte Bekannte, Briefwechsel; ich durfte keine Minute versäumen. An Theater, Zeitungen u. dgl. war nicht zu denken; ich weiß nicht, was währenddem in der Welt vorgegangen ist.«

Seine Ahnung täuschte ihn nicht. Gekrönt wurde keine der 27 eingegangenen Schriften, doch wurden drei, darunter die seine (deren Motto: et la patrie et l'humanité er später auch für sein »System« wählte) als ouvrages remarquables ausgezeichnet. Die Preisrichter waren nach Lists Urteil teils mittelmäßige Nationalökonomen wie Blanqui, der »seine Ambition darauf beschränkt, J. B. Say, den Verwässerer Adam Smiths, noch fernerweit zu verwässern«, teils unfähige Menschen, deren Schriften nichts enthielten, als »Dinge für politisierende Damen, Pariser Stutzer und andere Dilettanten«. Aber, meint er, die Arbeit sei von großem Nutzen für ihn gewesen; er habe sich in ihrem Verlauf überzeugt, wie unentbehrlich für sein System die historische Grundlage sei und wie sehr es ihm noch an historischen Kenntnissen fehle; als er den historischen Teil seiner englischen Arbeiten wieder durchgelesen habe, habe er ihn erbärmlich gefunden. (Er findet später auch den historischen Teil seines Systems noch »erbärmlich«, wodurch der Kritik der Gegner, die sich an die unleugbaren Schwächen dieses Teils klammert, von vornherein die Spitze abgebrochen ist. List meint aber, einmal müsse doch das Forschen und Umarbeiten ein Ende haben; er habe nicht länger mit der Veröffentlichung eines Buches warten wollen, worin die Deutschen neben vielem Mangelhaften manches Neue und Nützliche finden würden.)

So widmete er sich denn bis in den Sommer 1840 historischen Studien und schrieb zwischendrein Korrespondenzen für die Allgemeine Zeitung. Um eine Probe zu geben, führen wir den Eingang der aus Nr. 66 des Jahrgangs 1839 über die englische Kornbill und das deutsche Schutzsystem an. »Erst seit Gründung des deutschen Handelsvereins hat die Theorie der politischen Ökonomie in Beziehung auf das Schutzsystem für Deutschland ein praktisches Interesse gewonnen. Unter den Provinzialdouanen konnte davon nicht im Ernst die Rede sein. Die Pflanzung und Beschützung einer eigenen Manufakturkraft vermittelst eines Douanensystems setzt ein großes, mit mannigfaltigen Hilfsquellen reich ausgestattetes Territorium, eine zahlreiche Bevölkerung und starke innere Konsumtion, ein wohl arrondiertes Gebiet, mit einem Wort, eine bedeutende Nation und einen großen Nationalmarkt voraus. Einzelne Städte oder Provinzen können der inneren Industrie keinen zureichenden Markt bieten, können auch nicht die Konkurrenz des Auslandes durch die innere Konkurrenz ersetzen. Hier wird jeder Schutz zum Monopol. Unter solchen Umständen war nichts natürlicher, als daß die kosmopolitische Theorie in Deutschland die meisten und eifrigsten Anhänger fand. Wie der Schwache dem Starken gegenüber sich gern auf die Vorschriften der Moral und Religion beruft, wie kleine Staaten lieber auf den Schutz des sogenannten Völkerrechts, als auf die Stärke ihrer Armeen vertrauen, suchte man in Deutschland in der Idee der Handelsfreiheit Trost für die reellen Vorteile, die andere Nationen aus ihren egoistischen Handelsmaßregeln zogen.« Die Entwickelung habe aber den dieser Idee entgegengesetzten Weg eingeschlagen, und statt zur allgemeinen Freiheit zum englischen Monopol geführt. Damit jedoch das Gebäude der industriellen Übermacht Englands nicht in den Himmel wachse, habe die Vorsehung die englische Aristokratie mit Blindheit geschlagen und sie zur Einführung der Kornzölle verleitet, von denen er zu beweisen sucht, daß sie den englischen Nationalwohlstand empfindlich schädigten. Trotz seiner Abneigung gegen Adam Smith huldigt auch er dem laissez faire in allen Fällen, wo sich der Staat unnötiger- und unzweckmäßigerweise in die freie wirtschaftliche Thätigkeit einmischt, was, wie er in anderen Artikeln rügt, in Frankreich vielfach geschehe. Die französische Staatsverwaltung scheine von der richtigen Anwendung jenes kaufmännischen Grundsatzes noch keinen richtigen Begriff zu haben und zu glauben, daß der Privatmann auf freie Bewegung nicht ein Recht habe, sondern einer besonderen Konzession dazu bedürfe, die ihm die Regierung verweigern oder aus Gnaden bewilligen könne. »Wann werden die Regierungen einsehen, daß jede unnötige Einmischung in den Verkehr ein doppelter Verlust ist, indem man einen Beamten bezahlt, um den Unterthanen zu stören, und daß dieses beständige Eingreifen durch die bezahlte Thätigkeit das größte Hindernis der Vermehrung des Nationalreichtums und des Wohlseins der Völker ist!«

Andere Artikel handeln von der Flachskultur und Leinwandfabrikation in Frankreich. Dann folgen Berichte über die Nationalgewerbeausstellung des Jahres 1839. Diese Ausstellung machte seinen alten Wunsch wieder lebendig, daß auch Deutschland dergleichen unternehmen möchte. Gewerbeausstellungen, führt er aus, würden am zweckmäßigsten mit der bereits bestehenden jährlichen Versammlung deutscher Landwirte oder mit einer erst zu stiftenden Versammlung deutscher Techniker zu verbinden sein. Die Kosten möge der Zollverein tragen und aus einer Erhöhung der Garn- und Gewebezölle herausschlagen. Aus dem Umstande, daß Frankreich, trotz hohen Schutzzolls, in seiner Kammgarnwolle mit England nicht konkurrieren könne, schließt er, daß dieser Zoll nichts nütze und abgeschafft werden müsse. An einer Probe zeigt er, wie ehrlich es die Engländer mit ihrer Handelsfreiheit meinen. Jede Verbesserung der Spinnmaschine wird streng geheim gehalten und die Ausfuhr verbesserter Maschinen bei hoher Strafe verboten. Er erzählt, wie es den Franzosen schließlich gelungen sei, sich die englischen Erfindungen anzueignen, und berichtet über die hohen Schutzzölle, mit denen England damals noch fremde Textilwaren aus seinem Bereich fern hielt. Bei anderen Gelegenheiten dringt er darauf, daß der Zollverein mit Holland, Hamburg und den übrigen deutschen Uferstaaten nicht bloß Handelsverträge abschließe, sondern sie ganz in sich aufnehme. Handelsverträge dürften übrigens nur im Sinne der öffentlichen Meinung, d. h. der Meinung der Sachverständigen und Interessenten, und nach sorgfältiger Prüfung durch diese abgeschlossen werden. »Wie verschieden die Ansichten sein mögen, die man in betreff der Verfassungsformen hegt, soviel scheint ausgemacht, daß der ganze Handels- und Fabrikantenstand eines Landes in Sachen der Industrie und des internationalen Verkehrs mehr weiß und tiefer sieht, als die Diplomaten und die Staatsökonomen.« Dann mahnt er wieder, Deutschland möge aus dem Umstande, daß Frankreich vor unfruchtbarem Parlamentsgezänk und beschränktem Bureaukratismus zu keiner positiv schaffenden Thätigkeit komme, endlich einmal Nutzen ziehen und im Eisenbahnbau dem Nachbar einen tüchtigen Vorsprung abgewinnen.

Das lebhafte Interesse der französischen Staatsmänner, namentlich Thiers', für seine Ideen legte ihm den Gedanken nahe, das Werk, das er im Sinne hatte, und für das alle seine bisherigen Schriften nur Vorarbeiten gewesen waren, in französischer Sprache herauszugeben; schrieb er doch auch, wie früher für die Revue Encyclopédique, so jetzt für den Constitutionel. Aber er kam bald davon zurück, weil er sich durch die fremde Sprache im Ausdruck seiner Ideen gehemmt fand. Gelegentlich äußerte er sein Bedauern darüber, daß er infolge seiner mangelhaften Schulbildung nicht dazu gelangt sei, die beiden wichtigsten fremden Sprachen vollkommen zu beherrschen; daß seine Kinder so weit kämen, dafür war er eifrig besorgt.

Übrigens lebte er auch nach jener schriftstellerischen Gewaltleistung zurückgezogen. »Er wohnte,« erzählt Laube, »da oben, wo sich die Stadt gegen den Montmartre erhebt, in jener stillen Gegend, wo auch Heine damals seine furchtbaren Pfeile schmiedete. Heines Straße hieß die der Märtyrer, Lists die von Navarino. Dort im Frieden einer lieblichen Familie (er hatte sie nämlich nachkommen lassen), die aus dem Schwabenlande stammte, aber in Amerika angewachsen war, in Deutschland die alte und neue Heimat gar ungern wieder verloren hatte, mitten unter sanften Frauenbildern lebte der innerlich vulkanisch bewegte Mann und entwickelte den Besuchern die neuen Pläne seines immerdar kreißenden Geistes. Die Heimat, das Vaterland hatte der alte Schwabe keinen Augenblick vergessen, und es machte ihm lähmende Mühe, den Franzosen einen Reformplan zuzurichten, der Deutschland keinen Nachteil, sondern sogar Vorteil brächte. Man kann einmal nicht zweien Herren dienen, sagte er ärgerlich, »und ich möchte heim, und daheim geht's doch gar so träg von der Stelle, und es ist kein anderer Anknüpfungspunkt herauszufinden, als ein litterarischer; und wenn man an diesem sich hineinschwenken will in den Mittelpunkt Deutschlands, so fällt man unter die Zöpfe, die unter Wissenschaft nichts anderes verstehen, als Eingelerntes.« Und ein andermal: »Es wird nichts aus all den Dingen hier; Theater und Krieg ist das einzige, was diese Leute interessiert. Wenn ich mit meinem ersten Bande fertig bin, so komme ich nach Deutschland, predige dort eine Nationalökonomie, wie sie mir eine zwanzigjährige Erfahrung gelehrt hat, und ärgere mich mit den deutschen Gelehrten herum.«

Auch Heine sah er hie und da, zur täglichen Gesellschaft aber hatte er nur seine Familie, die sein Glück war, wie er das ihre. »Der Vater,« berichtet Emilie, »war damals gesund, und wenn dies der Fall war, brauchte es nichts anderes, um das Haus lebendig und angenehm zu machen. Er kam immer heiter nach Hause, erzählte uns, was in der Welt vorging, und verstand es vortrefflich, seine Unterhaltung für alle anziehend und belehrend zu machen. Ich glaube nicht, daß es einen gütigeren, liebevolleren Vater geben kann.« Leider wurde dieses Familienglück durch ein tragisches Unglück gestört. Außer seinem Stiefsohne Karl, der in Amerika geblieben war, hatte er den schon erwähnten leiblichen Sohn, den am 22. Februar 1820 in Tübingen geborenen Oskar. Er hatte ihn in Brüssel und Paris zum Techniker ausbilden lassen, aber die dem Jüngling angeborene Neigung zum Soldatenstande brach mit solcher Gewalt immer wieder durch, daß ihn List endlich mit schwerem Herzen nach Algier ziehen ließ; dort erlag er einem hitzigen Fieber.

Dieser Schlag verleidete ihm vollends den Aufenthalt in Frankreich. Ein Anerbieten des Premierministers Thiers konnte er gerade in diesem Augenblick, wo der kleine Gernegroß zum Kriege gegen Preußen trieb, unmöglich annehmen – war es doch klar, daß die Regierung sein Genie als Werkzeug gegen Deutschland zu mißbrauchen gedachte – und so kehrte er denn im Sommer 1840 ins Vaterland zurück. (Thiers hat zwar Richelot versichert, er habe mit List nichts zu schaffen gehabt; wir zweifeln jedoch nicht daran, daß der schlaue Diplomat den ehrlichen Richelot belogen hat.) Er ging zuerst nach Leipzig, wo man freundlich miteinander verkehrte, ohne das Vergangene zu erwähnen – wenn auch der Stachel in Lists Herzen bis zu Ende fest saß –, und stürzte sich sogleich wieder mit seinem ganzen Feuer in eine Eisenbahn-Angelegenheit. Auf dem Wege nach Leipzig hatte er erfahren, daß Preußen Halle mit Kassel durch eine geradlinige Bahn zu verbinden und die thüringischen Städte links liegen zu lassen beabsichtige. Dieses Projekt bekämpfte er in mündlichen Verhandlungen und in der Presse, namentlich in einer Reihe von Artikeln der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die er Justus Möser zeichnete, mit leidenschaftlicher Energie. Er zeigt, daß es Thorheit sei, die großen Städte geradlinig zu verbinden und verkehrsreiche Zwischenorte deswegen auszuschließen, weil sie nicht auf der kürzesten Verbindungslinie liegen. Gerade die Zwischenorte machten die Bahn rentabel; der Lokalverkehr der Städte Kassel, Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Naumburg, Halle reiche für sich allein hin, das Anlagekapital zu verzinsen. Eine diese Städte verbindende Bahn werde früher oder später auf alle Fälle gebaut, und stelle sie nur den Tarif für Güter, die von Leipzig nach Frankfurt gehen, so niedrig, wie sie ohne Schaden kann, so werde sie die auf diesen Transit allein angewiesene direkte Bahn Halle – Kassel bankrott machen. Die thüringische Bahn habe übrigens, als eine Hauptverkehrsstraße zwischen Ost und West, nicht bloß deutsche, sondern europäische Bedeutung, ebenso wie die von München über Nürnberg und Bamberg nach Koburg, die, über Kassel und Hannover fortgesetzt, den Süden mit dem Norden verbinde. Zwar seien hier wie dort mehrere Verbindungen möglich und würden mit der Zeit auch notwendig werden, aber man könne nicht drei Linien auf einmal herstellen, und die Verbindung Münchens mit Leipzig über Hof (die man damals schon plante) müsse vorläufig noch warten, damit nicht die wichtigste der nordsüdlichen Verbindungslinien, die mittlere, beeinträchtigt werde. Darüber entspann sich eine heftige Zeitungsfehde, in der List wieder seine bis in die Einzelheiten gehende Sachkenntnis aufs glänzendste bewährte. In der thüringischen Angelegenheit siegte er durch persönliche Einwirkung auf die Höfe.

Die juristische Fakultät zu Jena verlieh ihm im November 1840 »wegen seiner Verdienste um die Sache des deutschen Handelsvereins und des deutschen Eisenbahnsystems« die Doktorwürde, und eine Deputation stattete List den Dank Thüringens ab. Der bei der Ovation gegenwärtige Herzog von Sachsen-Koburg sprach: »Meine Herren, wenn wir Alle in dieser Sache klar sehen, so haben wir es Einem Manne zu verdanken; dieser ist der Herr Konsul List, der früher für sein patriotisches Wirken mit Undank belohnt worden ist, dadurch gleichwohl aber nicht abgeschreckt zu uns kam und uns seine Zeit und seine Kräfte widmete, um uns über unsere Interessen aufzuklären.« Kein Deutscher sollte durch Thüringens liebliche Auen, an seinen Städten und Burgen vorüberfahren, ohne dankerfüllten Herzens des Schöpfers der Bahn zu gedenken, ohne die von je hundert der heutigen Reisenden kaum zwei oder drei das herrliche Land kennen lernen würden. Die preußische Bahn ist ja dann später auch noch gebaut worden, aber es handelte sich darum, die richtige Reihenfolge zu beobachten, damit nicht der Ausbau des Netzes ins Stocken geriete, wenn zuerst unrentable Linien in Angriff genommen würden, oder solche, die erst rentieren konnten, nachdem die von Anfang an einträglichen Linien den Verkehr im allgemeinen gehoben haben würden, oder solche, deren Bau Terrainschwierigkeiten kostspielig machten.

Daß die wenigen Hauptlinien, die List zunächst vorschlug, noch lange nicht sein deutsches Eisenbahnsystem seien, wußte niemand besser, als er selbst. »Was wir,« schreibt er 1841 in der Allgemeinen Zeitung, »zur Zeit in Deutschland an Eisenbahnen besitzen, ist gut als Spielzeug für unsere Städte, und um dem deutschen Publikum einen Begriff von der Sache zu geben; der eigentliche Nutzen des neuen Transportmittels aber, sein Einfluß auf die Landwirtschaft, die Industrie, den Bergbau, auf den inneren und äußeren Handel, kann in großartiger Weise erst hervortreten, wenn der Osten mit dem Westen, der Norden mit dem Süden Deutschlands wenigstens durch vier Nationallinien verbunden sein wird. Dann erst können die einzelnen Strecken voll rentieren und zugleich großen nationalökonomischen Nutzen gewähren. Allein die wichtigste Seite eines allgemeinen Eisenbahnsystems ist für uns Deutsche nicht die finanzielle, nicht einmal die nationalökonomische, sondern die politische. Für keine andere Nation ist es von so unschätzbarem Wert als Mittel, den Nationalgeist zu wecken und zu nähren, und die Verteidigungskräfte der Nation zu stärken. Uns ist es wahrhaftig ein göttliches Regenbogenzeichen, Deutschland ewigen Schutz vor fremden Invasionen verheißend, mögen sie von Westen oder von Osten drohen. Zur Zeit dürfte es wenige Männer von Einsicht in Deutschland geben, welche nicht die Sache aus diesem Gesichtspunkt betrachteten und die nicht im Laufe des abgelaufenen Jahres bedauert hätten, daß Deutschland die 20 Friedensjahre nicht für den Eisenbahnbau benutzt hat, wie sie von Belgien benutzt worden sind.« Gerade jetzt müsse die politische Lage spornen, das Werk ernstlich anzugreifen. »Wenigstens wüßten wir nicht, wie Deutschland bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge den Franzosen das Vertrauen in seine Kraft besser zu bethätigen vermöchte, als durch das Angreifen eines so großen Friedenswerkes. Wir wüßten nicht, wie den Franzosen die Thorheit ihrer Vergeudungen für zwecklose Kriegsrüstungen einleuchtender vor Augen zu stellen wären, als wenn Deutschland den Beschluß faßte, gleiche Summen auf die Begründung seiner Wohlfahrt und Macht zu verwenden. Auch dürfte gallischer Ehrgeiz schwerlich vertragen, daß Frankreich in einer so großen Angelegenheit hinter Deutschland zurückbliebe. Kennen wir anders die Franzosen, so werden sie mit uns in Wettkampf treten und über der nützlichen Arbeit ihre thörichte Kriegskunst vergessen. Erfolgt aber gleichwohl, während wir in der Arbeit begriffen sind, ein Angriff von außen, so möchte der daraus erwachsende Verlust reichlich ausgewogen werden durch die Ausbrüche des Zornes, der sich der deutschen Nation bemächtigen würde, im Fall sie sich so mutwillig in ihrer Arbeit gestört sähe. Übrigens brauchte Deutschland wegen dieser Nationalunternehmungen die Vorbereitung seiner Verteidigungsmittel keineswegs zu vernachlässigen. Ja es ist möglich, daß es deutschem Ernst und deutscher Überlegenheit gelänge, mit diesen Arbeiten die Bildung einer Reservearmee zu verbinden, die jeden Tag bereit stände, den Spaten mit dem Schwert zu vertauschen.« Je vollständiger das Netz, desto rentabler jede einzelne Linie, das beweise schon die bisherige Erfahrung. »Nach solchen Erfahrungen müßte man wahrlich blind sein, um nicht zu sehen, daß bei zweckmäßigem Eingreifen der Staatsgewalt nirgends von finanziellen Opfern oder Wagnissen, sondern überall nur von finanziellen Gewinnsten die Rede sein kann, ja daß es im höchsten Grade unvorsichtig wäre, wenn man den unbeschränkten Reinertrag dieser Werke für alle Zukunft Privatunternehmern überlassen wollte. In keinem Fall stellt sich das Nationalkreditsystem der neueren Zeit so klar, wie in dem vorliegenden, als ein wohlthätiges Mittel heraus, die Kosten einer den künftigen Wohlstand und die künftigen Produktionskräfte der Nation erhöhenden Maßregel auf die zu wälzen, welche ihre Vorteile genießen, nämlich auf die künftigen Generationen, und den gegenwärtigen Minderertrag eines produktiven Instruments durch Antizipation des Mehrertrags künftiger Jahrzehnte auszugleichen. Darin liegt der große Unterschied der Staatsunternehmungen von den privaten, daß der Staat seine Operation für ganze Menschenalter, ja für ganze Jahrhunderte berechnet, während der Privatmann den Kurs des Tages im Auge haben muß, und es würde nicht von großer Voraussicht zeugen, wenn man aus Furcht, die Staatsabgaben zu vermehren und das Staatsvermögen zu vermindern oder zu belasten, weder dergleichen auf Rechnung des Staates unternehmen, noch auf die Garantie eines Mindestertrages sich einlassen, und in Unterstützung des Bahnbaues nur so weit gehen wollte, als die jährlichen finanziellen Ersparnisse reichen. Finanzmänner von so beschränkten Ansichten wären dem Geizhals zu vergleichen, der aus Furcht, sein Korn zu vergeuden, keinen Samen auf den Acker streut.«



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