Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Wie sich die Schollen herandrängen, übereinander werfen, in wildem Aufruhr wechselseitig zertrümmern!

Mir ist's wie ein letzter sonnenfriedlicher Tag, dessen Abend seltsame Wolkengebilde am Horizont heraufschiebt. Eine Weile stehen sie ruhig in phantastischer Gestalt, geharnischte Nebelheere, die sich entgegendrohen, aufbäumende Pferde und vorzeitlich fremde Riesengeschöpfe. Nun Titanen, mit Felsblöcken bewehrt, den Himmel zu stürmen, nun Berge selbst, Gipfel um Gipfel über einander türmend, zackig zerrissen, mit Schlünden, Gletschern, starrenden Schroffen, doch alles lautlos, nur wie ein ferner, wesenloser Dämmertraum fiebernder Einbildung. Da pfeift ein Windstoß, und ein schwefelgelber Blitz fährt ihm nach; ein Ruck, und die sturmgepeitschte Masse schwillt heran, herüber. Die Ungeheuer öffnen ihren Rachen und speien Fluten, Feuer, schwarze Nacht herab. Mit Betäubung umrollt unablässiger Donner das Ohr und die Erde wankt unter dem Fuß; in dem Geheul, der Brandung, dem Schwinden der Sinne greift die Hand irr und vergeblich tastend vor sich hinaus. Flammen und Fluten schlagen über ihr zusammen.

*

Der Verlauf meines Tages war durch die Abwesenheit Erich Billrods ein noch gleichmäßigerer geworden; außer Fritz Hornung, meinem Hausgenossen, sah ich selten einen Menschen, nur dann noch, wenn ich am Abend Imhofs Haus besuchte. Das fand indeß allmählich wieder häufiger statt, ich empfand zu meiner Freude, der Grund meines Fortbleibens, wenigstens was das äußere Benehmen Lydia Imhofs anbetraf, gerate mehr und mehr in Wegfall. Ja, ich machte mir nach einiger Zeit Vorwürfe, daß ich mich zu einer vorschnellen, offenbar durch nichts mehr begründeten Annahme habe verleiten lassen, eine nicht geziemende Vertraulichkeit in ihrem Verhalten gegen mich wahrzunehmen. Sie behielt auch jetzt mir gegenüber einen Ton, wie er einer Frau bei dem ältesten Jugendgenossen ihres Mannes wohl zustand und benutzte gern einen Augenblick vertraulicher Unterhaltung mit mir, doch jedesmal mit dem Ergebnis, mir schien's fast zu dem Zweck, die Vortrefflichkeit Philipp Imhofs nach allen Richtungen hervorzuheben, ihr häusliches Glück und daß eine Frau wie sie überhaupt alle Wünsche des Lebens erfüllt sehe, zu betonen. Hatte sie die Empfindung, ich hätte einmal etwas anderes zu denken vermocht, sie habe mir durch eine inhaltslose Unbesonnenheit Anlaß dazu gegeben? Gewiß war's, daß sie jetzt alles tat, eine derartige Mutmaßung auszulöschen, ohne dabei ihre Freundlichkeit wieder in die gesellschaftliche Förmlichkeit, mit der sie mich anfänglich aufgenommen, umzuwandeln. Sie scherzte und neckte sich mit mir; eines Abends faßte sie in einem dunklen Zimmer zum erstenmal wieder meinen Arm und flüsterte: »Soll ich Ihnen etwas erzählen?« Mich überkam es unbehaglich dabei, und ich antwortete nichts, doch sogleich zog sie meinen Kopf leicht zu sich herunter und raunte mir ins Ohr: »Etwas Hübsches – Sie sind verliebt in Anna Wende.«

»Woher wissen Sie –?« stotterte ich.

Sie lachte. »Nun, mich dünkt, wer zwei Augen im Kopf trägt – ich glaube, Anna selbst ist die einzige Blindschleiche im Haus –«

»Die es nicht sieht, nicht denkt?«

»Kinder müssen nicht zuviel fragen!«

Lydia Imhof wollte fortschlüpfen, nun hielt ich sie. »Sagen Sie mir, was Sie wissen!«

»Ich weiß nur, daß Anna Sie für eine Blindschleiche hält, und daß es mir Spaß macht, zu sehen, wie zwei verliebte Kinder sich am hellen Tage miteinander behaben, als gäbe es keine Augen in ihren Köpfen.«

Mein Herz jubelte in stummem Glück. Jetzt drückte Lydia Imhof mir die Hand und setzte in verändertem, ernstem Ton hinzu: »Verlassen Sie sich auf jemand, der in gleicher Weise an dem Glück des Freundes und der Freundin teilnimmt – auf die Vertraute des einen und der andern, die, wenn der wichtige Augenblick gekommen ist, sagen wird: So, Kinder, nun schließ' ich die Tür hinter euch zu, und nun helft euch gegenseitig den Star von euren Augen! Aber versprechen Sie, daß Sie mir nichts vorher durch Ungeschicklichkeit verderben, Keßler! Sie sind sehr gelehrt, doch auf Frauen-, ich meine, auf Mädchenart verstehen Sie sich doch nicht.«

Ich gab frohlockend das Versprechen; jetzt lag es klar zu Tage – wie hatte ich mich in Lydia Imhof getäuscht! Sie hatte Recht, ich verstand mich nicht auf Frauenart. Nur eine kannte ich bis in die letzten Tiefen ihres Herzens und Gemütes – Magda Helmuth –

Seltsam, in ihrem jungen Herzen leuchtete keine Liebe, selbst keine heimliche, hoffnungslose. Nein, nicht seltsam, nur zu begreiflich; auch das war ihr versagt – dem Krüppel.

Am nämlichen Abend geschah's, daß im Verlauf des Gesprächs später einer Kuriosität Erwähnung getan wurde, einer Schauspieler-Gesellschaft, die seit einigen Tagen Vorstellungen zu geben begonnen. Wenigstens bildete dies für meine Vaterstadt eine Merkwürdigkeit; sie besaß allerdings ein noch aus dem vorigen Jahrhundert stammendes, an Raumausdehnung und Bühnen-Einrichtung die Erwartungen übertreffendes Theatergebäude, doch die ›gute Gesellschaft‹ besuchte dies niemals, da sie sich von vornherein der Ueberzeugung hingab, daß die künstlerischen Leistungen der ab und zu kurz gastierenden Wandertruppen ihrer ästhetischen Anforderung nicht entsprechen könnten. Sie verlangte von der darstellenden Kunst ihrem eigenen Verständnis Gleichkommendes, das heißt Vollendetes, und bewies eben die Höhe ihrer Achtung vor dramatischen Dichtungswerken durch ihr Fortbleiben von der Aufführung derselben. Es war das indeß etwas die Schlange, die sich in den Schwanz biß, denn so lange die Logen und Parquetplätze in gähnender Leere verblieben, besaß der Schauspieldirektor nicht die Mittel, um sich unter der Zahl der zur Auswahl befindlichen tragischen Helden, ersten Liebhaber und Liebhaberinnen, Intriguanten, komischen Alten, Bonvivants, Väter, Mütter und schnippischen Kammermädchen die vorzüglichsten Exemplare auszulesen, und so lange er keine weltberühmten Namen auf seinem Theaterzettel zur Schau stelle, erklärte die gute Gesellschaft es unter ihrer Würde, zu kommen. So wuchs im Sommer vor dem – in Anbetracht nur dreißigjähriger Durchschnitts-Lebensdauer solcher leicht entzündlichen Institute – ehrwürdigen Gebäude Gras, und im Winter bestritt die feine Bildung der Stadt das vorhandene dramatische Kunstbedürfnis aus eigener Rechnung durch Leseabende mit verteilten Rollen, die, außer den mannigfachsten andern, den nicht zu unterschätzenden Vorzug boten, daß die mitwirkenden Damen in ihren Klassiker-Exemplaren stets durch vorherige sorgsame Regie vermittelst deutlicher Rotstiftstriche auf nicht vortragbare, anstößige Stellen aufmerksam gemacht wurden. Da aber die Bühnenleistungen dergestalt in Folge des mangelnden Besuches wirklich unter dem Niveau der Mittelmäßigkeit standen, erinnerte ich mich selbst kaum mehr als ein einziges Mal das Theater meiner Vaterstadt betreten zu haben, und war erstaunt, in dem an jenem Abend bei Imhof's versammelten Kreise ein allgemeines, fast ungeteiltes Lob der kürzlich eingetroffenen Schauspielergesellschaft zu vernehmen. Vorzüglich vereinigte sich die Anerkennung in solchem Maße auf einer tragischen Heldin oder Liebhaberin, daß ich mit höchster Verwunderung zuhörte und erst begriff, weshalb ich immer vergeblich auf eine Ausstellung an ihr gewartet, als es zur Sprache kam, daß sie eine Ausländerin sei, die erst in späteren Jahren deutsch gelernt habe und in solcher Weise naturgemäß einen ganz anderen Gegenstand künstlerischer Begeisterung bildete, als wenn sie die Sprache, in welcher sie Ohren und Gemüt der Hörer entzückt fortriß, schon nach gewöhnlich-herkömmlicher Art als Kind mit der Muttermilch eingesogen hätte. Einige hielten sie für eine Engländerin, andre für aus Ungarn herstammend. Die letztere Ansicht fand die meiste Zustimmung, da ihr Aeußeres, ihre Lebhaftigkeit und leidenschaftliche Verkörperung der dichterischen Gestalten entschieden nicht auf die laufeuchte Atmosphäre der britischen Inseln, sondern auf den ›feurigen‹ Süden hinweise und außerdem die Bezeichnung einer ›stolzen Magyarin‹ ihrem ganzen Wesen wie angegossen erscheine. Volle Einigkeit herrschte dagegen darüber, daß ihr Spiel so vollendet sei, wie ihre Schönheit, und bedauernswert bleibe nur an ihr, daß die Umstände sie nötigten in deutscher Zunge aufzutreten, anstatt die Zuhörer in noch höherem Grade durch die melodischen Laute ihrer eigentlichen Heimatssprache zu fesseln.

»Na, für mich ist's wenigstens ein Glück, denn wenn sie ungarisch spräche, würde ich kein Wort davon verstehen!« rief Anna Wende lachend dazwischen. Sie warf mir einen Blick dabei zu, der mir köstlich bis durch's Herz hindurchging, da er beredt-verständlich sagte: »Du, Reinold, wir beiden sind hier die einzigen –«

Es ward geklopft, die Tür ging auf und ein verspäteter Gast trat noch ein. Ganz schwarzgekleidet, doch mit ausgesuchter Sorgfalt, darüber hob sich ein sehr blasses, dunkel vom Haar umrahmtes Gesicht mit eigentlich scharf ausgeprägten Zügen und doch zugleich von jener Undeutlichkeit überlagert, die ein häufig wechselndes Mienenspiel verleiht. Der Eintretende erschien mir, wie der lupus ex fabula, das heißt, als eine von den Persönlichkeiten, um die sich das Gespräch augenblicklich gedreht, und meine Vermutung, er gehöre – wahrscheinlich als feiner Intriguant – zu der eifrig beredeten Künstlergesellschaft, ward dadurch fast bestätigt, daß Lydia Imhof sich erhob und ihm mit dem Aufruf zuwandte: »Es ist hübsch, daß Sie kommen, vielleicht können Sie uns sagen, welcher Nationalität Fräulein oder Miß oder Donna Angelica Leander angehört.«

Der Befragte verbeugte sich und erwiderte lächelnd: »Leider nicht, gnädige Frau – ich würde vermuten, daß die Trägerin dieser schönen Namen gleich den übrigen Engeln aus dem Morgenlande, etwa aus Mesopotamien stamme – aber mein Beruf entfernt mich doch zu weit von derartigen ethnographischen Forschungen –«

Anna Wende's Stimme fiel plötzlich wieder ein, lachend wie zuvor, doch mit einem mir an ihr fremdartigen, fast sarkastischen Spott, der unverkennbar Abneigung gegen den neuen Gast ausdrückte:

»Es scheint, gehört oder vielleicht gesehen müssen Sie die Schauspielerin doch haben, und es heißt, ein Komödiant könne einen Pastor lehren.«

Philipp Imhof war gleichzeitig aufgestanden und sagte, in seiner mechanikartig methodischen Weise auf mich und den Fremden deutend: »Ich brauche nicht vorzustellen, die Herren kennen sich.«

Ich sah noch fragend von dem Schwarzgekleideten auf Imhof. »Daß ich nicht –«

Doch der Erstere streckte mit einem Lächeln seine Hand vor. »Gewiß, die anvertrauten, unveränderten Züge eines lieben Jugendgefährten, wenn wir uns auch geraume Zeit nicht mehr gesehen.«

Philipp Imhof nickte: »Ja, Du wirst zwei Jahre auf fremden Universitäten gewesen sein, Bruma.«

Eugen Bruma – –

Vergessen, ein Schatten, fast nur ein Name mehr. Er drückte mir freundschaftlich die Hand, die ich der seinigen mechanisch entgegengereicht, ich vermochte es mir nicht abzuleugnen, mit Widerwillen, als eine gesellschaftliche Lüge. Doppelte Erinnerung war mir bei dem Klange seines Namens zurückgekommen, diejenige an seine jetzt bekannt aus dem blassen Gesicht auftauchenden Züge und an das Abneigungs-, ja feindselige Verhältnis, in welchem Fritz Hornung und ich – ja, Philipp Imhof damals ebenso – stets zu Eugen Bruma gestanden.

Doch hatte ich mich als Knabe nicht in so Manchem getäuscht? Zu oft, als daß es nicht zur Vorsicht mahnte, mich vor einer neuen Ungerechtigkeit zu hüten? Außerdem, ob Täuschung oder nicht –

»Sie sind während meines Fortseins immer in dieser guten, alten Stadt geblieben, Keßler? sprach Eugen Bruma mich an. Er hatte nichts Pastorales in seinem Ton, eher etwas Weltmännisch-Gewandtes, Verbindliches. In liebenswürdiger Art teilte er mir den Verlauf seiner letzten Lebensjahre mit, wohin sein theologisches Studium ihn geführt und daß er vor einigen Wochen hierher zurückgekommen sei, um bereits sein Examen zu bestehen. Die Betrachtungen, welche er an einige Dinge anknüpfte, zufällig sich einmischende Aeußerungen waren nicht salbungsvoll-religiöser, sondern philosophischer Natur, oft feinsinnig und geistreich; seine Weise zu sprechen fesselte, man mußte ihr mit Interesse zuhören. In der Tat, mit dem wir mehr und mehr wieder bekannten Gesicht war er mir dennoch ein völlig Fremder. Er mochte den Ausdruck dieser Empfindung in meiner Miene lesen, denn in einem geschickten Uebergang auf unsere gemeinsame Vergangenheit zurückgreifend, sagte er zum Schluß: »Man beurteilt gar Manches anders, ich darf wohl sagen fälschlich, weil man es nicht wirklich kennen gelernt. Wie Kinder sich auch selten wirklich kennen lernen, nach der eifrigen Natur ihres Alters allerhand sonderbare Vorstellungen in ihrem Kopfe herumtragen und dann erst später einsehen, daß sie – eben Kinder gewesen sind, die sich irrten und über die Täuschung der Vergangenheit lächeln müssen.«

Auch Eugen Bruma lächelte und reichte mir nochmals seine sehr weiße und offenbar sorglich gepflegte Hand; seine ruhig-bescheidene Art redete, daß er sich bereits einer sicheren Stellung in der Welt, wie in sich selbst bewußt fühle, und sein Behaben im Imhof'schen Hause sprach aus, daß er auch in diesem eine befreundete und berechtigte Stellung einnehme. Eine schnell erworbene, denn es waren erst Wochen seit seiner Rückkehr verflossen und der Zufall mußte gefügt haben, daß ich heut zum erstenmal hier mit ihm zusammentraf, doch ich konnte ihm das Zugeständnis nicht versagen, seine Persönlichkeit wirke als eine solche, die, zumal auf der Grundlage alter Beziehungen, sich schnell Eingang und eine gewisse Bevorzugung zu erwerben geeignet sei. Seltsam war's, wie wir Hausgenossen der Kindheit uns hier wieder unter einem Dach vereinigt fanden, oder wenigstens zusammen an dem nämlichen Tische hätten sitzen können – auch Aennchen kam dieser Gedanke, denn sie sagte: »Schade, daß der Februar nicht auch da ist, dann wäre das alte Kleeblatt vollständig.« – »Sie meinen dasjenige, Fräulein, welches mit dem Bruma, dem Winter, anfängt und sich im Hornung fortsetzt,« lächelte Eugen Bruma, der Anna Wende zu Tisch geführt und sich eifrig mit ihr unterhielt. Ich hörte herüber, wie sie antwortete: »Nein, daran dachte ich nicht, denn eigentlich besitzt ein ordentliches Kleeblatt nur drei Blätter und das vierte läßt man sich höchstens als Ausnahme gefallen.« Die Erwiderung trug im Grunde etwas ziemlich Unverblümtes an sich, allein Eugen Bruma schien es nicht zu verstehen, oder artig nicht verstehen zu wollen, denn er entgegnete liebenswürdig lächelnd wie immer: »Aber das vierte Blatt daran zu finden, bringt Glück, spricht der Volksmund.« – »Jedenfalls spricht Ihr Mund damit keine übermäßige Bescheidenheit aus, Herr Bruma, und ich halte nicht viel von solcher Volksweisheit.«

*

Ein Mann, der schräg meinem Fenster gegenüber einen großen roten Anschlagzettel an einer Hauswand befestigte, zog am andern Morgen durch das Ungewohnte dieses Verfahrens meine Aufmerksamkeit an sich. Ich bog, als er weiter gegangen, den Kopf hinaus und mir leuchtete mit großen Buchstaben auf dem roten Grund deutlich lesbar entgegen: ›Maria Stuart‹; das kleiner Gedruckte darüber und darunter war aus der Entfernung nicht zu unterscheiden. »Die unübertrefflichen Schauspieler,« sagte ich lachend vor mich hin, »besonders wenn sie kalmückisch statt deutsch sprächen,« und begab mich an meine Arbeit. Doch sie blieb nicht lange ununterbrochen, denn bald darauf kam ein Schritt von oben die Treppe herab und Fritz Hornung trat bei mir ein. Ich war verwundert und fragte: »Nicht bei'm Frühschoppen, Fritz? Sind Anzeichen für ein Erdbeben vorhanden?«

Er lachte: »Wenn's Einem im Kopf etwas rundgeht, kann die Erde nichts dafür, daß sie's mit tut. Und schließlich kommt's Alles nur vom Wasser her –«

»Heißt das so viel, daß Du einen Wasserkopf hast, Fritz, und als hydrocephalus in mein Fach schlägst?«

»Vielleicht – wie ist's noch? ich hab' es einmal bei Tix – abera – deklamieren müssen:

›Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es –‹

Es läßt sich aber noch viel naturgetreuer sagen. Vom Himmel kommt es, auf die Erde fällt es, in den Rebstock steigt es, zu Wein wird es, in die Kehle geht es, zu Kopf fährt es und Jammer ist es. Eigentlich auch kein Jammer, sondern mehr allgemeines Wohlgefallen an der Welt, ohne spezielle Gedanken darüber, denn an dem Wein, ich meine an dem Rundlauf des Wassers war nichts auszusetzen, als der schnöde Mammon, den es bei der Gelegenheit aus meiner Tasche mit sich fortspülte.«

»Aber wie geriet Dein Gambrinusgemüt an diese wundertätige und dichterisch aus Dir sprudelnde Weinhippokrene, Fritz?«

»Ach Gott, wenn die Menschen nur nicht immer so viel mit Ursache und Wirkung und Chronologie – zu tun hätten! Ich fiel hinein – ja so, Chronologie erst ging ich hinein, nämlich in's Theater –«

»Du? Statt in die Kneipe?«

»Die kam nachher. Wenn ich rede, schweigen Sie! sagte Tix – abera. Willst Du's wissen oder nicht? Also ich war d'rin. Warum? Ursache und Wirkung. Weil unser dicker Senior sich zu gestern Abend ein Theaterbillet gekauft hatte, um mit einer nagelneuen Cereviskappe zu renommieren, aber schon um Mittag so wackelig von einem Jammerfrühstück auf die Kneipe kam – auch im Kopf wackelig – daß er's wie ein altes Pappdeckelstück auf den Boden streute. Man muß einmal sparsam sein, dachte ich, und kaufte es ihm für den halben Barpreis in Blechmarken ab. Es kommt Einem so 'mal plötzlich mit einer industriösen Erleuchtung, und so kam ich denn in die alte Schaubude hinein. Eigentlich hat's mehr von einem Pferdestall, und Ochsen standen auch genug um mich herum, die nichts davon begriffen, daß die Komödianten wirklich famos spielten. Da war Eine – Hero heißt sie nicht – Herr Gott, mein Kopf! – aber so in der Gegend – die stellte ein boshaftes Frauenzimmer vor, es war leibhaftig, als fühlte man sich selbst die Augen von ihr ausgekratzt. Na, und da, wie's vorbei war und ich den Preis herausgeschlagen hatte – ja, wie kam's eigentlich? Erst ging ich natürlich auf die Kneipe, und nachher bin ich an einer Weinstube vorübergekommen, wo die Fenster offen standen. Da saßen sie alle d'rin, ohne Perrücken, Puderfrisur und Unsinn, wie ich hineinguckte, und sie sagte – richtig, die Gegend war's, Leander heißt sie – sagte: »Ah, das ist der junge Herr aus dem Parkett, der so arg geklatscht hat.«

»Da scheint's mir, hast Du's wohl nicht bei'm Hineinsehen bewenden lassen, sondern bist auch ein wenig erst hineingegangen, Fritz.«

»Mag sein, wer kann solche subtile Unterschiede im Kopf behalten! Hineingetrunken habe ich wenigstens allerlei, weil sie mich aufforderten. Was die Kerle – Künstler wollt' ich sagen – für feine Sorten in ihre heiser deklamierten Kehlen hinuntergießen! Uebrigens die Leander – Hero kommt mir viel passender vor – die Hero leistete für ein Frauenzimmer auch Achtbares, ohne daß es ihre Augen und ihre Zunge anfocht. Sollt' ich mich denn am Ende von dem fremden Gesin– der fremden Gesellschaft, mein' ich – traktieren lassen? Für den Tag, deuchte mich, war ich grade sparsam genug gewesen. ›Kellner, geben Sie einmal eine Flasche Sekt, aber kalt!‹ sagte ich. Hui, wie die Mücken waren sie d'rüber, und die Lea– Hero ließ sich den Schaum auch um ihre Blutpfirsichlippen aufsprudeln und nickte dazu: »Sie sind der galanteste junge Kavalier, den ich kenne.« Schönen Dank, zehn Taler machte am Kreideende die Galantrie und einen – wie drücktest Du Dich hübsch technisch aus? – einen hydrocephalus- lum, würde Tix – abera – verbessern.«

Es kribbelte etwas wie in kräuseligen Falten um Fritz Hornung's Nase, während er's unter abspringendem Kork in die Höh' brausendem Champagner ähnlich halb komisch-ärgerlich und halb in lustigem Uebermut heraussprudelte. Unwillkürlich drängte sich mir wieder auf, er besaß wirklich etwas Natur-Verwandtes mit Anna Wende, nur daß seine unverwüstliche Laune sich in die derbere burschikose Form seines Umgangs und studentischen Brauchs kleidete. Ich konnte nicht unterlassen, ihm die Aehnlichkeit auszusprechen, doch er fiel mir in's Wort: »Willst Du mir den Kopf noch wirbliger machen, sonst laß mich mit dem abgeschmackten Frauenzimmer mit den langweiligen Kornähren um den Kopf und den Kornblumen darunter. Von der Sorte wachsen sie zu Dutzenden auf jedem Dorf und ich bedanke mich für den Vergleich, der höchstens darin stimmt, daß ich heut' Morgen auch etwas Stroh unter meinem Stirnbein verspüre.«

Halb brachte mich's auf und halb mußte ich doch lachen. »Weißt Du, daß das eigentlich ein Tusch gewesen wäre, wenn ich auch noch solche dreifarbige Narretei über der Weste trüge! Ich wollte Dir ein Kompliment machen, und Aennchen – Fräulein Wende hat Recht, Du schlägst mit der Bärentatze d'rein. Auf solche Weise setzt man sich allerdings bei einem weiblichen Wesen nicht in Gunst, und man kommt leicht dazu, jemand abgeschmackt zu nennen, wenn man sich selbst – na, Dir liegt ja an keinem ›frauenzimmerlichen‹ Wohlgefallen etwas.«

Ich hatte den Satz, zu dem der Unmut über die Beurteilung Aennchens mich fortgerissen, abgebrochen, denn Fritz Hornung war, offenbar über meine Zurechtweisung rot geworden und stieß mit vollüberzeugendstem Ton aus: »Nein, gewiß liegt mir an Fräulein Wende's Wohlgefallen nichts, nicht so viel!« Er schnippte mit den Fingern, drehte sich dann jedoch ab, schwieg und sah aus dem Fenster. Wir blieben beide eine Weile stumm –

Hatte ich ihn doch beleidigt, den treuen Burschen? Er konnte ja nicht wissen –

Ich stand auf und trat hinter ihn. »Fritz – wenn ich zu gradaus gewesen – sag' mir, womit ich 's gut machen soll.«

Nun wandte er den Kopf, noch immer etwas rot, und griff zugleich in die Brusttasche. »Unsinn – gradaus gewesen, Reinold, das bin ich immer und ich bin auch ein Bär, kein galanter Kavalier. Was willst Du gut machen? Daß niemand Wohlgefallen an mir haben kann? Wenn Du etwas gut machen willst, so tu's und nimm eine von diesen beiden Karten, die mir meine Sektbrüder und Schwestern von gestern heut' für die Maria Stuart auf die Bude geschickt haben. Von mir aus war's jedenfalls nicht mit der Wurst nach dem Schinken geworfen.«

Er reichte mir zwei Theaterbillette entgegen; die Art, in welche er die Verzeihung für die ihm zugefügte Kränkung einwickelte, hatte etwas wahrhaft Rührendes, zumal da sein Gesicht obendrein in unverkennbarster Weise noch eine gewisse Verlegenheit ausdrückte.

Fritz Hornung verlegen – es gab doch noch etwas Neues unter der Sonne.

Ich nahm die Karte. »Wenn das Deine Bedingung ist, alter Freund; ich wollte, jeder Mensch wäre auf so angenehme Art zu versöhnen. Hab' Dank, Fritz; gewiß, ich will mit Dir gehen.«

Nun war er wieder der Alte, nahm eine Zigarre, schwatzte, lachte und ging im Zimmer auf und ab. Aber trotzdem bemerkte ich, daß noch etwas in ihm stecke, was er nicht recht hervorzubringen wisse. Endlich gelang's ihm, er blieb wieder abgewendet am Fenster stehn und sagte:

»Du äußertest vorhin, auf solche Weise setze man sich bei einem weiblichen Wesen nicht in Gunst. Du hast Recht, ich bin ein Bär und schäme mich, was sie – Fräulein Wende über mich denken mag. Aber Du bist von Kindheit auf immer mehr mit Frauenzimmern zusammen gewesen, Reinold, so daß Du Dich besser darauf verstehst und mir einmal ein Privatissimum darüber halten könntest, wie man es anfängt, daß man nicht als ein Tölpel Mißfallen erregt.«

Ich mußte hell auflachen. »Ein theoretisches Kolleg darüber, glaube ich, ist nicht sehr fördersam, wenn der Hörer es doch nicht zu praktischem Beruf ausnützen will. Zum Beispiel, wenn Du verliebt wärest, brauchtest Du keinerlei Doktrin. Die Hauptsache ist, kein Robert Lindström zu sein – die besitzst Du – und für Anna Wende hast Du durchaus kein Privatissimum nötig, Fritz!«

*

So saß ich zum andernmal in meinem Leben in dem Theater meiner Vaterstadt, das Fritz Hornung in anti-euphemistischer Anwandlung als Pferdestall bezeichnet hatte. Etwas zu despektierlich, wenigstens für den augenblicklichen Moment. Im Bleigrau des Tageslichts mochte die Bretterwand, welche das Parkett vom Orchester abtrennte, einige Ähnlichkeit mit einer Pferderampe nicht verleugnen und die Logen sich etwas wie hölzerne Hürdenverschläge ausnehmen, doch gegenwärtig im Lichterglanz, im Durcheinandergeflimmer von Samt und Seide, Diamanten- und Perlenbehängen, weiß bekleideten Händen und unbekleideten Busen gemahnte die Bevölkerung äußerlich keineswegs an Rinder, Esel oder Schafe und teilte ihre Leuchtkraft den von ihr innegehaltenen und überstrahlten Pferchen mit. Die gesamte gute Gesellschaft der Stadt hatte sich ein, Kunstgenuß bezweckendes Rendezvous gegeben; an der Seite Lydia Imhofs befand sich auch Aennchen in einer der Logen des ersten Ranges und verwandte kaum ihren Blick aus der Richtung, wo ich auf einer der vordersten Parkettbänke am äußersten Rande derselben neben Fritz Hornung saß. Das Haus war vollständig gefüllt, nun eröffnete die Galerie die übliche Pedalouvertüre, einige taktierende Postamente des Parterre hinter uns fielen akkompagnierend ein, dem erwarteten spectaculo ging der unter allen Himmelsstrichen bräuchliche Spektakel voran. Er erreichte seinen Zweck, die Einzel-Präludierungs-Uebungen des in verwandtschaftlich abgeschabte Fräcke gekleideten Musikkorps etwas zu beschleunigen, der Taktierstock, das Kunstszepter des Allgebietenden klopfte und erhob sich – »den Geigenschwindel schenkte ich ihnen auch« – brummte Fritz Hornung, und die gute Gesellschaft wiegte sich unter Geplauder und sittigem Gelächter auf den Tonwellen der Ouvertüre irgend eines unvergleichlichen klassischen Meisterwerks zu den höchsten Altarstufen künstlerisch-ästhetischer und gemütdurchbebender Begeisterung hinan. »Wie Schade!« hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir, »nun ist das Herrliche vorüber und die langweilige Komödie fängt an, die wir schon in der Schule lesen mußten, daß ich sie noch halb auswendig weiß.« Eine andere entgegnete: »Die Kostüme und besonders die Toilette der Leander sollen aber prachtvoll sein –.« – »Was läßt sich da erwarten, sie kommt immer nur in Schwarz.« – »Ja, doch ganz mit Schmelz besetzt, wie mit schwarzen Diamanten, ist mir gesagt worden.« – Der Vorhang ging in die Höh.

Es waren in der Tat gute Schauspieler, die alte Kennedy und Sir Amias Paulet gaben in der ersten Szene Bürgschaft dafür. Ihr Dialog spielte sich anerkennenswert ab, dann sagte der Ritter unmutig:

»Denn lieber möcht' ich der Verdammten Schar
Wachstehend an der Höllenpforte hüten,
Als diese ränkevolle Königin.«

Und Kennedy erwiderte:

»Da kommt sie selbst!«

Hatte die Alte das gesagt? Es klang mir doppelt im Ohr, als hätte auch Fritz Hornung's Stimme neben mir das Nämliche gesprochen. Unwillkürlich drehte mein Kopf sich einen Moment nach seiner Richtung, doch mit vorgestreckter Stirn hielt er stumm den Blick auf die Bühne gerichtet und ich wandte meine Augen gleichfalls dorthin zurück.

Maria Stuart war in der kurzen Zwischenzeit auf der Schwelle der von ihr geöffneten Tür erschienen, wirklich, wie meine Nachbarin hinter mir prophezeit, in ganz mit flimmerndem Schmelz besetztes Schwarz gekleidet, doch eine hohe, königliche Gestalt, auf den ersten Blick in Haltung, Bewegung und Ausdruck des Gesichtes eine wahrhafte Tragödin und würdige Verkörperung der gefangenen schottischen Königin. Sie trug ihr Haar und einen Teil der Stirn unter einem schwarzen Witwenschleier verhüllt, trat langsam vor und sagte, die Hand auf die Schulter der alten Dienerin legend, nach dem Klageausbruch der letzteren mit tief-melodischer, doch verhalten-überschleierter Stimme:

»Faß Dich! – Sag an, was uns geschehen ist?«

Es zuckte etwas in mir, wie eine von unsichtbarer Ursache zu plötzlicher Empfindung angeregte Muskelfiber. Hatte ich die Stimme nicht schon einmal –?

Die Antwort Kennedy's ging gleichgiltig an meinem Ohr vorüber und Maria Stuart erwiderte, ihre bisher etwas vorgebeugte Gestalt hochaufrichtend, gelassen:

»Man kann uns niedrig
Behandeln, nicht erniedrigen –«

Mein Gott – doch wo? Wo hatte ich diese Stimme gehört? Nicht sie selbst in ihrer vollen Tonfülle – sie war anders gewesen, gleichsam noch unausgewachsen – ich blickte vor mich auf den Theaterzettel: »Maria Stuart ... Fräulein Angelica Leander.«

Nein, der Name war mir wildfremd, ich hatte ihn gestern Abend zum erstenmal vernommen.

Das Spiel riß mich aus meinem Nachdenken und mit sich fort. Mortimer trat, in insolenter Weise der Königin den Rücken drehend, ein, daß sie von seiner Erscheinung abgestoßen bat:

»Den Uebermut des Jünglings trag' ich nicht,
Spart mir den Anblick seiner rohen Sitten!«

Paulet entgegnete:

»Wohl ist er keiner von den weichen Toren,
Die eine falsche Weiberträne schmelzt –
Lady, an dem ist Eure Kunst verloren.«

Neben mir unterbrach ein Gemurmel meine Aufmerksamkeit. »Er verdient's – ein roher Bursche, ein Bär, ein Tölpel –«

Ich mußte über Fritz Hornungs halblautes Selbstgespräch und seine mich überraschende, fast knabenhaftselbstvergessene Hingabe an die Darstellung lächeln, doch gleichzeitig trat Maria Stuart im Gespräch mit ihrer Amme vor und antwortete auf einen Trostspruch derselben ihrer Rolle gemäß:

»Ich erkenn' ihn.«

Sie stand dicht am äußersten Bühnenrande, und ihr Blick, der über den Zuschauerraum fortschweifte, blieb bei den Worten einen Moment scharf auf unsern Plätzen haften. Niemandem sonst mochte bei dem Klang des kurzen Satzes etwas auffallen, nur mir besagte in Verbindung mit den auf uns gerichteten Augen der Sprecherin ein leichter Nachdruck auf den Worten, daß sie, nach nicht seltenem Schauspielerbrauch, einen derartigen Anlaß zu benutzen, eine Doppeldeutigkeit enthielten, und mich an Fritz Hornungs Ohr beugend, flüsterte ich scherzend: »Du bist unhöflich, den königlichen Gruß durch nichts zu erwidern, da Maria Stuart ihre letzten Worte offenbar in dankbarer Erinnerung an Deinen Champagner gesprochen hat.«

»Meinst Du? Gewiß nicht, sie dachte nicht daran. Sie sah allerdings hierher –«

Fritz Hornung erwiderte es etwas durcheinander, ihm fiel seine Cerevismütze zur Erde, und er bückte sich rasch, sie aufzuheben. Der erste Akt spielte sich unter mehrfachen Regieauslassungen ziemlich schnell zu Ende. Durch das sich immer mehr steigernde Interesse, mit dem ich mich der Aufführung hingab, klang mir nur noch einmal wieder von Maria Stuarts Lippen die wunderliche Stimmenvertrautheit voll in's Ohr und in die Empfindung, als sie auf Burleighs Vorhalt stolz entgegnete:

»Und das sind meine Richter!«

Sie sprach es den Zuschauern entgegengewandt und ließ dabei einen verächtlich aufflammenden Blick hinausschweifen, dem ein Sturm des Beifalls aus dem Hause folgte, der sich verstärkt wiederholte, als der Vorhang fiel. Fast am lautesten äußerte Fritz Hornung seinen anerkennenden Enthusiasmus, denn er setzte sein ungestümes Händeklatschen fort, bis Fräulein Leander erschien und mit einer kurzen Verbeugung das erneute Lob in Empfang nahm. Ihre Augen richteten sich dabei eine Sekunde lang abermals in unsere Ecke, dann begann die Musik wieder und ich fragte lachend: »Tun Dir die Hände nicht weh, Fritz? Ich hätte solche bacchantische Wirkung der dramatischen Kunst auf Dich nicht für möglich gehalten, daß die Leute Dich fast für einen bezahlten Claqueur ansehen könnten.«

»Verdient sie's denn etwa nicht?« antwortete er, beinah über meinen Scherz erzürnt. »Was sind die Andern alle neben ihr?«

Ich dachte dasselbe, nur nicht in Bezug auf die Trägerin der Titelrolle dieses Stückes, sondern von Anna Wende, zu der ich aufstehend und rückgewendet hinaufsah. Wie einfach-schön saß sie unter all' den geputzten Damen nur mit einer weißen Rose im Haar. Leider blieb ihr Anblick mir nicht lange vergönnt, denn der Zwischenakt war kurz, der zweite Aufzug begann, bestätigte die Kunst der Schauspieler in ebenso hohem Grade, und mit erwartungsvoller Spannung sah ich der großen Szene zwischen den beiden Königinnen entgegen. Sie kam, und eine der höchsten dramatisch-dichterischen Leistungen aller Zeiten und Völker zog mich mit voller Vergessenheit aller Dinge um mich her in die unübertroffene Hoheit der Sprache und des gewaltigen Vorganges auf der Bühne. Ich fühlte, daß mich während desselben von rechts her leise eine Hand am Arm berührte, drehte mechanisch den Kopf, sah in das runzlige Gesicht der alten Türschließerin des Parketts und nahm ebenso instinktiv-gedankenlos ein zusammengekniffenes Blättchen, das sie mir halbverstohlen in die Hand drückte. Dann riß der Fortgang der tragischen Handlung mich wieder voll mit sich fort; unbeachtet, ohne daran zu denken, hielt ich das mystische Blättchen zwischen den Fingern, erst die schleunige Entfernung Elisabeths gab mir einen Moment des Aufatmens und der Besinnung, in welchem ich das Papier auseinanderfaltete und meine Augen darauf niederrichtete. Es enthielt nur ein paar eilig mit Bleistift geschriebene Zeilen – mir schoß ein flüchtiger, doch gleich als unmöglich erkannter Gedanke durch den Sinn: Hatte Aennchen –? Allein, wie hätte sie gekonnt, und weshalb auch? Dann las ich kopfschüttelnd:

»Ja, ich erkannte ihn, und es erwartet ihn nach dem Schluß des dritten Aktes, da ich im vierten nicht auftrete, vor dem Garderobenzimmer
der Vampyr,
heut' Abend Königin von Schottland.«

Verwundert betrachtete ich das Blatt und stand im Begriff, es mit den Worten: »Da, es muß für Dich sein, Fritz,« an meinen Nachbar zu reichen, als mein Blick auf die schnellgekritzelte Aufschrift: »Herrn Reinold Keßler« fiel – doch im gleichen Augenblick schlugen mir die heißverzückten Worte Mortimer's an's Ohr:

»Du hast gesiegt! Du trat'st sie in den Staub!
Du warst die Königin, sie der Verbrecher.
Ich bin entzückt von Deinem Mut, ich bete
Dich an, wie eine Göttin groß und herrlich
Erscheinst Du mir in diesem Augenblick.
Wie Dich der edle, königliche Zorn
Umglänzte, Deine Reize mir verklärte!
Du bist das schönste Weib auf dieser Erde!«

Es war nicht mehr der scheinbar unbeholfen-rücksichtlose Kerkergehilfe des Ritters Paulet, mit rohen Sitten und plumper Sprache, sondern die dithyrambisch wildaufglühende Leidenschaft, an der »die Kunst der Lady nicht verloren gewesen«. Kein Atemzug ging durch das Haus, wie gesprochene Flammen loderte es von dem Munde des Besinnungslosen, wie Wahnwitz unbezähmbarer Glut, in bacchantischer Raserei hierhin und dorthin –

»O weihe Du dem Lebensgott der Freuden,
Was Du dem Hasse blutig opfern mußt!
Mit diesen Reizen, die nicht Dein mehr sind,
Beselige den glücklichen Geliebten!
Die schöne Locke, dieses seidene Haar
Gebrauch's, den Sklaven ewig zu umflechten!

Ist Leben doch des Lebens höchstes Gut!
Ein Rasender, der es umsonst verschleudert!
Erst will ich ruh'n an seiner Brust –«

Man wußte, empfand es durchschauert bis in die Spitzen der Finger hinein – wenn es ihm versagt blieb, stieß dieser Mortimer sich den Dolch in die Brust –

Unter dem lauten Aufruhr der herannahenden Kunde von der Ermordung Elisabeth's fiel der Vorhang. Ein Orkan des Entzückens brach diesmal im Zuschauerraum los; halb betäubt selbst noch von der wie ein irrsinniges Bild vor meinen Augen zerflatterten Szene erhob ich mich, jetzt erst plötzlich der rätselhaften Aufforderung gedenk, die mich nach dem Schluß des dritten Aktes in das Innere des Theaters berufen. Umdröhnt von dem tobenden Beifall, sah ich nur noch flüchtig, daß Fritz Hornung diesmal allein von allen um ihn her nicht klatschte, sondern starren Blickes, wie abwesend auf den niedergefallenen Vorhang schaute. Dann raunte die alte Schließerin mir zu: »Drüben durch die kleine Tür und den dunklen Gang hinunter.« Ich vernahm noch, daß ihr zahnloser Mund eine leise, eigentümliche Lache unterdrückte, und hörte hinter mir erneuertes vielstimmiges Getöse, das die Darsteller herausrief, dann tastete ich mich ohne irgend welche deutliche Gedanken durch den halb lichtlosen Gang. Eine zugleich dunstige und zugige Atmosphäre empfing mich, neben mir in breiten Lücken wurden Versatzstücke durcheinander gekollert, hie und da zischelte es an einer Pappwand, lachte, Schatten liefen hastig hin und her, niemand gab auf mich Acht. Ich stand unschlüssig, fast im Begriff umzukehren, als jemand auf mich zutretend ziemlich brüsk jetzt fragte: »Was suchen Sie, mein Herr?« Ja, was, wen suchte ich eigentlich? Ich wußte selbst keine Antwort zu geben, und mein Gegenüber fuhr mit einer kurz bezeichnenden Handbewegung fort: »Der Zutritt hier ist verboten.« Da rauschte es gleichzeitig mir zur Linken von knisternder Seite über eine kleine Treppe herab, ich sah auf, es war Maria Stuart, die dem Herausruf Folge geleistet hatte und jetzt atemlos zurückkehrte. Sie hielt einen Augenblick inmitten der Stufen an und stieß aus: »Reinold – Reinold Keßler!« und achtlos den Schleier von ihrer Stirn reißend, flog sie herunter, auf mich zu, legte mir beide Hände auf die Schulter und blickte mir wortlos mit großen, dunkelleuchtenden Augen in's Gesicht.

»Ich weiß nicht –« stotterte ich halb verlegen.

»Du weißt nicht, kennst mich nicht? O, dann ist's kein Wunder, wenn Keiner es tut! Und mit einem Blick, als ich Dich vor mir sitzen sah, war ich wieder bei Dir im Golddrosselnest!«

»Lea – –!«

Ihre Hand schloß mir den Mund. »Leander, ja – Fräulein Angelica Leander.« Sie zog mich einige Schritte mit sich fort in's Halbdunkel. »Komm, es geht ihre Midasohren nicht an, was wir beide zu reden haben. – Sie müssen auf Ihren Platz, Graf Aubespine und Mylord Kent! Lord Leicester, ich bedarf Ihres Schutzes hier nicht mehr, zanken Sie sich mit Burleigh! – Komm, Reinold – ja, es sind acht Jahre, ich hab' es während der Szene mit Mortimer nachgezählt, daß Du an der Landstraße standest, als sie mich wie einen tollen Hund hinausgejagt. Im vorigen Zwischenakt habe ich in mein Hotel geschickt und auf meinem Zimmer ein Souper für uns beide bestellt. Bist Du's wirklich, Reinold – hab' ich die Hand des einzigen Menschen, des einzigen Freundes wieder? Maria Stuart will einen königlichen Abend feiern und Elisabeth von England nicht um ihre Krone und nicht um ihren Leicester beneiden!«

*

Lea verhängte sorgsam die Fenster ihres Zimmers, kam zurück und setzte sich neben mich an den zum Abendessen hergerichteten Tisch. Sie war so freudig, so glückselig, redete, fragte, lachte, faßte meine Hand, wie in einem Rausch – ich sagte mir, es sei der Triumph des Abends, der unerhörte Beifall, den sie nach dem Schluß der Vorstellung geerntet, daß sie sich mühsam in einer Verkleidung und durch eine Hintertür fortgeschlichen, um den zu Hunderten draußen auf ihr Einsteigen in den Wagen Harrenden zu entschlüpfen. Fast gedankenlos saß ich noch immer und suchte die Züge der Jugendgespielin unter der fremdartig-wundersamen, beinahe dämonischen Schönheit des üppig-hochaufgewachsenen Weibes hervor. Sie war weit schöner noch, wie sie da neben mir saß, als auf der Bühne, von einem funkelnden Zauber der Jugend und heißer Lebendigkeit umsprüht, keine Verkörperung einer idealen Dichtungsgestalt konnte ihr eigenes Selbst überbieten. Ihr Gesicht, von dem tiefschwarzen, reichen Haar überthront, verriet keinen Zug jüdischer Abstammung mehr, es bot überhaupt kaum orientalischen, sondern nur allgemein südlichen Typus, aber es blieb mir noch lange fremd und nur der Ton ihrer Stimme klang mir allmählich wieder vertraut, aus der Art ihres Sprechens, ihres Anblickens und ihrer Bewegungen durchfloß sich die alte Erinnerung mit gegenwärtigem Leben. Denn sie selbst redete und benahm sich, als ob es erst gestern gewesen, daß der weiße Landstraßenstaub um sie aufgewirbelt und sie und ihr buntes Wägelchen mit der langen Figur des Großvaters vor mir verhüllt hatte. Ich hörte wie im Traum die Erzählung ihrer Lebensschicksale, wie sie an die Bühne gelangt, mit einer jammervollen Wandertruppe von Dorf zu Dorf gezogen, sich Schritt um Schritt, oft in Not und Erbärmlichkeit, oft selbst an ihrem Können verzweifelnd, heraufgekämpft habe, bis sie schließlich – durch glücklichen Zufall, sagte sie – eine Stellung an einem großen und würdigen Theater gefunden. »Dann erst – das stand unverrückt vor mir – wollte ich hierher zurückkommen –«

Ich fragte, zum erstenmal glaube ich, daß ich nicht nur hörte, welcher Art der Glücksfall gewesen, dem sie die Erreichung ihres Zieles verdankt. Sie sah mich mit ihren funkelnden Augensternen an:

»Wie sagte Dein Freund, der gelehrte Doktor, damals doch immer von Dir? Ich hab's behalten, Du seiest ein sciolus. Bist Du immer noch ein sciolus geblieben, Reinold, es scheint so, der Alles wissen muß? Glück heißt man die Stunde im Leben, wo es uns in die Hand gegeben, zuzugreifen oder nicht. Nicht wahr, ein Narr, der's nicht täte und dächte, er wolle noch warten, ob die Seifenblase von den Lippen der Fortuna vielleicht noch in andern Farben schillernd vorüberwehe. Da hast Du sie, greif' zu – ein Tropfen Schaum bleibt von der bunten Herrlichkeit! Aber nun bin ich hier, und es ist gut – ich wollte nur, Reinold, o ich wollte, wir machten die Augen auf und sähen den blauen Himmel über uns und die grünen Blättchen am Zaunstrauch, die der Frühlingswind in der Sonne bewegte – o ich wollte – doch die Menschen wollten's nicht und jagten mich wie einen Fuchs aus dem Nest. Was sagten sie noch, sei ich und solle ich nicht –? – o die klugen Menschen!«

Da war es plötzlich auch ihr Gesicht wieder, wie ich es einmal, in jener Trennungsstunde gesehen, als sie auf meine Frage, weshalb man sie fortgejagt, geantwortet: »Ich weiß nicht, warum –,« als ihre weißen Zähne die dunkelroten Lippen durchblitzt und mich aus ihrem Antlitz eine Sekunde lang die Tochter der heißen Wüste drüben im Morgenland angeblickt, daß es mich mit seltsamem Schauer vom Scheitel bis zur Sohle durchronnen. So sah sie mich auch jetzt einen Moment an – ein Bild durchblitzte mir die Empfindung – wie die Fürstenbraut Salomo's aus dem Hohen Liede – doch im nächsten Augenblick schlang sie mit wildem Ungestüm, auch wie sie es damals bei dem Abschied auf der Landstraße getan, ihre beiden Arme um meinen Nacken und in Tränen ausbrechend, fiel ihr Gesicht auf meine Brust herab.

Es überlief mich im ersten Augenblick mit einem Schreck – wenn Aennchen mich in dieser Stellung gewahrt hätte? Allein das nächste Gefühl verscheuchte jede Befürchtung; sie hätte es gedurft, jeglicher der es gewollt, sowohl um meiner als um Leas willen. Diese Vertraulichkeit besaß nichts damit gemein, daß es ein schönes Mädchen war, welches ihre Arme um den Nacken eines jungen Mannes geschlungen hielt.

Nun richtete sich Lea heftig wieder auf. »Wie dumm! Weinen? Weshalb? Es sind die Nerven, die immer nach einer großen Rolle rebellisch und albern werden – halt's ihnen zu gut, Reinold! Wir wollen trinken, fröhlich sein, vergessen! Nein, nicht vergessen – uns erinnern! Stoß' an – unsere alte Freundschaft!«

Sie griff nach dem vor ihr stehenden Glase, stieß es mit hellem Klang gegen das meinige und leerte es in raschem Zuge aus. »Also Du kanntest mich anfangs nicht? Und ich bin doch immer noch die alte Haarliese – weißt Du's noch? Nicht wahr, so hättest Du mich gleich wieder gekannt?«

Ihre Hand griff nach dem Scheitel, und ihr Kopf schüttelte unter übermütigem Auflachen mit einem Ruck das lange schwarzblaue Haar herab, daß es plötzlich einfallender Nacht gleich über sie niederwogte, Stirn und Augen und ihren ganzen Körper bis an die Knie mit undurchdringlichem Schleier überfloß. Darunter hervor rief sie mit täuschend nachahmender Stimme, wie die Kinder es an jenem Abend getan, als sie mir zuerst auf dem Wägelchen vorübergerollt: »Die Haarliese – die Haarliese!« und dann warf sie die ganze Fülle wieder mit kurzem Aufschwung der Stirn in den Nacken zurück, flocht es mit zwei Handgriffen in einen Knoten zusammen und lachte: »Nicht wahr, so könnte ich auch wie die gute Genoveva –«

Als besinne sie sich auf etwas, brach sie die Frage ab und knüpfte schnell eine andre daran. Welcher Wandlungen war dies seltsame, vertraut-fremdartige Wesen fähig! Vorhin die hohe königliche Erscheinung in Blick und Wort, in Stolz und Ergebung, als sei sie auf dem Thron geboren, und nun ein spielendes, Kind, das eben noch seiner inneren Erregung nicht zu gebieten vermocht, sie in heißem Schluchzen ausgeströmt hatte. Viele – vielleicht selbst Erich Billrod – hätten ein kurzes Wort der Erklärung dafür gehabt: »Ihr Handwerk – eine Komödiantin!« Doch ich, und vielleicht ich allein wußte, es war Natur, das eine wie das andere, wie sie da, noch einem Traumgebild gleich, neben mir saß und mich jetzt lustigsten Tones fragte:

»Was dachtest Du denn, als die alte Hexe Dir meinen Zettel in die Hand drückte? Daß Maria Stuart sich in Dein liebes, altes, unverändertes Gesicht vergafft habe?«

»Ich verstand die Unterschrift nicht, Lea; wenigstens konnte ich nichts anderes herausbuchstabieren als ›Vampyr‹. Was heißt ›der Vampyr‹ dachte ich?«

Leas Gesicht hatte sich dunkel überflogen. »Du bist vergeßlicher als ich – grad' so Hab' ich Dich einmal gefragt, als Dein Lehrer mich so genannt hatte, und Du erklärtest es mir – weißt Du's nicht mehr?«

Bei ihren Worten kam mir das Gedächtnis. »Und Du sagtest, Du wolltest gleich tot sein, wenn Du dann ein solcher Vampyr werden könntest. Ja, jetzt erinnere ich mich, und ich fragte Dich darauf, ob Du dann nur bei Nacht leben wolltest?«

»Was für törichte Kinder waren wir – o wären wir's noch immer, Reinold! Mir fiel's auch grad' ein, als ich schnell den Zettel für Dich hinkritzelte, und so schrieb ich das alte Erinnerungswort darunter.«

»Und nun ist's doch gut, daß keine Zauberfee damals Deinen Wunsch gehört und ihn wie der Frau Ilsebill erfüllt hat, daß Du jetzt ein Vampyr wärest, Lea,« lächelte ich fröhlich.

Sie schüttelte heftig-widerwillig den Kopf. »Laß das häßliche Tier heut abend fort, Reinold; es soll uns nicht um das Licht dieser Stunde schwirren! Ich war toll, davon zu schreiben – es kam so – die Maria Stuart hatte Schuld mit ihrem Basilisk – ja, so kam's –

Und Du, der dem gereizten Basilisk
Den Mordblick gab, leg' auf die Zunge mir
Den giftigen Pfeil –«

Lea war aufgesprungen und hatte die Verse mit einer Mischung von komisch-ernsthaftem Pathos deklamiert, der Ernst lag nur in dem Blitz ihrer Augen, während die Lippen ausgelassen hinterdrein lachten:

»War's nicht doch klug, Reinold? Kindermund tut Weisheit und Zukunft kund! Bei Nacht leben – laß es mich heut für acht Jahre mit all' ihren Tagen und Nächten! Was reden wir immer von mir? Von Dir will ich hören – sprich! Von Dir!«

Ich hatte meinen Sitz verlassen und horchte, denn die Turmuhr schlug von droben, undeutlich durch die verhängten Fenster hereinfallend. »Ein andermal, Lea, sonst leben wir heut nicht mehr bei Nacht, sondern am Morgen. Du brauchst Ruhe –«

»Nein, erzähle mir –!«

»Ich kann's mit einem Satze. Während alles dessen, was Du erlebt hast, habe ich Tag um Tag hier verbracht wie einst, auf der Schule, auf der Universität, gearbeitet, gelernt –«

»Mit dem Kopf oder mit dem Herzen, Reinold?«

Sie fragte es so zutraulich-erwartungsvoll, trat an mich heran, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir ins Gesicht. Ich wich ihrem Blick wohl mit etwas verlegener Miene aus –

»Siehst Du,« lachte sie, »man wird nicht rot, wenn man mit dem Kopf lernt. Wo ist sie, Deine sonderbare, schöne Freundin, auf die ich so eifersüchtig war, daß ich nicht von ihr hören wollte? Ich bin's nicht mehr, Du bist mir ja trotz ihr doch treu geblieben. O wie Einem mit Ohr und Auge, mit der Luft dieser Stadt die Namen wieder kommen! Magda hieß sie, Magda Helmuth. Der Name schon klang mir zu schön, viel schöner als Lea. Aber er war für sie nicht zu gut; ich sah sie einmal, denn ich war zu neugierig, doch ich verschwieg's Dir. Sie stand seitdem oft vor mir, wie ein weißes Bild – manchmal wie –« ich fühlte ein leises Zusammenfahren in Lea's Händen – »Du sagtest, oder wer, sie gleiche einem Schmetterling, der nach Sonnenuntergang noch fliege. Das wäre ein irrer, taumelnder Nachtfalter – nein, sie gehörte in die Sonne, war wie die Sonne selbst, so licht, so fleckenlos, so in's Herz hinein wärmend mit ihren holden Augen. Was sage ich's Dir, Du weißt das Alles ja tausendmal besser mit Deinem eignen Herzen. Wo ist Magda Helmuth, Reinold?«

Es kam so warm und wahr von ihren Lippen – weiteren Kommentars hätte unser Beisammensein für keinen unsichtbaren Zuhörer bedurft. Sie hatte mit weiblichem Instinkt in meinen Augen gelesen, nur gab sie sich einem Irrtum über die Persönlichkeit hin. Gewiß hatte sie kein Wort zu viel von der armen Magda gesprochen; es kam mir zum erstenmal, daß ein Anderer als ich diese wohl mit solchen Augen ansehen mochte, vielleicht mußte, die Mängel ihrer Erscheinung, wenn sie sich bewegte, über der Anmut ihrer Züge, der Lieblichkeit ihres Wesens vergessen könnte. Aber was hatte Lea erst von Aennchen, dem Bilde der Jugendfrische und Gesundheit gesagt? In der Vorstellung vernahm ich den Ton ihrer Bewunderung im Ohr und versetzte leicht zaudernd:

»Du täuschest Dich –«

»In ihr? In Dir?«

»In uns beiden, Lea.«

Sie bewegte heftig verneinend den Kopf einigemal hin und wieder und richtete ihre Augen mit einem völlig veränderten, fast kummervollen Ausdruck so tief eindringlich in die meinigen, daß ich mit dem Blick unwillkürlich zur Seite weichend und verlegen lächelnd fragte: »Was willst Du, Lea?«

»Ich will, daß Du glücklich sein sollst.« – Nun ging sie aus ernstestem Ton wieder in fröhlichsten über und erkundigte sich, ob Magda Helmuth noch mit der alten Dame in dem Häuschen neben dem ›häßlichen‹ Doktor Billrod wohne. »Er war wirklich unglaublich häßlich, Reinold, und hätte ohne Maske als Richard der Dritte auf die Bühne gehen und seinen Monolog anfangen können, daß »die Hunde bellten, komme er wo vorbei.«

Erich Billrod hatte offenbar in den weiblichen Augen verschiedener Generationen das nämliche Unglück. Nur ein Krüppel, eine Blinde, höchstens eine Einäugige – mußte ich denken.

Ein Krüppel? Nein, selbst Magda schrak vor ihm zurück. Besaß denn nicht ein Krüppel auch Augen, und verdiente Magda eigentlich die Bezeichnung überhaupt? Was änderte es denn im Grunde an einem Menschen, wenn sein Gang sich unschön darstellte, als daß man Trauer darüber empfinden mußte, ihn in seiner Regsamkeit behindert, seine sonstige schöne Vollendung durch diesen einen Fehler entstellt zu sehen? Lea hatte Recht gehabt, als sie dieses Mangels nicht einmal Erwähnung getan, denn er bedeutete ja nichts.

Ich gab ihr Antwort, daß Magda für den Sommer auf der Insel wohne, von der ich ihr einst erzählt, daß sie Erich Billrod, Magda und mir beinah ein nasses Grab bereitet habe. Sie lachte: »Also Ariadne auf Naxos? In dem Häuschen mit den roten und weißen Rosen umher? Du siehst, ich hab's behalten.«

Die Turmuhr schlug schon wieder, Lea erhob diesmal keinen Einwand, als ich ihr die Hand zum Abschied gab. »Auf Wiedersehen!« – »O wir bleiben noch lange,« sagte sie, »der Erfolg, auf den ich hier gezählt, ist gut, und meine Erwartung hat sich nicht verrechnet. Das klingt sehr prosaisch,« fügte sie schnell hinterdrein, »aber ich bin eben eine Schauspielerin, die ihr Ziel im Auge hält.«

Sie nahm eine Kerze und geleitete mich durch die nächtlich laut- und lichtlosen Kreuz- und Quergänge des altväterischen Hotelgebäudes, dann führte sie mich eine schmale Seitentreppe hinunter. »Das ist ein anderer Weg, als der, auf dem ich gekommen,« äußerte ich.

»Ja, er geht in den großen Garten drunten; wenn Du wieder zu mir kommst, Reinold, können wir dort zusammentreffen, die Witterung ist für den September lind hier und erlaubt's noch, den Abend im Freien zu verbringen. Dies ist die Tür, dann gehst Du rechts.«

Ich sah umher. »Es flößt mir Bewunderung für Dein Orientierungsvermögen – ein, daß Du Dich nach einigen Tagen erst schon so gut in dem alten, winklig-düstern Bauwerk zurechtzufinden im Stande bist. Ich, für mein Teil würde es ohne Deine Beihilfe nicht können und werde künftig doch den Haupteingang vorziehen.«

»Nein!« Lea stieß es fast heftig aus. »Ich bitte Dich, stets hier –«

Mir dämmerte ein Verständnis auf. »Ich begreife, um der Leute im Hotel, ich meine, um Deinetwillen –«

»Nein, für Dich nicht – doch es ist unnötig; wenn ich weiß, daß Du kommst, wirst Du mich immer im Gartenpavillon finden.«


 << zurück weiter >>