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Die Jungfrau

Westwärts in Himmerland, irgendwo auf der langen Küstenstrecke Salling gegenüber, lagen einst vier große Bauernhöfe. Vor ein paar Jahrhunderten bildeten sie ein einziges freies Rittergut, das Strandholm hieß. Die Gegend ist öde und dünn bevölkert. Strandholms Gutsherren hatten sich schon seit mehreren Geschlechtern auf den Ochsenhandel verlegt. Der größte Teil des Gutes bestand aus meilenweiten Wiesen am Fjord, während sich die Besitzer um die mehr landeinwärts gelegenen mageren und sandigen Landstrecken wenig kümmerten. Auf Strandholm hatte von jeher ein ungeselliges Volk gehaust, weil es dort so abgeschieden und fern von anderen Menschen lebte. Von Aussehen und in ihren Gewohnheiten stachen sie von den anderen Bauern der Gegend nicht sehr ab. Vielleicht waren sie ein wenig barscher, weil sie freie und wohlhabende Bauern waren, sonst aber teilten sie die landesüblichen Gebräuche und hielten sich hübsch auf der Erde wie andere einfache Menschen. Groß gewachsen und besonnen, waren sie meist im Freien anzutreffen, mit schweren Stiefeln an den Füßen und von Hunden umgeben. Der letzte Strandholmer hieß Jörgen Dam – der letzte, der das Gut ganz und ungeteilt besaß. Er las und schrieb viel und machte große Reisen ins Ausland. Als er alt wurde, teilte er das Gut zwischen seinen Söhnen, so daß jeder von ihnen ein gleich großes Teil bekam, Nord-Strandholm und Süd-Strandholm. Die Brüder vertrugen sich recht gut. Sie verlegten sich mehr auf Ackerbau, und da nun der Betrieb jedes Gutes auf die Hälfte herabgesetzt war, so fügte es sich von selbst, daß die Brüder eine noch einfachere Lebensweise führten als ihre Vorfahren. Daß das Geschlecht adlig war, geriet in Vergessenheit. In den kargen Zeiten, die nach den Schwedenkriegen hereinbrachen, ging es mit den beiden Brüdern stark zurück, so daß es keinem von ihnen leicht fiel, sich über Wasser zu halten.

Beide hatten Kinder. Und schon als die Kinder noch klein waren, hatten die Brüder es sich wie etwas Heiliges in den Kopf gesetzt, die Güter durch Verbindung ihrer Kinder wieder zu vereinen. Es sah aus, als sollte ihnen der Plan gelingen. Als die Kinder heranwuchsen, bildete sich ganz von selbst ein Paar. Ihre Geschwister kommen für diese Geschichte insofern nicht in Betracht, als ihre Lebensschicksale sich außerhalb der Bannmeile Strandholms abspielten. Hier handelt es sich nur um Matthias, den Sohn auf Nord-Strandholm, Junker Matthias genannt, und um die kleine Birthe vom anderen Gut, die eines des andern Schicksal werden sollten. Matthias wurde bald der Liebling seines Vaters, ebenso Birthe, und die beiden Geschwisterkinder schienen schon von klein auf einander zu wählen. Als sie sich im zarten Kindesalter zum erstenmal sahen, saßen beide auf einem großen Tisch und suchten sich begehrlich mit den Ärmchen zu erhaschen. Während der ganzen Kindheit ließ man sie zusammen spielen, sie wurden stets begünstigt und vorgezogen. Wie sie heranwuchsen, wurden sie einander immer ähnlicher, wurden hübsch, hielten sich feiner als ihre Geschwister und waren temperamentvoller. Auf den sonnenbeschienenen Heiden und Sandstrichen, auf den Wiesen mit den üppigen Gräben und an dem stillen und einsamen Strand des Fjords verlebten sie ihre lange und sorgenfreie Kindheit wie eine Ewigkeit von Frische und Süße. Wovon keinem anderen bekannt war, das wußten die beiden Kinder. Der unfruchtbare, scharfe Flugsand wurde in ihren Händen zu einem kostbaren Schatze ganz winziger, in vielen Farben, gleichsam fernen Farben, spielender Juwelen; die Heide und die Wiesen waren ihnen eine wimmelnde Welt von Lebewesen, mit denen sie auf gutem Fuß standen, Käfern, Eidechsen, Kröten, Schwalben und Stichlingen. Jedes Jahr besaßen sie bald hier, bald dort Vogelnester, die sie ihr eigen nannten und in der Dämmerung besuchten; dann nahmen sie die Nester aus und setzten sich, mit den warmen Eiern in der Hand, ein wenig nieder, während der Vogel, mochte es nun eine Lerche oder ein Kiebitz sein, irgendwo in der Nähe hockte und flehentlich zu ihnen hinsah. Sie waren fast immer im Freien, hatten stets den hohen weitgestreckten Himmel über sich.

Der beständig wiederkehrende Grundton ihrer Kindheit, ein Ton, der sie für ewige Zeiten miteinander vertraut machte, war der Schrei der Seeschwalbe, der immer dort, wo Sand und Heide verschwimmen, über dem Flachland erklang und von immer höher herab und von weiterher zu kommen schien als von da, wo die anderen Vögel aufflogen.

Stets zog die eine oder andere Seeschwalbe allein hoch am Himmel hin und schrie so friedlos und bitter, so vertraut und so rätselhaft: Girah! Der schlanke, schneeweiße Vogel mit den langen und doch nicht sicheren Flügelschlägen, der Vogel, der nichts zu sagen zu haben scheint auf seinem einsamen Flug vom öden Fjord zur einsamen Heide und wieder zurück und dennoch nicht schweigen mag, er durchreiste den Himmel ihrer glücklichen Kindheit.

Die zwei Kinder waren fast erwachsen, als sie sich allein überlassen blieben: die Eltern starben ungefähr gleichzeitig. Sie starben in der ruhigen Zuversicht, daß die Güter nun wieder vereinigt würden und das Geschlecht auf diese Weise wieder in die Höhe käme. Die Kinder konnten binnen kurzem heiraten, denn alles war ja bestens für sie geordnet.

Da aber geschah es, daß Birthe den Matthias nicht haben wollte.

Es kam plötzlich, wie einer jener unerklärlichen, von tief verborgenen Kräften herrührenden Naturausbrüche. Alles war so ausgezeichnet zurechtgelegt, alles war gegangen, wie es gehen sollte. Die anderen Geschwister hatten ihr Erbteil ausgezahlt bekommen und waren jedes auf seine Weise versorgt. Matthias und Birthe waren im heiratsfähigen Alter, alles war durch jahrelange Fürsorge für sie bestellt, sogar die kitzlichste Frage war in Ordnung: die beiden jungen Menschen hatten große und erprobte Zuneigung zueinander – und trotzdem hob Birthe die Verlobung auf. Warum? War etwas in ihr, das zusammen mit ihrer eigentlichen Bestimmung gereift war? Hatte ein heimlicher Unwille oder die Lust, sich siegend in der ihrer Bestimmung entgegengesetzten Richtung auszuleben, zur selben Zeit in ihrer Seele Frucht angesetzt, wo nach allen Regeln ihr Glück hätte reifen sollen? Hegte sie vielleicht in ihrem unergründlichen Mädchenherzen das Gefühl, daß sie Matthias nicht heiraten wollte, gerade weil sie ihn liebte? Weigerte sie sich etwa aus einem den Frauen gemeinsamen Trieb, zu trotzen, zu einem Zeitpunkt, der unvernünftig und von schicksalsschweren Folgen war? Wer weiß, worauf ein junges, schönes Mädchen verfallen kann! Birthe wollte nicht heiraten.

Junker Matthias brach darüber anfangs in schallendes Gelächter aus. Dann wurde ihm angst, und er bat und bettelte, bald war er zornig, bald demütig, bald wie aus den Wolken gefallen, bald völlig außer sich. Er drohte, er weinte. Birthe aber hatte ihre verlockende Person wie zum Begräbnis in Schwarz gekleidet, mit großen teuren Federn und leckrem Samt. Sie verblieb stumm, stumm. Sie wuchs bei all dieser gutgelungenen Unbeugsamkeit, bekam Lust auf mehr Kummer und Sieg, umgab sich mit wollüstiger Kälte und seelischer Mystik, die keine Worte fand; sie spielte bei sich selbst zu Gast sein, es war aber bittrer Ernst. Junker Matthias konnte trotz ehrlicher Bemühungen nicht klug aus ihr werden, und da er sie und sonst nichts liebte, so endete es stets damit, daß er außer sich geriet und einen Tobsuchtsanfall zum besten gab, vor dem Birthe erschauerte, während sie ihn genoß. Wenn Matthias eine seiner entsetzlichen Szenen aufführte, konnte sie so leichenblaß und liebreizend dastehen, als sei nichts geschehen, während die leidenschaftlichen Gemütsbewegungen des Junkers wie kaum merkliche Spiegelungen über ihre feinen, begehrlichen Züge glitten. In ihre Augen kam etwas Krankhaftes, wenn der lange, vor Elend gleichsam dampfende Bursche sich krachend vor ihr auf die Erde warf. Aber sie bewahrte die größte Ruhe, stand und bewegte die Lippen ganz wenig, als ob sie grausam lächelte oder sich selbst zuflüsterte: Ich liebe ihn, ich liebe ihn. Schließlich entfesselte sie eine furchtbare Halsstarrigkeit bei ihm; rasend ging er eines Tages von ihr, verwundet, nie mehr zu zähmen. In seinem Trotz verschwor er sich dem Teufel, kam nicht wieder, kam nie wieder.

So wurde nichts aus der Heirat.

Und nun begann ein wunderliches Leben auf den beiden Zwillingsgütern. Jungfrau Birthe nahm auf ihrem Besitztum die Zügel in die Hand, und zwar so, daß es jedem klar war, sie würde vorsätzlich alles gleich in Grund und Boden wirtschaften. In ihrem kindlichen Eigensinn, nur um ihren Willen durchzusetzen, machte sie sich in der phantastischsten Weise über die Gutsgeschäfte her, und als ihr ein Mitglied der Familie helfen wollte, wurde es nur noch schlimmer. Schließlich fand sich ein Verwandter, der gebieterisch einsprang (Birthe sprühte, beugte sich aber) und der die Dinge wieder ins rechte Gleis brachte. Hinfort gab sie sich zufrieden und benahm sich wie andere Menschen. Das Gut bewirtschaftete sie nun allein und recht ordentlich. Insoweit war sie geborgen.

Matthias erging es schlimmer, aber nicht sogleich. Anfangs bewirtschaftete er sein Gut vernünftig. In seinem Grimm und Groll aber begann er bald sich auf anderen Gütern, auf Jahrmärkten und in Landstädten herumzutreiben, wo er spielte und trank. In der ersten Zeit raufte er mehr, als er zechte, allmählich kam er jedoch mehr und mehr herunter.

Es vergingen einige Jahre, und auf beiden Seiten hatte man sich die Heirat völlig aus dem Kopf geschlagen. Die beiden Geschwisterkinder sahen sich niemals. Ihre Existenz hatte nur den Zweck, sich täglich an dem Bewußtsein zu mästen, daß keines sich unterwerfen wollte, und jedes nährte im Herzen die Hoffnung, der andere leide bitterlich, während sie in ihrem Entschluß immer fester wurden, niemals, niemals das eigene Unglück, den eigenen Schmerz zu verraten. Von außen gesehen lagen die Dinge so, daß Birthe ihr Gut, auf dem sie immer zurückgezogener lebte, in die Höhe brachte. Junker Matthias aber war fast nie zu Hause, und sein Gut wurde schändlich vernachlässigt. Die Gebäude verfielen. In dem einen Jahr wurde die Saat gar nicht geerntet, sondern vermoderte auf dem Feld; und hinfort wurde der Boden überhaupt nicht mehr bestellt. Als es kein Futter mehr gab, ging der Viehbestand ein, und als der Junker schließlich kein Geld mehr auftreiben konnte, schämte er sich vor den Leuten und blieb untätig auf dem Gut. Er jagte oder trieb im Boot draußen auf dem Fjord. Nach und nach verließ ihn das Gesinde. Die Felder wurden gar nicht mehr bestellt. Schließlich lag Nord-Strandholm ganz öde, ohne Leute, ohne Viehbestand. Die Gegend war an sich unfruchtbar und spärlich bewohnt; was hier vorging, war aber doch noch nicht dagewesen. Daran erinnerten sich alle, und damit begann man stets, sobald die Geschichte des Junkers aufs Tapet gebracht wurde. Eine solche Behandlung von Grund und Boden war ja die reine Sünde; denn gab es in der Welt nicht genug Arme, die keinen Boden zum Bebauen besaßen? Und hier lagen nun viele Tonnen Landes, ohne daß ein Pflug sie berührte. Es war seltsam, wie schnell ein durchackertes Land wieder verwilderte. Heidekraut kroch über die Äcker, wo sie nicht in wildem Durcheinander von Huflattich, Disteln, auch gesätem Korn und gestrüppartigem Unkraut überwuchert wurden. Die Wege, die nach dem Gut führten, wuchsen zu und verfielen, so daß der Hof bald wie auf einem Kirchhof mitten in einem weglosen Gewirr von Gras und wilden Pflanzen lag. Das Ärgernis war in aller Leute Mund, da die Gegend aber dünn bevölkert war und die wenigen wett voneinander wohnten, so geriet Junker Matthias fast in Vergessenheit. Da saß er nun als das einzig übriggebliebene Wesen auf dem öden Gut. Schließlich blieb er ganz mutterseelenallein, da er auch bald kein Tier mehr um sich hatte. Er lebte von Jagd und Fischerei, falls er überhaupt lebte.

Eines Tages erblickten einige Männer, die mit einer Trift Ochsen die Landstraße entlang kamen, ein wunderliches Geschöpf, das von Nord-Strandholms Distelfeldern her auf sie zukam. Wie ein Wilder sah es aus, in alten, verschlissenen Kleidern, mit einem Wald von Haar und Bart. Es war Junker Matthias. Er wollte mit niemand sprechen, schoß sich ganz ruhig einen Ochsen aus der Herde und blieb neben dem erschossenen Tier stehen, während die anderen Tiere weitergingen. Die Treiber wollten sich das nicht gefallen lassen, dies ging über ihren Verstand; der Junker aber gab ihnen keine Antwort, richtete nur seinen Büchsenlauf auf sie, bis sie sich verzogen. Dann schnitt er sich ein Stück Fleisch aus dem Ochsen und ging damit nach Haus. Zwei Tage darauf kamen Gerichtsbeamte auf den öden Hof, wo sie den Junker Matthias in der einzig bewohnbaren Stube im Bett liegend fanden. Der Fußboden des Raumes war ein einziger Sumpf von der Erde, die der Junker jahrelang an den Füßen mit hereingeschleppt hatte, und außerdem von Moder und verschimmelten Gewächsen. Aus den Rissen der Decke hingen lange Wurzeln herab, von Pflanzen, die dort oben wuchsen. Die Fenster wurden durch Wermutsträucher und andere im Hof wuchernde Kräuter verdunkelt. Als der Junker oder der unkenntliche Haarmensch die Männer sah und ihren Auftrag vernahm, stand er auf und kleidete sich an. Er machte einen Versuch, etwas zu sagen, aber man verstand ihn nicht; er hatte es verlernt, mit jemand zu sprechen. Als sie ihn aber verhaften wollten, griff er zur Büchse und machte sich damit verständlich. Schließlich blieb den Beamten nichts anderes übrig, als wieder ihres Wegs zu gehen. Als sie dann zahlreich und bewaffnet wiederkamen, war Junker Matthias verschwunden. Einige Wochen lang ließen sich seine Spuren noch bis an die Grenze von Viborg verfolgen, wo auf offener Landstraße ein Raub begangen worden war. Kurz darauf erschlug und beraubte er auf der Koldinger Landstraße einen Pferdehändler. Das war das letzte, was man von ihm hörte. Er hatte das Land verlassen.

Nord-Strandholm wurde nun in zwei große Bauerngüter aufgeteilt und der verwilderte und vernachlässigte Boden wieder bebaut. Die Verbindung zwischen den ursprünglich zusammengehörigen Höfen war ganz abgebrochen. Die neuen Herren auf den Gütern von Nord-Strandholm sahen nie etwas von Jungfrau Birthe. Sie wohnte ganz allein. Und die Jahre gingen über sie hin. Solange sie jung war, hatte sie ab und zu Freier gehabt, doch sie wies sie alle mit Spott und Ekel ab. Hinfort ließ man sie in Frieden. Sie wurde ein Sonderling. Im Laufe der Jahre wurde sie nur noch die »Jungfrau« genannt. Man erzählte allerhand von ihrer eigentümlichen Lebensweise und ihrem menschenscheuen Wesen. Sie war keineswegs gut, gönnte ihrem Gesinde nicht mehr, als ihm zukam, und gab scharf acht, daß alle Arbeit verrichtet wurde. Auf dem Gut bewohnte sie eine große Stube, und dort sammelte sie im Lauf der Jahre verschiedene Tiere um sich, Möpse, die vor Alter und Verfressenheit so fett waren, daß sie wie leblos auf Kissen lagen. Auf Stangen und in Messingkäfigen saßen kahle Kanarienvögel und Kakadus, und eine Schar fauler Katzen trieb sich umher. Ihr allerbester Freund aber war ein altes Schaf, das in der Stube umherging und alle Vierteljahr bei Witterungswechsel ein paarmal blökte. Einst war es ein Lämmchen gewesen, weiß wie eine Sommerwolke und voller Ausgelassenheit, daß es mit allen vieren vom Rasen in die Luft sprang. Nun aber war es blind und glich einem mit Wolle und alten Knochen vollgestopften Bettelsack. Schließlich wurde es hinfällig und mußte aus einer Flasche genährt werden. Es wurde so alt, daß es auf der Stirn Hörner bekam wie ein Widder, und es konnte sich fast mit menschlicher Stimme melden, wenn es Hunger hatte. Niemand sollte sehen, daß es ein Schaf war. Viele machten sich Gedanken darüber, daß die Jungfrau dieses klägliche Tier um jeden Preis am Leben erhalten wollte. Wer konnte wissen, mit wem sie im Bunde stand? Als schließlich das zahme und getreue Schaf das Zeitliche segnete, wiederholte Jungfrau Birthe die Geschichte und adoptierte im Frühling ein neues Lämmchen, das viele Jahre lang bei ihr blieb, bis es ebenfalls alt wurde und ihr wegstarb.

Auf Strandholms Kirchhof liegt nun Jungfrau Birthe Dams große und prunkvolle Grabstätte. Es ist wunderlich, in dieser unfruchtbaren Gegend auf ein so pompöses Monument zu stoßen. So weit das Auge reicht, sieht man graue und unfruchtbare Strandäcker mit kreideweißen Feuersteinen bestreut, die kleinen Knochen gleichen. Die Kirche selbst ist weiß wie ein Knochen und liegt so öde da mit ihrem armseligen Turm, der sich dem seichten Fjord zuwendet, der selbst weder Licht noch Farbe hat. Und auf dem trostlosen Kirchhof starrt die Armut, hier gibt es soundso viele namenlose Gräber, längliche Hügel, mit weißlichem Gras bedeckt. Der Wind kommt vorüber wie ein Fremder, der vor sich hin schnauft, über seinen langen Auftrag nachdenkt und weiterreist. Hoch oben am Himmel beschreibt eine Seeschwalbe ihren Weg, der schmächtige weiße Vogel liegt unsicher auf seinen Flügeln, als ob er zu leicht für den Luftraum und allzu einsam sei. Girah! Girah! Hier ist es so verlassen, hier ist es so einsam. Mitten auf dem Kirchhof, dem öden, unfruchtbaren Strand zugekehrt, steht Birthe Dams vornehmes Grabdenkmal, eine hohe, spiegelblanke Granitsäule, die mit Bronzeornamenten in verschwenderischem französischem Stil geschmückt ist. Oben ist sie von vier schönen Bronzehörnern wie mit einer doppelten Leier verziert. Diese kultivierten Linien heben sich vom bleichen Himmel Jütlands ab und erinnern seltsam schonungslos an mildere Verhältnisse irgendwo fern im Süden, wo das Gebrechlichste lebensmöglich bleibt und Metall in gelungene Formen gegossen wird.

Darunter ruht Birthe Dam, die während eines Menschenalters und mehr jeden Sonntag die Kirche und nie einen anderen Ort besucht hat. Jeden Sonntag sah die Gemeinde ihr blutloses, welkes Gesicht hinter dem Gitter der Empore, wo die Damsche Familie seit alters ihren Kirchenstuhl gehabt hatte. Dort hing, in Holz geschnitzt und azurblau, ziegelrot und schwefelgelb bemalt, das Wappen der Dams. Dort befindet sich noch ein altes Konterfei der »Jungfrau« von Strandholm. Man sieht sie in einem spitz wie eine Tüte zulaufenden Schnürleib dasitzen, das verhärmte Nonnengesicht in eine gekräuselte Halsrüsche eingekapselt. Unter ihrem linken Arm ist mit gelben Faunaugen und einer langen frommen Nase der Kopf eines Schafes gemalt, zur Erinnerung an das einzige Wesen, das Jungfrau Birthe geliebt hat.

Eines Sonntags aber sah die Gemeinde zu ihrem Erstaunen und Schrecken die Jungfrau nicht in ihrem Kirchengestühl sitzen. Die Andacht war gestört, der Pfarrer stammelte geistesabwesend, weil der alte, dürre Kopf Birthes mit der eigensinnigen Miene nicht wie sonst oben zu sehen war.

Jungfrau Birthe aber hatte an diesem Tag eine triftige Entschuldigung, ging sie doch wild schluchzend in ihrer Stube auf und nieder. Als sie vormittags wie gewöhnlich zur Kirche fuhr und über das Flüßchen ins Tal gelangt war, hatte sie einen Reiter landeinwärts in die Richtung auf die Strandäcker zu jagen sehen. Sie hatte sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht, bis sie eine Minute später bemerkte, wie über die Anhöhe im gestreckten Galopp ein anderer Reiter hinter dem ersten dahergesprengt kam. Da hatte sie den Kutscher halten lassen. Und als sie begriff, daß der erste Reiter ein Flüchtling war, der aufgehalten werden sollte, da hatte sie, schnell entschlossen und tatkräftig wie sie war, ihrem Kutscher Befehl gegeben, abzusteigen und die eben von ihnen passierte Brücke abzubrechen. Der Kutscher gehorchte und hatte in wenigen Augenblicken die Planken der elenden Brücke entfernt, so daß sie nicht passierbar war. Jungfrau Birthe hielt ruhig am Weg und sah den Reiter auf das Flüßchen zusprengen. Er sauste an ihrer Karosse vorüber – es war ein Mann mit langem, grauem Haar –, und im nächsten Augenblick sah sie ihn sein Pferd zur Seite reißen, als er bemerkte, daß die Brücke abgebrochen war. Die Kleidung des Mannes entsprach wenig der Jahreszeit, und auf dem grauen Haar trug er einen verschossenen Hut. Als er nicht über die Brücke gelangen konnte, trieb er sein Pferd in den Fluß, aber das Tier blieb im tiefen Schlamm stecken, sank, mit den Beinen ausschlagend, unter und verschwand. Der Reiter hatte sich über das Kreuz des Pferdes nach rückwärts gerettet und kam an Land. Inzwischen hatte der andere Reiter sein Pferd angehalten und war abgestiegen. Es waren keine dreißig Meter zwischen ihm und dem Flüchtling. Und der Reiter, dessen Pferd versunken war und der nun nicht weiterkommen konnte, stand aufrecht da, ungewiß, was er tun, ob er sich in sein Schicksal ergeben sollte. Der Verfolger aber löste kaltblütig sein Gewehr vom Sattel, zielte sorgfältig und schoß. Mit dem Knall flog der Rauch aus dem Lauf, der Schütze hängte die Flinte um den Hals, ergriff sein Pferd am Zügel und ging zum Fluß hinunter, wo der Fremde vornüber gefallen war.

Inzwischen hatte Birthe Dam ihre Karosse verlassen und war zu dem Gefallenen hinuntergegangen. Sie hob seinen Kopf und sah, daß es Matthias war. Birthe wunderte sich nicht, daß er es war, und sein Tod vermochte sie nicht niederzubrechen. Er war alt und grau und fast unkenntlich, aber sie erkannte ihn, und dieselben Jahre, die ihn zerstört hatten, hatten ihren Sinn kalt gemacht. Gerade als er heimkehrte, mußte er sterben, sein Schicksal hatte es so gewollt. Tausend Jahre hatte sie seiner geharrt, jetzt war er gekommen und hatte sich das Blei ins Herz geritten, in dem Augenblick, wo sie ihn wiederbekam. Girah!

Der Mann, der den Schuß abgegeben hatte, stand und wartete. Es war ja eine vornehme Dame, die da am Boden lag und den Kopf des Missetäters hielt, er mußte ihr wohl etwas Höflichkeit erweisen. Jungfrau Birthe wandte ihr tränenloses Gesicht dem Fremden zu und sagte still in stehendem Ton:

»Ach, laßt ihn ein Weilchen liegen, er hat sich noch nicht verblutet.«

Sie fürchtete, sie dürfe Matthias nicht behalten. Während sein Blut verströmte, blieb sie bei ihm und stützte seinen Kopf. Sie legte ihn in ihren Schoß und umfaßte ihn mit beiden Händen, wie sie zu tun pflegte, als sie beide klein waren und Matthias sein Mißgeschick bei ihr ausweinte. Ach, als sie Kinder waren, verkrochen sie sich immer irgendwo draußen unter freiem Himmel, wo niemand sie sehen konnte. Es war ja noch gar nicht so lange her. Nun hatte sie ihn wieder, und was inzwischen alles sich begeben hatte, war ja einerlei. Wie still er lag. Sein Körper zitterte nur ganz wenig, und das Zittern wurde schwächer und schwächer, wie wenn in alten Tagen, als sie klein waren, sein Weinen nachgelassen hatte. Girah!

Der Fremde sprach mit dem Kutscher. Es war ein Polizeisoldat aus Hamburg, er sprach gebrochen Dänisch. Er hatte den Missetäter, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war, schon seit vier Tagen verfolgt und hatte Befehl, ihn lebendig zu fangen oder zu erschießen. Und da es sich nun so glücklich getroffen hatte, daß sich Zeugen fanden, so hatte er ihn erschossen. Ob der Kutscher es bezeugen wolle? Ja, der Kutscher war es zufrieden. Der fremde Polizeivertreter nahm vor Jungfrau Birthe, die er Madame titulierte, den Hut ab und erklärte ihr die Sache noch einmal: Der Mann, den er nach Hamburger Stadtrecht ex tempore hingerichtet hätte, wäre ein Straßenräuber und Mordbrenner. Ob Madame bezeugen könne und wolle, daß er tot sei?

Birthe Dam nickte mit Respekt, geistesabwesend: Ja, sie könne es bezeugen.

Gut, dann hätte er seinen Auftrag ausgerichtet. Die Leiche gehe ihn nichts an. Es habe ja den Anschein, als ob Madame sich für sie interessiere, um so besser …

Das kleine Vormittagsabenteuer endete damit, daß Jungfrau Birthe die Leiche in ihrer Karosse mit nach Hause nahm und der Hamburger Soldat mit einem unterzeichneten Todesattest denselben Weg zurückritt, den er gekommen war.

Als Birthe Dam ihren toten Vetter drinnen in der Wohnstube aufgebahrt hatte, löste sich ihr starres Herz, und weinend und wild wie ein junges Weib ging sie zwischen ihren räudigen Katzen und Möpsen auf und nieder. Und sie sahen sie an, alle die überfetten und methusalemalten Schoßtiere, sie rülpsten, miauten und wieherten ihr leise zu, die liegenden Möpse, die Katzen, die sich nicht erheben konnten, das blinde und kindische Schaf.

Einige Jahre später starb die »Jungfrau« und wurde begraben. Da wurde auch Süd-Strandholm aufgeteilt.

Auf der Heide bei Strandholm steht ein Stein, ein großer schmaler Feldstein, der von den Altvorderen wohl über einem Häuptlingsgrab errichtet wurde. Er ist einer großen Türangel nicht unähnlich, einem gewaltigen Steinzapfen, an dem ein ungeheuer großes Tor gehangen haben mag. Ringsum ist die Landschaft vollkommen verödet. Und diese vereinzelte, phantastische Riesentürangel scheint auf der Heide in meilenweitem Umkreis der letzte gewaltige Überrest eines kolossalen Gebäudes oder das Bruchstück eines Riesenbaues zu sein, den man zu vollenden vergessen hat. Der Himmel über diesem Land ist so still, es klingt so einsam, wenn ihn eine Seeschwalbe durchstreift und hoch oben ihren Schrei vernehmen läßt. Die Seeschwalbe fliegt immer allein. Man sagt, sie sei die Seele unseliger Jungfrauen.


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