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Der wandernde Barde

An Winterabenden konnte man einen seltsamen Klang hören, der sich mit dem Pfeifen des Windes in den Türen vermengte, Musik – Norne-Gast? –, und wenn man die Haustür öffnete, stand er draußen im Schein des Herdfeuers, auf dem Hintergrunde der pechschwarzen Dunkelheit, hochgewachsen, aber gebeugt, als ob er die Nacht auf seinem Rücken trüge, bis an die Erde in Felle gekleidet, die Harfe zwischen den Händen. Norne-Gast war gekommen.

Nur einmal brauchte er in die Saiten zu greifen, es klang wie Sonne und Sterne, und der ganze Hof wurde lebendig, die Jugend füllte vor Erwartung glühend die Türrahmen, und sogar der Bauer, dessen Würde es doch angestanden hätte, in der Stube zu bleiben, konnte sich nicht beherrschen und erschien mit weitgeöffneten Augen und freundlichen Worten auf den Lippen; Gast war gekommen!

Und der lange, schwere, beschlagene Wanderstab des Alten wurde in der Türecke zur Ruhe gestellt, und er selbst wurde mitsamt seiner Harfe zum Ehrenplatz neben dem Hausherrn geleitet. An jenem Abend aber zogen Abenteuer und die große Welt auf dem Hof ein und blieben so viele Abende, wie man den Barden mit schönen Worten, gefülltem Methorn und einem weichen Bett locken konnte.

Daß er sich aber nicht viele Tage halten ließ, das wußte man, wenn man auch die Kinder Fürsprecher bei dem Alten sein ließ. Der Wanderstab stieße in seiner Ecke gegen die Erde, bis er krumm würde, sagte er, sie könnten sich selbst davon überzeugen, und wirklich, er war krumm geworden, Gast mußte fort und ihn wieder gerade gehen. So scherzte er; eines Tages aber brach er wirklich auf, und sie sahen die lange Gestalt mit der Harfe auf dem Rücken durch das Hoftor verschwinden, langsam, schwankend ging er, ließ sich Zeit, und dennoch war es erstaunlich, wie schnell er des Weges zog. Gast war fort.

Nach einem halben Jahr oder nach einem ganzen aber erklang sein Saitenspiel wieder vor der Tür. Er kam und ging ebenso unbeständig, aber ebenso sicher wie die Jahreszeiten.

Gast war ein Umherstreifer geworden, war immer unterwegs wie die Wölas, ein Reisender ohne eigenen Herd. Das war so von selbst gekommen, als er in sein Heimatland zurückkehrte; es gab kein Heim mehr für ihn, aber er war der Freund aller Familien geworden, und weil er nicht auf allen Höfen auf einmal sein konnte, teilte er sich unter ihnen und ging von dem einen zum anderen auf Besuch. Das ganze Jahr befand er sich auf der Wanderung durch Seeland, aber es vergingen auch Jahre, wo er sich gar nicht sehen ließ; dann war er südlich in fremden Ländern oder auch oben in Schweden und Norwegen. Wenn er dann nach Jahren wieder auftauchte, war der Klang der Harfe noch mannigfacher als vorher, und seiner Erzählungen war kein Ende. Obdachlos war er, doch alle Lieder und Sagen der Welt hatten ein Heim in seinem Gedächtnis.

Als Gast von seiner langen Reise im Süden, wo er vergebens das Land der Toten gesucht hatte, zurückgekehrt war, hatte er sich sehr verlassen gefühlt; keine junge, lachlustige Hirtin hatte ihn geweckt und gefragt, wer er sei; er war ganz allein im Walde, und als er sich ins Tal begab, erkannte er es kaum wieder, und kein Mensch erkannte ihn. Wohl war es das heimatliche Tal, aber wie verändert!

Tausend Jahre oder mehr waren hingegangen, seit Gast hier zuletzt gewesen; sogar die ältesten tausendjährigen Eichen waren kaum Eicheln gewesen, als er fortreiste, alle Bäume waren andere Bäume. Die Geschlechter waren andere, ohne lebende Erinnerung an die Geschlechter, von denen sie abstammten, und dennoch war es dasselbe Volk; sowohl die großen roten Steinzeitfischer als auch die gut gewachsenen Bauern des Bronzealters gingen in ihnen um; ihre Überlieferung aber reichte nicht bis auf die Bronzezeit zurück; sie lebten jetzt im eisernen Zeitalter und hatten keine Vorstellung mehr davon, daß Menschen je unter anderen Bedingungen gelebt halten.

Sie ahnten nicht, wer in den großen, aus Stein gebauten Grabkammern der Steinzeit ruhte, und dennoch waren es ihre ältesten Vorfahren; man glaubte, sie wären von Riesen gebaut, oder daß es die Behausungen der Unterirdischen seien. Sie begruben noch ihre Toten auf den Anhöhen, verbrannten sie aber nicht mehr wie im Bronzealter; ans Feuer glaubte man nicht mehr, hatte aber andere weitläufige Vorstellungen von den Mächten, sah sie nicht mehr unmittelbar in der Natur, sondern sie waren zu Göttern, Personen geworden, nicht unähnlich den trefflichen Menschenkindern, die sie anbeteten; man machte Bilder von ihnen, recht als ob sie für jedermann zu sehen seien und merkte nicht, daß man dadurch ihre Ohnmacht offen darlegte. Gast wurde nie ein Anhänger von Odin, er glaubte wie immer an das Wetter.

Die herrschende Vorstellung vom Reiche des Todes wurde ihm niemals klar; man schien sich zwei Reiche vorzustellen, ein gutes und ein böses, und in das gute kam man nicht, wie man annehmen sollte, wenn man sich ein langes Leben sicherte, mit einer Fortsetzung über das Grab hinaus, sondern wenn man seinem Leben ein hastiges, standesgemäßes Ende bereitete; am besten mußte man getötet werden, im Kampf fallen, dann war man sicher, in dem guten Lande ausgenommen zu werden, von dessen Lage man sich indessen nur eine vage ideale Vorstellung machte, eine bestimmte Reiseroute konnte niemand angeben. Noch aber gab man den Toten einzelne wichtige Besitzteile mit ins Grab; der älteste Unsterblichkeitsglaube, den auch Gast teilte, lebte also noch, wenn auch nur in den Gebräuchen, jener Glaube, daß man nicht zu sterben braucht und daß man da war, solange man da war.

Der neue Glaube hatte einen blutigen Einfluß auf die Sitten im Tal; Menschenleben standen niedrig im Wert, weil man das richtige Ende des Lebens erst im Jenseits vermutete; freilich war noch niemand von dort zurückgekehrt und hatte die Vermutung bestätigt. Weil aber jenes edle Leben im Jenseits einen edlen Tod erforderte, schlug man sich gegenseitig mit größtem Vergnügen tot und hoffte, daß man sich im Jenseits wieder begegnen würde zu neuem gegenseitigen Totschlagen und neuer Auferstehung. Offenbar betrachteten die meisten einen mehrfachen Tod als Glück und Ehre, wogegen Tod ohne Gewalt mit Schande verbunden zu sein schien und nur Eintritt zu dem anderen dunklen und traurigen Reiche gewährte. Langlebigkeit, im Grunde ein erstrebenswertes Schicksal, schien eine mißliche Sache zu sein, und Gast hütete sich, von seinem Alter zu sprechen, das ja auch niemanden etwas anging. Ein überzeugter Anhänger des Götterglaubens der streitlustigen Nordländer wurde er nicht, nahm ihn aber als Sänger gern in seinem Bildervorrat auf.

Die menschliche Natur aber ist aus Widersprüchen zusammengesetzt, obgleich die tapferen Nordländer sich im Vertrauen auf eine baldige Fortsetzung des Lebens so gern dem Tode aussetzten, taten sie doch alles, was in ihrer Macht lag, um Totschlag zu erschweren, umgaben sich mit Panzer, ganzen Hemden aus eisernen Ringen, die gegen Stich und Schlag gefeit waren; auf dem Kopfe trugen sie Helme und in den Händen Schilde, die es zu einer wahren Kunst machten, zu den Eingeweiden durchzudringen. Und diese Kunst ruhte nie; je mehr man sich wappnete, desto schärfer und unbarmherziger wurden die Waffen; man schlug mit großen scharfen Beilen und in Feuer gehärteten Schwertern aufeinander ein, als ob man Bäume fällen wollte; ein Schlag war ein lärmendes Ereignis, das Dröhnen von Eisen gegen Eisen war weithin zu hören.

Und zahlreich war man geworden, unglaublich zahlreich, es waren nicht mehr ein Paar Haufen Bauern, die auszogen, um einen Streitfall auszufechten; das kam auch wohl noch vor; neben dieser alten Kriegsform aber war eine neue entstanden, die die der Bauern in den Schatten drängte; eine andere Macht als die der Landeigentümer tat sich hervor, das Heer. Das aber hing mit anderen großen Veränderungen zusammen, die auf Seeland vor sich gegangen waren.

Im Grunde ließ sich die Veränderung auf eine einzige Ursache zurückführen, auf die Zunahme der Bevölkerung. Allein Gasts Heimattal war jetzt so dicht bevölkert, daß man von der Küste bis tief ins Land hinein wandern konnte, eine gute Tageswanderung, ohne ein einziges Mal menschliche Wesen aus den Augen zu verlieren, ob man dies nun als eine Wohltat oder eine Plage empfinden mochte.

Die Zunahme der Bevölkerung war natürlich vor allen Dingen über den Wald hergegangen; je dichter die Bevölkerung, je dünner der Wald. In der Bronzezeit war der Wald so stark geschlagen worden, daß zu beiden Seiten des Tales große offene Ebenen entstanden; das Verhältnis war jetzt umgekehrt. Wo früher Wald und etliche Lichtungen gewesen waren, waren jetzt Lichtungen und etliche Flecken Wald, und ringsherum war offenes, bebautes Land, zierlich in Acker eingeteilt, mit Grenzscheiden und Zäunen aus Feldsteinen, und am Horizont sah man die scharfen, kahlen Höhenzüge, von den Grabhügeln vieler Generationen gekrönt.

Erst ganz tief im Lande stand der Waldsaum noch wie eine geschlossene Mauer, und von dort erstreckte er sich groß und zusammenhängend bis ins Innere der Insel. Aber auch im tiefen Walddickicht öffneten sich gerodete Lichtungen und grüne Felder – Ausmärker, die auf eigene Faust einen Betrieb gegründet und den Grund zu einem neuen Dorf gelegt hatten. Aus den alten, verstreut liegenden Gehöften im Tale waren Dörfer geworden, wo entfernt miteinander verwandte Familien in Interessengemeinschaft miteinander lebten.

Wo der Fjord ins Land einschnitt, lag eine Stadt mit einem Hafen voller großer, seetüchtiger Schiffe. Eine große Stadt war es nicht, nur eine Straße strohgedeckter Häuser; dort aber lebte man ein eigenes Leben, war weder Bauer noch Krieger, durfte aber irgendein Handwerk oder einen Handel treiben; stille, bescheidene Leute waren es, die niemandem zu nahe traten, freigegebene Sklaven oder Zugereiste, nützliche und prächtige Leute, die sich in ihrer Stadt duckten und harrten, daß auch ihre Zeit einmal käme.

Hoch oben am Ende des Tales, jenseits der Stadt, wohnte der Jarl. Wer war das? Fragte man die Bauern, so konnte man seine Bedeutung aus der Ehrerbietung allein entnehmen, womit der freie Mann seinen Namen nannte. Er war der Jarl. Die Grundbesitzer waren natürlich noch immer die Grundbesitzer hier im Tal, einer aber mußte da sein, zu dem man aufblickte, einer mußte sie in den Krieg führen und ihnen in Friedenszeiten die Steuer abnehmen, die sie für die Nießnutzung des Bodens bezahlen mußten – an wen?

Wohl an den König. Der König wohnte am Roskildefjord und konnte nicht persönlich die ganze Insel verwalten, obgleich ihm von jedem Hof ein Zins zukam; um seine Rechte zu wahren, hatte er einen Jarl eingesetzt, und auf der Insel gab es viele Jarle, einen für jeden Landesteil. Auch sie waren Bauern von Herkunft, aber in großem Stil, stammten von Geschlechtern ab, die zeitig auf viel Land Beschlag gelegt und große Höfe gegründet hatten, so daß viele Leute in ihrem Dienst standen, die ihren Besitz schützen konnten. Von einem der ältesten und stärksten Jarlgeschlechter stammte der König ab.

Jenem Jarl am Ende des Tales gehörten all die fetten Wiesen, ein großes Waldgebiet und viele Gehöfte. Auf dem größten wohnte er selbst mit einem Gefolge von bewaffneten Kriegern, die nichts anderes zu tun hatten, als Krieg zu führen, frische, freche Gesellen, die die Schwertspitze immer auf dem Nagel balanzierten und Orte mieden, wo der Tod im Bettstroh seine Ernte hielt. Woher sie kamen? Sie waren der Überschuß von den Höfen, die vielen Söhne, die nicht alle Land bekommen konnten; sie gingen in den Sold des Jarls oder des Königs, rotteten sich um einen Führer zusammen und zogen auf Schiffen außer Landes, um Land zu suchen, das sie billig bekommen konnten, wenn der frühere Besitzer tot war; zur Beschleunigung seines Todes trugen sie ihr Teil bei. Das war das Heer.

Die Jarle bewirtschafteten ihren Hof nicht persönlich, dazu hatten sie die Knechte, Bauern, die auf ihren Höfen saßen und von ihnen abhängig geworden waren; sie selbst beschäftigten sich mit Kriegsunternehmungen für den König, verwandten ihre Zeit zu Prunk und Verschwendung nach dem Vorbild fremder Länder und beluden ihre Frauen, die immer schön und anmutig waren, mit Silberschmuck.

Wenn es keinen Krieg gab, trieben sie Jagd in ihren Wäldern, nicht um das Leben zu fristen, sondern zum Vergnügen, Luxusjagd zu Pferde; sie waren Pferdeliebhaber und hatten Hunde abgerichtet, die das Wild aufhetzen sollten, ließen ins Horn blasen und füllten den Wald mit hallendem Lärm, Pferdegalopp, vielstimmigem Hundegebell und Hallo, Geklapper und Klopfen der Treiber, und auch die schönen Jarlinnen waren mit im Galopp. Sie saßen seitwärts auf den Pferden, als ob sie die Beine nicht spreizen könnten, in wehenden Seiden- und Leinengewändern, mit dem Falken auf der Hand. Das ganze war eine Augenlust, und festlicher Lärm füllte den Wald; ein alter Nutzjäger aber, der gewohnt war, sich allein und vorsichtig in der Waldstille zu bewegen, wenn er sich sein Wild holen wollte, schüttelte den Kopf. Der Hirsch war dazu da, um gejagt zu werden – das war sicher, aber Lärm und Jagd! Mehrere Dutzend johlender Menschen, darunter viele berittene, um ein einzelnes geschrecktes Wild im Walde zu jagen – er sagte es nicht laut, denn der Jarl war ein mächtiger Mann, aber er aß an diesem Abend seinen Bissen geräucherten Speck mit Kopfschütteln, verstand die Welt nicht mehr.

Von allen Prachtjägern war natürlich der König der prachtvollste. Er hatte Jagdrecht in allen Wäldern. Auf dem Königshofe versammelten sich die größten Heere, die besten Söhne aus den freien Familien der ganzen Insel, und wenn er zum Kriege aufrief, hatten alle Jarle ihm unverzüglich mit dem Heer, über das sie geboten, und den Bauern, die vom König abhängig waren, zu folgen. Das geschah, wenn Krieg geführt und ein anderes Land und andere Bauern dem König zinspflichtig gemacht werden sollten. Alle Flüsse des Reiches und die Fahrwasser zwischen den Inseln hatte der König sich angeeignet; dort segelte er mit seiner Flotte und hielt sein Land zusammen oder machte Raubzüge an fremden Küsten, wenn Raubzüge von dort gerächt werden sollten.

Sogar die Beziehung, die früher zwischen dem einzelnen und den höheren Mächten bestanden hatte, war von den Regierenden übernommen worden. Auf dem Hof des Jarls nahm ein Priester die Opfer für die Götter entgegen; für eine naive Betrachtung hatte es den Anschein, als ob er Priester und Gott in einer Person sei.

So hatte die Bevölkerung sich vermehrt und von selbst in Schichten geordnet, die eine immer über der anderen. In der Mitte standen noch immer die Bauern, aber sie waren nicht mehr, was sie gewesen; sie herrschten mit uneingeschränkter Gewalt über die Sklaven, die wiederum menschliche Gewalttat oder Gnade, je nach Laune, an dem Vieh ausließen. Über den Bauern stand der Jarl, und man entrichtete ihm gern den Zins, um sich gut mit ihm zu stehen. Wenn man aber den Jarl und den König beisammen sah – wohl waren sie zwei Gleichgestellte, der eine aber war dennoch der größte. Die Augen des Jarls blickten hoch, aber doch nie höher als bis zum Kinn des Königs, und über seinen Kopf hinweg schaute der König über sein ganzes Reich. So und nicht anders war die Welt jetzt geworden.

Unter ihnen allen aber bewegte sich Gast, der Alte, war überall willkommen und fühlte sich überall heimisch. Auf seiner Wanderung kam er auch zu der Stadt am Fjord und wurde von den demütigen Leuten dort mit Freuden begrüßt, wie man den Storch im Frühling begrüßt, und Gast senkte zum Dank für ihre Gastfreiheit seine Musik und seine Gedichte in ihre Seelen, schlief in ihren Häusern und fand Natur, Lebenshunger, in ihren neugierigen Kindern; er folgte ihnen zu ihren Arbeitsplätzen, hatte offenen Blick für ihr Handwerk, besonders für die Arbeit des Schiffbauers, weil darin die Klugheit vieler Geschlechter niedergelegt war; ihr zu folgen, wurde er nie müde. Er half dem Schmied den Blasebalg ziehen, das prustende und seufzende Leben darin erhalten, hörte, wie das Feuer mit blauen Feuerabgründen sauste und sah, wie der Schmied die Schlacken vom Eisen schleuderte, bevor er es auf dem Amboß bearbeitete. Die Arbeit des Böttchers fesselte ihn, und nur schwer riß er sich von dem Tischler und dem erfrischenden Holzgeruch in seiner Werkstatt los. Die Waren der vielen kleinen Kaufleute erzählten ihm so mancherlei.

Gast begab sich in die Erdhütten der Sklaven hinter den Höfen und blieb dort ganze Tage zur Verwunderung der Leute im Hof. Man entdeckte, daß er neben den Mädchen am Mühlstein stand und ihnen bisweilen auch half; er vermischte die Kraft seines steifen Armes mit ihrer jungen Kraft, wenn sie geschmeidig die Stange drehten; er sah das Korn in den Mühlstein fließen und seitwärts als Mehl aus den Steinen stieben; er spürte den sonnigen Duft des Kornes, das Sommer spendete, während es zermalmt wurde, einen süßen, berauschenden Sonnenscheinduft, und es konnte geschehen, daß der Alte ein Lied anstimmte, ein Malz- und Sonnenlied, das von Geschlecht auf Geschlecht vererbt wurde und das bewahrte, was sein Herz bewegte.

Man sah ihn im Stall bei den Melkmädchen, auf das Plätschern des Euterstrahles lauschend, und häufig wurde ihm ein Trank frischer Kuhmilch gereicht; man neckte den Alten wohl, der in der Dunkelheit des Mahlhauses und der Ställe die Mädchen aufsuchte, Gast aber begegnete dem Scherz mit Milde, wußte er doch, wie Menschen waren und wie er selbst war. Ach, die freundlichen, breithüftigen Feen in den Ställen konnten ja allesamt seine Töchter sein!

Von den bescheidenen Wohnungen der Sklaven begab Gast sich in die Höfe, war Bauer unter Bauern, erörterte Landwirtschaft mit ihnen und tauchte mit den Söhnen den Löffel in die Breischüssel. Beim Jarl richtete er sich höher auf, ließ seinen Blick über die Länder des Jarls schweifen, sprach gern mit seinen Kindern und begrub die Hand des Kleinsten in seiner eigenen, fühlte, wie die Blutwärme sich seinen Adern mitteilte, spürte Leben auch hier. In die Halle des Königs trat er wie ein Ohm, wuchs als Barde, eine Selbstverständlichkeit, denn alles hatte hier großes Format; der König ehrte ihn sehr, und gewichtiger als Gold waren die Strophen, die Gast zu Ehren des Königs in die Schale der Zeit legte. Wo wäre Rolf Krakes Ruhm ohne die Barden? Bei ihm war Gast zu Gaste, und bei allen Sagenkönigen, bei Karl dem Großen und den Varaegern in Rußland, bei den Gunhild-Söhnen, an allen Höfen Europas war er zu Gast mit seiner Erzählerkunst und seiner Harfe.

Niemand sah ihn altern oder schenkte seinem Alter Aufmerksamkeit, denn er lebte länger, als man sich von einem zum anderen Geschlecht entsinnen konnte. Solange der Norden nordisch war, blieb er dort.

Daß der Alte sehr alt war, begriffen natürlich alle, denn er hatte seine eigenen Gewohnheiten, die niemand der Zeitgenossen ihn gelehrt haben konnte. Der alte Vagabund liebte es nicht, unter Dach zu sein, blieb lieber im Freien, sogar an kalten Tagen; dann konnte man sehen, wie der seltsame Alte, anstatt am Herdfeuer zu bleiben, sich ein einsames kleines Feuer draußen machte und seine Hände daran wärmte. Auch hatte er die Bescheidenheit vergangener Zeiten bewahrt, begnügte sich mit einer Handvoll rohen Kornes und einem Schluck Wasser; große Handfertigkeit besaß er, merkwürdigerweise aber benutzte er ungern anderes Werkzeug als das alte, verbrauchte Taschenmesser; häufig nahm er den ersten besten Stein auf, wenn er etwas durchschneiden oder glätten wollte.

Die Harfe hatte er selbst verfertigt, sie war mit Schnitzwerk verziert und sehr stark, zum Wandern bei jedem Wetter geeignet. Sie bestand aus einem mäßig dicken Holzstamm, an dem ein Ast im rechten Winkel wuchs, und zwischen dem Stamm, der ausgehöhlt war, und dem Ast waren die Saiten gespannt, eine recht große Zahl, und jede einzelne hatte ihre eigene Tonseele, war eine Welt für sich. Schon wenn er die Saiten der Reihe nach anschlug, von der tiefsten bis hinauf zu der kürzesten, war es wie ein Flug die Himmelsleiter hinauf, der Regenbogen in Tönen, beseligend zu hören. Doch wenn er zwischen die Saiten griff, oben und unten, und die heimlichen Welten der Seele aus den Zuhörern herauslockte, besaß er Zauberkraft; hatte er doch Erfahrungen in den flüchtigsten und tiefsten Geheimnissen der Seele, die durch Töne gelöst werden. Norne-Gasts Harfe war von allen geliebt, aber auch gefürchtet.

Am beliebtesten waren die Lieder, die von den Wölsungen handelten, die wilden, düsteren Völkerwanderungslieder, die die Sage Norne-Gast in den Mund gelegt hat; die Völkerwanderung und Gasts Anteil daran aber haben ihre eigene Geschichte, die hier erzählt werden soll.

 

Die ersten Menschen folgten dem Wild als Jäger und Fischer und verbreiteten sich auf diese Weise über die Welt. Noch als Viehzüchter waren sie Wanderer, zogen von einer Weide zur anderen; erst als sie Ackerbau zu treiben begannen, mußten sie seßhaft werden und bleiben, wo das Korn wuchs, Pflug und Ochsengespann, hin und her in der Furche, wurde ihr Tempo; wenn die Welt etwas von ihnen wollte, mußte sie zu ihnen kommen, sie waren die Seßhaften, die Bauern; die Blüte ihres Daseins fiel in die letzte Periode der Steinzeit und Bronzezeit, es war die Zeit der Familie, des Hofes, der stillen, reichen Täler zwischen den Wäldern.

Dann aber kam das Eisen, der Wald fiel unter den dünnen, gierigen Äxten; das Land wurde offen, und die Acker ernährten die Menschen, bis ihrer so viele wurden, daß nicht mehr Acker für alle da war, und jetzt richteten sie das Eisen nicht nur gegen den Wald, sondern auch gegeneinander. Man säte Blut und erntete Krieg; das Schwert trat an Stelle des Pfluges, und die Sinne, die früher auf die Mitte des Landes gerichtet waren, wandten sich nach außen, wie der Wogenring, der, im Zentrum gehäuft, neue Ringe nach außen sucht. Die Welt war zu dem Bauer gekommen, der Krieger aber suchte die Welt auf. Und so begann die Wanderung von neuem. Die nordischen Wikingerzüge brachen wie eine Woge durch den Damm und strömten nach Süden. Davon ist im Schiff berichtet worden.

Jahrhunderte nach Roms Auflösung begannen alle germanischen Volksstämme in Europa sich von ihren Schollen zu erheben, wo sie stark geworden waren, und sich in Bewegung zu setzen, sich über- und untereinanderzuschieben, wie die Eisschollen im Frühling; das war die große Völkerwanderung, von der die Geschichte spärliche und halb unwirkliche Berichte bewahrt hat, und dennoch war nichts gewaltiger und wirklicher als sie.

Man meint, daß der Hunnenkönig Attila zu diesem großen Aufbruch die Veranlassung gab, als er aus Asien nach Europa vorstieß, so daß der Druck sich von Volk zu Volk fortpflanzte und niemand auf seinem Platze blieb; die Ursache lag tiefer und war älter; Attila aber gab den Anstoß dazu, daß Asien und Europa sich in einem Mahlstrom begegneten, dem großen Götteruntergang des Mittelalters, der Spaltung der Massen, und bei diesem wilden Schauspiel war Norne-Gast Zuschauer.

Mitten durch die Völkerwanderung ging Gast wie ein Mann, der in einen Wirbelwind geraten war; er sah, wie Kräfte sich in einem Sturm, der nicht von der Stelle kam, verschwendeten; in ihm selbst aber war Windstille, er hatte alle Wanderungen und Bewegungen, die Elemente, in seinem eigenen Wesen aufgenommen und zur Ruhe gebracht; er war selbst Norden und Süden, Osten und Westen, die Seele in all ihren Verwandlungen; er war die Welt des Kindes und hatte zugleich jedes Altern durchdrungen. Er selbst brauste nicht mehr; von all den Kräften aber, die er gesammelt und in sich ins Gleichgewicht gebracht hatte, ging Kraft aus, wenn er sang. Und als Sänger hatte er Attila in Bewegung gesetzt.

Als er einst zu seinem Hof im äußersten Asien gekommen war, hatte er ihm von Europa und seinen Fürsten vorgesungen, und der Mongolenkönig hatte ihm wißbegierig, aber abgehärtet und teilnahmslos gelauscht. Als Gast aber von der nordischen Frau sang, brachte er sein Leben in Gefahr. Je mehr der Asiate von der großen blonden, freigeborenen Frau in Europa hörte, desto wilder wurde er, stampfte den Boden wie ein Rasender, brüllte nach seinen Trabanten, daß sie dem Sänger den Kopf abschlagen sollten; denn der Gedanke war ihm unerträglich, daß ein Mann nur gesehen hatte und beschreiben konnte, was Gast beschrieb; er nahm ihn aber wieder zu Gnaden an, winkte den Trabanten, daß sie sich entfernen sollten, denn er wollte mehr hören, und er hörte das Lied bis zu Ende, galoppierte, dampfte, sprühte aus den Augen wie ein Hengst, war nicht mehr zu halten.

Und sein Galopp verpflanzte sich zu seinem Heer, den Myriaden Asiens; sie stießen aus den Steppen vor und stürzten Reiche in Europa. Attila wollte alle nordischen Frauen besitzen, ließ sich die Töchter der Bauern bringen, Scharen von gefangenen blonden, lieblichen Frauen; aber sie waren nicht lieblich gegen ihn. Er machte sie mit Gewalt zu seinen Frauen, belud sie mit Kronen und Ringen aus geschmiedetem Golde, die ebenso dick und gediegen waren wie ihre Jungfernzöpfe. Er ließ sie töten, wenn sie kalt waren und nicht lächeln wollten, und sie waren kalt und lächelten nicht, obgleich er wüßte, daß ihr Wesen lauter Lächeln und Wärme war, wenn sie liebten; und schließlich begriff er, daß sie ihn nicht lieben wollten. Sie wurden hart im Unglück, weiß und stumm, trugen ihr Schicksal gleichgültig, wie sie eine Krankheit oder Strapaze getragen haben würden, schätzten sogar das Leben gering, aber beugten sich nicht, wie auch ihre großen verhaßten Landsleute sich nicht beugten, den schwarzen Zwerg nur auslachten, wenn sie von seinen Leuten, zwanzig gegen einen, übermannt worden waren; sie ließen sich lebendig zerreißen, aber sie beugten sich nicht.

Und hier stieß der Despot auf seine Begrenzung. Er konnte Hunderte von nordischen Frauen nehmen und bekam doch nicht eine einzige, denn sie lehnten ihn ab. Hätte er nur auf eine einzige Eindruck gemacht, dann hätte er ein ganz anderer sein müssen und wäre nicht Attila gewesen. Darum ging er wie eine Geißel der Rache über Europa, brannte alles nieder, weil er nicht werden konnte, was er nicht war. Schließlich wurde er von einer klugen Frau, der Burgundentochter Ildico, durchschaut; sie sann auf sein Verderben, gab sich den Anschein, als ob sie die Seine werden wollte, das erste Entgegenkommen, auf das er stieß, und in der Hochzeitsnacht erdrosselte sie den glücklichen Bräutigam.

Langsam legten sich die Dünungen nach dem Sturm der Leidenschaft, den der Hunnenkönig entfesselt hatte. Neue tragische Momente kamen hinzu, die Wogen aus Asien und Europa waren sich begegnet und konnten nicht zur Ruhe kommen, bevor sie vermischt und gebrochen, wieder sie selbst geworden waren, nachdem sie ihr Wesen vertauscht hatten. Alle großen, ganzen, tragischen Naturen gingen unter. Die Macht des Goldes zermürbte das Band des Blutes und der Freundschaft, den Nibelungenhort; gierige Männer und Frauen, die die Unnatur von blutdürstigen Vorfahren geerbt hatten, rotteten sich gegenseitig aus. Eddas Klage:

Brüder bringen
sich zur Strecke,
und Geschwister
schänden Verwandtschaft.
Kein Mann
schont den anderen.
Hart ist die Welt.
Hurerei ist im Gange,
Artzeit, Schwertzeit
– Schilde bersten –
Sturmzeit und Wolfszeit,
bis daß die Welt einstürzt.

Ja, ja, schon damals erwartete man den Untergang der Welt!

Norne-Gast schritt durch die blutigen Stürme der Völkerwanderung. Die Erinnerungen daran wurden in den Wölsungersagen bewahrt, wie das Sausen der Nacht durch die Türen, wenn die lebendigen Stimmen des Tages verstummt sind.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Gast in Norwegen. Das Dasein erschien ihm dort jünger. Das frische Leben der jungen Kräuter auf den schwarzen Bergen ging seiner Seele nahe; es war, als ob die Jugend ihm in seinem hohen Alter näherrückte.

Er lebte in seinen Erinnerungen und mischte sie durch einander, sank in sich selbst zusammen und war seiner selbst kaum bewußter als der Baum im Winter, der Narben von all seinen Blattern trägt. So fern war der Sommer, so fern die Tage der Jugend.

Seine lebhaftesten und frühesten Erinnerungen aus der Zeit, als er und seine Freundin wie das erste Menschenpaar den Baum mit dem Eichhörnchen teilten, vermischten sich mit der Mythe anderer Geschlechter, – Geschlechter, die sich ebensoweit von ihrem Ausgangspunkt entfernt hatten wie er, und deren Erinnerungen ebenso nebelhaft in der Ferne verschwammen, – mit der Mythe von Ygdrasil, dem großen Lebensbaum, dem Ursprung allen Lebens.

Denn die Erinnerung ist ein Baum, der in der Zeit wächst und mit ihr größer und reicher wird. Je mehr man altert und je weiter man in der Seele wird, desto mehr Lichtschein fällt auf den Anfang. Darum sehnt man sich nach dem, was man im Leben besaß, als man nicht Seele genug hatte, um es zu schätzen, wenn man alt genug geworden ist, um es im Geiste zu besitzen; dann aber kann man es nicht mehr erleben.

Die Sage von Norne-Gast erzählt, wie er zu Olav Trygvesons Hof kam und kurz vor seinem Tode den christlichen Glauben annahm. Es liegt etwas Ergreifendes darin, König Olav bei dieser Gelegenheit in einem Augenblick zu sehen, wo er gleichsam auf seiner Bahn innehält, weil er von einem, der in der Vergangenheit lebte und vor ihm sterben sollte, betrachtet wurde; noch war der König wie eine herrliche Sonne am Mittag; Leid und Kummer waren fern; wie fern sind Held und Kummer jetzt!

Norne-Gast nahm die Taufe an, weil König Olav ihm zuredete, und weil er fand, der Priester habe nicht unrecht mit seiner Auslegung des zukünftigen Lebens. Während seines langen Lebens hatte Gast das Zukünftige am Ende der Welt gesucht, wahrscheinlich aber brauchte man es gar nicht so weit zu suchen; vielleicht war es ganz nah, nur der Tod trennte uns davon. Auch war die Zeit nicht mehr fern, wo Gottes Reich auf der Erde selbst erwartet wurde, das Jahrtausend, wo das Reich errichtet werden sollte. Dann würden Streit und Kampf vorbei sein, kein Morden mehr, keine Blutlachen unter dem einen, während der andere mit den Armringen davonlief, kein Frauenraub, nicht Haß noch Not und Kummer für die Schwachen, sondern eitel Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Dazu nickte Gast, nickte, das Kinn auf die Brust geneigt, mit weisen, erloschenen Augen; ja, ja, auf dies alles hatte er gehofft! Sterben würde leicht sein, wenn solch gutes Land, diesseits und jenseits, einem in Aussicht gestellt wurde.

Und als er seine Kerze aus der Harfe genommen, wo er sie verwahrte, und dem Könige gegeben hatte, damit er sie anzünde, legte er sich zurück, faltete die Hände, so gut er es vermochte, wie der Priester es ihn gelehrt hatte, und bereitete sich zum Sterben.

Nur ein kleiner Stumpf des Lichtes war noch übrig, der schnell herabbrannte. Für die Anwesenden in der Halle war es eine ganz gewöhnliche Kerze, ein ganz kleiner Lichttropfen nur, der in dem Schein des Feuers verschwand, das auf dem Fußboden in dem großen Raum brannte und die Balkendecke mit Schatten und Rauch füllte.

Als aber der Docht zusammensank und das Licht drauf und dran war, zu verlöschen, da merkten alle, wie es in der Halle dunkler und gleichsam kälter wurde; einige begannen zu frösteln. Da waren Gasts Hände kalt geworden, und als das Licht verlöschte, war er tot.

Man hatte beobachtet, daß der Blick des Sterbenden sich weitete, als ob er andere Welten sähe, mächtigere und blendendere als die Sonne. Der Alte lächelte wie einer, der seine Lieben wiedersieht; während des kurzen Augenblickes, als sein Licht herabbrannte, schien er schon in der Ewigkeit zu sein; mancher hätte gern gesehen, was Norne-Gast sah.

Über alle jungen, aufrechten Burschen war ein Schauder gegangen, als der Tod sich Norne-Gast näherte; sie spürten eine Gänsehaut auf dem Kopfe, dasselbe Gefühl, das sie später wieder empfinden sollten, als sie von dem Schiff Orm über Bord gingen und die See über ihren Köpfen zusammenschlug.

Der König befahl, daß mehr Holz auf das Feuer gelegt werden sollte, ihm war auch kalt geworden; man trug viele Armvoll Klafterholz herbei, und beim Schein der klaren Flammen und in einem Regen von sprühenden Funken wurde das Gelage fortgesetzt.


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