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Landeinwärts, weit hinten am Horizont, hob der Wald sich wie eine Woge, und wurde auf seinem höchsten Punkt von einer Öffnung zwischen den Stämmen unterbrochen, durch die man den blauen Himmel sah, wie eine Tür zu der weiten, weiten Welt; durch dieses Tor zogen Gast und Pil eines Tages auf einem Streifzug. Sie hatten angefangen zu laufen, und während sie liefen, war Fernweh ihnen in die Seele gedrungen, so daß sie nicht wieder aufhören konnten.
Der Tag war warm und kalt, die Sonne erhitzte, im Winde aber war Kühle. Zum erstenmal im Jahre hatten sie die Kleider abgelegt, hatten ihre alten rußigen Felle wie Larven abgestreift, und liefen nackt durch Luft und Sonne; die Luft aber war noch kalt, und sie liefen, um warm zu werden; die Sonne rötete ihre Körper im Lauf, der Wind kühlte sie, und sie fühlten sich luftig wie der Wind und brennend wie die Sonne; Luft und Sonne schlugen über ihnen zusammen, die jungen, kühlen Wälder umbrausten sie, das Blau des Himmels und die schwellenden weißen Wolken hüllten sie ein, sie liefen, liefen, waren in der Luft, flogen, noch heute wollten sie ans Ende der Welt!
Laufend kamen sie zu dem höchsten Punkt im Walde, einer Lichtung mit einzelstehenden großen Bäumen auf dem Gipfel eines Hügels; von dort halten sie einen weiten Ausblick über das Land, sahen neue grüne Wälder, unbekannte Täler, einen neuen Horizont mit fernen Waldtoren, und darauf liefen sie zu; liefen, liefen, liefen, bergauf, bergab, ohne sich ein einzigesmal umzusehen, sie waren selbst Luft und Sonne, waren der Wind und die weite, weite Welt!
Gast lief voran, mit dem Bogen in der Hand, und laufend schoß er den Pfeil ab, der vor ihnen her flog und sie dem Unbekannten zuführte; er sah ihn in den blauen Himmel steigen, die Spitze auf die Wolken gerichtet, bis er vornüber fiel und die Erde suchte; und Gast folgte ihm in den Himmel und wieder zur Erde, rannte, bis er ihn gefunden hatte, schoß ihn von neuem ab und lief wieder hinter ihm her. Der Bogen war lang und schwer, mit gewaltiger Spannkraft, Zwilling seines Armes an Kraft, und der Pfeil war lang und geschmeidig mit einem gespaltenen Flintsteinstachel, ein Verwandter des Blitzstrahls, mit Storchenfedern beschwingt, damit er hoch, hoch fliegen konnte; er war Gasts Sehnsucht, flog in hohen Sätzen zwischen Himmel und Erde, und Gast flog hinter ihm her.
Und so liefen sie in das seeländische Land hinein, in weitgestreckte, brausende junge Wälder; hier und dort Lichtungen und Hügel, wo flimmernde Espen sich mit den Himmelssäulen am Horizont vermischten, sie sahen, was noch nie ein Menschenauge vor ihnen gesehen hatte: urstille Seen, an allen Seiten von Waldmauern umgeben, Hügel, mit Heidekraut und Wacholder bewachsen, von wo sich neue Ausblicke öffneten, zu neuen Wäldern und neuen, blauen Sunden, die vom Meere aus tief ins Land schnitten. Und sie kamen zu weiten Wiesen, die mit großen Steinen besät und von fernen Wärmewogen eingerahmt waren, und über denen in der Stille ein Duft von wildem Wermut schwebte, und ein Gespinst von Lerchengesang wie aus ewigen Quellen in der Höhe; dann wieder Erlengehölz und Bäche, wo der nasse Mann, der Biber, im Walddunkel mit seinen angenagten Zimmerstöcken patschend herumschwamm – und wiederum offenes Land, wogende, wilde Wiesen und Geröll, Blumen, soweit das Auge reichte, und über ihnen wie ein Gewebe, ein und aus, auf und nieder, die luftigen Schwalben, und über ihnen wieder ein Falke, der hoch oben im Blau bald stillstand, bald herabtauchte …,
Gast schoß seinen Pfeil auf ihn ab und rannte, flog hinter ihm her durch das hohe Gras, sein eigenes Haar umbrauste ihn …, und als er sich umdrehte, sah er, daß seine Gespielin ihm folgte, leichtfüßig wie der Wind, fast ohne die Erde zu berühren; ihr langes Haar züngelte wie eine Flamme hinter ihr her, die Kette von Wolfszähnen flog in dieselbe Richtung, in der einen Hand hielt sie einen Strauch wilder Blumen und in der anderen eine hübsche Vogelfeder, die sie gefunden hatte, die Lippen waren geöffnet, sie rannte, flog …, und da sah Gast, daß es ja gar nicht mehr »die kleine Pil« war, sondern eine langbeinige Jungfrau mit schönen Armen, die wie ein Sommerwind über blühenden Wiesen daher kam.
Und sie ihrerseits sah, daß es kein Knabe mehr war, der da vor ihr lief, sondern ein junger Jäger, den Kopf stolz auf starken Schultern; sie hörte ihn rufen, ein Jagdruf gen Himmel, und weiter lief er, rannte mit hohen Sprüngen wie ein Hirsch – sie schüttelte den Kopf, füllte die Brust von neuem und folgte ihm, und so verloren sie sich laufend in der Wildnis, verschwanden im Sonnengeflimmer auf fernen Ebenen.
Der Fuchs kam aus seiner Höhle zwischen Steinblöcken hervor, schnupperte durch die Luft, als die beiden glücklich vorbei waren, roch ein Drama. Menschen waren seltsam! Früher hatte er wohl manchmal gesehen, daß viele Männer hinter einer Frau herrannten, hier aber schien ein großer, grobgliedriger Lümmel vor einer lieblichen Jungfrau Reißaus zu nehmen! Pfui, der Fuchs schnaufte auf, Menschen waren komisch! Er machte kehrt und verschwand zögernd in seinem Bau zwischen den Steinen.
Einsam, urstill lagen die weiten Ebenen da, eingehüllt von oben in Lerchengesang und von unten in den hellen Sommerton der Bienen zwischen Blumen; die Wolken lebten ihr Luftleben, einsam und allmächtig machte die Sonne ihren Weg, der lange, süße Sommertag ruhte in sich selbst, bis sein Wesen ein Ende fand.
Wenn die Sonne des Strahlens müde war, verschwand sie hinter Wolken. Dann fielen die Lerchen vom Himmel, zusammen mit den Tautropfen, fielen schräg durch den Raum, standen einen Augenblick still über dem hohen, dämmrigen Grase, bis sie herabkamen und ins Nest schlüpften, des Singens müde.
Grün und kühl war die Welt, eitel Schweigen für eine kurze Spanne Zeit, während Dunkelheit zwischen den Steinen erstand und sich mit den Abendnebeln vermengte, kleine kühle Sterne wurden entzündet. Bald ließen andere Stimmen sich hören, der Dämmerschrei der Eule, das abendliche Spielwerk eines reisenden Mistkäfers. Aus dunklen Wäldern kam der langgezogene, verzauberte Ton des Nachtraben, und aus Sümpfen stieg der kühle Traumchor der Frösche zum Himmelsraum hinauf.
Und der Tag versinkt. Aber es wird nicht dunkel; im Norden, wo die Sonne untergegangen ist, schlummert der Tag, der Himmel leuchtet, Wiesen und Waldsäume liegen in Dämmerung, und weiße Wolken werden sichtbar, ragen mit schlummernden Zinnen in die Nacht, eine blaue Nacht, die Büsche füllen sich mit Nebel, und weiße Nachtwandler treten aus ihnen hervor. Freischwebend und riesenhaft hebt der Mond sich über den Rand der Erde, starrt mit groß aufgerissenem Auge zur anderen Himmelsseite, wo die Sonne verschwunden ist; ein großer weißer, ruhiger Stern leistet dem Mond Gefolgschaft. Ferner Lärm hallt durch den Wald, es ist der Wolf, der den Mond anbellt, seine Stimme kippt um vor Wut über das Wunder. Der Mond aber lebt sein rundes Leben am Himmel ruhig weiter, geht auf und schwebt in seiner Einsamkeit, schreitet mit seinem Spiegelbild über stille Waldseen und wirft sein fahles Licht über ruhende Wälder und Höhen in der Ferne.
Tief drinnen im Lande, wo zwischen Birken ein Wasser floß, brannte ein Feuer; in weitem Umkreis blieben Tiere schnuppernd vor offenen, mondbeschienenen Lichtungen stehen, wagten sie nicht zu überschreiten; denn in diesen großen menschenleeren Waldstrecken hatte noch niemand ein Feuer gesehen, Bratgeruch, wie, sollte man vielleicht verbrannt und verspeist werden? Klare Flammen stiegen aus dem Feuer auf, der Rauch war in der hellen Nacht deutlich sichtbar, hin und wieder ging eine schwarze, aufrechte Gestalt am Feuer vorbei; kein Zweifel, der Mensch war mit seinen heißen Künsten gekommen.
Pil und Gast waren es, die hier ihr Abendfeuer angezündet hatten und sich an seiner Wärme labten, nachdem sie den ganzen Tag durch Sonne und Wind gelaufen waren. Sie waren froh und unverzagt, obgleich sie heute morgen nackt und ohne etwas mitzunehmen, von Hause fortgelaufen waren und nicht ahnten, wo sie sich befanden; aber es fiel ihnen nicht ein, umzukehren. Die Nacht ängstigte sie nicht, sie war ja so hell, und außerdem schützte das Feuer. Gast hatte aus den ersten besten Stäben Feuer gemacht und sich erlaubt, etliche der dazu gehörigen Mysterien zu unterschlagen, er hatte nicht einmal Pil verboten zuzusehen, und das Feuer war willig gekommen; im Handumdrehen rauchte und glühte es unter seinen starken Händen, ein Lied aus voller Kehle mußte die Beschwörungen ersetzen; und als das Feuer hoch aufflammte, warf er ein paar Vögel hinein, gleichzeitig Opfer und Abendessen. Jeden Tag feierte man jetzt das große Feuerfest und die heilige Mahlzeit. Alle Werkzeuge hatte Gast bei dem Winterhause zurückgelassen; der erste scharfe Flintstein, den er fand, mußte darum vorläufig ein Messer ersetzen. Als sie gegessen hatten – Federn, Schnabel, Krallen und den abgenagten Rumpf bekam das Feuer, das sehr befriedigt prasselte – brachen sie Zweige von den Bäumen und bauten sich eine Laubhütte für die Nacht.
So kehrten sie zu den einfachsten Lebensformen zurück, älter noch als diejenigen, unter denen sie aufgewachsen waren, begannen mit leeren Händen, in Freiheit, zu zweien. Und die hellen Nächte behielten sie, den ganzen Sommer blieben sie draußen, vergaßen ganz ihren Wohnplatz an der Quelle und den Wohnplatz an der Küste, wanderten, schliefen jede Nacht an einem anderen Ort, sahen neue Welten, wurden wie die Vögel, die Fliegen, das Licht, lauter Flug und Freude, außerhalb jeder Zeit, nur voneinander beseelt.
Der Liebesstern stand über ihnen, wie er leuchtend über allen Unschuldigen stand, die sich fanden, Brutwärme entwickelten und auf der grünen Erde vermehrten; sie verloren sich unter ihnen, unter Vögeln, die auf ihren Eiern brüteten, und Hirschen mit neugeborenen Kälbern, Schwalben, die sich im Fluge vereinten, und Libellen, die paarweise auf dem Hochzeitsfluge wie ein einziges beschwingtes Wesen waren, Kuckuckspaaren, die Versteck spielten und ihnen von überall her zuriefen, Igeln, die im Dunkeln Haschen spielten, schnaufende Polterer ringsumher, sogar der Hase war in Glut geraten – überall gab's ein Locken, Rufen, Krähen, die Wildkatze miaute wie wahnsinnig aus den höchsten Baumwipfeln im Mondschein, der Luchs schrie kläglich vor Liebesschmerz – alles aber wurde übertäubt von der brüllenden Herausforderung des Urstieres, die wie ein Götterton vom Himmel kam und in den Tälern mannigfachen und schwellenden Widerhall fand.
Dem Fuchs, der das Menschenpaar hin und wieder belauschte, klang es in den Ohren wie Fliegengesumm; denn noch nie hatte er Menschen angetroffen, die soviel lachten und so viele stürmische, sinnlose Lieder sangen, während sie durch den Sommer galoppierten.
Im Herbst kehrten sie zu ihrem Wohnplatz an der Quelle zurück, sonnenverbrannt und gereift, und nahmen ihr gewohntes Leben wieder auf.
Die Quelle begrüßte sie mit ihrer bekannten, vertrauten Stimme, sie spiegelten sich in ihr und erinnerten sich der Kindergesichter, die sie darin gesehen und die jetzt verschwunden waren; statt dessen sahen sie im Wasserspiegel zwei entwickelte junge Leute, die fast nicht Platz nebeneinander auf der Wasserfläche fanden. Auf Gasts Gesicht sproßte ein Bart; er war Mann geworden. Schöner als irgendein Wunder der Welt spaltete Pils junge Brust sich ihrem Spiegelbilde entgegen.
Tief unten in der Quelle, schwindelnd tief auf dem Abgrunde, sahen sie einen Adler kreisen, sie blickten in die Höhe, und derselbe Adler kreiste himmelhoch auch oben unter den Wolken; es war wahr, die Wirklichkeit und ihr Abbild begegneten sich in der Quelle.
Ihr Haus stand noch unberührt, wie sie es verlassen hatten, war aber fast zusammengefallen; sie bauten es wieder auf und fütterten es mit großen Steinen, damit die Wände einen Halt hatten. Mit Staunen sah Gast sein Werkzeug wieder, wog seine alte Axt in der Hand; daß er mit diesem Ding mal ein Boot gezimmert hatte! Jetzt schlug er sich große, schwere Axtblätter zurecht, schmächtig, aber fast einen Fuß lang, und dazu passende Schäfte. Sein Bogen war doppelt so lang wie früher, und auf der Jagd führte er Speere mit sich, lange Stöcke mit Flintsteinspitzen versehen, die selbst dem größten Wild, wenn sie ihm auf Wurfnähe kamen, gefährlich wurden.
Die Herstellung des Werkzeuges bereitete Gast keine Schwierigkeiten mehr, die Zweckmäßigkeit desselben hatte sich ja bereits bewährt, jetzt galt es, die Waffen auch fürs Auge so schön wie möglich zu machen; Monate verwandte er darauf, bis sie so glatt und fein waren wie er sie haben wollte, tagelang saß er vor einem großen flachen Stein und fuhr hartnäckig mit dem Flintstein darauf hin und her, soweit seine Arme reichten, schüttete Wasser und Sand auf den Stein, mahlte, drückte, mahlte, bis der Stein ausgehöhlt war und auch der Flintstein seine Merkmale bekommen hatte. Stark war er und wurde bei der Arbeit immer stärker, viele, viele Stunden, einen Tag nach dem anderen nagte er sich langsam vorwärts, stumm vor Eifer; solange die Leidenschaft ihn beherrschte, sah man nur seinen unverbrüchlich geschlossenen Mund, solange die kleinste Bruchspur im Flintstein nicht geglättet war, wenn der Form wegen auch eine ganze Schicht abgeschliffen werden mußte, gab er nicht nach; er sah die Art vollständig glatt vor seinem inneren Auge, und so sollte sie auch sein. Die Speergriffe mußten rund im Querschnitt und ganz gerade sein, sonst konnte er sie nicht lieben.
Pil ging ebenso liebevoll mit ihrer Arbeit um, es war wie eine Blüte ihrer beiden Wesen, daß alles, was sie machten, bis zur Vollendung gelungen sein mußte. Pil ließ sich neben der Quelle nieder, spiegelte ihre junge Schönheit und dachte sich neue kleidsame Hüllen aus, wendete und drehte die Felle an ihrer Person, bevor sie sie zuschnitt und zu einem neuen Rock zusammenheftete; sie sprach halblaut mit sich selbst, glättete die Stoffe auf der Erde und überlegte. Sie flocht und erfand neue Muster, flocht alles was sie sah, auch ihr Haar, und Gast mußte ihr einen Knochenkamm mit mehreren Zähnen machen, damit sie sich kämmen konnte. Als es anfing kalt zu werden, verfertigte sie schöne Otternfellpelze und machte Handschuhe aus der Kehrseite der Iltisfelle, mit verschiedenfarbigen Fellappen verziert.
Die kleinsten und zartesten Pelze aber, die Gast herbeischaffen konnte, legte sie beiseite; und wenn sie Töpfe formte, die sie mit reichen Mustern verzierte, dann formte sie zu ihrem eigenen Vergnügen auch eine Schar kleiner Kruken, ganz als ob die großen Töpfe Junge bekommen hätten.
Im Laufe des Winters gebar Pil ihr erstes Kind, ein Weidenkätzchen, und jetzt waren sie ihrer drei im Nest, aus der unterirdischen Höhle erklang der erste zarte Laut eines neuen Lebens, wie eine kleine Menschenbitte, die man nie wieder vergessen konnte.
Es wurde ein harter Winter, der Schnee blieb lange liegen, und das Haus an der Quelle lag wochenlang unter einer Schneewehe begraben, während die Welt draußen in Dunkelheit versunken war. Der Winter währte so lange, daß der Sommer ganz in Vergessenheit geriet. Die Erinnerungen blieben wohl zurück, der Sommer aber selbst tauchte unter. Es war ja immer Winter gewesen. Sogar der Bach fror zu, und Gast ging bis an die Augen in Pelzwerk gekleidet, wie ein Bär, und stach Aale. Der modrige Fisch rief schwache Erinnerungen an Sommermorast und frisches Süßwasser wach; fern war der Sommer.
In den dunklen Tagen aber war der kleine Bote des Frühlings zu ihnen gekommen, zart und wehrlos wie die allerersten Frühlingsblumen, die mit ihren Zwiebeln noch unter dem Schnee standen und weiße Glöckchen in den nassen Wind hängten, wie die daunigen Knospen der Weide, die mit ihrem Frühlingslächeln zu den feuchten Wolken und ersten Sonnenstrahlen, die noch keine Wärme spenden, emporlugten; Pil hatte sich erneut, hatte eine Knospe bekommen, wie sie einst selbst eine gewesen, weiß, daunig und mit lichtem Haar, ein kleines Mädchen, das kleinste, reinste, lieblichste Weib der Welt. Gast stiegen Tränen in die Kehle, sein Herz bekam für alle Zeiten einen Eindruck, als er das kleine warme Geschöpf zum erstenmal in seine Arme nahm und sah, wie zart es war. Eine Knospe war sie und Knop Knop - Knospe. sollte sie heißen. Sie war sanft wie ihre Mutter, gab nur ein paar zarte Laute von sich, als sie zur Welt gekommen war und verfiel dann wieder in den langen Schlaf, aus dem sie soeben erwacht war, wie auch der Frühling lange in sich selbst ruht und schläft, bis er zu einem richtigen Frühling wird.
Knop war ein merkwürdiges, ungewöhnlich schönes und wundersames, stilles und gedeihliches Kind. Gast spannte noch eine Saite auf seine Bogenharfe, die beiden, die schon da waren, genügten nicht, um Knops Wesen auszudrücken; in die neue Saite legte er ihre Seele, einen zarten, hohen und freudevollen Ton, und während der langen Wintertage spielte er Pil und Knop etwas vor und sang dazu, bis die enge Höhle unter der Erde sich mit Sonnenschein und Vogelstimmen, Sommerwind und dem leisen Geplauder der Laubbäume in frisch entfalteten Wäldern füllte.
Und es kam alles, wie er gesungen hatte, der schönste Frühling schüttete seine Fülle über sie aus, als die lange Winterzeit endlich vorbei war, Winde genügend geweht, Wolken genügend gebraut hatten, und die Sonne wieder Sonne geworden war.
Als der erste grüne Tag kam, mit Wärme auf der Leeseite und Blumen im Grase, trug Pil ihre Knospe zur Quelle hinaus und ließ sie vom Wasserspiegel küssen, damit die Quelle ihr von ihrer Kraft spende und sie rein und unversiegbar mache wie sie selbst; sie streckte sie zum Himmel empor und schenkte sie dem Tag, streckte sie dem Walde entgegen und bat ihn um Schutz für sie; und darauf legte sie sie unter den großen Baum an der Quelle, damit sie seine Wurzel berühren und Kraft empfangen konnte. Und während die Kleine dort lag, sahen die Eltern, wie die Wunder der Erde sich in den klaren Augen spiegelten. Die Händchen zogen sich scheu zurück vor der ersten Berührung mit der Welt – was mußte sie aber nicht auch für Dinge erleben! Sprang da ein großer Frosch mit hohen Sätzen quer über die ganze Weidenknospe – ohne Zweifel ein gutes Wahrzeichen – was aber sollte sie sich dabei denken!
Lange währte es indessen nicht, bevor Knop Neigung zeigte, alles, was sich bewegte und was sie erreichen konnte, Frösche und was es sonst sein mochte, zu verzehren, und von da an gedieh sie wie die meisten gleichaltrigen Wunder in Menschengestalt.
Der Frühling verging mit Seligkeit und Gesang, und wieder einmal kam der Sommer mit seiner Ewigkeit, Mittsommer, Hochsommer, ein blendendes Reich voller Spiel und guter Tage, Winter wurde es wieder, und auch der Winter war gut.
Und als es wieder Frühling wurde, da konnte das kleine Mädchen allein in die Luft hinausstolpern und seine Ärmchen der Sonne und dem Walde entgegenstrecken. In jenem Frühling aber brach die Familie auf, verließ die Wohnstätte an der Quelle und bereitete sich zu einer langen Reise. Gast wollte die Welt sehen. Er hatte beschlossen, durch den Bach in den Fjord zu rudern und von dort längs der Küste zu neuen Ländern. Im Laufe des Winters hatte er ein neues Eichenboot gebaut, größer und breiter als das alte, aus einem wahren Riesenbaum; mit den wuchtigen, scharfgeschliffenen Beilen aber, die er jetzt hatte, war die Arbeit wie ein Spiel gewesen.
Als alles fertig und die Jahreszeit geeignet war, zogen sie stolz ihres Weges mit allem, was sie besaßen und in dem geräumigen Boot mit sich führen wollten: Gasts Waffen, Bogen und Pfeile, Lanzen und sein gutes Werkzeug, außerdem was sie an Kleidern und Fellen gebrauchten; Gasts Harfe, sein guter Freund, aus dem Bogen entstanden; das Feuerzeug, auch dazu hatte der Bogen herhalten müssen, Gast wickelte eine schlaffe Bogensaite um den Feuerbohrer und drehte sie, indem er den Bogen mit der einen Hand hin und her zog, während er den Bohrer mit der anderen festhielt; diese Methode versagte nie, ob man dazu murmelte und sang oder nicht. Damit sie ihr Essen an Bord kochen konnten, hatte er mitten im Boot eine Feuerstatt aus Erde und Steinen errichtet, vielleicht würden sie unterwegs nicht immer Gelegenheit haben, an Land zu gehen; der Herd sollte reisen. Natürlich führten sie auch Aalgabeln, Angeln und Netze mit sich; wo man schwimmen konnte, konnte man auch fischen.
An dem einen Ende des Bootes saß Pil, und das Ruder in ihren Händen war ein Kunstwerk, von Gast an langen Winterabenden mit Schnitzwerk und Verzierungen versehen; im Steven des Schiffes aber hatte er ein Bild geschnitzt, das ein Eichhörnchen vorstellen und als Glückbringer voranschreiten sollte.
Um den Hals trug Pil einen vielreihigen Perlenkranz aus Tierzähnen, alles ausgesuchte Eckzähne, einen kostbaren Schmuck, der von allen Tieren, die Gast erlegt, seit er Jäger geworden, beseelt war. Ihr zu Füßen, in einem Nest von Fellen saß das Weidenkätzchen, blauäugig und heilig, in einem Hermelinmäntelchen, mit einem Vogelknochen in der Hand, in den der Vater kleine Steine gesteckt hatte, so daß sie wunderschön rasselten, wenn sie den Knochen wie einen Herrscherstab schwang; böse Geister wurden dadurch abgeschreckt. Am Vordersteven aber saß Gast mit breiten Schultern und tauchte das Doppelruder ein, mit tiefen, ruhigen Zügen, die das Boot jedes Mal ein gutes Ende vorwärtsbrachten.
So zogen sie aus. Als sie in jenem fernen, jetzt fast vergessenen Zeiten, als alles begann, landeinwärts gerudert waren, hatten sie Gegenstrom gehabt; jetzt fuhren sie mit dem Strom wieder dem Fjord zu, neuen Ufern entgegen. Beim Gedanken an das Wiedersehen mit dem Meere blähten sich Gasts Nasenflügel.
Die Reise dauerte einige Sommermonate und führte sie um Seeland herum, wie es sich später zeigte, denn unterwegs verloren sie die Richtung und waren sich nicht mehr klar darüber, wie es um die Welt bestellt war.
Durch den Fjord fuhren sie zur Nachtzeit, in aller Stille, hielten sich möglichst in der Mitte, um nichts von den Bewohnern des Wohnplatzes zu sehen und nicht gesehen zu werden. Gast meinte sich zu erinnern, daß man sich längs der linken Küste halten mußte, wenn man aus dem Fjord herauskam, wollte man das unbekannte Land finden, wovon die Alten gesprochen hatten; diese Richtung schlugen sie ein und kamen bald in ziemlich bewegte See, obgleich sie sich so nah wie möglich an der Küste hielten. Sie wußten wohl, daß nach der anderen Seite zu Land lag, dorthin aber wollte Gast nicht, und außerdem erschien ihm das Fahrwasser etwas zu breit. Darum hielten sie sich lieber an der Küste, in der Hoffnung, über kurz oder lang auf die großen Flüsse zu stoßen, von denen die Alten gesprochen hatten.
Es zeigte sich indessen, daß die Küste viele Einschnitte hatte, mehrfach schwang sie sich um weitläufige Fjorde, und da sie sich immer in unmittelbarer Nähe des Ufers hielten, mußten sie auch alle Verzweigungen des Wassers mitmachen, bevor sie wieder ins offene Meer gelangten. Es wurde eine lange Reise, mehrmals wurden sie um sich selbst gedreht und schließlich hatten sie die Richtung verloren; doch kümmerte es sie wenig, denn sie hatten ja keine Eile, ernährten sich unterwegs, lagen still und fischten, und wenn das Land dazu einlud, ging Gast an Land, um zu jagen. Sie sahen viel und hatten viele merkwürdige Erlebnisse, wenn auch nicht von einschneidender Bedeutung.
Die Küste war überall flach, Wälder oder sonstige Abhänge bis an den Strand, an einigen Stellen Dünen, und landeinwärts sahen sie beständig dichte Waldungen. Vielfach konnten sie auf der anderen Seite des Fahrwassers andere Küsten oder Inseln sehen, sie aber blieben an der Küste des Landes, aus dem der Fluß sie herausgetragen hatte, mit linkem Kurs, wie Gast sich aus den Gesprächen der Alten entsann. Bisweilen sahen sie Rauch über den Waldungen oder in der Nähe der Küste, und dann ruderten sie mit Vorsicht, verbargen sich tagsüber, fuhren erst zur Nachtzeit an den verdächtigen Orten vorbei; nach Menschen verlangte es sie nicht.
So verloren sie sich in der Welt und wurden weitbereist, bekamen einen weiten Blick, indem sie immer neue Küsten sahen. Schließlich gelangten sie wieder einmal zu einem Fjord, der ins Land einschnitt, – ihrer waren nicht wenige, das mußte man sagen –, dieser aber war nicht sehr breit, und Gast überlegte, ob man nicht quer hinüber rudern und die Fahrt auf der anderen Seite fortsetzen sollte; indessen beschloß er, dennoch der Küste zu folgen, denn man konnte nicht wissen, ob sich am Ende des Fjords nicht vielleicht der richtige Weg ins Land öffnen würde.
Wie seltsam aber wurde ihnen zumute, als sie ein Stück in den Fjord hineingerudert waren und sahen, daß er sich zu einer Bucht erweiterte, mit seichtem Wasser und vielen Möwen. Küste und Landzunge erschienen ihnen so bekannt, merkwürdig, wie die Bucht dem heimatlichen Fjord glich, den sie vor langer, langer Zeit verlassen hatten! War es möglich, daß zwei Fjorde, die durch die halbe Welt getrennt waren, sich so ähnelten! Derselbe Wald, der schräg auf den Strand zulief! und ein Wohnplatz tief drinnen in der Bucht – sie bogen um eine Landzunge und sahen Rauch, Boote, die auf den Strand gezogen waren –, und plötzlich wurde es ihnen klar, daß es der heimatliche Wohnplatz war, zu dem sie auf unsagbar mühsamen Umwegen zurückgekehrt waren! Sie waren ganz einfach rund um das ganze Land herumgefahren, und da es eine Insel war, mußten sie natürlich schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren.
Sie wurden gut aufgenommen, das Wiedersehen war wirklich herzlich, keine Spur von Bitterkeit auf irgendeiner Seite, alter Zwist war natürlich vergessen und wurde nicht wieder ausgegraben, als der verlorene Sohn des Stammes wie ein berühmter Seefahrer heimkehrte. Endlich also war durch eine Umschiffung festgestellt worden, daß Seeland eine Insel war. Die Alten hatten es ja schon immer gesagt! Daß der Erdkreis rund war, ging ja auch aus unmittelbarer Betrachtung hervor, man konnte ja sehen, daß die Erde eine Insel im Meere war, und was man vermutet hatte, war jetzt also bewiesen worden. Was verdienstvoller war, durch Reisen den handgreiflichen Beweis erbringen oder zu Hause sitzen und sich den Zusammenhang zusammenreimen, mochte dahingestellt bleiben; jedenfalls hatten beide Parteien Grund, sich gegenseitig hochzuschätzen.
Gast fand seine Mutter Gro unverändert. Sie bewegte sich nicht mehr viel, zog es vor zu sitzen und sich bedienen zu lassen, wer mit ihr sprechen wollte, mußte sich zu ihr bemühen. Pil und Knop wurden ihr darum nach ihrer Ankunft zugeführt, und sie sprach sich anerkennend über die Schönheit des Kindes und die gute Verpflegung desselben aus, wodurch gleichzeitig der jungen Mutter ein Lob gespendet wurde.
Nachdem die Musterung vorbei war, mischte Pil sich froh unter die Freundinnen, junge Frauen, die mit ihr Kind gewesen, jetzt aber auch schon Mütter geworden waren. Und Pil mußte ihr Kind in die Höhe halten, damit man es mit den anderen Kindern messen und feststellen konnte, welches das längste sei. Die Sprößlinge waren sehr verschieden, einige waren dick und kurz, andere fast kugelrund, Pils Knospe aber war, wenn auch rund und prächtig, so doch schlanker und geschmeidiger als alle anderen. Groß war die Wiedersehensfreude in diesem Kreise. Denn es kam jetzt an den Tag, obgleich Pil nie davon gesprochen, daß sie sich nach anderen Frauen gesehnt hatte, um Mütterweisheit mit ihnen auszutauschen.
Gast wurde auf geziemende Weise im Männerkreise aufgenommen, ertrug, ohne zu blinzeln, alle blutigen und grausamen Prüfungen, die man durchmachen mußte, bevor man in die ererbten Geheimnisse der Männer eingeweiht werden konnte; es zeigte sich, daß er die meisten schon kannte. Bald wurde Gast der beste Jäger des Stammes.