Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

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Ein Junitag sah festlichen Aufzug auf dem Alten Markt, von dessen Boden die Blutfarbe weggescheuert worden; die ganze Stadt drängte sich Kopf an Kopf auf dem Platz und in den anstoßenden Gassen zusammen, um dem Hochzeitsgang des Siegers vom Dänholm beizuwohnen, Glockengeläut wogte von allen Türmen. Herr Nikolaus war ein sparsam beflissener Hausvater, doch er hatte für seinen Sohn und dessen Braut bis zur Sankt Nikolaikirche lündisches Tuch legen lassen; darauf führte er seine neue Tochter hinüber, und ihr Vergleichbares hatte Stralsund niemals gesehen. Nicht Ähnliches an königlicher Pracht, in der das Enkelkind Claus Störtebekers dahinschritt, doch noch weniger an zauberischer Schönheit einer Braut. Menschenalterlang neideten Volkslieder auf den Gassen Jörg von der Lippe um sein junges Weib.

Anders sah's um die gleiche Zeit drüben am Noresund aus, dort bewegte sich durch die Straßen Kopenhagens ein spärliches Totengeleit, das die Königin Philippa zur Gruftstatt brachte. Ihre Hoffnung, sich die Gunst ihres Gemahls zu gewinnen, war von der dudeschen Hanse zerschlagen worden; in Grimm und Wut als Flüchtling heimgekehrt, hatte er ihr den Dank für die siebenundsiebzig Schiffe mit wilder Mißhandlung entrichtet, und zehrender Gram legte die noch jugendliche Plantagenettochter früh in den Sarg. So erlebte sie's nicht mehr, daß Schweden sich gegen den Unionskönig auflehnte, rasch danach Norwegen das Gleiche tat und dann auch Dänemark ihn durch einen Absagebrief seiner Reichsräte vom Thron hinabstieß, den sie seinem Schwestersohn, dem Pfalzgrafen Christoph von Bayern, darboten. Der Tag von Stralsund war's, der sein Geschick entschieden und die Hanse zum alten Glanz, zu festem Zusammenschluß wieder emporgehoben hatte; auch das lau gewordene Lübeck trachtete jetzt danach, sich seines Ruhms und Ranges als Bundeshauptstadt aufs neue würdig zu erweisen, um nicht, von der mächtig an Ansehn aufgestiegenen Nachbarstadt am Strela-Sund überflügelt, Vorrang und Führung der Hanse einzubüßen.

Erich von Pommern aber führte jetzt aus, was er als Knabe abenteuerlich im Sinn getragen. Bei Nacht und Nebel verließ er mit den Krongesteinen seiner verlorenen Reiche und den von ihm angesammelten Reichtümern seine Kopenhagener Schloßburg und fuhr nach der Insel Gotland hinüber. Dort setzte er sich in der verfallenen, einst von seinem Urältervater Waldemar Atterdag durch Truglist eroberten und zerstörten Stadt Wisby fest, rüstete Schiffe, für die er tollverwegenes Volk anwarb, und ward zum Seeräuber; Henning Manteuffel und Hanns Moltke scheinen ihn mit ihrer reichen Erfahrung dabei als Hauptleute unterstützt zu haben. Seine Hand war gegen alle, mit gleichem Rachedurst überfiel er jeden hansischen und skandinavischen Kauffahrer, den er überwältigen konnte, schleppte ihn als Beute in seine Felsschlupflöcher an der verrufenen Inselküste heim.

Eine Anzahl von Jahren verbrachte Gesa, die Mutter, im Stralsunder Hause Jörgs von der Lippe, schaukelte, anscheinend ruhig-befriedigt, sich mehrende Enkel auf ihren Knien, spielte mit ihnen und lachte dazu mit dem eigenartig hellen Klang. Doch eines Morgens war sie über Nacht verschwunden, hatte hinterlassen, sie wolle das Kreidehaus auf Jasmund noch einmal aufsuchen, komme von dort zurück. Sie kehrte aber nicht wieder, blieb verschollen, und erst nach Jahren ward durch Zufall kund, daß jemand sie auf Gotland gesehen habe. Von unbezwinglichem Drang getrieben, war die Seeräubertochter zu dem Seeräuber gegangen, der sie einst in der Mondnacht auf Wollin zwischen den Trümmerresten der Palnatoteburg angetroffen. Das Alter mochte die Erinnerung daran wie schwellende Flut in ihr wieder aufgeweckt und den Haß aus ihrem Blut weggeschwemmt haben; so hatte sie's zu dem früh gealterten und verwitterten Nachfahren der alten Vikinger hinübergedrängt, im Gefühl, daß sie unlösbar zu ihm gehöre, das Mißgeschick seines Ausgangs teilen müsse. Denn übel erging's ihm mehr und mehr; auf dem ›Hansetag‹ war schon öfter gefordert worden, man solle zurüsten, mit Gewalt das Raubnest auf Wisby auszunehmen, doch Lübeck hatte halb spöttisch, halb aus einem Mitleid mit der gefallenen Größe gegengehalten: der arme König müsse doch etwas haben, wovon er sich nähre; seltsame Widersprüche vereinigte die Zeit in sich. Dann aber handelte Karl Knudson, der neue König von Schweden, mit weniger Schonung, verjagte den Seeräuber aus seinem gotlandischen Felsenhorst, und über das baltische Meer floh Erich von Pommern in die ärmliche Väterburg bei Rügenwalde zurück, von wo einst Margarete Sprengehest ihn vor einem halben Jahrhundert auf den Thron der nordischen Reiche berufen. Dorthin soll ihn ein weißhaariges Weib mit noch schön erhaltenen Antlitzzügen begleitet und am Strande, der seine Knabenspiele gesehen, ihn manchmal als schwach auf den Füßen einherschwankenden Greis mit ihrem Arm gestützt haben. Die letzte Kunde aber von Erich von Pommern berichtet, daß er, auch darin seinem Ahnherrn Waldemar nachgeartet, am Schluß seiner Tage mit dem Gleichmut eines Weisen auf sein vielbewegtes Leben zurück und auf die Eitelkeit alles vergänglichen irdischen Hoheitsglanzes niedergesehen. – – –

Die Macht der dudeschen Hanse ist seit langem von den nordischen Meeren weggeschwunden, die sie nicht mehr mit ihren Orlogskoggen beherrscht. Jahrhunderte hindurch ging der reiche Handel der Seestädte und mit ihm ihre Blüte zurück, abhängig von der Überkraft und Willkür derer geworden, denen sie ehemals ihre Gebote vorgeschrieben. Vom zerrissenen römischen Reich deutscher Nation im Stich gelassen, wurden die Osterlinge und Westerlinge zum Spielball und Spott der Holländer und Engländer, selbst des kleinen Völkchens der Dänen.

Lernen wir etwas aus der Betrachtung der Vergangenheit, der Geschichte des Hansebundes? Eines gewiß, die unumstößliche Wahrheit des Wortes von Spinoza, daß jeder nur so viel Recht besitzt, als er Kraft hat, es zu behaupten. Und die Hanse lehrt, daß dazu nicht allein die Herrschaft auf der See gehört, sondern zu ihrer Forterhaltung auch die feste Zusammenfassung der Kraft unter einen Willen, eine gebietende Führung.

Die hansischen Koggen wären heute trotz ihren stolzen Kastellen ohnmächtige Kinderspielzeuge. Unsere Tage fordern zu dem eisernen Willen auch eisern gepanzerte Schiffe. Die zu schaffen, jedem Widersacher an Zahl und Kraft ebenbürtig, ist die oberste, die drangvollste Pflicht des neuen deutschen Reiches, und dann: »Hier wieder dudesche Hanse rund um den Erdball!«


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