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Der Mann

Unten im Tal, am Fuße von Gunung Api, wohnte das Waldvolk, vollkommen sorglos, ohne dem kommenden Tag einen Gedanken zu schenken, der Wald tischte ihm von seinem Überfluß auf. Man hatte keine Wohnung oder festen Aufenthaltsort, sondern zog von dem einen wilden Garten zum andern, je nachdem die Früchte reiften und sich darboten; hatte man sich an einer Stelle satt gegessen oder nur zum Zeitvertreib alle Früchte herabgeschüttelt, dann zog man mit Geschrei und Munterkeit an einen andern Ort und schüttelte die Bäume dort.

Obgleich das Waldvolk beständig auf der Wanderung war, hatte es doch, ihm selbst unbewußt, regelmäßig wiederkehrende Gewohnheiten, bewegte sich in einem gewissen Ring, innerhalb eines bestimmten Gebietes, und hinterließ im Laufe der Zeit Spuren, gebahnte Pfade, an die diejenigen, die ein Gedächtnis hatten, sich von Mal zu Mal erinnerten; Wald und Jahr leiteten unwillkürlich ihr Leben; wer sich der Pfade erinnerte, merkte sich auch wie von ungefähr, wie der Wald und das Jahr aussahen, wenn man zum selben Ort zurückkehrte.

Eine große Landschaft breitete sich am Fuß von Gunung Api, eine gestreckte, sanft abfallende Halde, die sich auf der einen Seite in den zusammenhängenden Wäldern des Flachlandes verlor, auf der andern zu Gunung Apis untersten Felsen hinaufstieg. Es war keine Lichtung und auch kein Wald, sondern beides zugleich, offenes Land und Gehölz vermischt, hier und dort vereinzelt stehende Bäume, anderwärts Gebüsch, und um einen Fluß herum geschlossene Waldpartien; Felsen und Schluchten wechselten mit ebenem Wiesenland. In dieser Parklandschaft bewegte sich das Waldvolk, bald aufwärts und bald abwärts, am Flußufer und im Urwald, zwischen den Bäumen und auf dem offnen Land oder den Berg hinauf, stets etwas Neues, und doch innerhalb gewisser Grenzen, die indessen so weit waren, daß sie sie gar nicht bemerkten; die ganze übrige Welt stand ihnen offen, doch hatte es seine bestimmten Gründe, daß sie gerade hier blieben. Fern oder nah, Gunung Apis rauchender Kopf oder die Wolke, worin er sich hüllte, standen immer über ihrem Gesichtskreis, verschlossen ihnen den Himmel nach der einen Seite; hinter dem Vulkan waren sie noch nie gewesen.

Im übrigen besaßen sie das Land nicht allein, da lebten außerdem alle Tiere im Walde und auf den Wiesen, mit denen sie befreundet waren; mit den Tieren lebte das Waldvolk in demselben bedingten Frieden, wie die Tiere untereinander. Zu einigen standen sie in einem unversöhnlichen Feindschaftsverhältnis, wie zum Beispiel zum Tiger; doch hatte der Mensch den Krieg nicht begonnen. Man brüllte »Pax« im Walde, sobald man ihn sah, und war aufs tiefste empört, wenn er den Frieden nicht respektierte. Vorm Elefanten lag man buchstäblich auf dem Bauch, in tiefster Unterwürfigkeit, man wollte zeigen, daß man sich nicht gegen ihn auflehnte, alle Mann auf die Erde, wenn Vater Elefant sich näherte; und der große Dickhäuter setzte die Füße vorsichtig auf, um nicht auf die artige Schar im Gras zu treten. Der Tiger grinste boshaft, von weitem, auch er hatte Respekt vorm Elefanten, fand aber die Partie recht ungleich, es war simpel von dem Dickhäuter, mit Schiefer gedeckt zu sein und einen Pflock im Maul zu haben! Mit andern mittelgroßen Tieren lebte der Mensch in friedlicher Nachbarschaft: mit dem wilden Vieh, den Hirschen, Pferden und andern Grasfressern; doch neckte man sie gern, wußte man doch, daß sie fromm waren. Ein nicht seltener Anblick: ein flüchtendes Rind und ein Mensch, der an seinem Schwanz hing; der Zweck der Sache blieb dunkel. Bei dergleichen Szenen ging ein eigenartiger Lärm von dem Menschenhaufen aus, lautes Geschrei drang ihnen aus der Kehle, offenbar belustigte es sie, daß ein ehrbares, sprachloses Wesen von ihresgleichen beschämt wurde. Mit den Wölfen standen sie auf gespanntem Fuß, vertrugen sich aber mit den Hunden; einen Hasen rannten sie nieder, wenn sie zu mehreren waren, und gebärdeten sich liebevoll, wenn sie es allein mit ihm zu tun hatten. Alles Federvieh wurde außer Betracht gelassen, doch die Eier verschmähte man nicht. Tiere von geringer Größe erschreckte man aus Spaß zu Tode, und alles, was nicht größer war, als daß man es in der Hand halten konnte, betrachtete man als Speise, vom Grashüpfer und andern Schuppenflüglern bis zu Würmern und Mäusen. Nicht jeder hatte so gute Augen, daß er zwischen einer Beere und einem Ding mit Beinen, Wanze oder Spinne, unterscheiden konnte, Geschmacksache, die wenigsten aber verwechselten eine Durianfrucht mit einem Stachelschwein. Von dem allerkleinsten beschwingten Viehzeug in der Natur aber, Fliegen und Mücken, hatte man nichts als Unannehmlichkeiten. So stand das Waldvolk zu seinen Mitgeschöpfen.

Sie selbst wurden von den andern Tieren mit Staunen betrachtet. Die Menschen gingen in Scharen, was die Tiere auch taten, in der Schar der Menschen aber war ewige Unruhe, dort hüpfte es früh und spät. Sah man, daß das Gras sich auf den Lichtungen bewegte und eine oder mehrere Gestalten in die Luft sprangen und wild mit den Gliedern fuchtelten, konnte man sicher sein, daß es die Menschen waren; bewegten die Bäume am Waldsaum sich, als ob ein Wirbelwind hindurchging, rumstierten sie dort herum; außerdem waren sie schon von weitem durch das Getöse kenntlich, das von ihnen ausging, sie schwatzten beständig im Chor, ohne Aufhören, mannigfache Kieferlaute, Schmatzen, Lutschen, Brusttöne, lange rollende Vorträge, Grunzen, Keifen, Warnungsgebrüll und Quitschkonzert der Jungen, Heulen und Klagen ging von ihnen aus, und zwischendurch Lachchöre, jenes dem Menschen eigentümliche Gewieher, das vielfach bedeutete, daß einer von ihnen zu Schaden gekommen war.

Am auffallendsten war der Führer in der Schar, ein altes Individuum, das meistens größer und stärker war als die übrigen, mit furchteinflößendem Kopfhaar; von ihm pflegte das Geschwätz wie von einem Windloch auszugehen, er führte beim Lachen an, und wenn jemand ohrenbetäubend kreischte, pflegte er den Betreffenden zu kneifen. Überall, wo die Schar sich zeigte, war er an der Spitze.

Der Führer war ja einer der Ältesten, der Erfahrung hatte und sich das, was sich wiederholte, zusammenzureimen verstand; er ging, wie man sich denken kann, auf der Wanderung voran und gab die Richtung an, räumte Hindernisse auf dem Pfad beiseite, spürte Schlangen auf und schlug Alarm, warf sich kampfbereit in die Brust, wenn ein Feind sich zeigte, und war der erste, der Reißaus nahm.

Das Waldvolk war in viele Scharen eingeteilt, und jede hatte ihren Führer; sie gingen sich mit Verachtung aus dem Wege, wenn aber eine Begegnung unvermeidlich war, hielt man einen Zweikampf ab, schlug sich auf die Brust, daß es schallte, und beschimpfte sich halbe Tage lang an derselben Stelle, bis irgend etwas sie auseinanderbrachte, Regenwetter oder totale Heiserkeit auf seiten der einen Partei; bei solchen Gelegenheiten zeigte es sich, welche Schar den zähesten Führer hatte. Die Zahl der Stämme war unbekannt, darunter aber war ein Führer, der alle Führer sämtlicher Stämme, ohne Ausnahme, beschimpft und das letzte Wort behalten hatte; er besaß das schrecklichste Kopfhaar im ganzen Walde, und alle kannten ihn, man nannte ihn allgemein Mann, einen andern Namen hatte er nicht. Er war stets an den besten Stellen im Walde zu finden, zusammen mit der Schar, die zu ihm gehörte, alle andern Scharen flohen vor seiner Mähne. Wenn er kam, entleerten die Wälder sich von Menschen, meistens sah er seine Mitmenschen nur von hinten und im Lauf. Er besaß die gefürchtetsten Stimmmittel im ganzen Wald.

 

Der Mann erwacht mit der Sonne und schüttelt sich den Tau von den Schultern; nah und fern im Gehölz krähen die wilden Hähne. Aus den höchsten Bäumen stiegen Tauben flügelschlagend auf, geschäftig vom frühen Morgen; die Wildkuh brüllt, daß es in den Tälern widerhallt, und zwischendurch ist es so still, daß man eine vereinzelte Biene summen hören kann. Aus dem Gras auf der Ebene steigen Dämpfe auf, zwischen den vereinzeltstehenden Bäumen watet eine Herde Giraffen durch den Morgennebel. Der Pfau schlägt ein Rad vor der aufgehenden Sonne. Der große Wald erhebt sich wie eine blaue, oben abgerundete Mauer, über dem ganzen Land aber steht ein Wolkenprofil, Gunung Api, der sich im Himmel verbirgt und seine Spitze nur schwindelnd hoch oben durch Blitze in der dicken Luft verrät.

Überall Vogelgesang und Fröhlichkeit, Freude über den neugeschaffenen Tag. Nur der Mann ist mürrisch, gähnt und reißt den Mund auf, so daß man ihm bis in den Hals hinunter sehen kann, er schüttelt sich, gähnt wieder, in tiefster Seele erbittert über häßliche Träume, hungrig so zeitig am Morgen, und dennoch ohne Eßlust, elend und sehr, sehr gefährlich.

Seine Umgebung weiß es aus Erfahrung, und in der Umgebung des Baumes, wo die Familie sich niedergelassen hat, ist es ganz still; die Mütter beschwichtigen ihre Kleinen mit stummen Gebärden. Eine Schar Frauen, allesamt hinkend oder mit Narben, schleichen umher, stecken die Köpfe zusammen, nur darauf bedacht, dem Mann aufzuwarten, aber im Zweifel, ob man sich ihm nähern darf. Früchte sind bereits vor Morgengrauen gepflückt, alles ist bereit – ob er aber essen will, was wird ihm genehm sein, und wann ist er aufgelegt? Ein Versuch wird gemacht, ein altes mutiges Individuum hinkt mit einer frischgepflückten Ananas vor und macht einladend essende Bewegungen mit den Lippen; sie bekommt die stachlige Frucht auf der Stelle an den Kopf und entfernt sich blutend; darauf tuschelt sie mit den anderen, Ananas ist offenbar nicht genehm.

Eine andere Veteranin geht vor: sie bringt eine kürzlich geöffnete Kokosnuß, die von Saft überfließt; sie bewegt die Lippen lockend, die Nuß ist so lecker, und sie hat einen ganzen Morgen dazu gebraucht, um sie zu öffnen, hat endlos mit einem Stein darauf herumgefeilt, um durch die Fasern zur Nuß zu dringen; der Mann aber schlägt sie unter die Hand, so daß Nuß und Milch hoch in die Luft fliegen. Kopfschüttelnd kehrt sie zu den andern Frauen zurück, o Schmerz, er will nicht essen! Sie versuchen es mit der Brotfrucht, vergeblich, Trauben, Beeren; die alten Frauen ändern die Taktik und schicken jüngere Versucherinnen vor, nicht ihrer persönlichen Sicherheit wegen, sondern weil sie vielleicht mehr Glück haben. Die jungen Mädchen versuchen ihr Heil und lassen ihre Unwiderstehlichkeit über den Mann leuchten, liegen vor ihm im Staub. Der Mann aber beachtet sie nicht, und jetzt beginnt sich wirklich Schrecken im ganzen Stamm zu verbreiten – gesetzt, daß er überhaupt nicht mehr essen will? Was soll man dann tun? Wenn er sich weigert, Nahrung zu sich zu nehmen, um bei Kräften zu bleiben, wird sicherlich die ganze Welt zugrunde gehen und Himmel und Erde einstürzen. Wehe! Die Frauen setzen sich nieder und fangen an leise zu weinen.

Ein letzter Versuch wird gemacht, das reizendste Wesen des Stammes, ein ganz junges anmutiges Mädchen, fast noch Kind, wird mit einer Traube hingeschickt, die sie dem Mann furchtsam vor die Lippen hält. Er wendet seinen Mund nach der andern Seite, und da begeht sie die Unvorsichtigkeit, ihm zu folgen und die Traube noch einmal darzubieten – im nächsten Augenblick ist sie ergriffen, der Mann brüllt laut vor Wut über die Belästigung, er knickt sie zusammen, ohne aufzustehen, durch die Kraft seines Armes allein, hält sie von sich ab, und während Haupt- und Barthaar sich sträuben und es in seinen Kiefern knackt, überlegt er, was er ihr antun will. Sie soll leiden, daß sie es so bald nicht vergißt, und mit Überlegung tastet seine Hand bis zu ihrem Fuß und dreht ihn im Gelenk herum. So! Dann stößt er das schreiende Mädchen von sich, mag sie den Rest ihres Lebens hinken.

Das Opfer wird beiseite gebracht, und die Frauenschar atmet auf. Der Mann hat Luft bekommen, er ist wieder normal, sie kennen ihn, nun wird er auch essen, und Himmel und Erde werden für diesmal stehen bleiben. Und sie irren sich nicht; nachdem der Mann Bewegung gehabt hat, stellt die Eßlust sich wieder ein, er läßt sich herab, einen Wurf junger Vögel aus dem Nest zu verzehren, noch warm und lebendig, und nachdem sein Appetit einmal geweckt ist, fällt er gierig über jegliches her, nimmt Leckereien in Unmengen zu sich, schlürft eine Kokosnuß nach der andern, stößt auf, ein gutes Zeichen; die Frauen werfen sich gerührte Blicke zu; er ist gut. Und mit der zunehmenden Sättigung beginnt er die Frauen mit andern Augen zu betrachten, er sieht von einer zur andern, sie schlagen den Blick nieder, sinken in die Knie; wie seh ich wohl aus, denkt eine jede, denn keine hat bisher Zeit gehabt, sich das Haar aus den Augen zu streichen und sich die Glieder hübsch zu glätten.

Der Mann steht auf, brüstet sich, mustert den Himmel, läßt mit Getöse Luft aus: Lachchor, eine wiehernde Salve von den jungen Männern des Stammes, die sich den ganzen Morgen auffallend still verhalten haben; die Losung ist gegeben, allgemeines Gewieher! Die Brauen über den blitzenden Augen des Mannes bewegen sich auf und nieder, die Frauen hängen an seinem Gesichtsausdruck; wenn die Brauen klar sind, hüpfen sie und stoßen helle Vogelschreie aus, wenn die Wolke sich auf seiner Stirn zusammenzieht, schrumpfen sie ein und machen sich auf einen hastigen Rückzug gefaßt.

Bald darauf wird aufgebrochen, der Mann an der Spitze, mit Plänen für den ganzen Tag, die niemand kennt; hinter ihm die junge Mannschaft, zu allem aufgelegt, und zum Schluß die Frauen mit den Kindern im Arm, sehr glücklich, ihre Wunden und Beulen vom Morgen mit grünen Blättern und Spucke verklebend. Zuallerletzt kommt das junge Mädchen, dem der Fuß ausgerenkt worden ist, das von einigen hinkenden Frauen, die wissen, wie es tut, gestützt wird.

Und so wandert der Stamm den ganzen langen Tag, unablässig essend, denn für den Magen findet sich überall etwas, und alles muß probiert werden. Ein jedes Ding wird besehen, in die Hand genommen, hin und her gedreht und beschnüffelt, an den Mund geführt und geschmeckt. Man klettert auf die Bäume und wirft Früchte herunter, bricht Zweige und zerschrammt sich die Haut dabei, Wasserlöcher werden untersucht, Felsen bestiegen, man begegnet Feinden und erhebt ein gerechtes Gezeter, innere Streitigkeiten entstehen und werden wieder beigelegt, und bevor der Tag zu Ende ist, hat man ganz andere Länder erreicht, deren sich nur der alte Führer und vielleicht einige wenige erinnern; die fast übernatürliche Weisheit des Mannes gibt sich dadurch zu erkennen, daß er ein Salzlager aufspürt. Der ganze Stamm steht vor Dankbarkeit Kopf und leckt die salzige Erde; nachher schmeckt die Frucht doppelt süß.

Der Alte geht an einem Stab, zum Verdruß der Jugend, die zwar gelernt hat, sich dem Mann in Armeslänge fernzuhalten, mit dem Stab, der die Macht des Mannes auf so seltsame Weise verlängert, aber noch nicht zu rechnen versteht. Au! Und springt man behende beiseite, daß der Stock einen nicht mehr erreicht, was geschieht dann? Dann wirft der Alte ihn durch die Luft, mit der Spitze voran, und wieder beißt er einen von hinten – ja, ja, keiner kann sich mit ihm messen, er ist der Mann!

Der Tag ist lang, niemand denkt an morgen oder an alte Tage, es gibt nur heute, den Sommertag ohne Anfang oder Ende, den Tag des Waldmannes; ewiger Sonnenschein und die Welt eine Vorratskammer.

Doch auch dieser Tag nimmt ein Ende, und der Sonnenuntergang trifft die kleine Schar in einer andern Gegend des Landes; eine gewisse Müdigkeit hat sich aller bemächtigt, und der Mann bereitet sich für die Nacht. Vergrämt und gefährlich war er am Morgen, als er den Tag begann, geängstigt und gewaltsam ist er jetzt, wo er ihn schwinden sieht. Wenige von den andern können sich am Abend des Morgens erinnern; es ist ihnen immer wieder neu, daß der Tag nicht ewig währt, und sie streiten sich darüber, einige meinen, die Dämmerung sei nur ein vorübergehendes Phänomen, ein Wolf vor der Sonne, vielleicht ein Übelbefinden des Himmels. Der Mann aber weiß es besser und macht Anstalten, um die Schar gegen das Kommende zu schützen, knufft sie zusammen und bildet das Karree für die Nacht. Wenn die Kurzsichtigen ihr eigenes Wohl nicht erkennen, muß man sie gegen ihren Willen dazu zwingen, und man hört Weinen und Geschrei von denen, die zu Bett geschickt werden, wohl auch ein kurzes Aufbrüllen von irgendeiner größeren aufsässigen Person, die sofort zu Boden geschlagen wird. Der Mann kennt die Widerspenstigen. In der Nacht, wenn die Nacht da ist, glaubt keiner an den Tag. Eine Ohrfeige, und herein ins Karree, herunter mit dem Kopf!

Bevor es ganz Nacht geworden ist, hat der Mann die Schar gesammelt, man knurrt ein wenig, muß aber dem Alten schließlich recht geben; bald meldet sich die Müdigkeit, und man schweigt. Keiner sträubt sich mehr im Haufen zu sitzen, wenn es ganz dunkel geworden ist, im Gegenteil, alle versuchen sich so tief wie möglich hineinzubohren. So sitzt denn die ganze Gesellschaft auf der Erde, meistens an einer etwas hochgelegenen Stelle, die der Mann ausgesucht hat und die er für sicher hält; in der Dämmerung sieht die Schar wie ein großer zottiger Klumpen aus, ein Bienenstock von Menschen, die alle der Dunkelheit den Rücken zukehren und den Kopf oder nur die Nase herausstecken.

Wohl dem, der am meisten in der Klemme sitzt und am schlimmsten gequetscht wird! Denn wer zu äußerst sitzt, den holt die Katz! Es ist schon an sich ein unleidliches Gefühl, mit dem bloßen Rücken zum Freien zu sitzen, und viele Ringkämpfe finden statt, bevor man schließlich so weit ist, daß man sich nicht mehr rühren kann.

Und nun geht man der Nacht entgegen. Sie ist lang und entsetzlich, keiner der Ärmsten kann sich von Nacht zu Nacht vorstellen, wie lang und entsetzlich sie ist. Man bebt und versteckt die Köpfe untereinander, schläft und ist wieder wach und hört schreckliche Dinge; denn es geschehen schreckliche Dinge; wenn der Tag endlich anbricht, aber es dauert Ewigkeiten, ist der Stamm meistens um etliche Stücke geringer geworden, die Äußersten im Karree haben der Nacht den Tribut zahlen müssen, die Raubtiere haben sie geholt.

Der Wald ist nachts ein anderer als am Tage; auf der Erde brütet Urdunkelheit, und die Wesen der Finsternis schleichen herum, gleitende, kalte Dinge, die mit einem Stich töten und mit gliederlosen Bewegungen erdrosseln. Große Katzentiere sind unterwegs und leuchten paarweise mit ihren Glühkugeln durch das pechschwarze Gehölz; von oben glotzt die Eule, und von fernen Klüften ertönt das ohrenbetäubende Gebrüll des Löwen; die Hyäne schlägt ihre wahnwitzige Lache auf, der ganze Wald hallt von Entsetzen wider. Im Walde raschelt es von Nachtgeschöpfen, die die Dunkelheit zu einem Grauen machen, die Finsternis gerinnt von Fledermäusen und zottigem Federvieh, überall schreit es, flattert, ächzt und raschelt, die ganze Welt ist ein Abgrund von Entsetzen.

In dem Haufen, wo alle engumschlungen sitzen mit festgeschlossenen Augen, auch wenn man nicht schläft, macht man einen langen Todeskampf durch, muß aber trotzdem weiter leben und leiden. Und die Furcht ist nicht ohne Grund, denn ein Jammergeheul äußerst im Haufen verkündet jedesmal, wenn der Leopard oder der Wolf da ist und sich seinen Tribut holt. Jemand muß ja zuäußerst sitzen, entweder die Kleinsten oder die, die zu spät gekommen sind und sich nicht mehr in den Haufen hineinbohren konnten; im Laufe der Nacht werden sie dann abgeschält, eine Schicht oder mehrere, wie es sich trifft.

Schweigend aber lassen sie sich nicht holen, das Opfer erhebt solch höllenhaftes Geschrei, daß einem die Ohren davon gellen, und so viel hat man für einen Bruder im Haufen übrig, daß man mitschreit, ein vielstimmiges, ungeheures Gebrüll, das ringsum zu hören ist und erzählt, daß den Menschlein Unrecht geschieht. Und es kommt wirklich vor, daß selbst die großen Katzen zurückweichen, die Ohren hängen lassen und auf den Fraß verzichten, wenn das Ding nicht aufhört zu schreien; denn es widersteht ja sogar einem Tiger, etwas zu fressen, von dem solch durchdringender Laut ausgeht. Der Wolf dagegen nimmt diese Würze gern mit in den Kauf, er bekommt Geheul nicht so leicht in den falschen Hals.

Wenn der Haufe aber auch eine oder zwei Schichten im Laufe der Nacht verliert und den Verlust sehr beweint, die ganze Welt zu Zeugen aufruft, so ist es doch noch weit bis zum Kern. Und schließlich gehen ja nur Stümper drauf. Drinnen sitzen die großen starken Mannsleute, die Kräfte genug gehabt hatten, sich tief hineinzubohren; hinter ihnen wieder sitzen die Frauen, die ältesten mit ihren Kindern zu äußerst, alle jungen Frauen innerst, und hier, ganz tief drinnen und genau im Mittelpunkt, sitzt der Mann! So bildet er die Schlachtordnung am Abend; darum ist er so alt geworden.

Wenn die Schar bei einem Überfall schreit, schreit der Mann nicht am wenigsten, er hat ja die stärkste Stimme, von ungeheurem Umfang und Klang, mit der er manchen fortschreckt. Doch beschützt er die Schar auch durch Weisheit und Künste, die kein anderer sich ausdenken kann, und häufig mit Erfolg. Kommt ein Fleischfresser und reckt sich nach einem Menschlein, kann es geschehen zu seiner Verwunderung, daß etwas Hartes aus dem Haufen angeflogen kommt, eine Kokosnuß oder auch wohl ein Stein. Das ist der Alte in der Mitte, der, von einer Schicht Familie beschützt, seine Geistesgegenwart bewahrt. Ja, es kommt sogar vor, daß ein langer, spitzer Ast, der mit dem Haufen in unerklärlichem Zusammenhang steht, lebendig wird und einen auf die empfindliche Schnauze trifft, so daß man es vorzieht, die Menschen in Ruh zu lassen, und sich stattdessen einen Nager oder Wiederkäuer nimmt, der einem nicht mit Steinen oder Stöcken vor der Nase herumfuchtelt.

Übrigens verliefen nicht alle Nächte so unglücklich für den Stamm; wenn die Gelegenheit sich bot, kletterte man auf die Bäume hinauf, wo man nicht soviel zu befürchten hatte; nur den Schlangen gegenüber war man wehrlos; auch steile Felsen waren ein guter Aufenthaltsort für die Nacht, wenn man vor Dunkelwerden gerade darauf stieß. Doch waren die Nächte an sich auch verschieden, mehr oder weniger dunkel, und wenn der Mond schien, ließ das Waldvolk sich nicht so ohne weiteres schrecken; dann konnte man sehen, was man vor sich hatte, und beizeiten seine Maßnahmen dagegen ergreifen.

In mondhellen Nächten verzichtete der Mann sogar darauf, den Stamm im Karree zu sammeln, dann führte er ihn stattdessen zu einem offenen Platz im Walde, wo er sich einen hohlen Baum gemerkt hatte, und dort verbrachte die Schar die Nacht, nicht in Furcht und Beben, sondern mit Musik, Tanz und Gesang!

Die ganze Nacht, Stunde um Stunde, bearbeitete der Alte den hohlen Baum mit seinem Stab; er donnerte, donnerte, donnerte, und gleichzeitig brüllte er aus vollem Halse, unausgesetzt in den höchsten Tönen, und der ganze Stamm brüllte mit ihm um die Wette; und im Takt mit dem ungeheuren Brüllkonzert führten alle Männer einen Tanz auf, hüpften auf der Stelle, machten sich klein und reckten sich wieder, stolzierten die ganze Nacht johlend um einander herum, während der Mond über den Himmel wanderte; und im Grase ringsum saßen die Frauen stundenlang in ehrerbietigem Anschauen versunken.

Und es war, als ob alle Tiere sich in gehöriger Entfernung hielten. Was sollten sie sich dabei denken? Rings umher alles still in der Mondnacht, nur das Menschengebrüll wie eine Insel von Lärm mitten in dem Meer des Schweigens! Die wilden Hunde ließen sich in der Nähe nieder und erhoben ihren Chorgesang, saßen zu Scharen auf ihren Schwänzen und bellten mit erhobener Schnauze den Mond an. Was aber war das im Verhältnis zu dem Geheul des Waldvolkes? Ein wanderndes, einsames Flußpferd trat aus dem Waldsaum, man sah, wie es sein weitoffenes Maul zum Himmel erhob, wahrlich es ließ keinen geringen Laut hören, und dennoch wurde es mitsamt der ganzen Allnatur von dem Waldvolk überschrien.

Das Konzert rief nach und nach das gesamte Waldvolk zusammen, Trupp nach Trupp traf ein; alle Stämme, die sonst feindlich zueinander standen, folgten dem Laut im Mondschein; vor Morgen waren sie aus allen Himmelsrichtungen eingetroffen und hatten ihre Chöre mit dem Chor vereint; ein Stelldichein der ganzen Menschheit. Und der Mann fühlte seine Bedeutung, Haar und Bart umbrausten ihn, sein Wahnsinn ging in Besessenheit über, er drosch mit verdoppelter Kraft auf den hohlen Baum los, brüllte noch einen Ton höher, und um ihn herum ging die Menschheit im Kreise, aus vollen Lungen brüllend, ein Takt und ein Herz, ein Ton und eine Seele!


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