Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

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Laut und lärmend nach ältestem Herkommen ging's auch im Weitervorschritt des 15. Jahrhunderts in den Länderküsten um die Ostsee, wie an der von Norwegen zu. Zwischen mancherlei alten Widersachern tobte der offene Kampf, doch nicht minder lohten die Flammen des inneren Haders bald hier, bald dort in den Hansestädten auf, zehrten an der Gesundheit und Kraft ihres Gemeinwesens. Als schlimmstes Übel aber war, gleichsam zu einem Widerspiel der Hansa, das Seeräuber-Unwesen der ›Vitalienbrüder‹ aufgediehen, das seinen Anfang während der Belagerung Stockholms durch Margarete Sprengehest genommen. Damals versah eine Anzahl kühner Schiffer von der wendischen Küste die bedrängte Stadt vom Meer aus mit Lebensmitteln, danach erhielten sie den Namen Vitalien-, das hieß Viktualienbrüder. Zugleich jedoch rüsteten die Städte Rostock und Wismar sie ohne Vorwissen der ›gemeinen‹ Hansa mit ›Stehlbriefen‹ aus, dänische und norwegische Kauffahrzeuge aufzugreifen und als Beute wegzuschleppen; in einem sicheren Hafen verteilten sie ihren Raub gleichmäßig nach der Kopfzahl unter sich, benannten sich selbst danach ›Likedeeler‹. Daraus war im Weitergang Bitterböses großgewachsen, denn ungezählt strömte den wildverwegenen Abenteurern waghalsig-gieriges Volk zu, das nichts zu verlieren, nur zu gewinnen hatte, Unedle und Edle, vorm Rad und Galgen davongelaufene Schelme. So schwollen sie zu einer Macht an, die sich frech an der Hansa selbst vergriff, das Comptoir derselben in Bergen, die ›deutsche Brücke‹, überfiel, plünderte, beraubte, verwüstete, die alte Hansestadt Wisby auf Gotland völlig in ihre Gewalt brachte, darin ihr Hauptquartier aufschlug und auf der Ost- und Nordsee gleichen Schrecken unter den deutschen Schiffen ausbreitete wie unter den skandinavischen. Ihre Hauptanführer, die geraubte Heiligengebeine zum Festmachen auf der Brust bargen, waren zwei hünenhafte Gesellen, Godeke Michelsson, der eine Eisenkette wie Bindfaden zerriß, und Claus Störtebeker, der an Stelle seines abgelegten Adelsnamens diesen davon trug, daß ihm kein Humpen zu mächtig war, ihn nicht auf einen Zug hinunterstürzen zu können. Die beiden zwar hatte schließlich eine gegen sie ausgerüstete Hamburger Flotte, vor allem »die mit starken Hörnern durch die See brausende ›Bunte Kuh‹, das Orlogschiff des Flottenhauptmanns Simon von Utrecht, auf der Nordsee erjagt, und tagelang hatte auf dem Grasbrook in Hamburg der ›Meister‹ Rosenfeld mit seinen ›Schobanden‹ in geschnürten Schuhen bis an die Knöchel im Blut von anderthalb Hunderten geköpfter, gevierteilter und aufs Rad geflochtener Likedeeler gewatet. Als er seine ›Arbeit‹ zu Ende gebracht, trat ein Ratsherr zu ihm heran mit den Worten, er müsse wohl zu Tode müde von der Anstrengung sein. Doch mit einem grimmigen Lachen versetzte der Befragte: Ihm sei's nie wohler gewesen und er habe noch Kraft genug, um den ganzen wohlwürdigen und ehrsamen Rat ebenso abzutun. Für einen Spaß solcher Art jedoch war dieser nicht empfänglich, sondern gab schleunig Auftrag, den Kopf des zu witzigen Meisters denen der Likedeeler auf dem Boden nachrollen zu lassen. Mit ihnen aber war die schlimme Saat nicht ausgerodet worden, der Wellenboden der See trieb ihr Gewucher immer neu herauf, und in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts flößte der Name Bartholomas Voet nicht minder Entsetzen im ganzen Norden ein, als vordem Claus Störtebeker und Godeke Michelsson. Seine festgegliederten Raubbanden hüteten sich vor offenem Kampf mit den großen, gewappneten Orlogskoggen der Seestädte, aber sie bargen sich noch überall da und dort in unzugänglichen Schlupfwinkeln und Klippenlöchern, brachen bei Nacht und Nebel mit ihren schnellsegelnden Schniggen daraus hervor. Und nicht nur an manchen Fürsten und Herren besaßen sie einen verschwiegenen Rückhalt, der Verdacht ging um, daß heimlich auch die Urheber der Vitalienbrüderschaft, Wismar und Rostock, ja gelegentlich noch andere hochstehende Hansestädte den Seeräubern zur Erreichung von Sonderzwecken und Vorteilen durch die Finger sähen.

Eine blutige Fülle an Parteikämpfen durchwogte um diese Zeit die Bundeshauptstadt Lübeck, doch kaum minder wilde Geschehnisse folgten sich in dem von jeher leicht zu Aufstand und Gewalttätigkeiten entstammten Stralsund. Mehrfach wurden die Burgemeister gestürzt und nach dem Brauch der Tage von den Siegern sofort auf den Richtplatz gebracht; das Geschlecht der Wulflam ragte am mächtigsten durch Ansehen und Reichtum hervor, eine Mordverschwörung fällte das Haupt desselben, und seine Wittib saß als die ›arme reiche Frau‹ vor den Kirchentüren, Almosen in einer silbernen Schüssel erbettelnd. Am glühendsten aber loderte das Blut der Bürger Stralsunds gegen priesterliche Herrschsucht und Habgier auf. Ihr kirchlicher Oberherr Kurt von Bonow wies geringwertige neue Pfennige als Opfergeld zurück, verließ vor der darüber ausgebrochenen allgemeinen Empörung die Stadt, überfiel diese mit einer großen Schar adliger Genossen und verheerte, da er sie nicht zu erstürmen vermochte, aufs grausamste die ihr angehörigen Dörfer und das Land um die Mauern. Da stand, zu blindester Wut gestachelt, im Innern das Volk auf, drang in die Kirchen und Pfarrhäuser ein, schleppte die drin zurückgebliebenen sechzehn ›Pfaffen‹ heraus auf den Neuen Markt, wo es die drei obersten von ihnen ›zu weißer Asche verbrannte‹. Hussitischer Geist lag schon in der Luft, und der Rachedurst forderte »Aug' um Auge, Zahn um Zahn«. Von Rom her traf aus dem Munde des Bischofs von Schwerin der Bannfluch Stralsund, in seiner Bevölkerung herrschte durch die weltlichen und kirchlichen Gegensätze tiefe Entzweiung; von außen her lauerten Feinde darauf, die Stadt zu überfallen, deren Wehrkraft völliger Zerrüttung entgegen zu gehen schien.

Der König Erich von Dänemark, Norwegen und Schweden aber glaubte die Zeit zur Stillung auch seines von Knabentagen her angesammelten Rachedurstes gekommen und brach mit einem starken Kriegsheere in die Lande seines Vetters, des Grafen von Holstein, ein. Nicht dem galt's im eigentlichen Grunde, sondern dem Hansabund, und dieser fühlte es, rüstete sich, dem Angegriffenen Beistand zu leisten. Auch Stralsund sollte, seiner Hansapflicht gemäß, daran teilnehmen, doch erschienen in ihm seine Landesfürsten, die drei Herzöge Wratislaw, Barnim und Kasimir von Pommern-Wolgast und Stettin, die auf dem Rathaus eine Ansprache an Burgemeister und Rat richteten, mit der Mahnung, »nicht ohne Ursach einen mutwilligen Krieg gegen König Erich, füglich einen mitgehuldigten Herzog von Pommern zu beginnen«. Nachdrücklichen Worts redete der weißköpfige Altburgemeister Nikolaus von der Lippe mit seiner mächtig über die weit vorgeschobene Unterlippe hallenden Stimme wider dies fürstliche Ansinnen, stellte als oberste Aufgabe Stralsunds dar, daß es seine Bundespflicht erfülle, wie's seine eigene Wohlfahrt als Notwendigkeit fordere. Doch die Parteienzerspaltung der Stadt hatte auch den Rat in zwei gegnerische Hälften geteilt, verhinderte das Zustandekommen eines einmütigen Willens. Zwar erhob niemand laute Einsprache gegen die Rede des Burgemeisters, doch ohne Beschlußfassung nahm die Tagung im Ratssaal ihr Ende.

*

Einem ungeheuren Seekraken ähnelnd, schwamm der pommerschen Küste bei Stralsund gegenüber, von ihr nur durch einen schmalen Meeresarm abgetrennt, die Insel Rügen, nach allen Richtungen polypenartige Arme ausreckend. Ihr südlicher Teil enthielt Adelsburgen und Ackerbau treibende Dorfschaften, fast alles übrige lag, nur äußerst schwach besiedelt, zumeist unfruchtbar; die öden, von Sandriffen umgürteten Dünenufer waren, als der Schiffahrt gefährlich, verrufen und gemieden; besonders die Halbinsel Jasmund im Norden, deren Küste an mehreren Stellen mit langhingestreckten, schwindelnd hohen Kreidefelswänden zum Seestrand hinunterschoß. Die standen im übelsten Ruf; ihre weißen Abstürze schimmerten im Abendlicht weit, wie in einem geisterhaften Gewande auf die See hinaus und wohlbegründet, denn arge Geister gingen dort von jeher in der einsamen Wildnis um. Wenig Leute nur gab's, die von Sturmbedrängnis hinverschlagen, die unheimliche Welt in der Nähe gesehen, kaum solche, deren Fuß ein Stück in sie eingedrungen, mit Ausnahme der vor Gott und Teufel, Kobolden und Gespenstern nicht zurückschreckenden Seeräuber, denen sich hier zu aller Zeit bei Verfolgungen die sicherste Unterkunft geboten. Als die Königin Margarete einmal im Verein mit der Hansa eine große Wasserjagd auf sie angestellt, hatte sich auch Claus Störtebeker mit einer Anzahl seiner Genossen in den Klüften und Schluchten der ›Stubbenkammer‹, der mächtigsten Kreidewand auf Jasmund, geborgen, deren slavischer Name den gestuften Fels bedeutet. Hierher in ihre Schlupflöcher war ihnen niemand nachgesetzt, und von ihrem Aufenthalt redeten da und dort noch in den weichen Kreidefels eingegrabene Zeichen, die gleichen, die sie zum Hohn auf ihren Kleidern getragen, Rad und Galgen. Im Volk lief noch ein von ihnen im Mund geführter Reimspruch um, durch den sie sich mit nicht minderem Hohn gekennzeichnet hatten, als

›Der Dänen Verheerer,
Der Bremer Verteerer,
Der Holländer Krüz und Belenger,
Der Hamborger Bedrenger‹.

Nun aber mußte an einem Sommerabend doch ein Schiff an der Jasmunder Nordküste Zuflucht suchen, eine schnelllaufende Snigge, die aus dem großen Belt herkommend durch den Strelasund nach Stralsund gewollt, doch von heftig aufgestandenem West ostwärts verschlagen worden. Ein Handelsfahrzeug ohne Vorderkastell war's, mit leichtem Bau seinem Namen ›Schwalbe‹ entsprechend, allein wie solche konnte es gegen den zum Sturm angeschwollenen Wind die Flügel nicht behaupten, und der Schiffer ließ mit kurzem Entschluß den Mann am Ruder gradaus unter die Deckung der Stubbenkammer zuhalten. Seine Mannschaft tat's nicht gern, die übel berufene weiße Hochwand glimmerte ihnen durchs einfallende Zwitterlicht wenig verlockend vor den Augen, und wie die Seeleute aller Zeiten und Länder waren sie böser Geistergeschichten voll. Putte Kock, der ›Putzenmaker‹, der Possenreißer an Bord, meinte: »Herr Jürgen, glöwt Ji, wi brukt unse Knaken noch günt an de Steenkant, sünst kunn ick min gliks hier vör de Dösch laten«. Doch der angesprochene Schiffer erwiderte mit trocken ernsthaftem Ton: »Nee, Putte, dat geit nich, wovun schulln wi denn Hasenpoten to Nach kaken?« Darüber grinste den andern ein breitmäuliges Lachen um die weißen Gebißreihen, die Zunge ihres Schiffsführers kriegte die des Putzenmakers doch noch unter, oder eigentlich seine ein bißchen vorgeschobene Lippe. Die Anrede an ihn mit vorgesetztem ›Herr‹ hatte, zumal da er erst in der Mitte der Zwanziger stand, Ungewöhnliches, zumeist pflegte die Mannschaft auch mit dem Schiffer in der Sprache auf gleichem Fuß zu verkehren. Doch ließ sich diesem anmerken, er sei nicht von allgemeinem Seemannsschlag; über dem hohen Wuchs und kraftvoll gewölbter Brust saß der Kopf mit einem feineren Gesichtsschnitt, als ihn die See bei der großen Mehrzahl der auf ihr Umtreibenden wahrnahm. Wer einmal den Stralsunder Altburgemeister Nikolaus von der Lippe gesehen, konnte dessen Züge bei dem Schiffer wieder herausfinden, nur jugendlicher, und die starke Unterlippe, die mutmaßlich von einem Vorahn her dem Geschlecht den Namen eingetragen, trat bei dem Sohn nicht so augenfällig vor wie beim Alten. Doch einen kühn-trotzigen Willensausdruck und die großen, blaue Strahlen werfenden Augen an den Seiten der Hakennase hatte Jürgen oder Jörg von der Lippe ohne Abschwächung vom Vater zum Erbteil bekommen.

Augenscheinlich ebenso auch die sichere Entschlossenheit bei der Ausführung eines Vorsatzes, denn vom niedrigen Hinterkastell aus griff er jetzt selbst nach dem Steuerruder, hielt die Snigge grad auf die unheimliche Kreidewand los. Wie aber in Stralsund niemand sich eine offene Widerrede gegen das Wellengedonner der Worte des Burgemeisters getraute, so verhielt auch die Schiffsmannschaft sich schweigend bei dem Tun des Jungen; sie wußte, an seinem Willen war nichts zu biegen, und sein Ansehen hatte er sich durch unschreckbaren Mut, Tüchtigkeit und Klugheit bei allen gleicherweise erzwungen wie der Alte. Die Eigenschaften bewährte er voll auch hier, durchdrang mit der Schärfe von Möwenaugen das Dämmerlicht, fand eine schmale Zugangrinne zum drohenden Felsufer auf; sein Geheiß ließ im richtigen Augenblick die Segel fallen, und sturmgeborgen schmiegte das leichte Fahrzeug sich wie ein die Flügel zusammenklappender Vogel ins Geklipp und Geklüft hinein. Daß er's so fertig bringen würde, hatte eigentlich keiner anders erwartet und nahm seine Leute im Grund gar nicht wunder, denn dafür war er Jörg vun de Lipp, der beste und keckste Schiffer an der Wendlandküste; nur daß sie die Nacht unter dem üblen Geistertreiben um die Stubbenkammer verbringen sollten, überlief ihnen mit einem Gruseln die Haut. Aber es aus dem Mund herauszulassen, verging jedem; ihr junger Schiffsführer hatte zu oft seinen Unglauben an Nachtgespenster ohne Kopf, Leichenlichter, Erdmänner und Meerweiber, Kobolde und Hexen bezeugt, und dem Spottklitschen seiner Zunge wollte sich keiner bloßlegen.

So brachten sie auf einem passenden Vorstrandplatz ein Feuer zum Brennen, sich Nachtkost daran warm zu machen; eine kleine Tonne mit kräftigem, in allen Ländern des Nordens hochgeschätztem Hamburger Bier war noch übrig geblieben, die gab Herr Jürgen zum besten. Es belustigte ihn, bei dem Schmausen in den Gesichtern der Kerle, die der grimmigsten See, dem wildesten Sturmgeheul und Brandungsgekrach lachende Zähne wiesen, die verhohlene Geisterfurcht zu lesen und daneben die Anstrengung, nichts von ihr merken zu lassen; aus ihrem Gerede konnte er herausfühlen, daß sie einen gemeinsamen Trost in sich hegten. Der abnehmende, doch noch ziemlich gutgerundete Mond mußte kommen, der ›fraß die Wolken‹, und dann ließ sich wenigstens mit Augen sehen, was auf unhörbaren Geisterfüßen heranschlich. Der Mond war überhaupt etwas viel Nützlicheres als die Sonne, denn er machte die Nachtfinsternis hell, während sie bei Tag am Himmel stand, wenn kein Licht nötig fiel. So hielten die Blicke sich nach Osten gerichtet, und dort schob sich auch pünktlich die rote Kugel aus der Wasserfläche am Horizont herauf. Daraus goß sich einige Beruhigung aus, die das gute Hamburger Bier weiter unterstützte. Der und jener legten den Kopf auf den weichen Kreidesand zurück und die Augdeckel fielen ihnen zu; der Sturmtag hatte Fäuste und Füße tüchtig im Tauwerk gerüttelt und geschüttelt, und Seeleute waren von jeher begnadet, wenn's nichts zu tun gab, in jedem Augenblick auf der Holzdiele fest wie Hamsterratten einschlafen zu können. Einige hielten noch das Mundwerk im Gang, riefen ab und zu nach den am Deck gebliebenen Wachen hinüber, sich zu vergewissern, daß dort offene Augen seien. Erfreulich kam jedesmal die Antwort zurück, das ließ am Land die noch auseinander gehaltenen Wimpern allmählich auch zublinzeln. Das Feuer losch aus und die Kohlen verglühten; dafür stand der Mond, der in der Tat nach seiner Pflicht die Wolken gefressen hatte, jetzt als Silberscheibe da, strahlte beinahe blendend von der weißen Stubbenkammerwand wieder, und ein vielfältiges Schnarchen überspann heute den sonst tonlosen Strand mit unbekanntem Geräusch. Das setzte an ihm alteingesessene Anwohner in Verwunderung, so daß sie hier und da sich aus dem Wasser am Klippengestein als dunkle Schatten in die Höhe reckten. Wie aufhorchende und umlugende Menschenköpfe nahmen sie sich aus, doch hurtig wieder untertauchend, wo etwas sich Bewegendes zu nahe an ihnen vorbeikam.

Dies war die am Strand entlang wandernde Gestalt Jörgs von der Lippe, der noch keinen Schlaf zwischen den Lidern hatte, sondern einen Trieb in sich, zur Höhe des Steilufers hinanzusteigen, um von dort in der hellen Nacht auf die See niederschauen zu können. Ein absonderes Gelüst war's, das nicht viele mit ihm geteilt hätten, doch ihn überkam's so, die Natur mußte ihm eine Anlage dazu mitgegeben haben. So scheuchte sein Schritt die huschenden Schatten, die keine ruhlosen Geister hier im Gang der Zeiten ertrunken ausgeworfener Seefahrer, vielmehr nur neugierige Seehunde waren, von dem Geklipp ins Wasser zurück, und ihm geriet's keinen Augenblick in den Sinn, sie für etwas Anderes, Übernatürliches zu halten, denn dazu trug er keinerlei Anlage in sich. Mit dem Aufwärtskommen aber wollte es eine ziemliche Strecke weit nicht gelingen, die weiße Wand verblieb dabei, gleichmäßig, fast scheitelrecht abzufallen; dann indes zerspaltete sich die Felsmasse einmal, ein Einschnitt klaffte in sie hinein, und der junge Schiffer besann sich nicht lange, drin aufzuklettern. Recht steil zwar ging's auch hier noch in die Höh', doch für rüstige Kräfte fiel's möglich, bis beinah' plötzlich der leuchtende Nachtglanz um den Aufgestiegenen auslosch, daß er nichts mehr vor sich sah, nur noch halb erkannte, hohe Laubbäume schlugen ihre Schatten über ihm zusammen. Aber von seinem Vorhaben ließ er sich nicht leicht durch ein Hindernis abbringen, sondern setzte den Fuß weiter vorwärts, obwohl er unverkennbar in völlig lichtlos dichten Wald geriet. In einer Hinsicht freilich machte sich's jetzt leichter als vorher, weil der Boden eben geworden; merkbar war er auf die Höhe der Stubbenkammer hinaufgekommen, ob auch nutzlos, denn ein freier Ausblick ließ sich hier nicht erwarten oder wenigstens nicht finden. Da er gleichfalls eine gesunde Mitgift von Vernunft im Kopf herbergte, wollte er von weiterem abstehen und zum Strand zurück umkehren; das erwies sich jedoch als nicht so leicht ausgeführt, wie beabsichtigt: ihm konnte bald nicht viel Zweifel bleiben, er habe auch die Richtung, aus der er hergeraten, nicht wieder gefunden. Hier oben war's nicht still, wie drunten unterm Windfang oder mindestens nicht in der Höhe; ein Sausen durchfuhr die Luft, als jage das Heer des wilden Jägers droben, oder als donnere eine Brandungswelle um die andere durch die Wipfel der mächtigen Bäume; der noch andauernde Weststurm schleuderte sie krachend ineinander. Endlich nach geraumer Zeit glaubte der im Dunkel Umhertastende doch an den Ausgang zurückgekommen zu sein, ein Schimmer fiel ihm entgegen, auf den er zwischen alten Buchenstämmen hindurch zuschritt. Wie er in der Tat so ins Freie hinausgelangte, lag aber völlig anderes vor seinem Blick, als das Erwartete, nur eine kleine, nicht mehr als einige hundert Schritt lange, rundum von Baumriesen umgebene Lichtung, die nur eben unterscheidbar ein schwarzer Wasserspiegel ausfüllte. Diesen zu erhellen, stand der Mond noch nicht hoch genug, erst am westlichen Rand begann er über die Wipfel her einen schmalen Flimmerstrich entlang zu ziehen, das übrige deckte tiefer Schatten. Hier herunter vermochte der Wind nicht zu stoßen, die Fläche des winzigen Waldgewässers dehnte sich reglos und lautlos im Dunkel hin. Nur ein leicht plätschernder Ton scholl von ihr her, drüben mußte sich ein Fisch aufschnellen, und auch ein Ungewisses Geflimmer wie von silbernen Schuppen deutete die Stelle.

Aber da überlief's doch auch Jörg von der Lippe einmal ähnlich den Rücken, wie seinen vor Nachtunholden grauelnden Leuten drunten am Strand. Der Mond verbreiterte rasch seine Bahn auf dem kleinen See, und in ihr nahm der jetzt deutlicher wiederum auftauchende Fisch etwas Menschenartiges an. Beim ersten Draufblick zwar hielt der Hinüberschauende es nur für ein Täuschungsbild in seinen Augen, doch schnell konnte kein Zweifel bleiben, es seien weiße Schultern und Arme, die blinkernde Wellenkreise um sich erregten, sich daraus hervorhoben und niedersenkten. Dann auch ein Gesicht wie der offene Kelch einer großen Wasserrose, über die sich ihre Blätter dunkel zusammenzufalten schienen; indes die Helligkeit nahm so zu, daß sie sich als dunkles, ausgebreitet und langfließendes Haar erkennen ließen. Alles umgab wie mit leichtem Schleiergewebe ein Gerinnsel glitzernder Tropfen, als ob Silberfunken die Luft durchsprühten; so hielt sich's in der anwachsenden Glanzgarbe des Gewässers, trieb gleichsam mit dieser näher der Seite zu, wo der junge Beobachter nicht wahrnehmbar im tiefen Schattenfall stand. Körperlich bewegte er sich nicht, aber im Innern durchging ihn eine fremdartige, starke Erregung, halb schreckhaft und halb mit einem reizvoll überfließenden Schauer. Das Gerede des Volksmundes hatte also doch recht, es gab in Wirklichkeit Wesen von äußerer menschlicher Erscheinung, doch nicht menschlicher Natur, die nächtlich an einsamen Orten aus Erdgründen und Wassertiefen heraufkamen, bis zum Morgengrau beim Mond- oder Sternenlicht Luft in sich einzuatmen. Mitternacht mußte ungefähr über dem See liegen, und die aus ihm herauf Gekommene konnte nichts anderes sein als ein Meerweib, dessen Fischschwanz sich unsichtbar unter dem Wellenglimmern barg. Erkennbar war nur, an Gestaltung und Antlitz sei's keine Unholdin, sondern eine noch ganz junge Seejungfer mit mädchenhaft gebildeten Gesichtszügen. Da tat Jörg von der Lippe unwillkürlich etwas, was er gleich nachher bereute. Doch ihn überfiel's mit einem Schreck, sie komme mit der Mondbahn bis dicht vor seine Füße ans Ufer heran, und ihm flog ein Ausruf vom Mund, sie davon abzuhalten, unbedacht, er wußte nicht warum, denn er hätte sie eigentlich gern noch näher und deutlicher gesehen. Bei dem Ton aber schlug ein Rauschen des Wassers auf, unter das, blitzschnell verschwindend, das weiße Gebild niederschoß. Ein glimmerndes Wallen an der Oberfläche zeigte, daß es ein Stück weit eilig unter dieser sich schwimmend fortbewegte; danach tauchte noch ein paarmal nur augenblickkurz ein ungewiß blinkender Schein auf, entfernte sich hurtig weiter und losch, wie in den Grund versinkend, unter schwarzem Schatten am Nordrand des Sees aus. Dorthin suchte der Veranlasser dieses raschen Vorgangs mit einiger Schwierigkeit sich nun auch durch sperrendes Unterholz einen Durchweg, doch, als er an das Wasserende gelangte, lag alles ohne Regung und Laut, und sonderbar war auch sein Mund, der einen Ruf ausstoßen wollte, außer stande, diesen laut hervorzubringen. Nur der Sturm röhrte über seinem Kopf in den Baumwipfeln; ihm kam's vor, als träume er nur davon, daß er umblickend und aufhorchend hier in der nächtigen Einsamkeit stehe. Dann jedoch besann er sich auf die Wirklichkeit; der Mond war inzwischen hoch genug aufgestiegen, auch den Waldgrund mit einem Dämmerschein zu durchsetzen, und kundig, sich nach den Himmelsrichtungen zurecht zu finden, kehrte er ziemlich gradenwegs an die Felskluft, durch die er emporgeklettert, zurück, kam zum Strand hinunter und streckte sich, von der Nachtwanderung schlafsüchtig geworden, neben seinen schnarchenden Schiffsleuten auf den Sand. Beim Aufwachen mußte er sich erst etwas besinnen; die Sonne fiel ihm ins Gesicht, doch er meinte, es sei der Mond, und zwischen seinen aufgeschlagenen Lidern lag ein eigentümlicher Ausdruck, daß einer von der Mannschaft dem bei ihm Stehenden ins Ohr raunte: »Kiek sin Oogen, he hett vun Nach wat sehn.« Im übrigen waren alle jetzt im Tageslicht ihrer Geisterfurcht ledig und warteten auf das Geheiß, die Segel der Snigge wieder loszumachen: der Sturm hatte sich augenscheinlich draußen auf der See soweit gelegt, daß kein Bedenken mehr vom Auslaufen abhalten konnte. Zur allgemeinen Verwunderung aber zeigte der junge Schiffer sich heut' morgen überbehutsam; er stand eine Zeitlang nachdenklich über das ruhige Wasser ausblickend, sagte dann kurz, draußen stehe die See noch hoch mit widrigem Wind, es sei nötig, noch bis zum Mittag zu warten, und nach dieser Äußerung ging er davon, am Strand entlang, anfänglich ab und zu anhaltend, als ob er sich an dem Treiben der Seehunde belustige. Aus den Augen der Nachschauenden gelangt, beschleunigte er indes den Schritt und stieg wieder durch den Felseinschnitt, den das Mondlicht ihm gedeutet, aufwärts. In seinem Kopf lagen zwei Dinge miteinander im Widerstreit, die gesunde Vernunft, mit der er immer über den Glauben seiner Schiffsgenossen an Wasseralben und Meerweiber gespottet hatte, und die Erinnerung an das, was ihm in der Nacht droben vor Augen gestanden. Daran mußte, wenn's im wachen Zustand auch aus seinem Gedächtnis weggeschwunden war, vermutlich während des Schlafs ein Traum noch fortgesponnen haben, denn seiner hielt sich eine unbekannte Gewalt bemächtigt, über die er zum erstenmal im Leben mit vernünftiger Überlegung und Willenskraft nicht aufkommen konnte. Ein wunderliches Gefühl ließ ihn nicht los, in dem Wald über der Stubbenkammer sei gar kein See vorhanden, sondern seine Einbildung habe ihm den nur vorgespiegelt und etwas Weißes hineingesetzt, das er von der mondbeschienenen Kreidewand in seinen Augen mit hinaufgebracht.

Darüber ins klare zu geraten, trieb's ihn nochmals durch die Kluft in die Höh', und jetzt im Morgenlicht fiel's ihm leicht, die Richtung, die er gestern genommen, wieder zu finden. Unerwartet schnell lichteten sich die alten, wohl manchhundertjährigen Buchen, und da lag wirklich das dunkle, ringsum dicht von hohem Laubgürtel umschlossene Wasserbecken vor ihm, bei Tage noch weniger umfangreich erscheinend als in der Unsicherheit des Mondlichts. Den Hinzutretenden rührte es wie mit einer befreienden Empfindung an, daß er sich nicht töricht von einem Gaukelspiel in seinem eigenen Kopfe habe betrügen lassen, und er sah durch die kleinen Lichtungswände umher. Völlig lautlos war's überall, und ganz unbewegt breitete das Gewässer sich wie ein großes, nachtschwarzes Auge aus, nur an den Rändern spiegelten die alten Baumkronen aus der Tiefe zurück. Drüben am Westrand hob die Ufereinfassung sich beträchtlich höher auf, doch wie's erschien, nicht von der Natur so geschaffen, Menschenhände mußten dran tätig gewesen sein. Aber vor langen Zeiten, denn auf einem sich im Halbkreis rundenden, mauerartigen Erdwall standen die Buchenstämme zu gleicher Mächtigkeit emporgewachsen wie an den übrigen Seiten; zerstreut lagen einige große Steinblöcke, halb übermoost und grasumwuchert, da und dort, wie einmal von der Wallhöhe niedergerollt.

Nun jedoch faßte den Umherblickenden ein entgegengesetztes Gefühl an; ungefähr inmitten des Sees nahm er etwas Weißes gewahr, das sich zweifellos als etwa ein halbes Dutzend nahe zusammen gedrängter blühender Wasserrosen ergab. Daraus befiel's ihn mit einem Unmut, denn ihm ging Erkenntnis auf, er habe sich doch selbst einbildnerisch betört. Der Sturm war von oben heruntergefahren, Wellen erregend, von denen die weißen Blumen hin und wider geschaukelt worden, und seine, vom erhitzenden Aufstieg mit Blut überfüllten Augen hatten im Mondlicht aus den auf und nieder bewegten Blüten ein Gesicht, Schultern und Arme erschaffen. Diese einfache Erhellung seines Selbstbetrugs verdroß ihn zwar, ließ ihm indes doch auch ein Lachen vom Mund klingen, auf das aber seltsam ein anderes erwiderte. Stutzend horchte er; jetzt verstummte es, und unwillkürlich rief er laut: »Wer lacht da?« – »Lacht da,« kam eine Antwort zurück. Da ging's ihm auf, daß er sich abermals einer Täuschung nicht erwehrt habe; nur ein Echo seiner eignen Stimme von der Laubwand drüben überm See war's gewesen. Doch trotzdem konnte seine Vernunft nicht Herrin über die Vorstellung werden, der Rückklang sei aus dem Wasser heraufgekommen, von dorther, wo in der Nacht die Gestalt seiner Einbildung zum Grund hinuntergetaucht war. Er begriff sich nicht, die einsame Waldstelle trug verschwiegen Geheimnisvolles in sich, das ihm sein selbstsicheres Wesen fremd verwandelte. Von einer Furcht vor etwas Unsichtbarem durchlaufen, stand er, vermochte am lichten Tag nicht Herrschaft über das Trugspiel seiner Sinne zu behaupten.

Dann suchte Jörg von der Lippe mit einem gewaltsamen Ruck diese Fremdherrschaft abzuwerfen und setzte den Fuß weiter. Doch nicht ostwärts zurück, er sagte sich, wenn er die Richtung nach Norden einschlage, müsse er, die Wand der Stubbenkammer umbiegend, ebenfalls an den Strand hinunter und diesem entlang zu seinem Schiff kommen. Das bewährte sich, eine Strecke weit dauerte der Wald noch an, danach gab kreidiger Steingrund keinen Wurzeln mehr Nahrung, und vor freier Ausschau dehnte sich drunten die See. Nicht steil ging's hier abwärts, sondern mählich, nur hin und wieder einmal sprang eine Felsrippe vor, in die augenscheinlich zur Herstellung eines Pfades von Menschenhand Stufen eingekerbt worden, wohl in schon ferner Vergangenheit, denn sie waren ausgeschürft und vom Regen verwaschen. Damals mußten also menschliche Bewohner hier gehaust haben, nicht nur Alben und Meerweiber; wider seine Verstandeseinsicht blieb der Hinuntersteigende von dieser Vorstellung der letzteren umsponnen. Nun jedoch gewahrte er Unerwartetes; nicht allein in Vorzeiten hatten Menschen hier gelebt, sondern taten's noch. Linkshin zog sich, die offene See von einem Binnenhaff, einem ›Bodden‹ abscheidend, eine lange, ganz schmale Sandnehrung, und an ihrem Beginn hoben sich aus der weiten Öde ein paar niedrige Hütten vom Boden auf; offenbar trachteten dort Fischer aus diesem nie besuchten Erdfleck ihrer Nahrung nach. Beträchtlich weit noch war's zu ihnen hinüber, und der niederfallende Pfad bog jetzt von ihrer Richtung zur Rechten ab an den Strand hinunter, wo schon der nördliche Absturz der Stubbenkammer dicht herzutrat. Da hielt der Schiffer überrascht vor einem unerwarteten Anblick den Fuß an.

Auch hier, in völliger Einsamkeit lag ein Haus, erst ganz in der Nähe zu gewahren, zur See hinaus durch einen Dünenwall gedeckt, an den Seiten von zerklüftetem Felsgestein umfaßt und überragt, wie zu diesem gehörig erscheinend. Mit seiner Farbe hob sich's in nichts davon ab, denn es war aus losgebrochenen, nur roh behauenen Stücken der weißen Kreidewände aufgebaut, nur das Dach von breitübergelegten, dicken, mit Seetang ausgefugten Baumstämmen gebildet und die Zugangstür aus Holzbohlen gezimmert. So lag's absonderlich da, breitgestreckt, keiner Fischerhütte gleichend, wie eine für die Ansammlung von vielen hergerichtete, zum Schutz gegen Unwetter überdeckte Halle; noch verwundersamer aber stellte sich ein Zierat an den Wänden dar. Wo bis zu Manneshöhe aufwärts ein Stück ebener Fläche es möglich gemacht, waren in das weiche Gestein Bildumrisse von Rad und Galgen eingeritzt, neben der Tür einer, der einen Mann in Scharfrichtertracht mit hoch aufgehobenem Schwert wiedergab. Der seltsame Bau schien leblos verlassen zu sein, nur eine große Möwe mit breitklafterndem Flügelschlag zog drüber hin. Doch wie sie beim Anblick des von der Waldhöhe Herabgekommenen einen schrillen Ruf ausstieß, ging die breite Türbohle auf, und ein Weib trat in die Öffnung. Sichtlich eine Wendin, das dunkle Haar fiel ihr, leicht graudurchsprenkelt, lang bis über die Hüften herunter und darunter ein wunderliches Gewand vom Hals zu den Füßen nieder, denn sein baumrindengrauer Stoff war ebenso wie das Haus mit kleinen Abbildern von Galgen und Rädern besteppt. Sie heftete die schwarzen Augensterne mit einem scharf eindringenden Blick auf den unweit vor ihr Stehenden, betrachtete ihn kurz und fragte dann in der Sprache des niederdeutschen Nordens: »Von wo kommst du hierher?« Auch ein paar schattenhafte Furchen auf ihrer Stirn taten kund, daß sie für eine Frau nicht mehr jung sei, doch in ihrer Stimme lag noch etwas Helltöniges, an den Klang von kleinem Strandgestein erinnernd, wenn die Uferwellen dazwischen hineinspielten.

Verwundert hielt auch der Befragte den Blick in ihr Gesicht gerichtet und antwortete: »Wohnst du in diesem Kreidehaus? Du trägst ein sonderbares Kleid.«

Nun zog sie die Oberlippe zu leichtem Lachausdruck über die weißen Zähne herauf und gab zurück: »Solches Kleid webt der Wind hier. Kennst du's nicht? Da kommst du nicht mit rotem Segeltuch.«

Es regte den Eindruck, daß er ihrer Augenprüfung nicht mißfalle, denn sie setzte hinzu: »Hast du Hunger? Das Haus steht offen. Iß und trink!«

Sich umkehrend, trat sie ins Innere zurück, das ungeteilt nur einen einzigen großen Raum enthielt. Er sah aus, als diene er einer beträchtlichen Anzahl von Männern zum Aufenthalt, doch befand sich niemand drin. Auf Gesimsen standen erzene Becher und Humpen, Schilde und mancherlei Gewaffen hingen an den Wänden, die von Bänken umlaufen waren; ein riesiger Tisch aus Eichenholz mit dicken Kolbenbeinen nahm fast eine der Querseiten ein. Gegenüber lag die gleichfalls aus geschwärztem Kreidegestein aufgerichtete Herdstatt, zwei Lagerstätten erhoben sich kaum fußhoch über dem Boden, doch zeigten sie sich auffällig mit prächtigstem ›Buntwerk‹ aus Nowgorod überdeckt, wie die Pelzschauben der vornehmsten Ratsherren in den großen Hansestädten es nicht kostbarer aufweisen konnten. An mehreren Stellen waren in die Wandungen runde Fensteröffnungen hineingebrochen, durch die Licht in den eigentümlichen Raum des Baues fiel, der wohl kaum irgendwo an der Ostsee seinesgleichen haben mochte; Jörg von der Lippe wußte ihn sich nicht zu deuten. Er saß an dem Tisch, wo die Bewohnerin des weißen Hauses auf einer Erzschüssel einen kalten gebratenen Buttfisch vor ihn hinsetzte und Brot daneben legte; da er in der Tat von Hunger befallen worden war, griff er unwillkürlich zu und aß. Nun holte sie einen Krug, nahm einen gewaltigen Humpen vom Sims, den sie mit goldgelbem Met anfüllte und dazu sagte: »Kannst du den mit einem Zug zwingen?« Das Riesengefäß ansehend, schüttelte er den Kopf: »Das kann ein Mensch nicht.« Sie schlug ein Lachen auf: »Einer war, der hat's gekonnt. Aber du hast nicht von seinem Blut in dir. Was hat dich hergebracht? Sag, wer du bist?«

Sie setzte sich neben ihn, und er gab ihr Auskunft; während er sprach, suchte sein Kopf vergebens umher, was er aus ihr und ihrer Behausung machen solle. Wer hatte die so gebaut, so ausgerüstet und lebte mit ihr drin? Keine Fischerhütte war's und sie kein Fischerweib; in ihrem Behaben und Gesicht lag ganz andres, nicht Benennbares, sie mußte schön gewesen sein, war's noch jetzt. Aber auf Fragen, die er vorbrachte, antwortete sie nicht, sondern lachte. Nur wie er von dem kleinen See droben im Wald redete, erwiderte sie: »Willst du jung bleiben, schwimme drin. Herthas Wasser gibt Jugend und Kraft.« Ihre Art erregte ihm den Eindruck, als ob sie nicht ganz rechten Sinnes sei; das mußte sie ihm aus dem Blick lesen, ihr kam vom Mund: »Du denkst, was war; aber was war, ist gewesen. Im Herbst werden die Früchte reif und die Menschen klug. Das tut die Sonne, die ist stärker als der Mond. Nur über junges Blut hat er mehr Gewalt als sie. Warest du im Mondlicht an Herthas Wasser? In deinen Augen steht's. Der Mond hebt die Wellen aus dem Grund, daß sie schwellen und kreisen. Ich bin nicht mehr töricht, aber du bist noch zu jung und mußt in die Sonne.«

War das Irrsinn oder was? Der Hörer vermochte sich's nicht zu erklären, doch fühlte er, sein Kopf sei heute in einem sonderbaren Zustand, der ihm längeres Verbleiben in dem wunderlichen Raum nicht rätlich mache. Aus den Reden des Weibes kam etwas ihn wie mit einem Schwindel Anfassendes; er stand auf, dankte für die Bewirtung und zog ein Geldstück hervor, um es auf den Tisch zu legen. Doch die Frau sagte mit einer geringschätzig abweisenden Handbewegung: »Behalt's, das hast du nötig, nicht wir.« Den Sinn schien's zu haben, daß Geld hier in der Einöde wertlos sei, da sich nichts dafür kaufen lasse. Aber wie sie hinterdrein sagte: »Wir haben genug an der Ehre, die ein Burgemeistersohn von Stralsund uns angetan,« nahm sein verwirrter Blick zum erstenmal gewahr, die schwere Schüssel, aus der er gegessen, sei von getriebenem Silber. Lachend setzte sie nochmals hinzu: »Vielleicht kommt auch einmal ein König zu uns zu Gast, dem müssen wir auf goldnem Gerät aufwarten.« Zugleich jedoch regte sich etwas unter der offen gebliebenen Türwölbung, die Augen Jörgs von der Lippe gingen unwillkürlich dorthin, und plötzlich stieß er besinnungslos hervor: »Du warst es – du bist's –«

Ein Mädchen trat herein, auf den ersten Blick als die Tochter des Weibes erkennbar. Die Antlitzzüge waren die gleichen, und das gleiche, seltsame Gewand umgab ihren schlanken Wuchs; nur sahen zwei grauperlend helle Augensterne aus dem Gesicht, und sie trug das lange, schwarze Haar zu einem losen Knoten verschlungen über dem weißleuchtenden Nacken. Ihre Hand hielt in einem Rohrgeflecht am Strand gesammelte Möweneier, die bloßen Füße setzten sich schmal, doch zu vollkommener Schönheit ausgebildet unter dem Kleidsaum vor. Höchstens siebzehnjährig mochte sie sein, blickte erstaunt den unerwarteten Fremdling an.

In seinem Gedächtnis war aus den Worten der Mutter undeutlich etwas einmal Vernommenes aufgewacht, ein Name, den er als Kind von einem Schiffer aus Olde Vehr, dem Dorf auf Rügen Stralsund gegenüber, nennen gehört. Das ließ ihn ungewiß jetzt die Frage vom Mund kommen: »Bist du Hertha – und gehört dir der See dort oben im Wald?«

Die Frau sah ihn kurz, wie nach einem Verständnis suchend, an, dann gab sie, wieder lachenden Tons, Antwort: »Ja, Hertha gehört er, meiner Tochter. An seinem Grund steht ihr Schloß, und alles hier ist ihr zu eigen, Wasser und Land. Ich bin ihre Dienerin nur und darf über ihrem Schlaf wachen, wenn die Nacht kommt. Willst du schon fort von uns, Jörg von der Lippe? Setze dich noch wieder, ich sehe, Hertha erlaubt dir's noch zu bleiben.«

Die Sprecherin holte ein kostbares Zobelfell herbei, das sie über eine Bank zum Sitz für ihre Tochter deckte; darauf ließ diese sich nieder, und sinnverworren setzte auch der junge Schiffer sich zurück. Er wußte nicht, was ihm seinen ersten jähen Ausruf entrissen habe; zu unsicher hatte das Mondlicht der Nacht den See übersponnen, um die Gesichtszüge der weißen Erscheinung zwischen den glimmernden Wellen unterscheiden zu lassen. Aber trotzdem erfüllte ihm gleichsam Leib und Seele eine Überzeugung, die dort vor ihm Sitzende sei's gewesen, durchfloß ihn mit einem unbekannten, zugleich schreckhaften und köstlichen Grausen. War's ein Menschengeschöpf oder eine Seejungfer? Ihr Schloß, hatte das Weib geredet, stehe drunten am Wassergrund, und alles umher gehöre ihr zu eigen; so sprach das Volk von der Hertha, die droben auf der Insel bei der Kreidewand hause. Wortlos sitzend, richtete er den Blick unter niedergeschlagenen Lidern auf ihre Füße hinab. Die erschienen als ungewöhnlich schöne Füße eines jungen Mädchens, fast noch wie die eines erst halbwüchsigen Kindes. Doch er traute seinen Sinnen nicht, sie umgaukelten ihm seit gestern Auge und Ohr mit Täuschung. Freilich auf einem Fischschwanz hätte sie nicht durch die Tür hereingehen können, aber wie die Hüter von etwas Geheimnisvollem umschlossen die Wände des weißen Steinhauses den Raum, und seine Luft atmete sich ein, als sei Betäubendes in ihm. Mit einem Ausdruck von Verwunderung hafteten die hellen Augen der Hertha auf dem Gesicht des jungen Gastes, wie wenn sie bis heute noch nichts seiner Art gesehen habe. Doch mehr noch staunte er bei ihrem Anblick; war sie ein Menschenkind, so gab's kein ihr ähnliches, das ihm irgendwo begegnet. Das Gewand mit den abstoßenden Bildzeichen fiel an ihr nieder, als sei's ein Fürstenmantel, und sie saß auf der Holzbank wie auf einem Thron. Oder lag eine Berückung über seinen Augen, die ihm nur ein solches Bild vorspiegelte? Er hatte noch keinen Ton aus ihrem Munde gehört und konnte sich ihre Stimme nicht vorstellen; endlich gelang's ihm, Mut und Sprache zu finden, die Frage von den Lippen zu bringen: »Bist du heut' nacht droben in dem See geschwommen?«

Nun antwortete sie: »Ja. Ich tu's immer, wenn der Mond hoch am Himmel ist.« Die Stimme klang hell gleich ihrem Blick, dem Hörer war's; als schimmere auch aus ihr ein Glanz. Doch ganz einfach hatte sie's erwidert und fügte nach: »Woher weißt du's?«

»Ich sah dich und rief dir zu. Bist du ein Mädchen?«

Bedachtlos und unbewußt flog's ihm hervor, er erschrak, wie er's in seinem Ohr gehört, und widerrief's hastig: »Nein, nur etwas im Wasser sich bewegen sah ich, doch konnt' es nicht erkennen, ich glaubte ein Fisch sei's.«

Seinem Gefühl war auf einmal doch zweifellos aufgegangen, ein Menschenkind sitze vor ihm, ein Mädchen, dem seine Augen Unziemliches angetan, das er unverhohlen kundgegeben. Furcht hatte ihn befallen, sie werde sich beleidigt von ihm abkehren und davongehen, doch ihr Gesicht zeigte nichts von Unwillen, sie blickte ihn an wie zuvor und versetzte: »War's deine Stimme, die ich hörte? Also redest du mit Fischen bei Nacht?«

Dazu lachte sie fröhlich, und ihm ward's, als sei zugleich Mondlicht und Sonnenglanz um ihn. Vom blinkenden Wellenspiegel gewiegt sah er sie, und sie saß da in dem rätselhaften Kleid; nicht Begreifbares umwob sie mit einem Schleier, doch ein junges Menschenbild, wie er noch keines gesehen. Nicht an dem Maß anderer Mädchen in Städten und Dörfern war sie zu messen, denn ihr Gleichendes gab's nicht zum andernmal; wie ein lebendiges Abbild des weißen Kreidefelsens mit dem dunklen Waldkranz auf seinem Scheitel erschien sie, aus ihm zum Licht unter Sonne und Mond heraufgekommen. Auch der junge Schiffer mußte jetzt lachen, über sich selbst, daß er zur Nacht mit einem Fisch gesprochen haben sollte. Ihm war's nicht mehr unheimlich in dem Kreidehaus mit der seltsamen Ausstellung von Waffen und Schilden, kostbarem Pelzwerk und silbernem Gerät; für sein Empfinden gebührte das alles der Hertha, deren Dienerin sich ihre Mutter benannt, und er sann nicht darüber nach, wie es in diese Strandöde hergeraten sei. In seinem Kopf war für kein Denken Platz, er sah und hörte nur die hellen Augen und die helle Stimme vor sich. Denn sie redeten jetzt weiter miteinander; die Frau ging an den Herd, Mittagskost zuzurüsten, und die beiden blieben, hin und her sprechend, scherzend und lachend, als wären sie sich altbekannt, an dem großen Eichentisch sitzen. Der mußte mancherlei befahren und gesehen haben; runde Kringe hatten sich vielfach in seine Platte eingedrückt, wie vom Niederstoßen schwerer Erzhumpen, und quer drüberhin lief ein Schnitt, als ob einmal ein Schwerthieb auf ihn heruntergefahren sei.

Als Jörg von der Lippe unter dem Steilhang der Stubbenkammer weiter am Strand entlang schritt, war die Sonne aus ihrer Himmelshöhe schon wieder ein Stück abwärts gestiegen, und ihm lag's um die Sinne, er habe die Tageshälfte in einem Traum verbracht, aus dem er noch nicht zum Wachwerden gekommen. An den Ankerplatz seiner Snigge zurückgelangt, sprach er kaum, gab nur kurz Befehl zur Abfahrt; Putte Kock, der Putzenmaker, zerrte mit einer Grimasse seine Mütze vom struppigen Kopf und blies mit aufgepumpten Backen hinein. »Wat hest to pusten?« fragte einer, und er antwortete: »Güstern to veel, hüt to münner; ick versök, dat wi'ne Mütz vull Wind kriegt.« Doch Herr Jörgen schürzte die Lippe nicht zu einer Abfertigung der anzüglichen Rede, ließ sie ganz unbeachtet, schaute nur mit abwesendem Blick vor sich hin. So seinem Wesen zuwider, daß die Mannschaftsleute sich ins Ohr tuschelten: »De löppt nich wedder an de Kriedkant an, de hett wat sehn.« Im übrigen verhielt sich's draußen mit der Windlosigkeit nicht allzu schlimm, aus der Stille unter der Stubbenkammerwand herausgebracht, blähte die ›Schwalbe‹ ihre Linnenflügel doch genügend auf, um, südwärts davonziehend, nach ein paar Stunden die menschenlos öde, vielzerrissene und zerklüftete Halbinsel Mönchgut zu umkreisen. Der Sommertag erhielt lange seine Helligkeit, geleitete die Snigge durch den Greifswalder Bodden bis in den schmalen, den Südrand Rügens vom Festlande abtrennenden Strelasund, und als sie an der kleinen Insel Strela vorüberlief, hoben sich unweit hinter dieser in erst beginnendem Dämmerlicht noch deutlich unterscheidbar die hohen gotischen Türme der Jakobi- und Nikolaikirche jenseits der mächtigen Umwallungsmauer Stralsunds in die Luft; die gewaltige Marienkirche, die vordem alles überragt gehabt, befand sich, gegen den Ausgang des letzten Jahrhunderts mit ihrem Hauptteil zusammengestürzt, noch erst im Wiederaufbau. Überaus festgesichert lag die Stadt, ringsum vom Wasser des Sundes und drei kleiner Landseen oder großer Teiche umschlossen, auf einer Insel, nur über drei schmale Dämme durch starke Tore vom Land her Zugänge verstattend. Das Schiff legte neben dem außerhalb der Mauer belegenen Kloster und Siechenhaus ›Sankt Jürgen am Strand‹ an und der heimgekehrte Schiffer erhielt, dem Wächter aus Knabenzeit her bekannt, durch das bereits nächtlich mit aufgezogener Zugbrücke wohl verwahrte, schon manches Jahrhundert alte ›Knieper Tor‹ Einlaß. Eine Straße mit hochgegiebelten Häusern durchschreitend, trat er bald auf den ›Alten Markt‹ hinaus, über den sich als dunkle Schattenmasse die Nikolaikirche emporhob, daneben breit hingelagert das vielbetürmte Rathaus. Dem gegenüber ragte ein besonders stolzer Giebelbau auf, ehemals der Wohnsitz des Burgemeisters und Flottenhauptmanns Wulf Wulflam, der »der reichste Mann an der ganzen Ostsee« gewesen, vor der Königin Margarete selbst wie ein Fürst gestanden hatte, und als er seine Braut zum Altar in der Nikolaikirche geführt, mit ihr über den Alten Markt ganz auf kostbarstem, lündischem Tuch dorthin geschritten war; nun aber lag sein Haus lange verwaist, da er während der blutigen Wirrsale im Innern der Stadt vertrieben worden und in der Fremde gestorben. Nah' vor der Tür war bald danach der Kopf seines Hauptgegners, des Burgemeisters Karsten Sarnow auf dem Marktplatz unterm Richtschwert gefallen. Heute jedoch lag alles still und friedlich im einfallenden Nachtdunkel, die Angehörigen der ›Geschlechter‹ saßen bei den Weinkannen in der Trinkstube des Rats, die Zünfte beim Hamburger Bier in den Gildestuben versammelt, und unter einem alten, den Markt begrenzenden, pfeilergetragenen Laubengang mit gotischem Gewölbe hindurch trat der junge Führer der Snigge in einen weitgeräumigen Hausflur und, die breite Treppe aus schwedischen Granitsteinen hinansteigend, in ein großes, von Pechpfannen erhelltes Gemach. Dort auf einem Tisch brannten zwei dicke Wachskerzen, davor saß, ein Schriftstück überlesend, ein Mann von machtvollem Wuchs mit vollem, fast weiß den Kopf bedeckendem Haar. Das war der jetzige Altburgemeister Stralsunds, Herr Nikolaus von der Lippe; von dem Pergamentblatt weg richtete er seine scharf eindringenden Augen auf den Ankömmling, erhob sich und sagte, diesem die wuchtige rechte Hand hinstreckend: »Bist du zurück? Steht's zurecht auf der Schusterbrücke in Bergen?«

So hieß das wichtige Hansakontor droben in der norwegischen Stadt, deren deutsche Kaufleute und Gewerbtreibende unter dem Sammelnamen ›Schuster‹ zusammengefaßt wurden. Es zeugte von starkem Vertrauen in die Tüchtigkeit und Einsichtigkeit des jungen Mannes, daß er nach Bergen geschickt worden war, die dortigen, vielfach unliebsam zerfahrenen und verwilderten Zustände zu begutachten und Bericht davon abzulegen. Das tat er jetzt und offenbar mit klugem Einblick zur Befriedigung des Hörers. Doch seltsam stach sein Verhalten von dem ab, das er auf dem Schiff gegen die Mannschaft gezeigt. Nichts Kühnes und Selbstbewußtes lag darin, geschweige denn Trotziges; unsicher, beinahe scheu stand er, die Augenlider halb niedersenkend. Man sah, hier fühlte er sich nicht als den Herrn, nur als der Junge vor dem Alten, war der Sohn des Hauses noch wie in Knabenzeit ohne eigenen Willen; ihn schreckte kein Sturm und keine Gefahr, aber vor dem auf ihm haftenden Blick des Vaters strich er die Segel seines Muts und seiner Zuversicht. So brachte er den Bericht zu Ende, und Herr Nikolaus nickte: »Gut, ich bin mit dir zufrieden. Du hast die Augen offen gehabt. Das Salzwasser macht Hunger und Durst; setz' dich an den Tisch.« Weiter, nach der langen Fahrt, ob sie an den nordischen Schären oder sonst in den dänischen Wassern bedrohlich gewesen sei, fragte er nicht; selbstverständlich war's, daß sein Sohn über jeden Widerstand Herr geworden. Dann saßen sie zusammen beim Nachtmahl, daran auch Adelheid und Landhill, die Hausfrau und Tochter, mit teilnahmen, und aus gefülltem Pokal dem Heimgekehrten den Willkomm zutrinkend, sprach Nikolaus von der Lippe danach: »Richlint Wulflam wird morgen warten, daß du ihr von deiner Bergenfahrt erzählst.« Eine Nachkommin des großen Geschlechts war's, und schon seit einiger Zeit war in der Stadt Rede gegangen, um langjährigen Zwist zur Ruh' zu bringen, trage der Burgemeister eine Verbindung zwischen ihrer Sippe und der seinigen im Sinn. Das fiel dem Angesprochenen nicht ein und gleichgültig, mit halbem Lachen gab er Antwort: »Da wird Richlint Wulflam umsonst warten, denn ich weiß zu tun, was mir lieber ist.« Doch sein Vater versetzte drauf: »Ich denke, dem Werber kann nichts lieber sein, als Rede mit der Jungfrau zu pflegen, die er sich zur Braut küren will.« Nun nahm Jörg gewahr, daß die buschigen Brauen des Alten sich etwas auf die Augenhöhlen herabzogen; ablenkend erwiderte er: »Meßt Ihr mir solcherlei Vorhaben zu? Dafür halt' ich mich zu jung noch und gedenke Eurem Vorbild nachzufolgen, erst reifer an Einsicht Euch eine Schwätzerin ins Haus zu führen.« – »Dessen bedarfst du nicht, da meine reife Einsicht dir beihilft. Mit der habe ich die Wahl für dich getroffen; Richlint Wulflam bringt deiner Zukunft das Ansehn ihres Geschlechts zu und reichere Brautgift, als eine zweite Tochter unserer Stadt.« Bedachtlos flog dem Jüngeren heraus: »Um Geld brauch' ich nicht zu freien, dessen hab' ich selbst genug.« Jetzt aber schob Herr Nikolaus die breite Unterlippe vor und entgegnete scharftönig: »Du hast Geld, weil dein Vater es seinem Sohne gibt. Wäre meine Lade dir zugeschlossen, hättest du keines.« Ein schreckhafter Ausdruck befiel die Gesichter der Mutter und Schwester Jörgs, ängstlich sahen ihre Augen auf ihn hin, denn er stand vom Sitz auf, und über seiner Stirn schien mit einer roten Flamme als sein väterliches Erbteil auch der Willenstrotz emporzuschlagen. Doch vor dem stählernen Blick des Alten verstummte der Junge, die Antwort, die sich ihm aufgedrängt, stockte auf seiner Zunge, und er entgegnete nur: »Ich habe in letzter Zeit nicht Schlaf gefunden und bin müde; verargt mir nicht, Herr Vater, daß ich Euch für heute schon verlasse und in meine Kammer gehe.« Das Blut derer von der Lippe kennzeichnete sich in seinem Gesicht, aber aus seiner Stimme wagte es sich nicht hervor.


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