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Der Schütz von Lindby

Oben in Jütland lebte ein Mensch, der die Tiefe der Natur und der Zeiten in sich trug, ohne es zu wissen: ein Mann, der sein Leben lang glaubte, freiwillig zu handeln und zu urteilen, seine Stirn aber trug eines der Schicksalsmale Pans.

Die Kinder hatten dafür einen sicheren Instinkt; sie fühlten an ihm die Verwandtschaft mit den Urzeiten und konnten in ihm, dem erwachsenen Menschen, einen ihresgleichen ahnen. Als der Schütz von Lindby zum erstenmal ins Dorf kam, belegten ihn die Kinder sogleich mit Beschlag. Er kam nicht ehrbar den Weg entlang wie andere Leute, die den Kindern vielleicht sagen, daß sie unartig sind, und sie fragen, ob sie ihre Bibel auch gut wüßten. Er tauchte auf dem Feld auf und sprang mit einem Satz über den Graben. Da kannten sie ihn. Er hatte auch eine doppelläufige Büchse über der Schulter und eine Tasche aus Otterfell an der Seite. Er war ungewöhnlich breitschultrig und kurzhalsig. Er hatte einen großen Kopf und weißes, kurzgeschorenes Haar. Er war bartlos und hatte Renan-Züge, man faßte sogleich Vertrauen zu ihm. Der Schütz von Lindby sprach ohne Herablassung von seinem Hund, und die Kinder durften gern Pulverhorn und Büchse befühlen.

Der Mann setzte sich auf den Grabenrand und unterhielt sich verständig mit den Jungen; die stöberten so nebenbei ein totes Rebhuhn in der Tasche auf, betasteten das Brustbein des Tierchens und schoben mit der Fingerspitze das Augenhäutchen von den toten, kleinen, braunen Augen. Seht, wie es die Augen unten zumachte. Wenn die Kinder das tote Rebhuhn drehten und wendeten, hingen Kopf und Hals immer nach unten. Das war so traurig.

Mit der Zeit wurde der Schütz von Lindby zu einer jener eigentümlichen Ahasvergestalten, die zur Gegend gehörten und doch nicht gehörten.

Eines Tages wußten die Jungen: der Schütz von Lindby ist im Dorf. Sie begrüßten ihren Freund, als hätten sie ihn vor einer Stunde zuletzt gesehen. Dann konnten Monate vergehen, ohne daß sie an ihn dachten. Und dann war er wieder einmal da. Der endlose Stillstand der Zeit, die Rätselhaftigkeit des Unbekannten hüllten ihn ein.

Der Schütz von Lindby führte ein heimatloses Wanderleben; er verdiente seinen Unterhalt durch Jagd und Fischfang. Das Seltsame an der Sache war, daß seine Eltern einfache Bauern gewesen waren. Das wußten die Leute, und darum betrachteten sie die Sache von der ökonomischen Seite. Wer konnte wissen, was er auf diese Weise verdiente; vielleicht hatte er den besseren Teil erwählt. Er gehörte ja eigentlich zu ihnen. Das Urteil der Leute hätte anders gelautet, wenn der Schütz von Lindby einer Stadt- oder Zigeunerfamilie entstammt gewesen wäre. Neben seinem Gewerbe hatte der Schütz von Lindby noch zwei Steckenpferde, Kartenspiel und Rauferei; und für beides verwandte er seine heimlichen Kniffe.

Eines Tages wurde im Dorf Auktion abgehalten. Ein Hausstand wurde aufgelöst; alles, was einst zusammengerafft worden war, sollte verkauft und in alle Winde verstreut werden.

Bei solcher Gelegenheit kommt häufig eine gewisse ausgelassene Feststimmung über die Leute; sie stecken ihre Nasen in tiefe Kisten mit allerhand Plunder, allerhand Ideenverbindungen entstehen dadurch und lösen ihnen Krusten von der Seele. Auch die auf dem Altenteil sitzen, werden lustig, und gesetzte Männer werden wieder zu den Menschen, die sie vor Jahren und Jahren einmal gewesen waren. Besonders wenn ein wenig mit Alkohol nachgefeuert wird. An diesem Tag gesellte sich noch ein anderer zu ihnen, Pan, in der Gestalt des Schützen von Lindby.

Die Kinder krochen überall umher und hatten die Nase voll von Mottenstaub, wie er in altem Hausrat steckt. Ein Sofa, dessen Lehne vierzig Jahre lang von einer Wand beschützt worden war, stand nun kläglich entblößt mitten auf freiem Feld. Es war wie eine Entdeckungsreise, den Furchen in der wurmstichigen Hinterwand nachzugehen und die Hände zwischen die Federn zu stecken. Große Methusalemspinnen krochen langbeinig und scheu in den Sonnenschein hinaus.

Plötzlich stob der Kinderschwarm auf und davon; die weitblickenden Spatzenaugen hatten den Schütz von Lindby entdeckt. Er kam vom Moor übers Feld her. Fünf, sechs kleine Hände machten sich an der Klappe der Jagdtasche zu schaffen, aber der Schütz schritt unbekümmert weiter.

»Ich hab' nichts, Kinder«, sagte er freundlich. »Aber hier sollt' ihr mal etwas sehen!«

Er zog ein paar Donnersteine hervor und ein Stück Flintstein, das wie ein Tier aussah.

»Die kriegt ihr, wenn ihr brav seid.«

Der Schütz von Lindby war nicht gekommen, um etwas zu kaufen; der Zufall führte ihn gerade hier vorüber. Abends brachte er ein Vierkartenspiel bei Sören Furbo zustande. Zwei Bauern aus einem Nachbardorf, Jens Hansen und Mogens, spielten mit. Sören Furbo war ein verschüchtertes Männlein; er war zum zweitenmal verheiratet, mit einer Frau, die die Reste seiner Entschlußkraft verwaltete. Heute war er mutig – er hatte zwei Schnäpse getrunken – und führte die Gäste in die Stube. Sie ließen sich auf der Bank um den Tisch nieder, und als die Frau unhöflich aus der Stube verschwand, schmunzelten die beiden Bauern in den Bart.

Anfangs wurde um Fünförstücke gespielt, und das war sehr gemütlich. Die Stundenglasflasche stand auf dem Tisch, und hin und wieder besiegelte man ein besonders komisches Spiel mit einem Schnaps.

Gegen Abend aber warf der Schütz das Kartenspiel auf den Tisch.

»Das ist ja alles bloß Kleinkram, spielen wir doch um Fünfundzwanzigörstücke.«

»Nee, nee«, sagte Sören Furbo scherzend. Er war aber bestürzt. Er hatte etwa drei, vier Kronen verloren.

»Frag lieber die Frau!« schlug Mogens vor und kniff die Augen herzlich zusammen.

»Ich kann dir ein paar Öre leihen«, sagte der Schütz und sah ihn ernst an.

»Das ist nicht notwendig«, erklärte Sören Furbo und sah stolz von einem zum andern, »so war's nicht gemeint.«

Der Schütz legte die Karten auf den Tisch, hob ab und gab.

Man spielte wortlos. Die Männer hielten die Karten der Länge nach gefaltet in der hohlen Hand. Wenn sie die Hand öffneten, falteten sich auch die Karten auseinander. Sie bogen das vorderste Ende jedes Blattes vorsichtig ab; es war, als stehle sich jeder einen Blick in die eigenen Karten.

Mogens' dicke Finger zitterten ein ganz klein wenig. Sören Furbo konnte seine Unruhe nicht verbergen. So oft er verlor, lachte er angestrengt wie ein Bursche, der einem Zauberkünstler hilft, wenn dieser ihm unversehens ein Kaninchen aus der Nase zieht.

Jens Hansen saß so ruhig wie eine Holzpuppe; er gewann. Auch dem Schützen war nichts anzusehen, seine geistgespannten Züge waren unbeweglich, nur die Augen wurden scharf und schnell.

Man spielte ununterbrochen bis gegen vier Uhr morgens; es wurde gegeben und getrumpft, das Geld mit den Fingerspitzen über die Tischplatte geholt.

Alle Männer hatten einen grausamen Blick bekommen wie Tiere.

Es war heller Tag, Sören Furbo löschte das Licht aus und verschüttete einen Schnaps. Die Karten wurden verteilt, man schneuzte sich die Nase und beherrschte sich. Jetzt hatte Jens Hansen Pech.

Gegen sechs Uhr begann Jens Hansen zu knurren und die Zähne zu weisen. Der Schütz betrachtete ihn lange schweigend.

»Kannst ja wieder gewinnen, Jens«, sagte er. Jens Hansen riß seinen Blick von dem des Schützen los und nahm seine Karten auf.

Gegen sieben Uhr kam die Frau herein, stand mit den Händen über dem Leib und sah zu, als wollte sie sie alle segnen.

Plötzlich schlug Sören Furbo mit den mageren Knöcheln auf die Tischplatte.

»Geh und back uns zwei Eierkuchen mit Speck«, sagte er, »und zwar sofort!«

Die Frau rührte sich nicht.

Da packte ihn die Wut, sein Gesicht verzog sich, und er spuckte.

»D–d–d–d–d–du …«

»Heiliger Gott!« rief die Frau und verschwand in die Küche.

»Trink 'nen Schnaps!« sagte Mogens kurz, als Sören Furbo zitternd auf die Bank fiel.

Sie spielten den ganzen Tag und rasteten nur, um stumm Eierkuchen in sich hineinzuschlingen. Jens Hansen hatte einmal bereits mehr als dreihundert Kronen verloren. Er war ein Mensch, der für gewöhnlich die Prägung eines Zehnörstückes auf beiden Seiten studierte, ehe er sich davon trennte. Er saß auf der Bank, als wäre er eine einzige schmerzhafte Wunde mit bloßliegenden Nerven. Und alle menschliche Brutalität war bis auf den Grund in ihm aufgewühlt. Seine Gesichtsmuskeln zogen sich zusammen vor Bitterkeit und spannten sich vor Bosheit. Sören Furbo verlor nur wenig und langsam. Es begann ihm vor den Augen zu schwimmen.

Das Glück wechselte, Jens Hansen gewann, Mogens verlor.

»Na, also, jetzt kommst du ja wieder zu deinem Geld, Jens«, sagte der Schütz leise und vertraulich und blickte starr über den Tisch. Jens Hansen lächelte häßlich.

Ab und zu kam die Frau in die Stube und sah bittend auf Sören; sie wußte weder aus noch ein, Sörens Stimme war heiser geworden, seine Augen leuchteten krankhaft.

Im Dorf wußten alle, daß die vier Männer Hab und Gut und Seligkeit verspielten.

Sie spielten bis in den Abend, die Frau setzte Eierkuchen mit Speck auf den Tisch und ging weinend zu Bett.

Sie spielten noch die ganze Nacht, und das Glück wendete sich hin und her. Das Talglicht beschien die verwüsteten Gesichter. Mogens, der frisch rasiert zur Auktion gekommen war, war über den unteren Teil des Gesichts ein dunkler Schatten gewachsen; sein Bart kam wieder hervor. Es waren nicht mehr Menschen, die dort saßen. Als es wieder heller Tag geworden war, löschte Sören Furbo das Licht aus. Es qualmte und stank, und Sören wurde von dem Geruch übel; er fiel vornüber und erbrach sich auf den Fußboden. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten.

»Hier!« brummte Jens Hansen gleichgültig und klopfte auf Sörens Karten, »paß auf deine Karten! Ist schon gut!« Er blinzelte mit den überwachten Augen. Sie mußten aber aufhören.

Taumelnd erhoben sie sich und sahen einander mit giftiger Feindschaft an. Gegen Ende hatte sich das Spiel ausgeglichen. Jens Hansen und Sören Furbo hatten jeder hundert Kronen verloren. Der Schütz hatte am meisten gewonnen. Die Männer hatten vier Liter Branntwein getrunken und vier Eierkuchen gegessen.

Jens Hansen stand und dachte nach. Aus seinen Zügen sprach Haß und grenzenloses Elend.

Nur der Schütz war ruhig, seine Augen folgten gespannt den beiden Bauern, die nach ihren Stöcken langten; er war auf eine Schlägerei gefaßt und hatte sich bereits den Stuhl ausersehen, dem er ein Bein abbrechen würde. Plötzlich aber war es, als erkennten die Männer ihre nackte Mordlust und schämten sich voreinander. Still und gedrückt gingen die Bauern ihrer Wege.

Der Schütz von Lindby nahm seine Flinte und Ledertasche und schritt den Moorwiesen zu.

Sören Furbo war von seiner Frau zu Bett gebracht worden; er weinte Tränen tiefen Jammers.

Fern von menschlichen Wohnungen streckte sich der Schütz von Lindby hinter einen Zaun und schlief den ganzen lichten Tag lang.

Um Mitternacht erwachte er, setzte sich in der Sommerdunkelheit auf, gähnte und streckte sich. Dann nahm er sein Essen aus der Tasche und verzehrte es. Einige Stunden blieb er wach liegen.

Woran dachte er? An nichts. Nah und aus weiter Ferne ließen die Vögel sich hören. Ab und zu flog in der Höhe ein Vogel durch die Luft; man sah ihn nicht, nur der Laut strich vorüber. Es war, als würde ein großer Kamm heftig in der Luft hin und her bewegt. Der eine oder andere Grashalm unter dem Kopf des Schützen suchte sich eine bessere Lage und federte dann still an einer anderen Stelle. Bewegte der Schütz den Kopf, sogleich knisterten eine Menge Halme; lag er wieder still, so suchten sie heimlich wieder zur Ruhe zu kommen.

Ein Kiebitz begann den Liegenden zu umkreisen und zu schelten und zu klagen; da richtete sich der Schütz auf. Im Osten rötete sich der Himmel. Der Schütz sprang auf, warf die Büchse über die Schulter und ging mit langen Schritten über die Wiesen dem Heiderücken im Süden zu. Er sprang über Gräben und wanderte frisch drauflos durch dick und dünn.

Das lautlose Morgengrauen hielt die ganze Natur in Bann. Der Schütz schritt über die heideroten Hügel und kam an den Bach. Er ging zu einer Stelle, wo das helle Wasser einen Tümpel bildete, legte sich still ins Gras und machte seine Angelschnur zurecht.

Der Nebel über dem Bach begann sich gerade zu verziehen und löste sich vom Wasserspiegel wie eine Schleierhülle von einer blanken, kostbaren Klinge. Im Schilf konnte man jedes einzelne Rohr deutlich erkennen. Es war voller, lichter Tag.

Die Angelschnur flog durch die Luft und fiel aufklatschend ins Wasser zwischen die kleinen Strudelchen, die in der Bucht wie Grübchen hin und her liefen. Der Köder sank langsam, schwebte in der schwachen Strömung und wurde vom Wasserdunkel verschluckt.

In geringer Entfernung plätscherte der Bach über flachen Grund; wo das Wasser an steilerem Ufer vorüberstrich, war weiches Glucksen zu hören.

Der Schütz von Lindby saß mit der Angelschnur in der Hand und blickte übers Wasser.

Einige Wasserlilien wiegten sich auf dem Spiegel, auf einer kroch ein Plattegel; auf einer anderen stand eine kleine Pfütze, darin kreiste ratlos ein gefangener Hummelkäfer. Wie mochte der wohl dort hingekommen sein? Die Samenkapseln der Lilien lagen wie kleine schwimmende Flaschen auf dem Wasser. Immer mehr begann sich das Leben zu regen. Hier kreiste eine ganze Schar von Hummelkäfern; sie sahen aus wie blanke Fruchtkerne und spielten in allen möglichen Kurven und Figuren. Dort liefen kleine Wanzen über die Wasserhaut, ohne sie im geringsten zu verletzen. Wenn die Tierchen stillstanden, konnte man sehen, daß sie eine kleine Grube im Wasser bildeten. Aus dem Schilf hörte man das feine Gesumm der Fliegen und Mücken. Eine jener flachen, grauen Fliegen, die sich irgendwo niederlassen, um zu stechen, und die man dann ganz gemütlich totschlagen kann, saugte sich auf dem Rücken des Schützen fest und empfing lautlos von ihm den Tod. Der Schütz wendete den Kopf – auf dem Boden zwischen den Graswurzeln schob sich ein junger rosiger Regenwurm vorwärts. Als er zu einer Distel kam, brachte ihn ein Blatt der Distelrose in Verwirrung; da ergriff ihn der Schütz und steckte ihn in seine Blechdose.

Gleich darauf belebte sich sein Gesicht, ein Fisch hatte angebissen. Er manövrierte mit der Schnur und zog sie dann zu sich heran. Er hatte gemerkt, daß der Biß gut war. Es war eine große, gelbweiße Forelle, die sicherlich ihre drei Pfund wog. Der Fisch zappelte in der Oberfläche des Wassers und fuchtelte mit dem Schwanz, um sich unter Wasser zu halten. Alles kleine Getier flüchtete zwischen die Pflanzen am Ufer. Der Schütz von Lindby zog den Angelhaken heraus und legte den Fisch hinter sich ins Gras. Noch lange, während er wieder die Schnur ins Wasser hielt und träumend dasaß, hörte er den Fisch das Gras mit den Flossen schlagen und mit dem Maul schnappen; es klang, als ob jemand Tabak rauchte und hin und wieder eine Blase zwischen den Lippen platzen ließe.

Die Sonne stieg höher und wärmte ihm den Nacken. Sie leuchtete ins Wasser hinunter, das stellenweise spiegelte und stellenweise durchsichtig war. Am andern Ufer konnte man den Grund sehen; dort stand ein kleiner Hecht zwischen den Stengeln der Wasserlilien. Er stand ganz still; die untere Kinnlade ragte vor, wie wenn er tot wäre. Das ist so eine Gewohnheit der Hechte. Das eine Auge schien beständig nach oben zu sehen. Der Fisch war nicht zu erreichen, es war übrigens ein winziges Tier. Eine Stunde lang wartete der Schütz von Lindby auf eine neue Beute; während dieser ganzen Zeit stand der Hecht unbeweglich wie ein Pfeil. Wenn die Wasserfläche in Bewegung kam, drehte er sich. Das eine Auge starrte unverwandt nach oben.

Es war hoher, sonnenstarker Tag geworden; in alles kleine Getier ringsum kam geschäftiges Leben. Die Stichlinge fingen an, naseweis zu werden; sie schossen zur Oberfläche hinauf und wendeten die blanken Seiten, wenn der Wurm nur einige Zoll von ihnen entfernt war. Es war auch schon fast über die Zeit.

Die Sonne wärmte, überall summten und spannen geflügelte Insekten. Auf einem breiten Blatt kroch ein Marienkäfer, er sah aus wie ein kleiner Tropfen roten Siegellacks.

Plötzlich hob der Schütz von Lindby den Kopf und hielt ihn lange so, als lausche er.

Sein Gesicht bekam einen kleinmütigen Ausdruck, um den Mund legte sich ein geduldiger Zug.

»Na, also«, flüsterte er demütig und wurde plötzlich leichenblaß. Er erhob sich, raffte eilig die Schnur zusammen und steckte sie in die Tasche. Das übrige ließ er liegen und ging ein Stück über die Wiese. Dann sah er sich den Erdboden an, ging auf einem kleinen Raum hin und her, zupfte an seinem Rock und sah nach, was er in den Taschen hatte.

Sein Gesicht war grau und fahl, seine Augen starrten mutlos zu Boden.

Und dann kam es.

Mit einem Ruck blieb er stehen, bäumte sich hintenüber und fiel hin wie ein Baumstamm. Der elastische Wiesenboden ließ ihn aufschnellen und dann wieder zurücksinken. Der Schütz von Lindby lag auf dem Rücken, Beine und Arme bewegten sich wie Marionettenglieder; er reckte den Kopf und schlug hintenüber hart auf den Wiesenboden. Ein gurgelndes Knurren und Röcheln kam aus seiner Kehle. Er preßte die Hände zusammen, die Daumen nach innen, wie bei Neugeborenen. Die Augen drehten das Farbige unter die Brauen und kehrten das Weiße nach außen.

Doch bald löste sich der Krampf, Arme und Beine sanken schlaff herab; er blieb noch ein wenig liegen, zitterte und wurde dann ganz ruhig. Die offenen Augen sahen geradeaus in die Luft; sie spiegelten das leere Staunen der ganzen Welt. Während er so still lag, wechselte der Ausdruck seiner Augen; es war, als regte sich etwas in ihnen. Die Züge blieben gestrafft und ohne Inhalt – nur die Augen lebten. War es das Geheimnis der Zeiten, war es die einzige Ewigkeit, die sich ihnen öffnete? Ein Stück weiter plätscherte der Bach über seichten Grund, aus den kleinen Höhlungen am Ufer kam ab und zu ein weiches Glucksen. Wie wenn jemand sich dort verborgen hielte, ganz still – nur manchmal mußte er leise auflachen. Das Gewürm lebte im Sonnenschein sein unbeachtetes Leben, rings um den Menschen, der dort lag und in die Höhe starrte.

Eine Viertelstunde blieb er liegen, dann schnellte er plötzlich kerzengerade empor. Seine Züge lösten sich in ein Lächeln inniger, stillvergnügter Geheimniskrämerei; als habe er ein gut Teil erfahren, würde es aber beileibe nicht dem ersten besten sagen.

Dann kam er wieder ganz zu Bewußtsein, sah sich ängstlich um und wischte sich den Schaum vom Mund.

Es war vorbei; er war wieder wach und wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war. Dann ging der Schütz zu seinen Sachen; er sah schlapp und elend aus.

Eine leichte Brise kräuselte den Wasserspiegel, der Hecht stand noch immer dort unten am Grund – ein wenig verzerrt vom Flimmern des Wassers – und starrte mit dem einen Auge nach oben. Der Schütz nahm einen Becher aus der Tasche, schöpfte Wasser und trank gierig. Schwere Gedrücktheit lag ihm auf Stirn und Brauen.

Langsam schlenderte er über die Wiesen, matten, schleppenden Schrittes und gesenkten Kopfes.

Gegend Abend befand er sich mehrere Meilen weiter östlich, in der Gegend von Hobro.

In der stillen, weichen Dämmerung kam er an einem Bauernhof vorbei und ging um die Hofgebäude herum zum Haus. Zwei Mädchen scheuerten Milcheimer und kreischten laut, als sie den Schützen von Lindby sahen. Sie warfen die Scheuertücher hin und flüchteten ins Haus, die Holzschuhe klapperten hart auf dem Boden. Alle Weiber fürchteten sich vor dem Schützen von Lindby.

Er wanderte weiter, quer über Moor und Feld. Für die Nacht suchte er sich eine weiche, behagliche Stelle in einem Graben und schlief, eingelullt vom Gezirpe der Vögel nah und fern.

Das war das Leben des Schützen von Lindby. Er vagabundierte ein Menschenalter in der Gegend umher, jagte, fischte, spielte und rauchte. Seine Rauflust war echt jütländisch; er teilte trockene Hiebe aus, die eigentlich keinem weh taten. Niemand wußte recht Bescheid über ihn, er war bald hier, bald dort.

Es geschah auch, daß die fallende Sucht ihn an bewohnten Orten überfiel. Wenn er dann dalag, umstanden ihn bleiche und von Entsetzen erfaßte Menschen. Alte erfahrene Frauen steckten ihm einen Löffel in den Mund, damit er sich die Zunge nicht abbeiße.

Mit den Jahren wurde sein Ungetüm bösartiger Natur, und in demselben Grad wurde er menschenscheuer. Die Krämpfe nahmen zu an Häufigkeit und Dauer.

Eines Winters hatte er sich auf der Bodenkammer eines Hauses eingemietet. Er kam und ging, meist war er fort, niemand achtete seiner.

Im Frühsommer spürte der Hausherr eines Tages üblen Geruch, der von der Bodenkammer kam. Man brach die Tür auf und fand den Schützen von Lindby mitten im Zimmer liegen. Er war schon über acht Tage tot. Die Augen waren glanzlos und starrten mit einem dummen Ausdruck zur Decke. Larven und kleines Getier kroch unter seinen Kleidern.


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