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Achtes Kapitel

Kann ein Tag zugleich wie eine Minute und wie ein Leben sein?

Es galt den Vormittag mit etwas Anderem, als dem ruhlosen Wechselgespräch mit dem klopfenden Herzen auszufüllen. Vielleicht war Erich Billrod zurückgekommen – ich ging seiner Wohnung zu, oder kämpfte mich vielmehr durch den zum Sturm gesteigerten Ostwind zu ihr hin. Nein, das Zimmer war verschlossen und ich wollte umkehren, als die alte Dienerin die Treppe herankam und mir zurief, Doktor Billrod sei ausgegangen. – »Ist er denn von der Insel zurückgekehrt?« fragte ich. – »Von der Insel?« antwortete die Alte verwundert; »wissen Sie das nicht? Schon vor länger als acht Tagen.«

Ich traute meinem Ohr nicht, doch eine Nachfrage bestätigte die erste Auskunft. Erich Billrod war bereits über eine Woche heimgekommen, ohne mich aufgesucht oder mir Nachricht von seiner Rückkunft gegeben zu haben. – »Befand er sich denn nicht wohl?« fragte ich noch. »Gott mag's wissen,« versetzte die Alte, »er sagt's ja Keinem und war sonderlicher als je. Eingeschlossen auf seiner Stube gesessen hat er, wenn er nicht wie ein Unkluger fortgelaufen und wiedergekommen ist. Ich hab' ein paarmal gedacht, es sei mit ihm –«

Sie deutete anstatt einer Beendigung des Satzes auf ihre Stirn; draußen auf der Gasse im Wind dachte ich darüber nach, was das Ganze bedeuten möge, doch Aennchens Gestalt drängte sich mir durch alles Sinnen und ließ mir gegenwärtig jede andre Beschäftigung der Gedanken als gleichgültig und wesenlos erscheinen. Endlich, endlich kam die Stunde heran, von der grünen Turmhöhe schlug es fünf Uhr und ich flog die Steintreppe des Imhof'schen Hauses hinauf. Ich mußte auf dem Flur einen Augenblick innehalten, das Herz pochte zu heftig und lähmte die Glieder; dunkel empfand ich eine eigentümliche Atmosphäre um mich her, einen den Raum fremdartig anfüllenden Geruch. Was war's doch noch? Es fiel halbwegs in meine Wissenschaft und mechanisch sann mein Kopf darüber, während der Fuß die Stufen zum ersten Stockwerk hinanstieg.

Natürlich, Moschus war's – ein Schritt tönte mir entgegen, der einer Magd, die von oben über die Treppe herabschoß. »Befindet Fräulein Wende sich im Wohnzimmer?« fragte ich.

Sie sah mich an und flog antwortlos vorüber, droben auf dem Vorplatz war Alles leer und ohne Laut. Ich durchschritt nach kurzem Verweilen einige ebenso stille Zimmer, dann ein in der Mitte gelegenes, das sein Licht nur von oben empfing. Als ich wieder eine Tür öffnete, sah ich im anstoßenden Gemach Anna Wende abgekehrt am Fenster stehen.

Sie wandte sich bei dem Geräusch um. »Du –?« und sie stand zaudernd, als hätte sie einen andern Anblick erwartet. Doch dann fügte sie hinzu: »Es ist vielleicht gut, daß grade Du kommst. Sag' mir –«

Ich unterbrach sie, über ihr Aussehen und die sonderbare Hastigkeit ihrer Worte erstaunt. »Du hast geweint, Aennchen? Weshalb?«

»O nein, gelacht! Ich lache!« Sie tat es wirklich, indem sie ihr seines, feuchtzusammengeknittertes Taschentuch von sich warf. »Ich habe schon den ganzen Tag hindurch gelacht über Deinen Freund, den albernen Narren, den dummen Bären. Man hat's mir gesagt, hat's mir auch in einem hübschen anonymen Brief geschrieben – als ob's mich anginge – da, lies doch!«

Ihre Hand deutete auf ein zur Erde geworfenes Blatt. »Ja, wozu – wer? Mein Freund, der Bär? Meinst Du Fritz Hornung?« entgegnete ich, ohne ihre Worte zu begreifen, indem ich mich nach dem Brief niederbückte. »Du sagst es selbst, was geht er Dich an, Aennchen? Es ist mir tief schmerzlich, daß er in schlechte Gesellschaft geraten und daß er sich an Körper und Geist zu Grunde richtet – aber wer und weshalb schreibt jemand es Dir?«

Sie sah mich mit großen, starren Augen an. »Also Du weißt es auch, daß er ein Verhältnis mit einer Schauspielerin hat, sie jede Nacht besucht, wenn alle andern Menschen schlafen? Du auch – und sagtest mir kein Wort? Du hast Recht, weshalb, was geht's mich an? Aber ich habe mit ihm getanzt, mit ihm gelacht und geredet, als ob er – mit dem Liebhaber einer Schauspielerin – o es ist nichtswürdig – schreit zum Himmel –«

Anna Wende brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und warf sich ungestüm, die Stirn gegen ein Kissen aufpressend, vor dem Sofa zu Boden. Ich stand vollständig verwirrt und faßte ihre Schulter –

»Aennchen – hat Lydia Dir nicht gesagt –?

»Ja, sie hat mir's gesagt, sie war's!«

Ihr Kopf fuhr wieder herum, ich stotterte mühsam: »Daß ich heut' zu dieser Stunde kommen würde, um Dich zu fragen –«

»Du? Ich wartete auf einen Andern, der mich schon zweimal gefragt hat, ob – ich wollte nur, er käme, grad' jetzt, daß ihm antworten könnte: Da ist sie, es ist abgemacht. O zum Lachen ist's! wie heißt's doch? ›Den ersten, besten, der ihr in den Weg gelaufen‹ – dann ist's vorbei. Was wolltest Du fragen?«

»Weißt Du es nicht – denkst Du es nicht selbst, Aennchen?«

Sie schüttelte den Kopf mit einer natürlichen Unbefangenheit der Verneinung, daß meine Verwirrung immer mehr stieg. »Was sollt' ich denn wissen, denken?«

»Daß ich kommen würde, um Dich zu fragen, ob Du« – ich schloß die Augen, glaube ich – »meine Frau sein willst, Aennchen?«

Anna Wende trat einen Schritt zurück und in ihren verweinten Augen flammte ein heftiger Glanz auf. »O pfui, das ist abscheulich! Hat Dein Freund Hornung Dich geschickt, um mich obendrein zu verhöhnen? Von Dir ist es mehr als abscheulich, und ich habe es nicht um Dich verdient!«

Atemlos sah ich ihr in's Gesicht. »Abscheulich – daß ich Dich liebe – ohne Dich nicht mehr leben kann –?«

Nun veränderten sich plötzlich ihre Züge. »Du? Du wolltest mich –? Nein, ich seh's Dir an, daß Du mich nicht verhöhnen willst, doch ich glaube, in Deinem Kopf ist's augenblicklich nicht ganz – verzeih', es kommt mir so unsäglich komisch vor. Wir sind so gute Freunde und sollten uns heiraten? Auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen, wenn Du der einzige Mann auf der Welt gewesen wärest! Grad' so wenig, wie bei einem von meinen Brüdern. Was schwatzst Du für närrische Dinge, Reinold – mir ist's wahrhaftig nicht zum Lachen, aber wenn ich Dein verdutztes Gesicht sehe –. Geh, Du wirst morgen auch über Deinen Einfall lachen; Du meinst mich garnicht, sonst müßte ich wenigstens irgend etwas davon in mir selbst fühlen können, ein Verständnis dafür haben. Du möchtest nur, daß jemand Dich so im Herzen tragen sollte, um Dich heiraten zu wollen, zu müssen, und da verfällt Dein Irrtum auf meine kleine Person. Wir würden uns beide hübsch betrügen, Reinold; ich hab' Dich sehr gern' – aber lieb gehabt – Du hast's ja doch nun einmal gehört, weil Du mich hier grad' so betroffen – lieb gehabt hätte ich nur einen Andern, und da der sich eine Andre erwählt und ein erbärmlicher Bursche ist, so will ich's auch nach dem Liede weiter treiben und –. Man kann gewiß aus vielen Gründen heiraten, aus Liebe, oder um überhaupt kein altes Mädchen zu bleiben, oder um Gut und Geldes willen, wie der es tut, der zweimal schon um mich angehalten, oder um der Welt und besonders einem ihrer Angehörigen zu zeigen, daß man sich keine Sekunde lang um ihn bekümmert hat. Nur aus einem einzigen Grunde heiratet man nie, aus Freundschaft. Dazu ist wirkliche Freundschaft zu ehrlich, und deshalb, Reinold, will ich Dir auf Deinen förmlichen Antrag, wenn Du's wünschst, einen höflichen Knix machen und antworten: Bleiben wir gute Freunde – aber ich muß Ihnen erwidern, mein Herr, daß ich bedaure, Ihrer für mich äußerst ehrenvollen Werbung kein Gehör mehr schenken zu können, da ich meine Hand zufällig bereits heut' Morgen versagt habe, und da –«

Anna Wende brach ab und drehte den Kopf nach einer Tür, die sich in diesem Augenblick öffnete und durch die jemand hereintrat. Einen Moment stand sie zaudernd mit weißerblaßtem Gesicht, dann setzte sie, schnell vortretend, ihren begonnenen Satz, doch offenbar anders, als er beabsichtigt worden, fort: »Und da mein Bräutigam hier eintritt, um sich mein Jawort mündlich wiederholen zu lassen« – und inmitten um mich her schwankender und kreisender Wände blickte ich in Eugen Bruma's zuvorkommend lächelndes Gesicht.

*

War ich in das Zimmer hinausgeraten, das sein Licht nur von oben erhielt und fast schon in mattester Dämmrung lag, oder dunkelte es mir nur vor den Augen? Ich fühlte keinen Boden unter meinen Füßen, nur kam's mir durch halbe Bewußtlosigkeit, als halte eine Hand mich im Fortschwanken an – ein Arm gesellte sich hinzu und umschlang mich und eine hastige Stimme flüsterte:

»Hast Du Deine Torheit erkannt? Was wolltest Du mit der blonden Lachtaube ohne Blut im Herzen? Hier schlägt ein Herz für Dich, in dem Blut klopft und verheißt, und diese Hand ist morgen frei –«

Meine Hand ward heftig gegen eine Brust gepreßt und aus dem Zwielicht leuchteten mir Lydia Imhofs Augen entgegen. Ich begriff nichts, mein Kopf drehte sich um eine ungeheure Leere, doch meine Lippen fragten wohl mechanisch aus der Betäubung der Sinne: »Was heißt das – frei?«

»Daß mein Mann im Sterben liegt und die Nacht nicht überleben wird – es kann niemand Wunder nehmen, die jungen Großstädter untergraben alle frühzeitig ihre Gesundheit, und nur ein heftigerer, tötlicherer Anfall der Krankheit ist's, an der er seit Monaten gelitten – das heißt, daß ich Dir morgen sein und mein Vermögen anbieten kann, mit allem Andern, was sein Herz nie besessen, was erst durch Dich glühend in mir aufgewacht ist!«

Ihre Arme suchten meinen Nacken herabzuziehen, eine dunkle, irr-entsetzliche Vorstellung rang sich in mir auf, daß ich sie gewaltsam wie ein häßliches Tier von mir fortschleuderte. »Philipp Imhof stirbt? Dann hast Du ihn ermordet – mit Gift langsam getötet –!« Sie stieß einen Schrei aus, doch ich stürzte ohne rückzublicken hinaus, durch die mir plötzlich verständlich gewordene Moschus-Atmosphäre hinunter auf die Gasse. Aus dem treibenden, bleiernen Gewölk, das mein Denken schwer überwogte, rang sich dann und wann ein Wetterleuchten, vereinzelt das Aufzucken eines Verständnisses. Philipp Imhof wußte, daß er langsam hinsieche, wußte selbst den Grund dafür und welche Hand ihn bereite – sein Benehmen, seine Antwort am gestrigen Abend, als ich ihm gesagt, er scheine nicht Champagner, sondern Gift getrunken zu haben, ließen es mich rückblickend deutlich erkennen. Zum Mindesten ahnte er, was ihm geschah, und wollte keine Klarheit darüber, keine Maßregel, der Verschlimmerung seines Zustandes vorzubeugen. In meinem Alter war er des Lebens voll satt und überdrüssig, und ein Enden desselben ohne Aufsehen, scheinbar auf langsam vorgeschrittenem natürlichem Wege war ihm erwünscht. Ein Stück jugendlichen, menschlich-sehnsüchtigen Herzens hatte er sich in seiner kaufmännischen Brust noch versteckt gehalten und dies einmal mit in seine Geschäftsrechnung hineingezogen; doch dieser Kalkül war fehlgeschlagen, der Betrieb des Compagnon-Unternehmens schleunig nach dem Beginn in Stocken geraten, und eine Wiederauflösung der Doppelfirma blieb unvermeidlich. Und Philipp Imhof's müde Augen sagten, daß sein Herz, die Sehnsucht desselben doch einen zu großen Teil an dem Geschäft besessen, um, da jenes Bankrott gemacht, ihm Lust und Kraft für seine Fortsetzung zu bewahren. Er hatte sich verrechnet gehabt und zürnte Keinem deshalb, auch der Teilhaberin seines Hauses nicht. Stillschweigend nahm er die Lösung an, zu der sie die Initiative ergriffen, um den Mehrbetrag seiner Passiva zu erledigen, denn er hatte die unhaltbare Bilanz gezogen und sagte sich, auf solche Weise ausgelöscht, bleibe wenigstens das einzig noch zu Rettende, der gute Name der Firma vor der Nachwelt zurück.

Wie der Oststurm es mir um den Kopf heulte und wirbelte! War ich nicht im gleichen Fall, hatte nicht mein Herz auch Bankrott gemacht – und war's nicht das Beste auch für mich, wenn einer der Ziegel, die da und dort von den Dächern auf die Gasse herunterknatterten, ebenfalls die Bilanz meines Daseins abschlösse?

So riß die Kette der Knabenfreundschaft hastig auseinander, zerriß der kurze Glückeswahn des Herzens! Hinter mir lag Philipp Imhof im Sterben, hielt Anna Wende im Hause des Todes die Hand Eugen Bruma's, »des ersten, besten Mannes, der ihr in den Weg gelaufen« –

Eine mehr als sinnlose, eine zum Tod lächerliche Welt, die nicht uns, in der nur der Mensch sich selbst betrog, weil der Wahnsinn des klopfenden Herzens ihn blendete, sie als sinnvoll – als Kosmos, sagte Tix – abera – zu betrachten. Ich schluchzte, ich lachte – ich glaube, ich wiederholte laut: »Abera – Kosmos – abera –« während ich ziellos die menschenverlassene Straße an den Hafen hinunterlief. Vor mir und hinter mir krachten die roten Ziegel auf das Steinpflaster, doch mein Kopf irrte unzerschmettert weiter durch die Luft.

Wir würden uns beide betrügen – hatte Anna Wende mir zur Antwort gegeben? Betrog sich denn das Herz, wenn es in verzehrender Sehnsucht nach einem andern begehrte, daß es sich von ihm geliebt fühle?

Eine einzelne Gestalt kam mir jetzt entgegen, in ähnlich wunderlichem Gang, schien mir, wie ich selbst ihn einem Zuschauer darbieten mochte, und in ähnlicher Gleichgiltigkeit gegen die umherstiebenden Wurfgeschosse des Sturms. Dann erkannten wir uns gleichzeitig und mechanisch rief ich: »Erich Billrod!« Er fuhr zurück und machte eine Bewegung, als wolle er in eine Seitengasse abbiegen, doch er blieb und versetzte: »Du, Reinold Keßler?« Wir standen und sahen uns eine Weile stumm an, wie ein paar wildfremde Menschen, die nichts miteinander zu reden hätten, bis er mit einem schneidenden Lachen ausstieß: »Du taumelst ja, als gingest Du auf Freiersfüßen –«

Wie kam – was wußte er? Wie ein vergiftetes Messer stach sein höhnisches Wort mir in's Herz, daß es von plötzlichem, tätlichem Haß gegen ihn in mir aufloderte. Hätte ich eine Waffe gehabt – sein Gesicht war mir nie so häßlich, so abstoßend erschienen – da packte seine Hand mit krampfhaftem Griff meinen instinktiv wie zur Abwehr auffahrenden Arm, denn auch seine Augen hatten mir wie mit glühendem Haß entgegengeflammt, und riß mich schwankend zur Seite. Ein Prasseln überlärmte im nächsten Moment den Sturm, und auf die Stelle, wo ich gestanden, schoß der Kopfteil eines hohen Schornsteins herunter, der mich zu Staub zerschmettert hätte. Ich starrte auf die Trümmer nieder und dann Erich Billrod in's Gesicht und stieß aus: »Ich danke Dir nicht dafür –«

»Ich habe auch keinen Dank von Dir verlangt und erwartet! Dank von Dir, Reinold Keßler?«

Wie ich aufsah, hatte Erich Billrod seinen Weg fortgesetzt und ging, unbekümmert wie ich um die fallenden Steine, drüben schon die Gasse entlang. Es dämmerte, vor mir klatschte und schäumte die Bollwerkbrandung des Hafens, erst nach einiger Zeit kam mir zum Bewußtsein, daß ich durch Wasser fortlief, das mir bis über die Füße auf- und zurückrann. So war's, wie ich gestern Abend Philipp Imhof gesagt, daß ich mich aus meiner Kindheit erinnere, die Wellen einmal bis an die Treppen der Häuser am Hafendamm rieseln gesehn zu haben.

Gestern Abend – welche Welt lag zwischen diesem Wort und jetzt! Die sonderbare Begegnung mit Erich Billrod hatte meinen Kopf in noch mehr erhöhten Aufruhr versetzt; mir war's, als sei er ein bis zum Rande volles Gefäß mit siedendem Inhalt, das nur eines Tropfens noch bedürfe, um nach allen Seiten wie irrsinnig überzurinnen.

Zwecklos lief ich umher, das Geprassel des Sturmes, das Toben der wie aus dämonischer Tiefe aufwütenden Ostflut an der von jedem andern Fuß scheu gemiedenen, verödeten Häuserreihe entsprachen dem Aufruhr in meinem Innern. Nur ein kleiner Menschenknäuel hatte sich drüben an einer Ecke angehäuft und umstand etwas, redend und gestikulierend. Ich kam dran vorüber, ohne nach dem Gegenstand ihres Eifers zu blicken, was ging mich noch fremdes Wohl oder Wehe an? Doch jemand, der mich kennen mußte, löste sich von der Gruppe ab und hielt mich, ein Bürgersmann oder Handwerker, der mich am Arm mit sich zog. »Bitte, kommen Sie, Herr Doktor – Sie werden's ja wenigstens und verstehen sich doch schon besser drauf als Unsereiner.«

»Was soll's, was habt ihr?« versetzte ich halb hinhörend. Der Mann antwortete: »Wir haben ihn draußen im Wald gefunden und hereingebracht. Er rührte sich nicht mehr, aber warm war er noch und die Pistole lag neben ihm im roten Gras.«

»Einer, der sich erschossen? Er ist klug gewesen und hat's gut –«

Gedankenlos, gleichgültig trat ich durch die ausweichenden Umstehenden an die rohe Holzbahre heran, auf welcher der Selbstmörder regungslos lag. Die Dämmrung verschleierte schon sein Gesicht, ich unterschied nur eine blutig umzirkelte Schußwunde in der linken Schläfe und bückte mich teilnahmlos dichter über den Toten –

War das der Tropfen, auf den mein siedendes Gehirn gewartet hatte, um überzurinnen? Ich stieß keinen Schrei aus, einen Augenblick nur war es mir, als treibe mein Herz Eisnadeln statt des Blutes bis in die Spitzen meiner Finger hinein, und mein Mund sagte auf die Holzbahre hinunter: »Fritz Hornung –«

Der Zweite des gestrigen Gedenkabends unserer Jugendzeit, des Abends, auf dessen Wiederkehr übers Jahr ich das letzte Glas getrunken. Ich faßte seine Hand; sie fiel kalt jetzt und in beginnender Starre zurück. Es war die des einzigen wahren, treuen Freundes der Kindheit.

Warum lag er da? Ich dachte nichts, ich fühlte nur, daß der Irrsinn mir unter der Stirn hämmerte, doch ich beherrschte ihn, wie ein Trunkener für eine Minute seine Sinne unter die Gewalt des Willens heraufzwingt, um seine Besinnungslosigkeit zu verbergen. Ruhig, mit sichrem Ton ordnete ich an, die Leiche in Fritz Hornungs Wohnung zu tragen, und folgte hinterdrein. Ein dunkles Gefühl ließ mich in seinem Zimmer ein Licht anzünden und auf dem Tisch suchen. Da lag, was ich erwartet, ein Brief mit der Aufschrift meines Namens. Ich brach ihn auf und las die wenigen Zeilen:

»Leb' wohl und besser als ich, Reinold! Philipp Imhof hatte Recht, nur ist's zu spät und das Schaf nicht mehr aus dem Feuer herauszubringen. Sie hat mir heut' Nacht wiederholt: Geh' und tu's – ich glaube nicht, daß Du es tust, ihr Männer seid alle feig. Wenn Du's getan, will ich Dich lieb haben und darfst Du von mir verlangen, was Du willst. – Ich habe nicht mehr gelebt seit Wochen; wollte ich's morgen noch, brächten sie mich in's Tollhaus. Besser in die Erde – sorge, daß sie mich irgendwo einscharren, und sag' ihr, sie sei ein Teufel, und Mortimer ein Narr, daß er nicht ihr zuerst eine Kugel durch ihre Dämonsbrust gejagt habe. Bankrott – wenn Du mich wieder siehst, sind die Passiva abgetan. Leb' wohl, Reinold – wir haben oft zusammen gelacht und es wäre klüger gewesen, das Geschäft fortzusetzen. Es ging nur nicht – grüße Tix – abera –

Fritz Hornung

*

Wie war ich hierher geraten, wo ich jetzt stand, und was wollte ich an dieser Stelle? Es war nicht mehr Dämmrung, sondern Nacht, doch heller als zuvor. Wenigstens manchmal, wenn der Vollmond blitzartig aus fliegenden Wolkenmassen hervortrat; dann kamen wieder tiefe Schatten und tauchten alles in den grauen Schimmer eines halben Zwitterlichts zurück. Um mich her und auf mich herab rieselte es von unablässigem Regen knisternder Blätter und seinen Gezweigs, doch der Sturm selbst traf mich nicht, ging nur über mir wie Meeresbrandung durch die Wipfel. Ein verlassener, herbstlich überwilderter Garten war's, in dem ich mich befand; wenn der weiße Mondstrahl darüber zitterte und erlosch, schien es, als tanze ein gespenstischer Reigen in den dunklen Laubgängen, auf der Lichtung, mit den wirbelnden Blättern. Weiße, von Anbeginn meines Daseins mir vertraute Gesichter – sie nickten und winkten mir mit geschlossenen Lidern –

Ja, was wollte ich, weshalb war ich hier? Nun erschütterte ein Ton die Luft, stärker als der Sturm, ein Aufkrachen von drüben her. War's der Schuß einer Kanone oder nur ein Gespenst in meinem Ohr, das Krachen der Pistole, mit der Fritz Hornung sich getötet? Mein Mund schrie einen Namen in die tobende Nacht –

Da raschelte es, wie eine Schlange, die sich durch dürres Blätterwert heranwindet, da rauschte es durch das Gesträuch, ein knatterndes, seidenes Gewand, und sie war's, deren Namen ich gerufen. »Bist Du's Reinold? Du kommst spät,« sagte sie und faßte meine Hand und zog mich nach der Laube, die sie für unser abendliches Zusammensein ausfindig gemacht. Ich sah fast nichts von ihr, der Mond lag hinter schwerem Gewölk.

Was wollte ich? Die Lippe hatte es ausgestoßen, bevor ich's wußte: »Bist Du's, um derentwillen Fritz Hornung sich erschossen hat?«

Es zuckte in Leas Hand, und sie ließ die meinige fahren. Einen Augenblick sauste nur der Sturm über uns, dann zerschnitt ein Lachen von ihr her das Dunkel:

»Der Mortimer? Hat er's getan? Ist er der Erste gewesen? Der Narr! Nun mag er kommen und holen, was ich ihm versprochen?«

»Entsetzlich – Du warst es? Der Erste? Was heißt das? Wer bist Du?«

Ich stieß es in dumpfer Geistesirre aus. Ihr Kleid rauschte einen Schritt auf mich zu –

»Wer ich bin? Hast Du den Vampyr vergessen, Reinold, der sich bei Nacht zu den Menschen ans Bett schleicht und ihnen das Blut austrinkt? Von dem abergläubische Leute meinen, er sei im Grunde gar kein Tier, sondern ein verwandelter Mensch, der nächtlich wiederkomme, um die zu verderben und sich an denen zu rächen, die ihm bei Lebzeiten Böses getan? Du erzähltest es mir und sagtest, eine Fabel wär's. Ich bin zufrieden, daß die Fabel das erste Blut getrunken hat in dieser Stadt, aus der sie die Fledermaus hinausgejagt, damit sie sich in einen Vampyr verwandle. Die klugen Leute – heut betteln sie um den Biß des häßlichen Tieres – alle – alle – und es saugt ihr Blut aus den heißen Adern, aus dem Frieden ihrer Häuser, dem Glück ihrer Familien! Was meinst Du, Reinold, habe ich uns beiden gerächt, wie ich es mir damals gelobt?«

Ein dämonischer Schauer wehte aus dem Klang ihrer Stimme, der mich vom Scheitel zur Sohle durchbebte.

»Gerächt – an dem redlichsten Herzen – an meinem schuldlosen Jugendfreunde,« stammelte ich – »Du bist eine Giftschlange –«

Das letzte Wort stockte mir im Munde, denn im selben Moment riß die Wolke oben und ein weißes Vollicht übergoß Zum ersten Mal fast tageshell und geisterhaft zugleich Leas Gestalt. Uralte Erinnerung durchzuckte mich – sie war's, wie ich sie am ersten Tage gesehen, wie sie im gelben Kleidchen und schwarzen fliegenden Haar der Natter geglichen, die sich unter ihr im Zaungestrüpp fortgeringelt. Nur umschloß jetzt knisternde gelbe Seide den üppig-schlanken Leib, und die dunkle Nacht ihres Haares thronte über dämonischer Schönheit ihres Antlitzes.

»Eine Giftschlange?« wiederholte sie langsam, ihre funkelnden Augen auf mich richtend.

Ich fühlte, daß ich den letzten Rest der Besinnung verloren. »Nein, der Tod – wenn Du der Tod bist, so töte mich auch!«

Auf sie zuspringend, umschlang ich sie wild mit den Armen und zog sie auf die Bank der Laube nieder. Sie ließ es reglos, wie erstarrt geschehen, meine irrsinnigen Lippen flüsterten: »Ich begreife, daß sie sich um Dich töten – aus Verzweiflung, weil Du die Wahnsinnsglut nicht löschen willst, die Du in ihnen auflodern läßt. Mein Herz ist tot, denn es gibt Keine auf der Welt, von der es geliebt wird – sei ein Vampyr und trinke ihm das Blut aus, das noch in ihm hämmert! Ich sehe Dich nicht so, wie der Mond Dich hier übergießt – weißt Du, wie ich Dich sehe? Plötzlich kommt's mir – so sah ich Dich einmal und so stehst Du jetzt vor mir da. Eine Sekunde lang von einem Blitzstrahl wie ein Marmorbild umfunkelt – nicht Deine Muhme ist's – Du warst es, bist es jetzt – töte mich mit Deinen Lippen!«

Sie antwortete nichts, ich fühlte nur, daß ein Beben sie durchrann, und meine Hand ausstreckend, flüsterte ich fort:

»Wie alle Erinnerung wiederkommt – weißt Du noch, wie der Christenknabe Dich hier mit einem Stein auf der Brust traf? Wie die Wunde blutete und ich sie stillte – Hast Du das Mal noch davon? Laß mich sehen –«

Eine Sekunde des Wahnsinns war's, in der das Knistern der Seide den Sturm in meinem Ohr übertäubte. Doch nur eine Sekunde – dann war's, als erwache Lea's Körper plötzlich aus einer Todesstarre, sie flog mit einem Schrei auf und stieß mich heftig zurück –

»Nein – Dich will ich nicht verderben – Dich allein von allen nicht, Reinold –!«

Das Dröhnen eines abermaligen Kanonenschusses mischte sich seltsam in ihre Worte, und hinterdrein begannen mit plötzlichem wilden Durcheinander die Glocken des alten Kirchturms wie Feuerruf zu läuten. Lea stand einige Schritte von mir entfernt draußen vor der Laube – ich rief: »Warum mich nicht? Was könntest Du an mir noch verderben?« und wollte auf sie zueilen. Doch sie hob abwehrend die Hand –

Sie stand da, wie ich sie nie gesehen, auch nicht auf der Bühne. Sie war nicht Lea, die Jüdin, und war keine Schauspielerin, die eine Rolle darstellte. Eine Königstochter der Wüste, von der Hoheit eines Augenblickes, einer höchsten Empfindung mit Majestät übergossen, stand sie vor mir und sprach, Wort um Wort:

»Blinder Tor, Dein Leben wäre verdorben und Du wolltest bei mir den letzten Becher Gift trinken? Vielleicht schuldest Du mir mehr Dank, als Du glaubst, Reinold – wenn mein Herz nun an Deinem geglüht hätte, wenn es die erste Süßigkeit seines Lebens gewesen wäre? Was sagt' ich? Ich log, Reinold Keßler! Ich empfand nichts, denn was Du gewollt, taten Andre vor Dir, ohne daß ich mich weigerte. Du hieltst eine Dirne in den Armen – rühr' sie nicht auf's Neu' an, daß Du Dir nicht zum Abscheu wirst, wie sie es sich selber ist. Wär' es wahr, was Du sagtest, daß Dich kein Herz auf Erden liebt – vielleicht hätte meines eine Minute lang vergessen, daß es einst seine schuldlose Ruhe, sein einziges Glück an Deinem gefunden. Aber Dich liebt ein Mädchen, dem ich nicht mit den Haaren den Staub von den Füßen abzutun würdig bin – liebt Dich mit aller Unschuld, aller Seligkeit und allem Bangen eines reinen Herzens – liebt Dich als den Traum ihres Tag's und ihrer Nächte, als den Einzigen, den die Welt für sie hat, mit aller Göttlichkeit und Ewigkeit wahrer Liebe. Ich wüßt' es lang' – ein Mädchen fühlt an einem Wort, wie das Herz des anderen klopft – aber ich wollt' es auf's Neu wissen und las es in ihren Augen, erlauschte es von dem holden Beben ihrer Lippen – denn ich wollte, daß Du glücklich sein sollst, Reinold –«

Es schrie bitter in mir auf. »Du sagst es – und wie ich sie gefragt – heute – lachte sie und gab mir zur Antwort, ich sei ein Tor –«

»Unmöglich!« Lea trat rasch gegen mich heran – »das hat Magda Helmuth nicht gesagt!«

Magda – – Magda – –

Was war das? Kreiste der Mond am Himmel und schwankte die Erde um mich her? Riefen der Sturm, die wimmernden Glocken, schrie mein eignes Herz plötzlich aus einer unbekannten Tiefe herauf: »Magda – Magda –«? War es ein Blitz, der von Lea's Munde gefahren und fernhin das Dunkel hinter mir erhellte, durch das ich am lichten Sonnentage geschritten – der mit einem Zauberstrahle Alles, Alles von Kindertagen herauf in den Goldglanz der Erkenntnis badete, und zugleich mit schrillem Laut mein Ohr durchschnitt: »Blinder Tor, du hattest Augen, und sahst nicht, wie ein Herz dich liebte! Du haschtest nach einem schimmernden Kiesel, und über die Perle, die das rätselvolle Meer für dich, in deine Hand herausgetragen, glitt dein Blick achtlos hin. Jetzt weißt du's, daß sie dich geliebt hat, so weit du zurück denken kannst – und weißt, daß dein blindes Herz nur sich selbst betrog, nur nicht erkannte, daß auch du immerdar sie und sie allein geliebt hast!«

»Magda – meine Magda –«

»Siehst Du's –« Lea hatte meine Hand ergriffen – »geh' zu ihr, in dieser Stunde! Seid glücklich« – sie zog meine Hand an ihre Lippen herauf – »nein – wir sehen uns niemals auf Erden wieder, Reinold, und sie wird es mir vergeben –«

Lea umschlang plötzlich meinen Nacken mit den Armen, wie sie's damals auf der einsamen Landstraße getan, und ihre Lippen hefteten sich eine Sekunde lang auf die meinen. Dann stand ich allein wie an jenem Abend, kein Staub wirbelte um mich auf, doch Sturm und Nacht hatten sie verschlungen, und nur ein Schluchzen verklang durch den knisternden Regen der herbstlichen Blätter.

*

Es hämmerte noch in mir fort, doch nicht mehr hinter der Stirn, wieder im Herzen. Nicht Wahnsinn mehr, trunkener, Alles vergessender Rausch des Glückes. »Zu ihr – zu ihr!« klopfte das Herz.

»Hast Du nichts vergessen, Reinold –?« Wie klang Magda's holde Stimme mir aus der grünen Waldestiefe herauf, in der ich ihre herzklopfende Frage nicht verstanden. Sie tönte mir unablässig durch das Heulen des Sturmes, das hastige Glockengeläut, das schnell jetzt hintereinander sich wiederholende Aufkrachen der Kanonenschläge. Weshalb gingen die Glocken eigentlich, wozu die Schüsse? Zum erstenmal kam mir die Frage, und ich richtete sie an einen Mann, der mir in der Gasse vorüberstürzte. »Sind Sie blind und taub?« war seine Antwort; »wenn das Wasser so fortsteigt, wie in der letzten Stunde, kann man morgen auf den Böden der Häuser, die dann noch stehen geblieben sind, Fische fangen!«

»Das Wasser?« Ich dachte noch nichts dabei – »zu ihr – zu ihr!« klopfte das Herz und riß mich in atemlosen Lauf an den Hafen hinunter. Da glänzte unten in der Straße ein Spiegel vor mir auf, der hin und wieder schwankend das Strahlenbild des Mondes, von dem alles Gewölk abgesunken, zurückwarf, und zugleich umtoste mich hundertfaches Stimmengelärm, Rufe der Angst, Flüche, Geschrei nach Böten, Leitern, Hülfe. »Am Hafendamm schlägt's in den zweiten Stock!« – Meine Kinder – eine Leiter – ein Boot – Hülfe!« jammerte eine Weiberstimme irgendwoher aus der Höhe. – »Vorgesehen mit den Nachen, das Eckhaus bricht zusammen!«

Ein Prasseln folgte drüben auf den Warnungsruf, ein vielstimmiger Aufschrei; die Glocken wimmerten – »Laßt das Schießen!« schrie eine Stimme, »wer's noch nicht weiß, merkt's auch nicht, wenn's ihm die Kehle stopft!«

Eine Sturm- und Springflut des Vollmonds, wie sie seit jahrhundert-alter Menschengedenkzeit offenbar nicht erlebt worden! Und plötzlich schoß mir zum erstenmal durch den wilden Aufruhr der Gedanke: »Magda auf der niedrigen Insel – allein mit ihrer Mutter – hülflos –«

Ich stürzte dem andringenden Wasser entgegen und schrie um ein Boot, doch niemand hörte auf mich. Das war wieder beginnender Irrsinn, ich fühlte es; die Wellen schlugen mir gegen die Brust, hoben mich fast; wie ich's erreicht, wußte ich nicht, aber ich hatte ein herrenloses Boot gepackt, seine Segel losgerollt, saß darin und flog über die weiß heranzischenden Köpfe fort. Wie ein Möwenflug war's, dahinrasend, gleichgültig gegen jede Gefahr, nur instinktiv lenkte die Hand in altvertrauter Weise das Steuer, und nur die Gedanken flogen noch sturmesschneller vorauf. Es war unmöglich – ich mußte sie finden, wohlbehalten. Sie selbst besaßen ein Boot und hatten sich, als die Gefahr begonnen, an's feste Land hinübergeflüchtet; wenn nicht, hatten die Fischer drüben im Dorf ihre Not bemerkt und sie gerettet. Vielleicht fand ich sie wieder in der Schifferhütte gleich einer verkleideten Fee in den Holzschuhen, im Mieder und dicken Wollenrock, das braune Kopftuch der Fischersfrau umgeknotet, und sie legte die schöne, durchsichtige Hand, in der ihr Herz klopfte, auf die meine, und ich verstand heut' erst, was sie damals gesprochen: »Dann mußte ich noch an Dich denken, Reinold –«

Eine ungeheure Einsamkeit, durch die das Segel mich forttrug. Nur kreischende und kreisende Vögel umher in der glanzhellen Nacht, durch welche die volle Mondscheibe jetzt in unbeweglicher Ruhe herabsah.

War das auch eine Silbermöwe, die drüben hart über dem Wasser hinschoß, oder die weiße Mähne einer heraufrollenden Riesenwelle? Ich heftete den Blick darauf; nun verschwand's –

Der Wind stand mir schräg entgegen, ich rechnete und wußte, daß ich dreimal kreuzen mußte, um die Insel zu erreichen. Vielleicht viermal – die beiden kleinen Zahlen umschlossen mein ganzes Denken.

Da kam's wieder – wieder kein Vogel, noch ein Wogenkamm war's, sondern ein anderes, pfeilschnell fortschießendes, auf die Wellen niedergeducktes Segel.

Fast um einen Schlag befand sich 's mir vorauf. O, wäre ich erst dort! Wohin wollte es?

Nun trennten sich unsere Richtungen, auf- und abwärts, und dann waren wir uns wieder gegenüber, im selben Abstand.

In mir regte sich eine stürmische Wallung, fast wie Haß gegen den Inhaber des fremden Bootes.

Grundlos, ungerecht, nur weil er mir voraus, weil er schon dort war, wohin mich allein der ruhelose Herzschlag trug. Ich hatte es gesehen, ein einzelner Mann war's, der am Steuer des Fahrzeugs saß. Er nutzte, wie ich, den Wind um Haaresbreite und hielt seinen Vorsprung inne. Wie der Wettlauf zweier atemloser Renner war's, nur nicht nebeneinander, sondern sich kreuzend, sich weit entfernend, umbiegend und wieder begegnend. Phantastisch verwirrte es zuletzt meine Sinne, als flögen wir wirklich um höchsten Preis in die Wette und als liege Alles daran, daß ich vor ihm das Ziel erreiche.

Hatte der Wind eine Schwenkung gemacht, die mein eingebildeter Gegner nicht beachtete oder droben an seinem Ende nicht wahrnehmen konnte? Mit plötzlichem Griff legte ich in der Mitte meines Lavirkurses die Segel herum, der Sturm bog sie fast auf den schäumenden Gischt herab, das Steuer flog nach rechts – es gelang, und um eine Minute später durchschnitt ich die Bahn meines unbekannten Rivalen. Er kam heran, mit dem Bug auf die Breitseite meines Fahrzeugs zu – sah er es nicht? ich stieß einen zornigen Warnungsruf aus, doch gleich darauf tönte als Antwort herüber: »Hüte Dich, Reinold Keßler!« Mechanisch riß ich mein Steuerruder herum, meine Segel flackerten im Wind, das fremde Boot schoß hart an meinem vorbei, und ein frohlockend-höhnischer Triumphlaut sagte mir, daß ich den gewonnenen Vorsprung wieder verloren.

Erich Billrod –! Ich starrte ihm einen Moment nach – nun flogen unsere Böte auf Steinwurfsweite von einander parallel durch das Wind- und Wellengetöse dahin. Drüben tauchte geisterhaft-verschwommen das jenseitige Ufer auf, vor uns quirlte an einer Stelle inmitten des Wassers weißer Schaum wie gepeitschte Milch in die Höhe. Es war eine Brandung um irgend Etwas, das da aus der Tiefe ragen mußte –

»Da hat Deine Braut gewohnt, Reinold Keßler!« schrie plötzlich Erich Billrod's Stimme dicht neben mir. Mein irrer Blick lief über die Brandungsstelle und ich sah, daß die quirlende Milch um einzelnes aufragendes, zerbrochenes Pfeilergebälk emporschäumte. Wie langblättrigen Seetang schlugen die Wasser daneben das Wipfelgezweig einer Weide hin und her, die aus dem meerüberwogten Grunde herauswuchs – es blieb kein Zweifel, mein Kiel ging über die Insel Magda Helmuth's hin.

Was geschah noch? – Ich hörte andere Stimmen um mich, die von Fischern aus dem Dorf. »Rein, sie sind nicht drüben! Wer hatte Zeit in der eigenen Not, an die Frauen auf der Insel zu denken? Das halbe Dorf ist eingestürzt! – Das Wasser hat ihr Strohdach abgehoben, vielleicht treiben sie noch darauf umher.«

Ich saß nicht mehr allein, zwei Schiffer waren aus einem andern Fahrzeug zu mir in's Boot herübergesprungen und lenkten es hierher und dorthin. Wind, Wasser, Gischt, glänzende Mondhelle. Ein Ruf aus Menschenmund und ein schriller Vogelschrei. Wie lang? Eine Minute oder ein Leben?

Ick wußte jetzt – es war der Abschluß des Tages und war vorbei. Mein Herz sprach's, denn es klopfte nicht mehr. Es lebte nichts mehr in ihm, als ein dumpfes, namenloses Gefühl – ich konnte es doch benennen – das eines sinnlosen Hasses gegen Erich Billrod.

Warum? Trug er die Schuld an dem elenden Leben, das meinen Körper noch aufrecht erhielt? Ich wußte keinen Grund dafür, als daß ich empfand, er haßte auch mich, schon seit Jahren, wie in früher Zeit manchmal plötzlich der Haß gegen den Sohn Asta Ingermanns in ihm aufgelodert war.

Einstmals, als wir am Rande der See gesessen und er, sich beherrschend, plötzlich aufgesprungen und gesagt – mir klang's wie eine Halluzination durch das Gebrüll der Nacht im Ohr –: »Das da kann sehr zornig werden und ist dann höchst unvernünftig, wie alle zornigen Geschöpfe.«

»Hierher!« rief die Stimme eines Fischers durch den Sturm – »das Dach! Hier sind sie!«

Wir schossen in die Richtung des Rufes und ich sah etwas vor mir treiben in wunderlichster Gestalt. Balken und Sparrenwerk, halb nackt und zerbrochen, drohend hier- und dorthin ragend, halb noch mit zersetzter Strohhülle überzogen. Wie ein Schiff schwamm es, von einem Schornsteinendstück statt des Mastes in der Mitte überragt, ward es in taumelndem Schwanken hin- und hergeworfen. An einer Seite aber war das Stroh in dichterer Masse eingesunken und hatte eine Wandung gebildet, wie eine Lagerstatt, die sich mit den darunter auf und nieder wallenden Wellen wie ein klopfendes Herz hob und senkte. Auf diesem Strohbett lag, vom Mond voll und friedlich überglänzt, eine ausgestreckte Mädchengestalt, die sich durch eine Lücke des Dach's dort hinaufgeflüchtet – war sie dann mit erloschener Kraft willenlos umgesunken – schlief sie in bewußtloser Betäubung?

Ich sah deutlich, wie der Glanz des nächtlichen Himmelslichtes über das fein ausgesponnene Metall der Silberfäden ihres Scheitels rieselte – wie Schnee sprühten die Wogen ihr weißes Schaumgeflock zu den reglos über der Brust ruhenden Händen hinauf.

Nun streckte sich aus dem Boot, das vor uns die schwimmende Masse erreicht und neben ihr wie eine Nußschale emporflog und zurücktauchte, ein Arm nach Magda's Hand, und eine Stimme rief: »Sie ist kalt – was ist's? – sie kann nicht ertrunken sein und doch ist sie –«

»Vielleicht erstarrt nur,« ergänzte eine andere – »schafft sie in's Boot, wärmt sie! Wo ist die Andre, die Alte?«

»Nein, sie ist tot!« schrie's von meinen Lippen. Mein Herz wußte es – das stürmische Klopfen des ihrigen hatte die Schrecknis dieser Nacht bekämpft, bis es unterlegen. Die Welt, die bisher noch in ungeheurem Taumel um mich geschwankt, stürzte zusammen, denn Magda Helmuth war tot.

Ich stand auf dem Rande des Fahrzeugs, um auf das schwimmende Dach hinüberzuspringen; der Schiffer neben mir rief: »Zurück – der Schornstein schlägt ein!« Zugleich erschütterte ein Stoß unser Boot, ein anderes drängte dies ab, daß ich gegen den Mast schwankte, und Erich Billrod's Stimme schrie mir gleichfalls in's Ohr: »Zurück, Reinold Keßler! Hast Du auch auf die Toten noch ein Vorrecht, die nicht mehr sehen, was schön und was häßlich ist?«

Ich starrte ihm mit gewendetem Blick in's Gesicht und sah, daß er im Begriff stand, auszuführen, woran er mich hinderte, sich auf das treibende Strohlager hinüberzuschwingen. Noch einmal durchzuckte ein Blitz der Erkenntnis mein Gehirn – Erich Billrod hatte Magda Helmuth, den Krüppel, geliebt, wie einst Asta Ingermann, meine Mutter, und um mich hatte sie ihn abgewiesen, wie jene es getan. Darum haßte er mich, hatte er Magda von mir fort auf die Insel gebracht – in ihren Tod. Und in mir schwoll der langgezügelte Haß, meine Hand griff irr nach dem schweren Ruder neben mir und hob es in die Luft. »Zurück von ihr,« stieß ich drohend aus, »sie ist mein!«

»Sie war's, Reinold Keßler – was nahmst Du Dein Eigentum nicht eher?! Jetzt klopft ihr Herz nicht mehr und wir sind gleich vor ihm!«

Sein Fuß hob sich zum Sprung, und besinnungslos ließ mein Arm das emporgeschwungene Ruder gegen seine Stirn niederfahren. Ich sah, daß die Mondscheibe vom Himmel fiel, ein Aufkrachen und Schrei folgte hinterdrein, die letzte Kraft hatte mich verlassen und kopfüber stürzte ich wie in bodenlose Nacht rückwärts in den Bootsraum hinunter.

*

Irgendwo bekam ich den Brief, nach Monden, irgendwo in der Welt. Einen veralteten Brief von Erich Billrods Hand, der mich schon lange gesucht. Sehr kurz, er sagte es selbst:

»Ich schreibe Dir sehr kurz, Reinold Keßler, denn Sterbende sind nicht zu Weitläufigkeiten verpflichtet. Vielleicht dient es Dir später noch einmal zu einiger Beruhigung, daß ich den zerschmetterten Stirnknochen, der, wie der Arzt sagt, heut' Nacht bewirken wird, daß die Sonne morgen nicht mehr vor mir erschrickt – daß ich ihn nicht Deinem Arm, sondern dem Einsturz des Dachstuhls verdanke, unter dem Magda Helmuth's Herz sommerlang für Dich geschlagen. Du warst etwas ungerecht gegen mich, Reinold Keßler, als wir uns zuletzt und zum letztenmal sahen – das Herz macht manchmal den Kopf dazu – ich habe dafür eine Pflicht erfüllt, indem mein Testament Dich heut' zu meinem Erben eingesetzt hat. Das ist sehr wenig, Remold Keßler, aber man kann nicht viel tun, wenn man nur wenig Zeit mehr hat, sonst hätte ich nachgesucht und vielleicht noch ein Stück von dem Herzen Robert Lindström's unter dem Schutt herausgefunden, um es dem Sohn Asta Ingermann's beizulegen. Aber es ist spät geworden – ich muß diesmal allein nach Hause gehen und will Magda Helmuth von Dir grüßen, bis Du nachkommst,
Reinold Lindström –«


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