Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

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Die Weltgeschichte ist ein seltsames Buch, zugleich von unerschöpflichem und von einfachem Inhalt. Auf jeder seiner zahllosen Seiten bringt es Neues, zuvor noch nicht Gewesenes, und doch wiederholt es auch immer nur Altes, schon früher Geschehenes. Seine Berichte sind mehr trübe als freudig, dienen dem Lesenden seltener zu einer Emporhebung, als zu einer Bedrückung des Gemüts. Nicht häufig erfüllen sie ihn mit einem Stolzgefühl, der Menschheit anzugehören, von deren Trachten und Tun das Buch Zeugnis ablegt. Denn kaum findet sich ein Blatt darin, das nicht mit Blutflecken bedeckt wäre. So weit Überlieferungen zurückreichen, verkünden sie gleichmäßig bei allen Völkern der Erde, den geistig vorgeschrittenen, wie den niedrigststehenden, wenig von einem goldenen Zeitalter des Friedens, der Eintracht und Freundschaft, genügsamer, gerechter und menschlicher Sinnesart. Fast überall vernehmen wir nur von eiserner Zeit unterlaßloser Kämpfe und Kriege, der Gewalttat, Herrschsucht und Willkür, des Hasses, der Habgier und Grausamkeit. In stille Verborgenheit des Einzeldaseins zieht das Edlere, das Milde und Schöne sich zurück; auf der weiten Schaubühne des Lebens toben mit seltener Unterbrechung die Zwietracht, der Streit, von der Eigensucht erzeugt und die Roheit nährend.

Lernen wir etwas aus der Betrachtung dieser Weltgeschichte, oder führt sie uns nur millionenfache Auftritte eines sinnlos verworrenen Lärmstückes vorüber? Fast will's so erscheinen, daß die Nachfolger äußerst geringen Erfahrungsnutzen aus der Hinterlassenschaft ihrer Vorgänger ziehen. Bei allen Wandlungen der Zeiten bleiben die Bedingungen des Menschheitslebens die nämlichen, und aus ihnen erwachsen die gleichen Triebe und Taten. Einen Besserungsvorschritt haben die letzten Jahrhunderte wenigstens in der Mehrzahl der Länder Europas, die sich Kulturlandes benennen, gebracht, innerhalb desselben Volkes den mittelalterlichen Kämpfen aller gegen alle ein Ende gesetzt. Daß es möglich sei, dem Drängen der selbständigen Völker wider einander jemals durch Schiedssprüche ein gleiches Ende zu bereiten, ist eine Torheit, die nur in einsichtslosen Köpfen ihr kindliches Wesen treiben kann.

Denn eines lernen wir doch als unabänderlich aus der Weltgeschichte, die Wahrheit des Ausspruchs Spinozas: » Unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet«. Dem verlieh der große Friedrich mit anderem Wort Ausdruck, als er seinen Kanonen die Inschrift eingraben ließ: » Ultimo ratio regis«; in unseren Tagen würden wir sie in » Ultimo ratio nationis« umwandeln. Die Geschichte lehrt, daß es stets so war, als eine Naturnotwendigkeit, die man beklagen, doch nicht ändern kann, so ist und in aller Zukunft so bleiben wird. Prägen auch die Kulturvölker ihrem Staatsgebäude die goldene Inschrift auf: Jus fundamentum civitatis, die Geschichte aller Zeiten, und nicht am wenigsten die der neuesten lehrt, daß zwischen Völkern einzig die Kraft das Recht behauptet.

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So sahen auch die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts fast alle Länder Europas von Stürmen und Ungewittern übertobt, in manchem noch wilderer Art, als das vergangene sie gekannt. Im Westen warf der König Heinrich V. von England seine Heermassen über den Kanal, dem schwachsinnigen König Karl VI. von Frankreich Krone und Reich zu entreißen; jahrelang durchwatete und verwüstete der Krieg die französischen Lande. In kleinerem Maße vollbrachte gleiches der Herzog von Burgund, ›Philipp der Gute‹ benannt, bemächtigte sich gewaltsam der Besitztümer Jakobäas von Holland, trennte dies, den Hennegau und Luxemburg, alte deutsche Lande, vom deutschen Reich ab, das bald danach auch das Herzogtum Lothringen an einen Verwandten des französischen Königshauses verlor. Eroberungssucht und Beutegier schwangen von den Thronen herab die Brandfackel über Städte und Erntefelder; neben dem im Tageslicht sich rotfärbenden Schwert des Soldknechts schlich im Dunkel der Dolch des Meuchelmörders, von Fürsten gegen Fürsten abgesandt. Die Bluttaten der Hochstehenden verzeichnete die Geschichte, den Untergang und Jammer der Niedrigen begrub sie wie immer unter dem Bahrtuch des Schweigens und der Vergessenheit.

Eine Zeit der tiefsten Schwäche des ›Heiligen römischen Reichs deutscher Nation‹ ist's, von den Namen der drei Kaiser Wenzel, Ruprecht von der Pfalz und Sigismund gekennzeichnet. Die kaiserliche Macht hat sich zur Ohnmacht, zum Spott und Spielzeug ihrer Gegner verwandelt, der kleinen, wie der großen. Im Innern des Reiches sprechen ihr Hunderte von unbotsamen Kurfürsten, Herzögen, Grafen, Bischöfen und Herren aller Arten Hohn, sich bald so, bald so untereinander und gegeneinander verbündend. In rastlosen Kämpfen unterliegt der Schwächere, erbeutet der Stärkere Gewinn; als selbstverständlich sieht die Zeit es an. Denn der ›Landfrieden‹ steht als Satzung nur auf dem Blatt, überall fehlt die Kraft, ihm Geltung zu erzwingen. Sowohl dem Großen gegenüber, wie dem kleinen Faustritter, dem gemeinen Buschklepper. Wie auf den Schlachtfeldern entscheiden auch auf den Straßen und Wegen nur die besseren Waffen, behüten den einzelnen vor Überfall und Raub. Das Recht hängt allein von der Kraft ab; hilf dir selbst! ist der Wahlspruch aller.

Von außen her drohen die Türken, fressen unterlaßlos am siechen Körper des Reichs, dessen Heerkräfte zugleich mehrfach in der lombardischen Ebene ihr Grab finden. Doch das furchtbarste Brandgeschwür an seinem Leibe bildet Böhmen, vom Hussitenaufstand durchtobt, den die Verbrennung des Reformators Johannes Huß, trotz kaiserlicher Geleitszusicherung, ins Ungeheure entzügelt. Ein Krieg, so voll an Greueln, mit solchem Lodern des Hasses, des Ingrimms, der Todesverachtung und tierischer Wut geführt, wie's die Welt noch selten gesehen. Die rächenden Vergelter des Treubruches Kaiser Sigismunds begnügen sich nicht mit seiner Demütigung, sondern tragen in verheerenden Kriegszügen den Schrecken ringshin weit in die deutschen Lande hinein. Mit besonderer Gewandtheit bedienen sie sich des schon seit mehr als einem Jahrhundert bekannten, doch bisher noch wenig zu erfolgreicher Anwendung gelangten Schießpulvers, und ihr grobes Geschütz erhöht überall das Entsetzen ihrer wilden Anstürme.

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Aus dieser Zeit der Zerspaltung, Ohnmacht und Erniedrigung des Reiches, der scheulosen Gewalttat, Recht- und Treulosigkeit hebt sich eine neue, seltsame und doch menschlich wohl begreifbare Erscheinung auf. Schon seit zwei Jahrhunderten ist sie in ihren Anfängen hervorgetreten; die bedeutendsten Städte des Reiches sind hinter fester Ummauerung durch das Anwachsen ihrer Bevölkerung und ihres Wohlstandes erstarkt, fühlen sich gleicherweise von der Unsicherheit aller Zustände, der Willkür fürstlicher und adliger Herren bedroht und die Notwendigkeit eines Schutzes dagegen aus eigener Kraft. So haben sie, besonders am Rhein und in Oberdeutschland, sich in mannigfacher Richtung von ihren Oberherren unabhängig zu machen gesucht, zur Erreichung dieses Ziels Bündnisse untereinander geschlossen. Fraglos sind diese städtischen Gemeinschaften die hervorragendsten, wenn zu der Zeit nicht die einzigen Vertreter des Rechtssinnes und vorschreitender Bildung; aus dem Bürgertum hebt sich der Beginn einer langsam aufdämmernden neuen Weltanschauung empor. Doch verfolgen sie bei ihrem Zusammenschluß nicht ideale Zwecke, sondern lediglich praktische, vor allem die Sicherung und Förderung ihres Handels, des Fundaments ihres Wohlstandes und ihrer Kraft. Unbewußt aber bahnen sie damit auch einen geistigen Fortschritt an, werden zu Aufhellern der mittelalterlichen Finsternis, gleichwie der Genueser Colon westwärts den Seeweg nach Indien suchte und eine neue Welt entdeckte.

Diese Bestrebungen der größeren Städte reichen mit ihren Anfängen schon bis ins 12. Jahrhundert zurück, jedoch erst die zweite Hälfte des 13. gewahrt die Entstehung eines Bundes an den nordischen Meerufern Deutschlands, der, mählich sich ausdehnend, ungefähr mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts zur höchsten Stufe seiner Entwickelung aufsteigt. Eine Vereinigung der seehandeltreibenden Städte an der Nord- und Ostsee ist's, die nach der gleichen Sicherung auf dem Wasser trachten wie auf den Landwegen. Die Schiffe jeder einzelnen sind hilflos der Übermacht fremdländischer Fürsten und hohnlachender, wilder Seeräuber preisgegeben; so haben sie beschlossen, mit vereinten Kräften sich Recht und Schutz zu erzwingen. Zuerst nur wenige der größeren, zu einem tastenden Versuch, doch rasch verdoppelt, verzehnfacht sich die Zahl. Auch die kleineren erkennen ihr Heil in dem Anschluß, erhöhen durch zahlreichen Beitritt die Stärke der Gesamtheit; nicht nur am Meer belegene, ebenso die handeltreibenden Städte im niederdeutschen Binnenland, die nicht durch gewappnete Schiffe und Waffenträger, doch durch Geldbeisteuer die Macht des Bundes vermehren und dafür sich unter seiner Obhut bergen. Jetzt erstreckt er sich von der esthländischen Küste bis zur niederländischen an der Grenze Frankreichs, mehrfach sogar bis gegen Oberdeutschland hinauf.

Es ist ein stolzklingendes Wort, das zu jener Zeit die ganze Nordwelt Europas durchhallt: »De dudesche Hanse« – die deutsche Hansa. Der Ursprung des Namens liegt im Dunkel; ›Hans‹ oder ›Hansa‹ bezeichnet schon im Gotischen und Althochdeutschen eine Genossenschaft, eine Kaufmannsgilde. Und als solche tritt die deutsche Hansa ins Leben, als ein Bund des ›gemeinen Kaufmanns,‹ wie die Zeit ihn nennt, das heißt, der vereinigten Allgemeinheit der Kaufleute.

Eine seltsame, nur aus den wirr-schwankenden Zuständen jener Jahrhunderte erklärbare Genossenschaft. Mit wenig Ausnahmen keine Verbündung freiselbständiger Städte, die große Mehrzahl ist Landesherren untertan, jede einzelne, dieser Angehörigkeit gemäß, dem ihrigen verpflichtet, seinem Geheiß unterworfen. Und doch stehen in der Gesamtheit der ›Hanse‹ alle unabhängig, selbst ihr Wollen und Tun bestimmend, da; es entspringt der Kraft des Zusammenschlusses, den die Herrschsucht und Habgier der unter sich zerspaltenen Fürsten nicht anzutasten wagt. Sie haben es bei dem Versuch einer Gewalttat nicht mit ›ihrer‹ Stadt zu tun, sondern mit dem Bündnis des ›gemeinen Kaufmanns‹ im ganzen deutschen Norden. Mit den wehrhaften Bürgern, der Geldmacht und Mauerfestigkeit, den mit Feuergeschützen ausgerüsteten Kriegskoggen aller zu Schutz und Trutz vereinigten Städte.

Es ist ein hochtönendes, viel Schrecken wachrufendes, viel heimlichen Ingrimm zum Lodern schürendes Wort: De dudische Hanse. Mit niederdeutschem Namen nennen sie sich, denn plattdeutsch ist ihre Sprache.

Gewaltiges umschließt das Wort an klugem Ratschlag, Kraft und zielbewußter Tat, an Ausdauer und Vergangenheit, doch, der Unbeständigkeit aller irdischen Dinge unterworfen, bleibt die Hansa auch während ihres höchsten Glanzes von inneren Zwistigkeiten, Zerwürfnissen, Neid, Wankelmut und Abfall nicht frei. Oft durchtobt auch die Straßen der Städte lauter Aufruhr, Parteien, Geschlechter und Zünfte bekämpfen sich in ihnen auf Leben und Tod; hier und dort wird das bestehende Regiment der Burgemeister und Ratsherren gestürzt, ein neues aufgerichtet. Das Blut der Unterliegenden färbt den Richtplatz, oder noch rechtzeitig entkommen, rufen sie sich Beihelfer von auswärts, um ihre Herrschaft zurückzugewinnen; Bestechung, Verrat und Verschwörung drängen sich ein, lähmen nicht selten von den erkrankten Gliedern aus die Kraft des Gesamtkörpers zu schwerer Schädigung für ihn auch nach außen. Und dem bewußten Unrecht, mit dem die fürstlichen Machthaber überall die Zwecke ihrer Eigensucht verfolgen, ihrer Härte, Wildheit und grausamen Unmenschlichkeit setzen die trotzigen Bürger der Hansestädte mannigfach ebenso bewußt das Gleiche entgegen. Denn die weichmütige Schwäche büßt Recht und Besitz ein, einzig die eiserne Faust verbürgt Sicherung und Gewinn.

Aber trotz solchen Wechselfällen steht im Beginn des 15. Jahrhunderts die deutsche Hansa als beherrschende Macht auf der Ost- und Nordsee von der russischen Küste bis zur englischen da, hat ihr Hauptziel, sich die drei skandinavischen Reiche, Dänemark, Norwegen und Schweden, botmäßig zu machen, erreicht. Sie hat nach langem Kampf ihren größten Gegner, den Dänenkönig Waldemar Atterdag, zu Boden gebrochen, von Thron und Reich verjagt, daß der ehedem auf seine Allmacht Überstolze landflüchtig, fruchtlos um Beihilfe bettelnd, in die Fremde geirrt. Sie schreibt den skandinavischen Ländern Gesetze vor, setzt dort Könige ab und ein. Denn die deutsche Hansa, nur aus handeltreibenden, den verschiedensten Oberherren ungehörigen Städten zusammengefügt, der ›gemeine Kaufmann‹ ist die gebietende Großmacht des Nordens geworden, weil er die See beherrscht.

An der Spitze des Bundes als allseitig anerkanntes Haupt steht Lübeck, neben ihm treten von Anfang her vier seiner Nachbarn an der Ostsee hervor, Wismar, Rostock, Greifswald und Stralsund, das letztere nach Lübeck die zweite Rangstelle einnehmend. Diese fünf tragen den Namen der ›wendischen Städte‹; mit allen übrigen zum Ostseegebiet gehörigen bilden sie die ›Osterlinge‹, auf denen die Hauptkraft der Hansa beruht. Doch stehen ihnen im Westen, als die wichtigsten Bundesglieder an der Nordsee, die ›Westerlinge‹ Hamburg, Bremen und Emden nicht nach, vor allem das niederländische Brügge, das an Schiffzahl und Reichtum hervorragt; die ›Brüggelinge‹ gelten als die feinsten unter den ›Hansen‹, geben lange Zeit hindurch in der Kleidung und im Benehmen den ›guten Ton‹ an. Im ganzen haben schon an den Kriegen gegen Waldemar Atterdag weit über hundert Städte direkt oder indirekt Anteil genommen.

Das äußere Bild der hauptbedeutenden unter ihnen zeigt sich, trotz den weiten räumlichen Entfernungen, der Verschiedenartigkeit der Himmelsstriche merkwürdig übereinstimmend; die nämliche Bauart, die ›hansische‹, hat es gestaltet. Dorpat und Riga an der livländischen Küste, Wisby auf der schwedischen Insel Gotland, Amsterdam, Brügge, Köln, Soest und Münster bieten im allgemeinen dieselbe Erscheinung dar wie Bremen, Hamburg, Lübeck, Stralsund und Danzig. Über ihre trotzige, von breiten Gräben oder Wasserläufen umgürtete Mauerumwallung ragen, weithin sichtbar, hohe, nadelförmige Spitztürme der Kirchen empor, blicken auf ein Gewirr zumeist schmaler Gassen nieder, deren Häuser sämtlich hoch aufgetreppte, sich nur wenig unterscheidende Giebel in die Luft strecken; vielfach suchen überkragende Stockwerke nach oben die Wohn- und Warenräume zu erweitern. Mächtige Rathausgebäude stechen daraus hervor, gewaltige Kirchen, stolzblickende Patrizierhöfe und Gildehäuser. Alle Städte erfüllt dasselbe ›hansische‹ Leben, das Gleiche an Brauch und Tagesgewohnheit, Handels- und Gewerkbetrieb; überall, in Esthland wie in Holland, herrscht im Verkehr die niederdeutsche, die hansische Sprache vor. Der große Verband besitzt vier Hauptniederlassungen, ›Kontore‹, zur Wahrung und Betreibung seiner gemeinsamen Handelsinteressen, zu Nowgorod, Bergen in Norwegen, Brügge und London. Doch noch an vielen anderen Orten spricht ein ›deutscher Kaufhof‹, selbst im seinen Venedig ein Fondaco dei Tedeschi, von der stolzen Macht der ›dudeschen Hanse‹.

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