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Mortens Weihnachtsabend

Auf Ingvar Hansens Hof fing es an dunkel zu werden, obgleich die Uhr nicht viel mehr als vier zeigte. Die Magd mit einem wollenen Tuch um den Kopf trug Wasser ins Haus.

Der Häusler Morten kam vom Dreschboden; er stand in der Tür und zupfte die Spreu aus seinen gestrickten Ärmeln. Dann zog er den Rock an und ging quer über den Hof ins Wohnhaus.

»Könntest mir gern beim Wassertragen helfen, Morten«, sagte das Mädchen und guckte aus dem großen Tuch hervor.

»Können könnt' ich's«, antwortete Morten und lachte über den Spaß. Er trat in den Hausflur, klopfte seine Holzschuhe aus und drückte die Klinke der Stubentür nieder.

Drinnen war es warm wie in einer Badestube; es roch nach Wohlstand. Man hatte seit Jahren dort drinnen gut gegessen. Die Frau stand am Tisch und rührte Apfelscheiben in den Teig.

»Morten ist da«, sagte sie, zur Schlafkammer gewandt. Ingvar Hansen trat in die Tür, in Hemdsärmeln, mit großen Binsenschuhen an den Füßen.

»Was willst du, Morten?« fragte er und setzte sich gähnend ans Tischende. Tja, Morten war fertig für heute – soundso viele Hocken, und nun habe er gemeint …

Ingvar Hansen sog an seiner Pfeife und wartete.

Er wolle nur um den Lohn bitten, den er zugute habe.

»Wir rechnen ja jeden Samstag ab«, sagte Ingvar Hansen.

»Ja, ja, das ist wohl richtig. Aber …«

»Kannst deinen Lohn für die vier Tage gern haben«, sagte Ingvar, »mir soll's recht sein.« Ingvar ging in die Schlafkammer. Drinnen klappte ein Schloß.

»Ich will nämlich noch einen Gang zur Stadt machen«, sagte Morten laut und erleichtert, »zur Apotheke.«

Ingvar kam zurück und begann das Geld auf den Tisch aufzuzählen.

»So, da hast du«, sagte er. »'s fehlt noch ein Ör, aber ich hab' nur ein Zweiörstück, oder kannst du wechseln?«

Morten konnte nicht wechseln, er schwieg, zählte das Geld und steckte es ein.

»Kannst nicht wechseln? Na, dann hast du ein Ör bei mir zugute.«

»Na«, Morten lächelte, »darauf soll's mir nicht ankommen.«

»Ich nehm' von dir nichts geschenkt«, sagte Ingvar bissig und schob Morten das Zweiörstück hin. »Nun bist du mir ein Ör schuldig.«

Morten war die Geschichte schon zuwider. Er schwieg und stand mit der Mütze in der Hand.

»Wenn du zur Stadt gehst, könntest du beim Kaufmann Möller vorsprechen und etwas für mich mitnehmen. Sie wissen dort Bescheid. Wenn du gerade vorbeikommst!«

»Soll geschehen«, sagte Morten erleichtert –, »beim Kaufmann Möller, ja, ja …«

Eigentlich war es gar nicht Mortens Absicht gewesen, an diesem Abend in die Stadt zu gehen, nun entschloß er sich aber doch dazu. Er blieb ein Weilchen stehen und ließ die Augen umherwandern.

»Fröhliche Weihnacht auch!«

»Fröhliche Weihnacht, Morten!« sagte die Bäuerin.

Morten setzte die Mütze auf und ging seines Wegs.

Das Zweiörstück war auf dem Tisch liegengeblieben; Ingvar nahm es und legte es in den Geldschrank.

Morten wollte erst noch nach Hause gehen und dort Bescheid sagen, und es wurde fünf Uhr, bevor er sich auf den Weg zur Stadt machte. Es waren zwei Meilen bis dorthin, Morten konnte gegen zehn Uhr wieder daheim sein, wenn er sich beeilte.

Es war ziemlich finster, aber der Schnee leuchtete; als Morten die Landstraße erreichte, schritt er tüchtig aus. Er hatte den Wind im Rücken. Es war sieben Uhr, als er zur Stadt kam; es hatte angefangen zu schneien. Morten erledigte seine kleinen Aufträge. Er ging zur Apotheke und kaufte beim Krämer ein Viertelpfund Kaffee, Zucker und andere Kleinigkeiten. Auch für zehn Ör Malzbonbons für die Kleine, wie er erklärte. Dann besorgte er die Sachen für Ingvar Hansen beim Kaufmann Möller. Der wollte gerade den Laden schließen, als Morten kam.

Der Ladendiener stapelte die Sachen auf dem Ladentisch auf, mehrere große Pakete, alles in allem wohl zehn Pfund. Morten hob die Pakete am Bindfaden hoch; na, es ging an.

»Was aber sagen Sie zu diesem hier?« fragte der Ladendiener und warf eine große zusammengerollte Zinkplatte auf den Ladentisch.

Morten sah sie bestürzt an und hob sie ein wenig in die Höhe; sie mochte ihre fünfzehn Pfund wiegen. Er blickte sich um.

»Könnt' ich vielleicht einen alten Strick bekommen?« Morten begann die Pakete an verschiedenen Stellen bei sich unterzubringen.

Ja. Der Ladendiener band einen dicken Strick um die Zinkrolle und half sie Morten auf die Schulter. Der Ladendiener hatte es eilig, den späten Kunden loszuwerden, und hielt schon die Eisenstange bereit, als Morten zur Tür hinausging. Er wollte die Tür sperren, bevor noch mehr Leute kamen.

Morten war tüchtig beladen, als er heraustrat. Erst oberhalb des Städtchens aber, auf der freien Landstraße, merkte er, wie rauh der Nordwind ihm ins Gesicht wehte. Und dazu schneite es. Es konnte ein recht saurer Gang werden, noch dazu, wenn man schwer zu tragen hatte.

Morten schritt rasch aus; der beißend kalte Wind stemmte sich ihm entgegen und pfiff ihm mit feinem Frostschnee um Augen und Ohren. Und er heulte förmlich in den beiden Enden der Zinkrolle. Verflucht, daß sie so schwer war. Morten blieb stehen und legte sie zur Abwechslung auf die andere Schulter. Dann schritt er wieder kräftig aus. Er konnte aber spüren, daß er den einen Weg bereits hinter sich hatte, die Beine waren ihm steif.

Es hatte aufgehört zu schneien. Das Wetter hellte sich auf, der Wind wurde stetig, nahm aber an Schärfe zu. Der frischgefallene, feine Schnee stob längs der Gräben und eilte über die kahle Landstraße. Auf den öden Brachfeldern spielten lange Schneestreifen mit dem Wind, leichte Schleier fegten durch die klare Luft, im Schutz jeder kleinen Erdknolle legte sich Schnee nieder.

Morten schritt mutig aus; der Wind stemmte sich ihm entgegen, er mußte sich vornüberbeugen und sich jeden Schritt erkämpfen. Der Frost schnitt ihm ins Gesicht und griff besonders Nase und Ohren an. Morten blieb stehen, legte seine Pakete am Weg nieder und rieb seine schmerzenden Ohren. Dann stapfte er wieder weiter. Die Schnur der Zinkrolle schnitt ihm in die Schulter; er hatte schon so oft gewechselt, daß ihm beide Schultern gleich weh taten.

Die Landstraße führte selten an einem Haus vorbei, meist zog sie sich durch ödes Land, vom Wind gefegt und hart wie ein Fußboden. Hier und dort entstanden, der Windrichtung nach, längliche Schneeflecken. Kein Laut war in der kalten Winternacht zu hören, nur das feine Zischen des Schnees, der über die Felder stob, wie ein sinnloses Flüstern, das eintönige Lied des Schneestaubes und ein leises Rascheln, wenn der Wind über einen welken Strohhalm strich, der trotzig aus dem Schnee aufragte. Im Norden war der Himmel hoch und klar, die Wolken lösten sich davon ab, die Nacht wurde sternhell. Der Große Bär stand wie eine Brosche aus sieben zitternden Sternen am Himmel, ein paar andere Sterne funkelten bläulich in der durchsichtigen Nacht. Der Horizont lag tief unten, er kam beständig näher herangeeilt mit dem Wind, wogende, lose Schneeschleier zogen sich flatternd und spielend längs der Gräben. An den Wegkreuzungen bildete der Wind einen Wirbel und eine hohle Stelle, wo der Schnee sich niederließ, die Schneewehe fing an, sich über sich selbst zu wölben. Von Abhängen und Zäunen nebelte der Schnee in tanzender Eile ins Dunkel hinaus und rieselte in feinen Schichten auf die Wehen unter ihm. Der Wind spielte und fegte in der toten Kälte und wälzte sich über das verlassene Land.

Als Morten den halben Weg hinter sich hatte, wurde er todmüde. Der Wind ließ nicht nach, Morten mußte sich ihm fortwährend entgegenstemmen, und die Pakete wurden ihm schwer. Besonders die Zinkrolle. Morten trug sie eine Zeitlang unterm Arm, um auszuruhen, er trug sie vor sich her auf beiden Armen wie ein Wickelkind; schließlich lud er sie wieder auf seine schmerzenden Schultern. Nun war es bald einerlei, wie er sie auch trug, alle Glieder taten ihm weh, so oder so. Morten setzte ein Bein vor das andere und beugte sich vornüber, der Wind blies ihm die Hosen gegen seine mageren Beine. Der eine Holzschuh schien ihm unterm Absatz so niedrig zu werden; sollte er den Beschlag verloren haben? Morten blieb stehen und nahm den Holzschuh ab, stand auf einem Bein, den bestrumpften Fuß in der Luft. Ja, er hatte den eisernen Beschlag verloren. Das war schlimm, das Holz nutzt sich auf der harten Landstraße bald ab. Morten belud sich wieder mit den Paketen und drehte sich gegen den Wind. Er atmete die Kälte durch seine heiße Nase und blinzelte mit den Augen, denen das Wetter furchtbar mitspielte, obwohl er sie halb geschlossen hielt.

Morten wechselte wieder den Platz der Zinkrolle und trug sie zur Abwechslung ganz unten auf der Hüfte. Er hatte noch dreiviertel Meilen vor sich, ein langes, kahles Stück Weg. Weit in der Ferne schimmerten auf beiden Seiten vereinzelte rote Lichter. Überall feierte man jetzt den Heiligen Abend.

Morten konnte sich nicht mehr warm halten, kalter Schweiß brach ihm aus den Poren, die Beine waren stellenweise wie ohne Haut und eiskalt. Er mußte sich eilen. Vielleicht war es aber auch einerlei, langsam oder schnell kam vielleicht auf dasselbe hinaus. Er taumelte weiter und trug die Zinkrolle auf beiden Armen vor sich her. Ab und zu blieb er stehen, um auszuruhen; er legte die Last nicht mehr ab, weil es Mühe kostete, sie wieder aufzunehmen.

Wie lang die Nacht ihm wurde! Die ewige Wanderung gegen den beißenden Wind, den stummen Wind; und die Kälte drang ihm durch die Kleider und kroch ihm über die nackte Brust. Morten erinnerte sich einige Male daran, daß es ihm gut gegangen sei und daß er in der Wärme geschlafen habe; das würde ihm nun nicht mehr beschieden sein, er würde nie mehr schlafen dürfen, so schläfrig er auch war – – ach, so schläfrig.

Der Schnee stob wie weißes Linnen, der feine Staub rieselte über den Weg, es sah aus, als ob der Schnee sich in weißen Streifen verströmte.

Als Morten die Lichter des Dorfes erblickte, stand er still und schwankte im Wind. Er besann sich, und es schien ihm, als sei er ganz von Sinnen gewesen. Ohne es zu wissen, wäre er beinah umgesunken und ausgeglitten … Die Leere hatte ihn mit ihren Armen umfaßt und ihm etwas von der Wohltat der Ruhe, vom Segen der Ruhe ins Ohr geflüstert …

Morten wurde angst zumute, und er schritt mit Aufgebot seiner letzten Kräfte weiter. Der Schweiß brach aus seinem erfrorenen Körper.

Die letzte Viertelmeile ging Morten mit kleinen steifen Schritten, fast ohne die Knie zu beugen. Er hielt sich ganz vornübergeneigt und trug die Zinkrolle mit beiden Armen gegen den Schoß gepreßt. Er atmete geräuschvoll.

Die Uhr in Ingvar Hansens Stube zeigte auf elf, als jemand in den Flur trat und nach der Klinke tastete. Es war Morten. Die Leute waren noch auf und spielten um Pfeffernüsse.

Morten löste die Pakete von sich und legte sie auf den Tisch. Zuletzt stellte er die Zinkrolle hin und blickte auf:

»Und dann noch die hier.«

»Die?« sagte Ingvar Hansen, »die ist gar nicht für mich.«

»Doch«, sagte Morten, als hoffte er, sie sei doch für Ingvar. Verwundert blickte er um sich.

»Nein, das ist ein Mißverständnis, davon weiß ich nichts; da muß sich Kaufmann Möller geirrt haben.«

Morten sah zu Boden mit einem Ausdruck, der sie alle zum Lachen brachte.

»Es war wohl ein schwerer Weg für dich, Morten. Deine Ohren sind ganz erfroren.«

Ja, Morten hatte gelbe Blasen an den Ohren.

Am Weihnachtstag blieb Morten vor Müdigkeit im Bett liegen. Sonst aber hatte er keinen Schaden genommen.

 


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