Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In das Haus Richlint Wulflams jedoch ging Jörg von der Lippe am andern Tag nicht, dagegen suchte er eines auf, das an der Papengasse in einem Hinterwinkel der Jakobikirche belegen war und stieg darin, zuletzt mehr auf einer Leiter als einer Treppe, hoch bis zum vierten Stockwerk hinan. In enger, dürftiger Giebelkammer hauste hier ein Mann mit langem, aschengrauem Haupthaar, der von der Mehrzahl der Bevölkerung Stralsunds gemieden wurde. Ein gelehrter Magister war's, des Namens Bertram Wigbold, er stand im Ruf, der Geisterkunde und schwarzer Künste mächtig zu sein; hauptsächlich aber flößte er Scheu ein als ein noch lebender Bruder Cord Wigbolds. Der war an der neuen Hochschule der Nachbarstadt Rostock gleichfalls Magister der Weltweisheit gewesen, doch hatte eines Tags sein Lehrkatheder mit dem Schiffskastell vertauscht, um als Genosse Claus Störtebekers und Godeke Michels einer der wildverwegensten und am meisten gefürchteten Likedeeler zu werden, bis schließlich der Meister Rosenfeld auch ihm auf dem Grasbrook in Hamburg den Kopf vom Rumpf abgeschlagen und seine Gliedmaßen aufs Rad geflochten. Das besonders umgab Wigbold mit Unheimlichkeit, doch nicht für den Burgemeistersohn, der sich vor nichts auf der Welt fürchtete als vor seinem Vater. Außerdem kannte er den Magister seit langem her, denn er hatte als Knabe Unterricht in der lateinischen Sprache von ihm bekommen; so setzte den Alten der Besuch heute nicht in Verwunderung. Nur kam's ihm bald zum Gefühl, daß seinen ehemaligen Schüler eine Absicht hergebracht habe, mit der er unschlüssig zurückhalte, nicht recht wisse, wie er sie ausführen solle. Dann indes sagte Jörg von der Lippe, wie er gestern an den hohen Kreidefelsen von Rügen vorübergesegelt, sei ihm dunkel in der Erinnerung aufgewacht, daß der Magister einmal davon gesprochen, der römische Geschichtschreiber Tacitus rede in einer seiner erhalten gebliebenen Schriften von der Insel; da habe ihn danach verlangt, zu erfahren, was dies sein möge. Den Wunsch konnte Wigbold ihm befriedigen, denn er hatte als kostbaren Schatz eine Abschrift der ›Germania‹ des Tacitus in seinem Besitz, aus der er jene Kunde geschöpft, und legte die hervorgesuchte mit der aufgeschlagenen Stelle vor Jörg von der Lippe hin. So weit aber reichte dessen Kenntnis der alten Sprache doch nicht, er mußte nach einem fruchtlosen Versuch den Magister um eine Verdeutschung bitten, und dieser übertrug ihm den kleinen Abschnitt:

»Sonst ist nichts bei diesen Völkerstämmen anzumerken, als daß sie gemeinsam die Göttin Nerthus, das heißt die Mutter der Erde verehren, die nach ihrer Aussage hier erscheint. Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Wald und in ihm, mit einem Gewand bedeckt, ein geweihter Wagen, den nur der Priester berühren darf; er erkennt die Anwesenheit der Göttin in ihrem Heiligtum und begleitet in tiefer Andacht ihren von weiblichen Rindern gezogenen Wagen. Dann sind frohe Tage und Feste an den Stätten, die sie ihres Kommens und Aufenthalts würdigt; keine Kriege finden statt und keine Waffen werden ergriffen, alles Eisen liegt verschlossen; dann allein ist Frieden und Ruhe bekannt und nur dann geliebt, bis derselbe Priester die ihres Umgangs mit den Sterblichen satt gewordene Göttin in ihren Tempel zurückführt. Alsbald werden dann der Wagen, das Gewand und – wenn man dem Glauben schenken darf – die Gottheit selbst in einem geheimen See gebadet; Sklaven sind dabei behilflich, die gleich danach dieser See verschlingt. Deshalb umgibt ein verschwiegener Schauer und heilige Unkundigkeit jenes Wesen, das nur solche, die dem Tode anheimzufallen bestimmt sind, erblicken.«

Bertram Wigbold fügte dem Vorlesen nach: »Es steht wohl in Zweifel, ob damit wirklich die Insel Rügen gemeint ist. Doch habe ich vernommen, daß von Leuten, die dort am Nordrande leben, ein Waldgewässer heutigentags der See der Hertha benannt werden soll.« Unbewußt flog Jörg hervor: »Ja, Hertha – und Geheimnisvolles liegt um ihren See – aber sie ist eine Jungfrau von Menschenart, nicht die Göttin, von der Tacitus berichtet.« Forschend hielt der Magister seine klugen, mit grünlichem Schimmer flimmernden Augensterne auf den Sprecher gerichtet, bevor er entgegnend sagte: »So waret Ihr am Lande bei dem Kreidefelsen der Stubbenkammer und habt selbst das mit Augen gesehn, wovon Ihr redet.« Nun erst geriet dem jungen Mann zum Bewußtwerden, daß ihm diese Kundgabe vom Mund gekommen sei; er zauderte kurz, doch stand dann auf und sprach: »Ihr habt mir die lateinische Schrift übersetzt, weil mein Verständnis dafür nicht ausreichte. Aber es mangelt mir noch für anderes, vielleicht finde ich auch zu dessen Aufhellung an Euch einen Beirat. Gelobt mir mit Eurer Hand, Ihr wollet vor jedem Ohr verschwiegen halten, was ich Euch kundtue.«

Der Magister gewährleistete die Anforderung mit seiner Hand, und Jörg von der Lippe berichtete ihm ausführlich von dem rätselhaft Unbegriffenen, das er auf Jasmund angetroffen. Wortlos gab der Zuhörende auf die Erzählung acht, erwiderte nach ihrer Beendigung: »Was Ihr zu wissen begehrt, kann ich Euch sogleich zur Stelle nicht sagen, doch Ihr seid mit Eurem Wunsch zu mir nicht fehlgegangen. Mein Gedächtnis bedarf der Unterstützung, die ich in einigen Schriftstücken nachsuchen will. Wollet Ihr, der Sohn des Burgemeisters dem noch am Leben verbliebenen Bruder des ehemaligen Seeräubers die Ehre antun, heute gegen den Abend wieder hier vorzukehren, so hoffe ich, Euch wenigstens in einigem die Auskunft, nach der Ihr Verlangen tragt, geben zu können.«

Als die Abenddämmerung herankam, trat Jörg von der Lippe zum andernmal an diesem Tag aus der Behausung des Magisters hervor; sein Gesicht überzog eine stark rote, von innerer Erregung zeugende Färbung, ein Ausdruck selbständigen, entschlossenen Willens füllte ihm die Augen. Er begab sich nicht zum Alten Markt in sein Vaterhaus zurück, sondern vors Tor an die lange Ladebrücke der Stadt hinaus, rüstete dort eine kleine, ihm gehörige einmastige Schute für eine Fahrt zu. Mit der segelte er ein Stück weit nordwärts am Hafenrand entlang, landete an und nahm eine hier wartende Gestalt auf. Rasch stieß das Fahrzeug wieder vom Ufer ab, lief bei günstigem Wind hurtig dem ›Gellen‹, der nördlichen Fortsetzung des Strelasundes, zu; über Rügen her stieg der Mond in die Höhe und machte dem am Steuer sitzenden jungen Schiffer gegenüber die Züge des Magisters Bertram Wigbold erkennbar. Unter der langen Insel Hiddensö hin durchzog die Schute den Gellen in die offne Ostsee hinaus, umbog im anbrechenden Morgenlicht das öde, nur von zahllosen Uferschwalben überschwärmte Vorgebirge Arkona an der Nordspitze Rügens, von der wendischen Urbevölkerung so als ›am Ende der Welt‹ benannt; ragend sahen von dem steilen Hang die Trümmer des zerstörten Tempels herüber, in dem die Slaven vordem das ungeheure Standbild ihres obersten Gottes Swantewir verehrt hatten. Nun legte Jörg von der Lippe das Ruder herum, und das vollgebauschte Segel fing durch die breite Bucht der ›Tromper Wiek‹ südwärts der im Frühsonnenstrahl weiß aufschimmernden Kreidefelsenküste von Jasmund entgegen.

*

Neues sah die nordische Welt und doch Altbekanntes, als ob die Toten aus ihren Gräbern aufgestanden seien, erschienen die Tage der Großväter bei den Enkeln und ihren Söhnen wiedergekehrt. Einst hatte der Dänenkönig Waldemar Atterdag sich dort zur höchsten Macht aufgeschwungen, die Herrschaft rings um die Ostsee behauptet, bis siebenundsiebzig Städte der dudeschen Hanse sich verbunden, ihm Absage getan und ihn nach langen, blutigen Kämpfen aus seiner stolzen Höhe zu Boden geworfen. Jetzt saß auf dem Thron der vereinigten skandinavischen Reiche sein Urenkel Erich von Pommern, gegen ihn lag die Hanse unter der Führung ihrer Oberhäupter Lübeck, Hamburg, Stralsund, Rostock und Wismar im Krieg, und ähnliche Ereignisse wie ehemals, Glückswechsel, Fehlschläge und Mißgeschicke, erneuten sich. Um die Lande Schleswig und Holstein, in die der König eingebrochen, schien sich's zu handeln, doch die Städte erkannten, auf sie sei's abgesehen, und leisteten den Angegriffenen Beistand. Eine mächtig von ihnen ausgerüstete Flotte verbreitete wilden Schrecken in allen deutschen Gewässern bis zum Kattegatt hinauf, viel Unbegreifbares aber folgte danach. Bei einem nächtigen Ansturm gegen die Mauern der Stadt Flensburg verlor der junge, schon weit als Kriegsheld berufene holsteinische Graf Heinrich sein Leben; die Schuld daran trug Trunkenheit des Hamburger Flottenführers Johannes Kletze, der nach diesem Unheil mit seinen Schiffen heimsegelte. Doch in Hamburg empfing ihn die wild aufgebrachte Stadt, wie Lübeck einst seinen Flottenhauptmann Johann Wittenborg, als er bei Helsingör der List König Waldemars und seiner schönen Tochter Ingeborg unterlegen war. Tausendfältig tobte die Volkswut, ein Verräter gleich jenem sei er gewesen, und, wie einst der Kopf Johann Wittenborgs fiel der Johannes Kletzes unter dem Henkerschwert. Auch in Wismar traf gleiches Geschick den Burgemeister Johann Bankskow, der des Anteils an dem Verrat beschuldigt ward; die Burgemeister von Rostock retteten ihr Leben nur durch schleunige Flucht. Und Schlimmeres noch, dazu fast Rätselhaftes, begab sich nicht lange nachher. Eine neue Hansemacht, aus gewaltigen, mit vielen Feuergeschützen besetzten Orlogschiffen bestehend, lief unter dem ›gemeinen Hauptmann‹ Tiedemann Steen, einem Burgemeister Lübecks, in den Sund aus, um einer von Hispanien her heimkehrenden, reichbeladenen Handelsflotte sicheres Geleit zu geben. Doch der Ortsverhältnisse unkundig, wurden die Hamburger Schiffe unter ihrem Führer Heinrich Höper von schwächeren dänischen in seichtes Wasser verlockt, dort überwältigt, vernichtet oder erobert, während Tiedemann Steen schwedische Gegner siegreich in die Flucht trieb. Trotzdem verließ er danach unerklärlicherweise den Sund, kehrte zur Trave zurück, und die vertrauensvoll ansegelnde Handelsflotte fiel beinahe gänzlich in die Hände der Feinde. Weil er Sieger in der Seeschlacht geblieben, entging er in Lübeck dem Richtschwert, ward nur zu lebenslanger Haft in einen Turm gesetzt; über die reiche Beute frohlockend aber weidete sich König Erich am Schimpf, der Ohnmacht und dem Niedergang der Hanse. Sie mußte dafür büßen, daß sie die Vereinigung der drei Reiche in einer Hand zugelassen; doch der innerste Grund des schweren Übels entstammte daher, daß ihre eigene Kraft nicht in einer Hand vereinigt lag. Viele Städte und viele Köpfe führten die Leitung der ›gemeinen‹ Sache; Mißgunst und Zwiespalt, Eigenwille und Unbotmäßigkeit schwächten und lähmten ihren Erfolg.

In Stralsund hatte Herr Nikolaus von der Lippe mit seiner Herrschaft über die Gemüter die Vermahnung der pommerschen Landesfürsten niedergerungen und die Beteiligung der Stadt an dem Hansakrieg gegen den König durchgesetzt. Doch wenn er allein in seinem Gemach saß, brannte zuweilen ein düsterer Glanz zwischen seinen Augenlidern; das Mißgeschick der hansischen Flotten fraß in seinem Innern, und mehr als genugsam war ihm bekannt, daß heimlich im Rat und unter den Bürgern gar manche auf einen Anlaß lauerten, ihn zu Fall zu bringen. Dann aber wußte er, fiel auch sein Kopf auf dem Alten Markt gleich dem seines Vorgängers Karsten Sarnow und wie die Johannes Kletzes in Hamburg, Johann Bankskows in Wismar. Dem sah er für sich zwar unschreckbar furchtlos entgegen, aber mit ihm brach sein Haus in Nichtigkeit und Elend zusammen, Weib und Tochter, vor allem sein Sohn, für dessen Zukunft als dereinstigen Burgemeister von Stralsund er schuf und baute. Noch zwar hielt er den Jungen unter unbeugsamer Hand; das Ehebündnis mit Richlint Wulflam konnte er ihm gegen seine Weigerung nicht aufzwingen, doch Jörg wußte, der Alte werde niemals bewilligen, daß er sich nach eignem Gefallen eine Frau wähle, die sein Vater des Geschlechtes von der Lippe nicht würdig achte. Einmal hatte er tastend daran zu rühren gewagt, aber Herr Nikolaus darauf erwidert: »Bring' mir den König Erich mit gebundenen Armen vor mich hierher, dann magst du mir eine Schwätzerin ins Haus führen, die du willst.« Daß sein Sohn derartiges im Sinn tragen könne, hielt er merklich überhaupt nicht für denkbar, so wenig als die Erfüllung jener Vorbedingung, mit der er nur der Unbezwinglichkeit seines Willens stärksten Ausdruck gegeben. Das ließ Jörg seinen Versuch nicht zum andernmal wiederholen; selten auch nur war er zu Haus anwesend, führte mit seiner hurtigen Snigge ihm aufgetragene Handelsfahrten nach Danzig und bis Reval hinauf aus. Doch wenn er auf dem Hin- und Herweg zum Geschäftsbetrieb Greifswald anlief, verschwand er dort stets im Abenddunkel und schoß allein in einem Segelboot pfeilschnell nordwärts, durch den Greifswalder Bodden der Rügenschen Halbinsel Mönchgut und weiter den weißen Kreidefelsen von Jasmund entgegen, um erst in der folgenden Nacht zu seinem Schiff zurückzukehren.

*

Nicht gar weit von Stralsund gegen Nordwest über die Ostsee erhob sich am Guldborgsund, der schmalen Meerenge zwischen den dänischen Inseln Falster und Laaland, auf der ersteren eine der stolzesten und festesten Schloßburgen ganz Dänemarks, das Städtchen Nykjöbing überragend, ›Nykjöbingschloß‹, schon im zwölften Jahrhundert erbaut. Hier hatten von je die Könige, auch Waldemar Atterdag, mit Vorliebe zu Sommerzeiten Hoflager gehalten, und so tat's jetzt Erich, der Beherrscher der drei skandinavischen Reiche. Unbezwinglich trotzte das Schloß sicher jedem Angriff, doch wenige Schlachtschiffe genügten außerdem, die Zugänge des engen Sundes aller feindlichen Annäherung zu sperren; Orlogskoggen benannte die Zeit sie nach dem niederländischen Wort ›Oorlog‹, indes hatte auch schon das angelsächsische ›orlege‹ ebenso ›Krieg‹ bedeutet. Sehr klein zusammengerückt aber war hier die Schaubühne, aus der seit Jahrhunderten unablässig die wellengeschaukelten Kämpfer von hüben und drüben gegeneinander auftraten; bei heller Luft reichte der Blick von der Südspitze Falsters bis an die Küste von Rostock und Wismar hinüber.

Laut und lärmend ging's nun an einem Hochsommerabend beim noch späten Tageslicht in einer der großen Hallen von Nykjöbingschloß zu. Dort saß König Erich an langem Tisch mit seinen Hof- und Hauptmännern beim Bankett; Wein, Met und Hamburger Bier, an dem die gut kaufmännisch rechnende Hansestadt auch den schlimmsten Gegner nicht darben ließ, troff über die Münder der großen klirrenden Erzhumpen; seit geraumer Zeit schon hatte die schöne Königin Philippa, des englischen Königs Heinrich des Vierten Tochter und Erichs noch jugendliches Gemahl, das wildwerdende Gelage mit den mählich in der Trunkenheit scheulos und zuchtlos herausfahrenden Zungen verlassen. Auf erhöhtem Armsitz thronte der König, von purpurnem Mantel umkleidet, mit einem steinfunkelnden Goldreif am Stirnrand des dunklen Haares; vor den Blicken anderer stellte er sich stets in den Abzeichen seiner Macht und Hoheit zur Schau. Nicht mehr der Knabe von der kärglichen Väterburg bei Rügenwalde war's, ein hoch und breitbrustig gewachsener Mann; nach nordischem Brauch umgab ein voller Bart, doch kurz an den Seiten, nur unter dem Kinn sich verlängernd, sein Gesicht. Aus dem sprühten nach Genuß und Befriedigung der Sinne begierige Augen, trugen etwas von flackernd nach einem Nährstoff umzüngelnden Flammen in sich. Sie hatten auch so zwischen den Lidern Waldemars lodern gekonnt, im Rachdurst, beim Trunk, vor allem, wenn ein schönes Weib fremd zum erstenmal vor seinen Blick geraten; doch er war Herr über sich gewesen, wo wichtigeres in Rechnung stand, die aus seinem Innern hervorspringenden Funken zurückzubändigen. Das vermochte sein Urenkel nicht, unverhohlen und unköniglich offenbarte er sein Gelüst, überließ sich ihm beherrschungslos; seiner jungen, schönen Gemahlin indes war kein heißer Blick seiner Augen nachgefolgt, als sie aus der Halle davongegangen; er liebte blondes Gelock nicht, und sie teilte schon seit zwei Jahren den Thron mit ihm. Doch befand er sich heute in bester Laune, eine große Anzahl gleichlautender Briefe war ihm aus Deutschland her zugegangen, Absageschreiben der ›oberheidischen‹ Hansestädte im Binnenland zwischen Elbe und Rhein, und ein herbeigebrachtes Pergamentblatt aufrollend, las er die Schrift drauf lautstimmig vor. Die richteten ›Burgemeister, Rat und gemeine Bürger‹ der Städte an den ›hochgeborenen Fürsten, Herrn Erich, der Reiche Dänemark, Schweden und Norwegen, der Wenden und Goten König und Herzog von Pommern‹, und in den Fehdebriefen erklärten sämtliche sich als Feinde seiner Reiche und aller Untersassen um ihrer Freunde, der sechs führenden Städte willen, daß auch sie als Glieder der deutschen Hanse ihn mit Krieg überziehen würden und ›sich ihrer Ehren verwahrten‹. Ungezählte Schriftstücke waren's von Bundesangehörigen, die nicht an der See belegen, keine Schiffe besaßen, mit ihnen an dem Kampf teilzunehmen, doch Geldbeiträge zu diesem leisten wollten, damit sie nicht ›schwerlich beschädigt würden‹; die Absage erinnerte fast genau an diejenige, welche vor drei Geschlechtern Waldemar Atterdag von den siebenundsiebzig Hansestädten behändigt worden war. Dessen gedachte auch König Erich, der mit einem Ton höchster Belustigung die Kundgabe verlesen, und spöttisch lachend fügte er für die Zuhörer um den Tisch hinterdrein: »Wisset ihr noch, was mein Ahnvater den Pfefferkrämern zur Antwort gab? Er ließ ihnen erwidern:

»Söben und söbentig Hensen
Hefft söben und söbentig Gensen,
Wenn mi de Gensen blot nich biten,
Na de Hensen frag' ich nich en schiten.«

Ein wieherndes Gelächter scholl aus allen Kehlen der mehr oder minder Trunkenen zurück, in das der König auf plattdeutsch – denn der dänischen Sprache war er nie ausreichend mächtig geworden – hineinrief:

»De söben un söbentig Gensen makt wedder Gesnater,
Denn duckt wi se mal wedder in't Water.«

Unter laut hallendem Beifallsgejauchz stand er auf, wandte den Blick zweien Mitgliedern der Runde zu, die erst seit dem Morgen im Schloß zu Gast waren, und sprach sie an: »Junker Henning und Junker Hanns, ihr wolltet mir als guten Schlaftrunk eine lustige Ausricht machen; begleitet mich noch in mein Gemach dazu.« Die Angeredeten erhoben sich gleichfalls, dem Herrn zu folgen; er brach heute früher als sonst vom Bankett auf, etwas Bedeutsames mußte ihm im Sinn liegen oder eine junge Schöne auf sein Kommen warten. Dem ging zwar zuwider, daß er die Begleiter mit sich nahm; die Zurückbleibenden sprachen, soweit der Rausch es zuließ, mit gedämpften Stimmen, ihre Meinungen darüber durcheinander. Man kannte die Namen der beiden von auswärts her in Nykjöbing Eingetroffenen, Deutsche waren es, Abkommen alter Geschlechter, der eine Henning Manteuffel aus Pommern, der das lange Haar an der rechten Schläfe eigentümlich zusammengekraust trug, so daß nichts dort von der Ohrmuschel drunter hervorstach; der zweite hieß Hanns Moltke, seine Väterburg Stridfeld stand in Mecklenburg. Ihre Züge boten auch ein adliges, doch verwildertes Aussehen, und heimlich ging ein Zuraunen um, sie führten anderswo andere Namen, auf der See, am Schiffsbord, als zwei der tollkühnsten und beutelüsternsten Likedeeler des jetzigen Vitalienhauptmanns Bartholomäus Voet, der noch im Vorjahr wieder einen verwegenen Raubanfall auf Bergen ins Werk gesetzt hatte. Im gegenwärtigen Krieg hielt er zwar Bundesgenossenschaft mit den holsteinischen Grafen und der Hansa, aber unter den Seeräubern jagten von jeher manche auf eigene Hand ihrem Gewinn nach, und der Sinnesart des Königs lief's nicht zuwider, mit solchen für einen wichtigen Zweck in Verbindung zu treten; ein Gerücht besagte von ihm, ehe er der Beherrscher der drei Reiche geworden, sei er selbst mit dem Gedanken umgegangen, ein Seeräuber zu werden. Dazu standen Henning Manteuffel und Hanns Moltke als deutsche Landsleute, der erstere obendrein als pommerscher Untertan, seinem Zutrauen besonders nahe; Sicheres wußte freilich niemand von ihnen, noch um was sich's handeln möge. Doch auffällig war's, daß er sie derartig zu sich beschieden hatte, und ward's noch mehr dadurch, daß die halbe Nacht verging, bevor die beiden wieder aus seinem Schlafgemach heraustraten.

Und seltsam wiederholte sich Ähnliches am folgenden Tage. Abermals war ein deutscher Fremdling, diesmal schon grauhaarig, vorgerückten Alters, im Schloß eingetroffen, hatte auf sein Ansuchen Vorlaß beim König gefunden und saß am Abend als Gast mit beim Trinkgelage. Von den um den Tisch Angesammelten kannte ihn niemand, auch die beiden deutschen Junker nicht; er benannte sich auf Anfrage Marten Wollweber aus Danzig, war auch sicherlich nicht vom Adel, sondern ein Stadtbürger und machte den Eindruck, ein feinerer Gewerksmann zu sein, vielleicht ein kunstfertiger Goldschmied, der hier bei dem prunksüchtigen Fürsten Absatz für einen besonders wertvollen Schmuck erhoffte. Nur wenig sich am Trunk beteiligend und selten einmal mitredend, saß er still da, im Gefühl schien's, daß er nicht unter die ritterbürtige Tafelrunde paßte, hörte nur den Gesprächen zu und ließ dann und wann kurz die Augen auf einem Gesicht verweilen. Doch als König Erich sich ebenso wie gestern ungewohnt frühzeitig erhob, sagte er wiederum: »Geleitet mich, Herr Wollweber, und tut mir noch den Preis für Euren kostbaren Schatz kund.« Offenbar hatte die Mutmaßung sich nicht getäuscht, ein Schmuckhändler war's, der die Begier des Königs zu reizen verstanden, und er schritt hinter den fackeltragenden, reichgewandeten Hofknappen drein. Es ergab sich alsbald, daß zwischen beiden dasjenige, um was es sich handelte, bereits ausführlicher zur Rede gelangt sei, sowie daß Erich besser als sein Hof über Herkunft und Stand des Fremden unterrichtet war, denn unter vier Augen mit diesem sagte er: »Setzet Euch nieder, Magister, und seiet ohne Sorgnis, ich könne Euch minder an Wert achten, weil die Schwertschneide des Hamburger Meisters Rosenfeld Eures Bruders Kopf auf die Erde gelegt hat. Vielmehr schätze ich Euch besonders, des gleichen Blutes wegen, das er in sich getragen, sowie als grimmigen Feind der Pfefferknechte, und bin Euch gut dafür zu Dank, daß Ihr hierhergekommen seid, mir von dem Enkelkind des tüchtigen Mannes Bericht zu geben, der wohl verdient, daß unter dem Volk Ruhmlieder von seinen großen Taten auf der Ost- und Nordsee umgehen. Sein Angedenken zu ehren in dem, was er hinterlassen, bin auch ich gern willfährig; fasset mir noch einmal zusammen, in welcherlei Weise es so geschehen ist. Verhält sich die sondere Art des Mägdleins nach Eurer Aussage, da wäre ich bereit, sie hierherbringen zu lassen, in den Dienst meiner Gemahlin aufzunehmen und nach dem Verdienst ihres Ältervaters für sie Sorge zu tragen.« Eine glimmernde, von tätiger Einbildungskraft zeugende Erwartung redete aus den Augen König Erichs, und der Magister Bertram Wigbold gab Antwort: »Wie ich es Eurer hochgeborenen Durchlauchtigkeit heute morgen gesprochen, ist mir Kunde davon aus Schriftstücken meines vom Hamburger Rat mit Schimpf gerichteten Bruders zu teil worden. Drin steht angemerkt, daß Claus Störtebeker einmal durch den Liebesverband mit einer schönen Fischerstochter an unserem Seestrand zum Urheber des Lebens eines Mädchens geworden sei, das, in die Jahre der Reise gekommen, wiederum eine Tochter empfangen, von welchem Vater vermag ich nicht zu sagen. Doch als zu späterer Zeit der große Seeheld sich oftmalig mit seinen Schiffen auf der Insel Rügen im Hinterhalt geborgen und dort zu guter Weile am Land unter der Stubbenkammer aus Kreidestein einen Bau aufrichten lassen, den kein Auge von der See her wahrnehmen gekonnt, da hat er seine Tochter ausfindig gemacht, sie mit ihrem Kinde zu sich in das weiße Haus genommen und, als er wieder auf die Nordsee davon gezogen, ihrer Obhut alles übergeben, was er auf seinen Hinfahrten in der Ostsee während jener Zeit erbeutet und in den Kreidefelsen vergraben gehabt. Sie hat aber vergebens auf seine Wiederkunft geharrt, weil die ›Bunte Kuh‹ ihn beim Hilligen Land mit ihren Hörnern niedergerannt; so ist sie mit ihrer Tochter in dem Klippenhaus verblieben und hat Nahrung von einigen wendischen Fischern empfangen, die dort in der Wildnis an einer Nehrung hausen; von den verborgenen Schätzen, die ihr als Erbteil zugefallen, vermochte sie alles überreich zu entgelten. Davon stand nicht mehr in meines Bruders Bericht, sondern ich hab's erst mit meinen eignen Augen gesehen und aus ihrem Munde vernommen, als mich's vor kurzem einmal angetrieben, dorthin zu segeln; es klopft, wie's Eure hochgeborene Durchlauchtigkeit gesprochen, das Blut meines Bruders auch in mir aufs Salzwasser hinaus. So habe ich die Jungfrau gewahrt, die jetzt siebzehn Jahre zählen mag, und mich bedünkt, ihre Schönheit wäre einer fürstlichen Krone würdig, denn so lang mein Leben gedauert, kam nichts ihr Gleiches an wunderbarem Liebreiz mir zu Gesicht. Es jammerte mich, daß solche junge Herrlichkeit eines Weibes in der Verlassenheit hinaltern und vergehen sollte, deshalb fuhr ich hierher, einen Beistand, der sie daraus befreie, für sie zu werben. Denn ich befand mich sonder Zweifel, der hochgemute Sinn Eurer Durchlauchtigkeit nähme Anteil an Claus Störtebeker, dem vormaligen Todfeind der deutschen Hanse, und werde, so hoffte ich, sich auch zu einem Mitgefühl für sein hilfloses Enkelkind bewegen lassen. Doch will ich mich nicht ruhmredig als selbstsuchtlos emporheben; mein altgewordenes Leben verkümmert unter Dürftigkeit und Mangel, da um meines Namens willen die Bürger Stralsunds sich feindselig von mir abkehren. Drum knüpfte ich auch für mich die Hoffnung daran, Eure königliche Durchlauchtigkeit werde hochgesinnt meiner Obsorge für das schöne Tochterkind des großen Seehelden gleichfalls mit einem kleinen Lohne gedenken.«

Unter den wohlgefügten Worten schimmerte aus dem letzten doch der eigentliche Zweck der Reise Bertram Wigbolds, die Geldgier des verhohlenen alten Kupplers hervor. In des Hörers Augen hatte während der Erzählung sich der brennende Glanz noch mehr verstärkt, er versetzte jetzt: »Hörtet Ihr je, daß König Erichs Hand sich karg wies, eine edle Tat zu entgelten? Bringt mir die Enkeltochter Störtebekers hierher, und wenn ich erkenne, daß die Wirklichkeit Eurem Bericht gleichkommt, seid des verdienten Lohnes gewiß,«

Dazu jedoch schüttelte der Magister den Kopf und antwortete: »Das würde mir nicht gelingen, ihre Mutter bewacht sie mit den Augen, die dem Argus der alten Mythe zugemessen werden, und ohne deren Zuwilligung vermöchte ich sie nicht fortzubringen, denn auf ihr Geheiß würden die Fischer sich ihr zum Beistand gesellen. Doch es ist nicht weit bis an die öde Nordküste von Rügen hinüber, binnen wenigem will der Mond sich füllen, und in einer hellen Nacht könnte Eure königliche Durchlauchtigkeit leichtlich sich mit eignen Augen überzeugen, ob ich von solchem Wunder der Schönheit mit zu hohen Worten geredet habe. Es erschiene das fürwahr gleich einer Wiederkunft des obersten der alten olympischen Götter, daran gemahnend, wie unerkannt, in verwandelter Gestalt der höchste Jupiter seinen gnadenreichen Blick auf der schönen Io, des Inachos Tochter, verweilen ließ, und meinem Bemühen gelänge es wohl, die Wachsamkeit des weiblichen Argus durch Einschläferung unschädlich zu machen. Der Täuschung unterliegen zwar die Augen gewöhnlicher Menschen, darum könnte sie auch meine betroffen haben; dagegen würde sicherlich für den Blick Eurer königlichen Durchlauchtigkeit eine Stunde der Nacht zur Erkenntnis genügen, ob die Jungfrau würdig sei, hierher in den Dienst Eurer Gemahlin überführt zu werden.«

Bekannt war's, daß König Erich oftmals ein Vergnügen daran fand, nächtlich in Verkleidungen ihn anreizenden Abenteuern nachzugehen – auch das hatte er von seinem Urältervater überkommen, der einst so durch die Liebschaft mit einer Bürgerstochter von Wisby die feste Stadt listig in seine Hand gebracht – und in seinem Gesicht stand zu lesen, daß ihm's nicht mißfallen habe, mit dem obersten der Götter des Altertums verglichen zu sein. Mancherlei schmeichelhafter Bewunderung hatte die Rede Wigbolds Ausdruck verliehen und zum Schluß eine Hindeutung angefügt, die von höchst verständiger Auffassung der Angelegenheit zeugte. Beipflichtung ließ sich der Miene des Königs entnehmen, und ein Zug begehrlicher Vorstellung umspielte seinen Mund, wie er entgegnete: »Euer Rat mag das Richtige getroffen haben, es wird wohlgetan sein, daß ich mich zuvor selbst darüber vergewissere, ob das Enkelkind Claus Störtebekers mir für den Dienst bei meiner Gemahlin geeignet erscheint. Mondnächte, sagt Ihr, stehen bevor, mir ist's noch im Gedächtnis, die machen sich hübsch drüben am Seestrand, und ich hätte wohl Lust, auch einmal die Kreidewände von Jasmund bei Mondschein zu sehen. Ihr seid ein gelehrter Mann, Magister – drei Königreiche machen viel zu schaffen und aus meinem Kopf ist's etwas weggeraten – weckt's auf und erzählt mir noch einmal, wie sich's mit Jupiter und Io zutrug. Eine lustige Geschichte war's, mir ist's dunkel, eine Kuh kommt drin vor – nicht die bunte Kuh, die Euch den Haß auf die Pfefferknechte ins Blut gestoßen – aber die Gemahlin Jupiters war von Haß gegen sie entbrannt. Das war sie vermutlich nicht ohne Grund, denn ein häßliches Geschöpf hassen die Ehefrauen nicht – laßt mich die Geschichte wieder hören, Magister, vielleicht träumt sich's gut in der Nacht darauf.« König Erich sprach's lachend, lehnte den Kopf zurück und ließ die Lider auf die Augen fallen. Doch unter ihnen überblinzelte er durch die Wimpern unmerkbar das Gesicht Bertram Wigbolds, wie man einst von Waldemar Atterdag gesagt hatte, ›at han blinkede med Oiene‹, wenn er jemand vor sich sprechen ließ, um ihm zuhörend in seinem Innern zu lesen.

*

Schon seit einem Jahrhundert war durch die Hanse auf dem Gebiet der Seefahrt eine Umänderung bewirkt, die bis dahin allgemein in Europa bräuchlich gewesene, noch vom Altertum übernommene spanische ›Galeere‹ durch die niederländisch-hansische ›Kogge‹ verdrängt worden; selbst die Venetianer und Genueser hatten diese Schiffsbauart, als zweckmäßiger sowohl für den Handel wie für die Kriegführung angenommen. Die ›Kogge‹ stellte das größte Fahrzeug der Zeit dar; breitgebaucht und hochgebordet, trug sie an der Vorder- und Rückseite aufgetürmte ›Kastelle‹, die im Kampf den hohen Standplatz der Waffenträger bildeten und mit Bliden und Mangen, Schleudergeräten zum Werfen großer Steine, sowie mit Brennstoffen angefüllter Fässer ausgerüstet waren; diese Wurfmaschinen hatten sich vielfach auch nach dem Aufkommen der Feuergeschütze, der ›Feldschlangen‹ und ›Bombarden‹ noch forterhalten. Zumeist führte die ›Kogge‹ einen Großmast und einen Besan- oder Hintermast, bei den mächtigsten trat noch ein Fockmast hinzu. Der erstere enthielt auf dem ›Mars‹, dem Mastkorb um seine Mitte, von der sich seine ›Stenge‹ weiter aufhob, ein ›Topkastell‹, dessen runder, von einer Brüstung umgebener Ausbau den Schützen zum Aufenthalt diente, vordem den ›Armbrustern‹, nunmehr den Handhabern der nach und nach zur Anwendung gelangten ›Knallbüchsen‹, ›Haken‹ und ›Arkebusen‹, kleinerer, nur sehr umständlich noch benutzbarer Handfeuerwaffen. Überaus stolz aber zog bei günstigem Wind solche hansische Vollkogge mit ihrer gebauschten Segelfülle, dem riesigen lateinischen Großsegel, den Fock- und Besan-, Mars-, Klüver und Sprietsegeln über die Wellen dahin; unter dem langen Bugspriet blickte gemeiniglich, aus Holz geschnitzt oder in Erz gegossen, das Brustbildnis des Erzengels oder Heiligen auf, dessen Namen das Schiff trug. Für den Krieg vollbemannt, führte dies bis zu anderthalbhundeit ›Wappner‹, ein halbes Dutzend ›Bombarden‹ mit den dazu gehörigen ›Kraut‹-Tonnen, den Pulverfässern, und daneben noch eine Anzahl der alten Bliden an Bord.

Um ein paar Tage nach der Zwiesprache des Königs Erich und Bertram Wigbolds lief in noch dämmeriger Morgenfrühe eine derartige ›Kogge‹, doch nur mittlerer Große, von der Nykjöbinger Ladebrücke ab und nahm ihren Weg durch den Guldborgsund nach Süden. Als sie zur freien See hinauskam, war der Tag voll angebrochen, guter Wind füllte hier ihre Segel, denn er ließ am Dünenrand von Gjedserodde, der einsamen Südspitze Falsters, an einer dort im Sand aufgepflanzten Fichtenstange ein Stück Flaggentuch lustig gen Osten flattern; ein Deutungszeichen der Untiefe vor der Insel schien's zu sein. Sichtlich war das Schiff ein Handelsfahrzeug, wenn auch breitbauchig, doch für leichtere Beweglichkeit gebaut, als die schwerfälligen Vollkoggen. Zwar mit einer schmalbrüstigen Snigge, die schon etwas Vorsprung vor ihr hatte, vermochte es nicht zu wetten; sie erweiterte, sich gleichfalls ostwärts haltend, bald den Abstand noch mehr, verschwand vor Mittag völlig aus dem Gesicht. Merkbar indes lag der Kogge auch nicht dran, ihr durch größere Schnelligkeit den Vorrang abzulaufen, sie hielt nur die Hälfte der Segel beigesetzt und trieb gemächlich dahin; an ihrem Hintermast wehte eine Flagge, von der zu mutmaßen stand, daß sie ihr zu Recht nicht zukomme. Doch war von keinem Auge gesehen worden, daß sie die Flagge der Stadt Danzig erst nach ihrer Ausfahrt aus dem Guldborgsund gehißt hatte; die dänische zu zeigen, wäre hier im Bereich der hansischen Osterlinge für einen wehrlosen Kauffahrer bei den Kriegsläuften nicht ratsam gewesen. So aber verbürgte der trügerische Anschein der Kogge ziemliche Sicherung, zumal da sie sich längere Zeit in der Nähe von Falster hielt und im Notfall an diesem Schutz suchen konnte. Doch im Beginn des Nachmittags änderte sie plötzlich den Kurs, lief aus der Höhe der Kreidefelsen von Möen quer über die See gegen die pommersche Küste zu, jetzt unter Vollsegeln, mit denen sie rasch einigen ihr begegnenden, mühsam wider den Wind kreuzenden kleineren Hanseschiffen vorbeigelangte. Dann stieg vor ihr der ödverlassene Uferkamm von Arkona mit seinem dunklen Trümmerrest auf; an der Brüstung des Vorderkastells stand neben dem Magister Wigbold ein Mann, der mit lang ihn umhüllender Schaube aus lündischem Tuch das Aussehen eines reisenden Kaufmanns bot. Seine Hand deutete nach dem Vorgebirg' hinüber und er sprach dazu: »Ein Erich hat die Burg niedergelegt und ein Waldemar den Tempel Swantewits zu Asche gemacht. Heute sind beide in Einem beisammen, der das Hanse-Götzenbild in Stücke schlagen wird, und Euch zu Dank, Magister, gedenk' ich einen Kohlenhaufen rauchen zu lassen, wo Eure Stadt Stralsund steht. Ich habe ihr eine lange Rechnung aufgekreidet, an der Zeit ist's, sie einzutreiben. Glimmert da drüben schon die Kreide von Jasmund? Zur Nacht liegt mir noch andere Dankschuld auf für Claus Störtebekers Hinterlassenschaft, und Ihr seht, ich habe Vertrauen in Euch gesetzt, Magister, daß mir in seinem weißen Fuchsstollen keine Täuschung vor Augen gerät.« König Erich schlug über dem Kaufmannsrock ein lustiges Lachen zu den Worten auf, bereits erkennbar schimmerte die helle Wand der Stubbenkammer aus Süden her über der Wasserfläche, und die nur mit der gewöhnlichen Mannschaft eines Handelsschiffes besetzte Kogge nahm jetzt graden Lauf gegen die verrufene Küste hin. Das Abenddunkel fiel ein, doch ehe sie in zu bedrohliche Nähe des Ufers kam, stieg der in Rechnung gezogene Mond herauf und gab Helligkeit genug, um eine Zufahrt und gesicherten Landungsplatz ausfinden zu lassen. Die Abenteuerlust des Beherrschers der nordischen Reiche hatte ihn zu einem nicht unbedenklichen Unterfangen verlockt; wie einst Waldemar Atterdag als Bürger verkleidet an der Küste von Gotland gelandet war, durch Liebesbetörung einer Tochter der reichen Stadt Wisby sich dieser zu bemächtigen, so stieg bei nächtlicher Weile sein Urenkel an dem einsamen Nordstrand Rügens aus. Doch nicht von der Sucht hergetrieben, eine Stadt an sich zu bringen, sondern nur um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, ob ein junges Mädchending würdig sei, von ihm für den Dienst seiner Gemahlin mit nach Nykjöbingschloß geführt zu werden.

Nur ein mäßiger Wind ging, doch im Verein mit dem Anrauschen der Wellen an den Strand schuf er ein röhrend die Luft durchspinnendes Geräusch, das den Schall von Fußtritten im klirrenden Gestein nur kurzhin vernehmen ließ. Wie dieses murrende Gesumme das Ohr, umgab ein ungewisser Schein die Augen, denn der Mond war noch nicht über die Stubbenkammer heraufgerückt, ihr Schatten reichte noch bis dahin, wo die nächtlichen Ankömmlinge ans Land getreten, so daß der Blick kaum auf einige Schritte in der Runde das umher Befindliche unterschied. Bertram Wigbold drehte einmal, ohne recht zu wissen, weshalb, mechanisch den Kopf zurück, doch gleichzeitig faßte der König ihn unterm Arm und sagte: »Führt mich, Magister, Ihr seid hier die Katze, die im Dunkeln sieht. Wo ist das Mauseloch mit der weißen Maus drin? Ich sehe nichts vor mir als Rabengefieder.« Der Befragte erwiderte: »Eurer königlichen Durchlauchtigkeit wird sich das Dunkel bald aufhellen, hier kommen wir gleich ans Ziel.« Seinen Begleiter führend, umbog er eine vorspringende Gesteinmasse, und hinter dieser fiel ihnen schon von nahe her ein roter Lichtstrahl ms Gesicht. Wandfackeln warfen ihn aus dem Innern des weißen Kreidehauses hervor, dessen Tür offen stand, als ob es die Ankunft von Gästen erwarte, und ein paar Augenblicke später setzten die Weitergeschrittenen den Fuß in die seltsame große Halle hinein. Sie war leer wie damals, als Jörg von der Lippe auf seiner Wanderung zu ihr geraten, nur am Herd stand eine weibliche Gestalt in dem wunderlichen, mit Rad und Galgen anblickenden Gewand, unerkennbaren Gesichts, denn ein schwarzes Schleiergewebe hielt es überdeckt. Wigbold sprach gedämpft: »Die Frau ist's, von der ich Eurer Durchlauchtigkeit kundgetan,« und der König fragte, sie anredend: »Bist du Claus Störtebekers Tochter? Wo ist deine Tochter?« Nun klang antwortend ihre Stimme: »Ja, du kennst mich. Ich habe lange auf deinen Besuch gewartet, Erich von Pommern. Setze dich an den Tisch. Das Nachtmahl steht dir bereitet, so gut ich's vermocht, und meines Vaters Humpen für dich gefüllt.« Beim letzten zog sie den Schleier ab und sprach hinterdrein: »Wieder Mondnacht ist's. Kommst du, deine Tochter auf dein Schloß zu holen und ihr eine Krone aufs Haar zu setzen? Ich will sie rufen.«

Ein helltöniges Gelächter brach dazu aus ihrem Mund, den Augen König Erichs entgegen, der ungewiß auf ihre enthüllten Züge gestarrt und jetzt hervorstieß: »Ich kenne dich – wir sahen uns schon – du hießt Gesa –«

Sie ging der Türöffnung zu, und nun lachte auch der König schallend auf, sprach danach, seinem verständnislos dreinschauenden Führer mit der Hand auf die Schulter schlagend: »Das habt Ihr lustig angestellt, Magister! Ich sagte Euch guten Lohn zu –«

Etwas Drohendes lauerte aus dem Klang der Worte herauf, ein schriller Möwenruf durchschnitt sie, mit dem die zur Tür Getretene ein Zeichen nach außen gab. Dem antwortete ein Ruf von dorther: »Hinunter, und bindet ihm Arm und Bein!« Die Stimme Jörgs von der Lippe war's, aus einem Felsenversteck erscholl das hurtige Niederdröhnen eines Dutzend von Fußtritten. Doch gleich danach stürmten andere Töne durcheinander, Getöse, Waffengeklirr, wilde deutsche Seemannsflüche und Hohngeschrei in dänischer Zunge. Dann abermals ein Befehlsruf Jörgs: »Umsonst! Zurück!« Der Mond schoß die erste Silberzinke über die Stubbenkammer, und sein Licht zeigte den weißen Bau rundhin von einem halben Hundert stark Gewaffneter umringt, die der breite Bauch der Kogge nicht wahrnehmbar verborgen gehalten; ungesehen und ungehört waren sie ihrem Gebieter nachgefolgt. Der trug die Begier Waldemar Atterdags in sich, doch auch seine Verschlagenheit und hatte mit den blinzelnden Augen Unrat gewittert. Der Fuchs war nicht nach dem Köder in die Falle gegangen, ohne sich den Rückweg sicher offen zu halten. Die lange Schaube abwerfend aber stand König Erich in glitzerndem Kettenpanzer mit gezogenem Schwert, schlug dem verdutzten Magister nochmals mächtig auf die Schulter und sagte unter einem grimmigen Lachen: »Du sollst es bei mir besser haben, als dein Bruder beim Meister Rosenfeld, und morgen früh zuerst am Mast die Sonne aufgehn sehen.«

Fast gedankenschnell war das Überraschende geschehen, doch blitzgeschwind auch hatte Gesa den Vorgang begriffen, riß eine Fackel von der Wand, mit der andern Hand Bertram Wigbold hinter sich, wies ihm: »Da hinunter!« und stand mit dem brennenden Kienholz vor dem König. Ihre dunkelglimmernden Augensterne blickten ihn furchtlos an und lachend sprach sie dazu: »Du wolltest mein Gesicht deutlicher als im Mondschein sehen, Erich von Pommern. Gefällt deine Braut dir so? Du brauchst dich ihrer nicht zu schämen, sie ist nicht mehr schwach von Sinnen und eines Seekönigs Tochter, wie du's gemeint. Deine Tochter hält Hertha in Hut, denn du kannst sie nicht zu dir nehmen, wie du's gedacht. Aber mir gefällst du, mein Liebster, du bist kein Bauernjunge mehr, sondern ein schöner Mann geworden, und ich will mit dir nach deinem Schloß gehn und dir helfen deine Kronen zu tragen. Mir gehören sie zu Recht, nicht der Engländerin, denn die ist nur dein Kebsweib. Aber ich bin von deiner Wahl die Königin in deinen Reichen. Bis heute hat's nur der Mond gewußt, jetzt soll's auch die Sonne sehn! Komm, mein Gemahl!«

Hörbar zu Spott und Hohn war's gemeint, doch aus der Stimme der Tochter Claus Störtebekers kam noch einmal ein Nachhall des halbirren Tons herauf, mit dem sie in der Mondnacht auf Wollin zwischen den Trümmerresten der alten Palnatoke-Burg auf die Fragen des verkleideten Fürstensohns geantwortet hatte. König Erich aber fiel das Blut aus dem Gesicht, als ob ein aus dem Boden aufgewachsenes Gespenst vor ihm stehe und die Hand nach ihm strecke. Fassungslos übermannte ihn die Einbildung mit einem Hirngespinst, sie habe die Macht, auszuführen, was sie drohe, könne ihn zu Schimpf und Schande zwingen, sie mit sich vor aller Augen ins Königsschloß zu führen. Verworrenen Sinns, schreckbetäubt wich er vor ihrer Hand zurück; sie folgte ihm nach, drängte ihn mit der Fackel, dem vorgestreckten Arm, mit kosenden Liebesworten Schritt um Schritt weiter zur Tür, seinen draußen harrenden Kriegsmännern entgegen. Nun bis über die Schwelle, daß sie die Bohlentür zuschlagen und den Riegelbalken vorstoßen konnte. Hindurch schlug ihm noch einmal ein geisterhaftes Lachen ihres Mundes wie ferne Kindheitserinnerung ans Ohr, dann warf Gesa die Fackel auf den Herd und tauchte an der Stelle nach in den Boden hinunter, wo Bertram Wigbold aus der Halle verschwunden war. Die Seeräuber hatten durch den weichen Kreidegrund Stollen nach Höhlungen gegraben, in denen sie ihre Beute verborgen gehalten, und ein heimliches Schlupfloch führte weiter auch ins Freie hinaus. Das wußte Erich von Pommern nicht, mußte glauben, er halte die beiden im umschlossenen Haus in seiner Gewalt. Doch er dachte nicht mehr daran, sich des Magisters zu bemächtigen, Furcht vor dem Mondnachtsgespenst von Wollin rüttelte und schüttelte ihm noch die Glieder. Wie dort lag die weiße Nacht unheimlich hier um ihn, er gab, hastig davoneilend, Befehl, wieder mit der Kogge in See zu stechen, und als die aufgehende Sonne das Schiff schon im Angesicht der Südspitze Falsters begrüßte, sah sie Bertram Wigbold nicht vom Mast herabhängen. Doch flatterte auf der Düne von Gjedserodde an der Fichtenstange noch die Linnenflagge, die der Snigge Jörgs von der Lippe das Zeichen gegeben, daß der König gewillt sei, in der Morgenfrühe die Abenteuerfahrt nach Rügen zu unternehmen.

Anders als erhofft aber hatte der Tag geendet, den Anschlag Jörgs, seinem Vater König Erich mit gebundenen Armen ins Haus zu bringen, zerscheitern lassen. Den Grund, der ihn zum Entwurf dieses mißglückten Planes getrieben, gab die Mondnacht in der kleinen Waldlichtung an dem dunklen Wasserspiegel des Hertha-Sees zu erkennen. Dort, wo nur noch der alte Erdwall von einem Bauwerk verschollener Vorzeit Kunde forterhielt, hatten alle, die drunten der Übermacht weichen gemußt, sich zusammengefunden, und auf einem der bemoosten Trümmersteine saß Jörg von der Lippe, die junge Gesa, die nicht Hertha hieß, sondern den gleichen Namen ihrer Mutter trug, auf seinen Knien haltend. Nicht zum erstenmal tat er's so, und sein Arm lag um ihren Nacken geschlungen, denn er wußte schon seit mancher Wiederkehr sicher, daß sie keine Seejungfer, vielmehr ein gar wundersam schönes Menschenkind sei, und in dieser Nacht nun war ihm dazu kund geworden, sie sei eine Tochter des Beherrschers der skandinavischen Reiche. Aber er wußte auch, das nütze ihm nicht gegen den Widerstand seines Vaters, dessen Einwilligung zu gewinnen, daß er sich ein Weib seiner eigenen Wahl heimführe, wenn der Alte dies des Geschlechtes derer von der Lippe nicht gleichbürtig achte. Wohl einverstanden zwar war Gesa, die Mutter, den Burgemeistersohn von Stralsund zum Eidam zu erhalten, doch nur unter der Sicherung, er bringe ihre Tochter als anvermählte Ehefrau in sein Haus, und in Wirklichkeit wie mit den Augen des Argus wachte sie darüber, daß sich die Mondnacht von Wollin nicht auf Rügen zum andernmal wiederholen könne. Ihr Kind trug als Erbteil das Blut Claus Störtebekers und Waldemar Atterdags in sich, sie wußte, von einem ungestümen Wellenschlag sei's, und selbst haltlos auf wilder See des Lebens umgeworfen, wollte sie die Tochter in ruhigem Hafenschutz bergen. Eine Beihilfe konnte sie dazu leisten, und die Nacht hörte am Hertha-See Ratschlagung, an der auch der Magister Wigbold sich beteiligte, hin und her gehen, wie vielleicht anderes sich an die Stelle des mißlungenen Versuchs setzen lasse. Denn Jörg entstammte nicht minder dem Blut derer von der Lippe, als Herr Nikolaus, und wenn er nicht als Junge vor dem Alten dastand, kam seine Willensbeharrlichkeit der des Altburgemeisters ebenbürtig gleich. Viel an Zuversicht zwar gab ihm nicht Geleit, als er im Morgengrau von seiner Auserkorenen Abschied nahm und enttäuscht seine Snigge vom Geklipp der Stubbenkammer wieder in die See auslaufen ließ. Mit einer königlichen Ladung hatte er sie nach Stralsund zu bringen gedacht; nun stand er vorderhand von zweckloser Rückkehr dorthin ab, schlug entgegengesetzte Richtung gen Osten ein und landete um einige Tage später, vom Magister Wigbold begleitet, an der Ladebrücke von Danzig.

*


 << zurück weiter >>