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Das reiche Tal

Er erwachte dadurch, daß sein Name genannt wurde; eine lachlustige Stimme fragte, was er für ein Gast sei …,

Als er seine Augen aufschlug, wurde er von der Sonne geblendet, und ganz in seiner Nähe, in dem leuchtenden, grünen Wald, sah er eine Frau.

Er betrachtete sie lange, lange. Ja, was war er für ein Gast, wo war er, und wer war sie?

Gast betrachtete die wunderbare Frau unverwandt, kniete im Grase und sah sie an. War sie ein übernatürliches Wesen, eine freundliche Göttin des Waldes? Seltsam war sie bekleidet, mit einem gewebten, schwarzbraunen Rock von kunstfertiger Arbeit und mit einer Jacke, nicht aus Pelz und auch nicht aus Bast, die sich fest an Körper und Arme schmiegte. In der Hand hielt sie einen langen Stock von zufälliger, knorriger Form, genügsam, wie Frauen zu sein pflegen, und im selben Augenblick entdeckte Gast ein neues Wunder. Hinter ihr im Walde sah er mehrere Kühe von einer Sorte, die er nicht kannte; es waren keine Urochsen, auch keine Hirsche, eine Art Vieh, und sie schienen gar nicht wild zu sein, grasten ganz ruhig zwischen den Bäumen. Von dem einen Tier ging ein Glockenlaut aus, wenn es sich bewegte, von einem hohlen Ding, das es um den Hals trug; was war das, waren es ihre Tiere, waren sie auch übernatürlich, wie war es dann möglich, daß sie so friedlich hier grasten? War sie eine große Zauberin, daß sie die Tiere zu beschwören verstand; eine Wöla aber schien sie nicht zu sein, denn sie war weder alt noch unheimlich, im Gegenteil.

Die junge Göttin wurde schließlich ganz verlegen, als er sie so unverwandt anblickte, lachte und wollte sich abwenden, da aber griff er schnell nach ihrem Rock, und der jedenfalls war wirklich, lag ihm wie ein dicker, weicher Stoff in der Hand. Sie blieb stehen, stumm, aber mit lächelndem Munde, ein Lächeln, das er kannte; es war ja Pil! War es Pil?

Sie schüttelte den Kopf, als er fragte, verstand seine Sprache, und er verstand auch ihre, obgleich sie beide ganz verschieden sprachen. Wie sie denn hieße und wer sie sei?

Sie hieße Skur und diene als Kuhmagd drüben im Hof – sie machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Kopfe zum Walde.

Dienen? Kuhmagd? Hof?

Gast fragte nicht weiter; der Rätsel schienen immer mehr zu werden, je mehr er fragte. Es war besser, vorsichtig zu beobachten, bevor man sich durch zu viel Fragen bloßstellte.

So stockte denn die Unterhaltung, aber sie fuhren fort, einander zu betrachten, und wurden Freunde, bevor sie es sich versahen; er meinte, sie sei nicht von dieser Welt, ein Wunder in Menschengestalt, und sie konnte seiner offenkundigen Bewunderung nicht widerstehen. Langsam gingen sie nebeneinander her, sie mit gesenktem Kopfe, wie unter warmen Wogen, die über sie hereinbrachen, er beglückt und besorgt, daß er sie verlieren könnte.

Von da an gehörten sie zusammen. Sie wirkten mächtig aufeinander, er auf sie, weil er fremd war, und sie auf ihn, weil sie das Rätselhafte verkörperte. Doch auch als sie sich näher kennen gelernt hatten, blieben sie zusammen; in seinen Augen tat es ihr keinen Abbruch, daß sie eine Sterbliche war; und daß der Fremde ein Bursche wie andere Burschen war, enttäuschte sie keineswegs.

Sie verbrachten den ganzen langen, wunderschönen Frühlingstag im Walde, und Skur lehrte ihren Freund, wie man Kühe hütete; er half ihr dabei, obgleich er sich als Jäger schwer an zahmes Wild gewöhnen konnte. Sie herrschte milde über ihre Kühe, hielt sie durch Zurufe zusammen, und wenn sie sie in eine bestimmte Richtung treiben wollte, leitete sie nur die Schellenkuh, der dann all die anderen folgten. Gast untersuchte die Schelle näher und sah, daß sie aus einem Stück hohlen Holzes gemacht war, mit einem Knebel in der Mitte, ein sinnreiches und schmuckes Stück Arbeit.

Am Abend trieb Skur ihre Herde in einen Stall im Walde, einen geräumigen, hübsch gezimmerten Bau aus Balken, mit Schilfwänden und einem Dach aus Sparren, mit Stroh gedeckt; alles sehr ansehnlich, ein sehr großer und üppiger Aufenthaltsort für Tiere, wie Gast fand.

Und dort melkte Skur ihre Kühe.

? ?

Während sie damit beschäftigt war, stand Gast vollkommen stumm dabei, äußerte keine Verwunderung, sah nur zu und merkte sich, was er sah; hier gab's etwas zu lernen. Sie drückte mit den Händen Milch aus den Kühen heraus, ja, warum nicht, und leitete den Strahl behende in eine Gelte; die Gelte brachte ihn beinahe aus der Fassung; sie war nicht aus einem Stück gemacht, sondern aus mehreren Stäben, und mit Gürteln aus Weidenzweigen umbunden, ein ungewöhnlich hübsches Stück Handarbeit. Die Kühe ließen sich willig melken, käuten wieder und prusteten aus dem Balg, warm und wohlriechend; das ganze Haus war voll Wärme und süßen Milchgeruches. Nachdem Skur die erste Kuh gemolken hatte, die Stirn gegen ihren Bug gestützt, auf einem Dreifuß hockend, erhob sie sich, hielt die Gelte an Gasts Mund, und er trank von dem schäumenden, lebenswarmen Trunk, scheu und tief bewegt.

Die Milch sämtlicher Kühe, mehrere Gelten voll, goß Skur in flache, runde Bütten, die im Stall auf Borten standen, und als sie fertig war, ging sie vors Haus, wo noch Tageslicht herrschte, und begann Scheiben von einem Brot zu schneiden.

? ?

Gast kostete und aß, außerstande, mehr zu fassen. Ein Gericht aus Kernen, dachte er bei sich, gebacken und süß, und während er noch aß und nie etwas Schöneres gekostet zu haben meinte, steckte sie ihm ein neues Gericht zu, Käse – ? ? – er betrachtete ihn, roch daran und schüttelte mit tiefem Wohlbehagen den Kopf. Aber das Messer, das so fein schnitt und so schmal war? Das Messer war aus Bronze. Gast seufzte, der Rätsel wurden ihm zu viele. Er gebrauchte Zeit zum Sehen, zum Überlegen. Viel Männerwitz gehörte dazu, um so viele geheimnisvolle Dinge auf einmal zu durchdenken!

Und es dauerte lange, bevor Gast mit dem Zusammenhang aller Dinge vertraut wurde. Das alte Tal war es, zu dem er zurückgekehrt war, wie aber hatte sich alles verändert! Lange Zeit mußte er fortgewesen sein, tausend Jahre oder mehr; in der grauen Steinzeit war er fortgereist und mitten im Bronzealter zurückgekehrt. Alle, mit denen er gewandert, waren, während sie wanderten, auf derselben Stufe stehengeblieben, hatten sich bewegt, anstatt zu wachsen; hier, wo die Bevölkerung stillgesessen hatte, waren die Menschen zu anderen geworden. Es dauerte lange, bevor Gast begriff, worin die Veränderung bestand, und eigentlich erfaßte er es nie ganz.

Es war noch dasselbe Volk, die Geschlechter aber waren andere; sie hatten keine Erinnerung mehr an die Vergangenheit, die Gast mit ihnen geteilt hatte, und sie waren ihrer so viele geworden, daß das Tal von der Küste um den Fjord und längs des Baches bis tief ins Land hinein bevölkert war. Gast aber schloß sich nur an Skur an, der ersten, der er begegnet war.

Unter anderem fiel es Gast auf, daß Skur unfrei war, das heißt, sie gehörte einem Manne auf einem der Gehöfte im Tal, der ihr nach Belieben eine Arbeit erteilen und überhaupt über ihr Schicksal verfügen konnte. Zu Gasts Zeiten hatte es nur eine einzige Sorte Menschen gegeben, jetzt gab es deren zwei, Herren und Diener, und zu letzteren gehörte Skur.

Als Gast ihr begegnete, lebte sie im Walde allein, hütete die Kühe und machte Käse aus der Milch, den ganzen Sommer über, schlief beim Vieh, und keiner verlangte mehr von ihr. Man sorgte, daß sie in Ruhe gelassen wurde; Mädchen, die das Vieh versorgen, müssen allein bleiben, wie diejenigen, die das Feuer hüten, jedes zu seiner Zeit; die Herrschaft auf dem Hof, wo sie diente, bestand aus ordentlichen Leuten. Sie selbst hatte einen Knüppel neben der Tür stehen, falls Jäger oder junge Leute des Nachts vorbeistreiften. Eine Männerhasserin aber war sie nicht und hatte sich ohne lange Überlegung dem fremden Gast hingegeben, weil er es so sehr wünschte und sie ihn sich erwählt hatte. Sie teilten die hellen Nächte miteinander, und Skur erlebte ihren Frühling.

Sie war Pil und dennoch nicht dieselbe. Wohl hatte sie Pils lieben, vollen Mund, doch war sie nicht so schlank wie sie; und ihr Haar war nicht blond, auch nicht schwarz, rot konnte man es auch nicht nennen, es hatte eine Farbe wie Torf; übrigens war es nicht sehr reich, es sei ihr davongeweht, sagte sie selbst. So kurz sie aber an Haaren war, so treu war sie an Gemüt, eine heiße, stumme Seele, die vor Dankbarkeit schwoll, weil sie sich geliebt fühlte. Plump war sie von Gestalt, fast erschreckend mit ihren derben Gliedern, aber unschuldigen Herzens, ein Bronnen von Güte und dazu frohen Sinnes, voll verhaltener Zärtlichkeit und von Glück strahlend, wenn nur die Sonne auf sie scheinen wollte.

Später sah Gast schönere und vornehmere Frauen, denn die Töchter der Freien im Tale waren blendend schön; Scharen von großgewachsenen, blonden, kühnen Bauerntöchtern, mit einem Meer von fessellosem Haar auf dem Rücken und einem Reichtum von Schmuck, funkelnden, neu gegossenen Ringen aus Bronze, bisweilen sogar aus Gold, um Arm und Hals, und eine Bronzesonne mitten auf der geschmeidigen Taille; wahrlich, eine Zierde, die für einen schönen Mädchenleib nicht zu groß war. Sie trugen kostbare Gewänder, schwere, wollene Röcke, die Unmengen von Garn verschlungen hatten und sicher ein Vermögen bedeuteten, aber beschwerlich zu tragen waren, besonders im Sommer; darunter hatte man aber auch nichts weiter an. Die neueste Mode war, daß man den Rock nicht, wie es natürlich gewesen wäre, in der Taille mit dem Gürtel zusammenhielt, sondern man band ihn hoch unter der Brust, so daß der faltige Rand die stolzen Bauernbrüste züchtig verborgen wie in einem Korb von Falten trug; sie zeichneten sich aber doch unter dem glatten, wollenen Mieder ab; so war die Mode im Tal, der alle sich fügten. Auf dem Kopfe trugen sie, wenn sie nicht mit ihrem losen Haar flaggten, eine kleine Netzhaube, worin das Goldhaar gefesselt war und wie ein schwerer Klumpen Goldes im Nacken hing.

Ein unvergeßlicher Anblick war es, wenn die jungen Bauerntöchter von ihren großen, mit Schwertern bewaffneten Vätern in bronzeverzierten Wagen mit einem Gespann von kleinen, schnaufenden Pferden, vorn und hinten von berittenen, lanzenschwingenden Jünglingen begleitet, von einem grünen Hof zum anderen gefahren wurden.

Gast aber blieb der grauen Magd treu, die ihm zuerst in einer Göttinnenglorie erschienen war und später sein Herz auf einfache Menschenart bereichert hatte.

Nicht allein die Menschen waren verändert, auch ihr Leben war ein anderes geworden, ja, das Land selbst hatte während Gasts Abwesenheit große Veränderungen erfahren.

Das erste, was Gast aufsuchte, war die Quelle im Tal, wo er und Pil gewohnt hatten. Sie war noch da, gab aber nicht mehr viel Wasser, und das tiefe Quelloch war zugewachsen, der Rasen hatte sich darüber geschlossen; der Wasserspiegel und was Gast und Pil darin gesehen hatten, war nicht mehr. Die Quelle sickerte jetzt aus einer Unkrautwildnis auf dem Hügel, viele kleine, rieselnde Sprudel, die sich zu einem dünnen Wasserlauf vereinigten, und der Bach, in den er floß, war auch nur ein kleines Gewässer.

Der große, tiefe Bach, der bis an den Rand gefüllt gewesen war, war eingeschwunden und verlor sich mit vielen umständlichen Windungen zwischen Wiesen, von Wasserpflanzen und Fruchtbarkeit eingedämmt; die Wiesen selbst waren trocken gelegt und von Menschenhand gepflegt und stießen auf der Talseite an offenes Ackerland, Lichtungen im Walde, die gerodet und für Ackerbau brauchbar gemacht worden waren; dort stand das Korn des Jahres in grünen, wogenden Feldern, wie zu Gasts Zeiten die wilden Weiden im Innern des Landes, jetzt aber wuchs dort nur eine einzige Grasart, die man der Kerne wegen zog. Und inmitten der grünen Felder lagen die Höfe.

Wo keine Breschen in den Wald geschlagen waren, stand er noch wie ehedem, weglos und verschlossen im Innern, und auch das Wild war noch dasselbe, wenn auch scheuer und seltener, wie Gast bald erfahren sollte.

Nur die Urochsen waren aus dem Walde verschwunden; ein Teil ihres Blutes war in die zahmen Ochsen übergegangen, die ihnen glichen, aber viel kleiner waren. Die Hirsche und Wildschweine aber waren noch da. Man hielt jetzt zahme Schweine auf den Höfen, außer Pferden, Schafen und anderen Haustieren, die ursprünglich nicht im Lande beheimatet gewesen waren; die Wanderung der Haustiere aber bildete ein seltsames Kapitel für sich. Durch das Verschwinden der Urochsen war der Wald viel stiller geworden; jetzt konnte man ihr großes Sonnengebrüll im Tale nicht mehr hören. Ihr Andenken aber war in den gellenden Tönen der Bronzehörner bewahrt worden, die hin und wieder durchs Tal klangen und es mit Tönen füllten, die entweder große Opferfeste oder Krieg kündigten, blutige Zusammenstöße zwischen Bauern, die sich nicht vertragen konnten und zahlreich gegeneinander zogen.

Die Menschen waren rücksichtsloser als früher; damals lärmte man ausdauernd und gefährlich, aber es wurde kein Blut vergossen, jetzt stach man sich stillschweigend auf der Stelle nieder, hatte die Messer länger gemacht; den Schmerz, den man bei dem bloßen Gedanken, anderen wehe zu tun, in der eigenen Brust empfand, schien man nicht mehr zu fühlen. Wenn darum die Hörner durch die Täler gellten, war Blut in ihrem Klang. Es war, als ob Paarungskämpfe und grimmige Streitsucht der Urochsen noch in der Luft lägen. Sogar in ihrer gebogenen Form erinnerten die Hörner an den Urochsen, aber man hatte ja auch in die Hörner der Urochsen gestoßen, bevor man sie in Metall nachahmte; das aber war schon so lange her, daß die Bevölkerung des Tales sich daran nicht einmal erinnerte; so lange war Gast fortgewesen.

War aber die Stimme des Urochsen in den Signalen wiedererstanden, mit denen die freien Bauern sich zum Zweikampf herausforderten, wenn Streitfragen wegen Grundbesitz ausgetragen werden sollten, so war die Urkuh in dem zahmen Vieh wiedererstanden, das in den Wäldern graste und sein friedliches Leben mit den stillen Leuten teilte, die nichts besaßen und das Vieh hüten und den Boden bebauen mußten. Hätte man die Sklaven gefragt, woher sie kämen, sie würden wahrscheinlich geantwortet haben, sie seien zu diesem Leben geboren. Wo sie denn geboren seien? In den Torfgräben oder Schweineställen, wo sie wohnten. Im übrigen aber waren sie nicht unzufrieden. Auf diese Weise hatte das Leben im Tal sich gespalten.

Viel Regsamkeit gab es dort, Unruhe für Augen und Ohr, ein unablässiger Verkehr auf den Landstraßen, die zu beiden Seiten des Tales von der Küste landeinwärts führten; kaum ein Tag verging, ohne daß man einem Mann zu Wagen oder Pferde begegnete, der es ungeheuer eilig hatte; und es war nicht wie früher ein Mann, den man kannte oder aus dessen Gebühren man auf sein Vorhaben schließen konnte; jetzt waren es immer fremde Gesichter, in denen man nicht lesen konnte, und sie hatten immer mancherlei vor. Ja, ja, das Leben war vielgestaltiger geworden, ließ sich nicht mehr überschauen.

Außer den Leuten, die über die Landstraßen eilten, sah man Sklaven bei der Feldarbeit oder Hirten; die wilden Tiere waren natürlich aus dem Tal geflohen, statt dessen aber waren die zahmen gekommen. Aus dem Tal stieg ein unaufhörlicher Lärm von Menschen und ihrer Gefolgschaft, Hundegebell aus jedem Winkel, Pferdegewieher und ferne Rufe, Kreischen von der Nabe eines ungeschmierten Rades, Gekräh der Hähne, fremder Vögel, die sich aufplusterten und die Luft mit ihrer dicken, schamlosen Stimme füllten; zahme Gänse reckten die Hälse nach einem Vorbeigehenden, armes Federvieh, das an die Erde gefesselt war und statt der Sphärenmusik ihrer beflügelten Zeiten schmalzige Töne aus der Kehle stieß. Aus den Gehöften, den Frauenkammern, kamen Katzen geschlichen, auch eingeführte Fremdlinge, die auf Pfoten mit Schlangenaugen durch das taufrische Gras schlichen, auf der Jagd nach eingeborenen, unschuldigen Feldmäusen. Immer bewegte sich etwas, immer klapperte etwas in den alten, früher so stillen Tälern, wenn es auch nur die Windmühlen der Kinder waren, die man am Hauszaun befestigt hatte. Ja, Reichtum und Leben war in das Tal eingezogen.

Gast suchte am liebsten den Wald auf. Auf der höchstgelegenen Stelle des Tales, in der Umgebung der Quelle, stand der Wald noch ziemlich unberührt, aber es war ein anderer Wald, sogar die ältesten Bäume waren andere als die, die Gast gekannt hatte; die alte hohe Esche an der Quelle war verschwunden; statt dessen befand sich dort ein kleiner Hain von mehreren kleinen Eschen, wahrscheinlich Wurzelschößlingen des großen Baumes, worin Gast und Pil einstmals ihr Nest gehabt hatten. Von dem Erdhause, in dem sie gewohnt, aber war keine Spur mehr da; die Stelle war von jahrhundertaltem Rasen bedeckt. Der Wald sauste, aber er sauste anders als früher.

Und der Wohnplatz an der Bucht im Fjord? Dort wohnte kein Mensch mehr und hatte seit Menschenaltern keiner mehr gewohnt; keine Spur von einer menschlichen Behausung war zu sehen, nur eine lange, flache Anhöhe am Ufer, von wilden Pflanzen überwuchert, zeigte noch an, wo der Wohnplatz sich befunden hatte. Wohl wohnten draußen an der Küste des Meeres Fischer, aber unter ganz anderen Verhältnissen, und sie hatten keine Überlieferung, daß sich jemals tiefer drinnen in der Bucht ein Fischerdorf befunden hatte. Sie hatten Boote gebaut und betrieben Meerfischerei auf dem Belt.

Auf dem Fjord, in dem Hafen einer beginnenden Stadt, lagen große Seeschiffe, so groß, daß der eichene Kahn, der jetzt zu einer Jolle herabgesunken war, wie ein Junges neben dem großen Schiff lag, das ihn im Schlepptau hatte. Um diese Schiffe kreiste Gast lange von weitem, musterte sie fast furchtsam, ging in weitem Bogen um sie herum, näherte sich ihnen nur langsam; soviel Wunder auf einmal konnte er nicht fassen.

Die Schiffe verkehrten zwischen fremden Ländern! Einige waren so groß, daß sie außer der Ladung zwölf bis zwanzig Mann an Bord haben konnten! Sie erweiterten die Seele mit ungeheuren schwebenden Vorstellungen von jenen fernen Reichen, woher sie kamen, eine ganz andere Freiheit als jene, in die Gast sich verloren hatte; waren es doch jene geheimnisvollen Länder, woher all dieser Reichtum ins Tal gekommen war, die Metalle, Haustiere und Ackerbaukenntnisse – und Gast ging stumm herum, schwieg und versuchte auch seine innere Stimme zum Schweigen zu bringen: hatte das Leben ihn nicht zum Narren gehalten, trotz allem, was er gesehen?

Er, der gereist war, um Entdeckungen zu machen, konnte nun, zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, erst anfangen, auf Entdeckungen zu gehen, so war die Zeit ihm davongelaufen. Würde es ihm gelingen, Anteil zu bekommen an dieser vollkommen neuen Welt auf altem Boden?

Indem er die Verhältnisse nach und nach durchdrang und verstehen lernte, gaben das Tal und alle seine Lebensäußerungen ihm ihre stumme Antwort. Die Gehöfte blieben für ihn verschlossen. Sie sprachen mit offenen, grünen Äckern, waren aber eingefriedigt; der Bauer und sein Geschlecht besaßen den Boden, und der Wald ringsum gehörte mehreren Geschlechtern gemeinsam, bis dorthin, wo das Eigentumsrecht anderer Geschlechtsgruppen in anderen Tälern jenseits des Waldes begann; alle Täler rings um die Insel waren ebenso stark bevölkert wie dieses. In der Mitte des Landes stießen die Grenzen wohl noch in meilengroßen Wäldern, die unbebaut waren, zusammen, von allen Seiten aber wurde Eigentumsrecht geltend gemacht, und darum ließen sich hin und wieder die Hörner vernehmen und saßen die langen Stichschwerter so lose in der Scheide. Gast, der keine Verwandten besaß, konnte nicht auf Land rechnen.

Die Bauern wohnten auf ihren Gehöften in Häusern aus schwerem Zimmerholz, viele verschiedene Häuser auf einem Grundbesitz, die alle eingezäunt waren; man konnte sie wohl besuchen, denn die Bewohner waren bewaffnet und fürchteten niemand; wie ein Wandersmann an dem wütenden Kettenhund, der am Eingangstor um sich selbst herum tanzte, vorbeikommen wollte, das blieb seine Sache. Die Bauern konnten auch recht freundlich gegen einen Wanderer sein, besonders wenn er etwas zu erzählen hatte und Sängergaben besaß; dann bewirtete man ihn reichlich und wies ihm Herberge auf dem Boden oder im Stall an, je nach seinem Aussehen, doch nahm man an, daß er tags darauf weiterziehen würde.

Bald merkte Gast, wohin er gehörte. Wer er war und woher er kam, wußte niemand, niemand fragte danach, und er äußerte sich auch nicht darüber; doch hatte es sich herumgesprochen, daß er mit der Kuhmagd Skur im Walde Freundschaft geschlossen hatte. Keiner sagte ihm ein böses Wort darüber, doch war es gleichsam, als ob man sich ein wenig höher aufrichtete, wenn man an ihm vorbeiging. Abgesehen davon, daß er als Fremder dadurch unwillkürlich selbst seinen Stand gewählt, hatte er damit gleich anfangs einen kleinen Rechtsbruch begangen, da eine noch nicht, aber wahrscheinlich bald sichtbare Veränderung des Mädchens, das Eigentum eines anderen verringern würde.

Und ganz richtig, im Laufe des Sommers begann Skur kurzatmig zu werden, wenn sie hinter den Kühen herlief. Zur selben Zeit hatte Gast seine Stellung erkannt und eingesehen, daß seines Bleibens hier nicht sein könnte. Anfangs hatte eine gewisse Neugierde ihn auf den Gehöften beliebt gemacht, er konnte ja so sonderbar die Harfe schlagen. Die großen Bauerntöchter wurden bewegt, wenn er ungeahnte Welten über sie hinbrausen ließ; ihre weitgeöffneten Blicke aber gingen durch ihn hindurch, sie hatten Visionen, sahen aber nicht ihn. Und sahen sie ihn wirklich, so wurden ihre Augen zu Eis, und sie hoben die Nase, als ob sie den Stall röchen.

Gast beneidete die Bewohner der Gehöfte nicht. Sie lebten in einem Reichtum, den sie nicht genossen, weil sie nach mehr verlangten. Trocknes Brot war nicht mehr gut genug, man war unzufrieden, wenn man nichts dazu bekam; sich selbst im Walde verpflegen, wie man es früher getan hatte, das gab es nicht mehr; sogar die Sklaven klagten, daß sie hungrig seien, wenn sie nicht ein Brot zwischen den Händen hielten. Und das in einem Maikäferjahr!

Gast hätte leicht einen Erwerb finden können, wenn man ihm einen Platz gegönnt hätte. Gern wäre er Fischer geworden, erfuhr aber, daß man dem Bauern, der das Strandrecht besaß, für den Boden eine Miete und von dem Fang eine Abgabe bezahlen müsse. Das paßte ihm nicht. Am Fjord, wo die Schiffe anlegten, hatten sich einige lose Existenzen zusammengefunden, die, ohne Boden zu besitzen, sich auf verschiedene Weise ernährten; dort wohnte unter anderen der Bronzeschmied, der die schönen Waffen und Schmuckgegenstände aus Metall verfertigte. Nachdem Gast ihm mehrmals bei der Arbeit zugeschaut hatte, begriff er sie und bekam Lust dazu; nachdem er sich aber selbst eine gute Art und ein Messer gemacht hatte, war seine Lust befriedigt; für andere zu arbeiten, wenn es auch gegen Bezahlung war, behagte ihm nicht. Wie er sich auch wendete und drehte, immer geriet er in Abhängigkeit von anderen.

Darum floh er mit Skur in den Wald, machte sein Schuldmaß voll. Als Frauenräuber war er jetzt wieder vogelfrei, wie er es schon einmal gewesen.

Diesmal aber lag die Sache nicht so einfach. Allerdings konnte er sich und seine Familie im Walde als Jäger ernähren, auf die Dauer aber fiel es ihnen schwer, sich verborgen zu halten, sogar im entlegenen und bewaldeten Innern der Insel. Schweinehirten tauchten bisweilen auf oder Jäger schnüffelten dort herum; an einen festen Wohnsitz aber war nicht zu denken, und ohne einen solchen konnte man wohl im Sommer, nicht aber im Winter hausen.

Darum zimmerte Gast sich wieder ein Fahrzeug am seeländischen Strande, an einer entlegenen Stelle, wo man ihn nicht so leicht aufspüren konnte, und als die Zugvögel sich scharten, brach auch er auf und fuhr mit Skur außer Landes zu anderen Küsten.


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