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Zweites Kapitel

Ein Jahr –

Hatte der Kalender Recht, wenn er besagte, daß heut' grade ein Jahr vergangen war, seitdem ich als Student und Hausgenosse Fritz Hornungs in meiner Wohnung in der Hafenstraße eingezogen? Und wenn, oder vielmehr da es sich so verhielt, erschien mir bei'm Zurückblicken dies Jahr als ein kurzes oder als ein langes?

Das Datum bezeichnete gewissermaßen auch einen Jahrestag, der nicht ungeeignet schien, einigen Betrachtungen über Vergangenheit und Zukunft obzuliegen. Vorzüglich über die erstere; ich saß mit einer blau-weiß-goldenen Cerevismütze, die Magda mir gestickt, auf dem Kopf und einem gleichfarbigen Bande über der Brust in Hemdsärmeln am offnen Fenster und blies den Rauch einer Zigarre auf die Straße hinaus. Es fing an zu dämmern und die Leute schlenderten draußen langsam vorüber. Die Luft war für das Ende des September sommerlich und auf den steinernen Haustreppen drüben spielten die Kinder.

Ein Jahr läßt sich nicht wohl, gleich einem Buche von 365 Seiten, genau durchblättern, doch den allgemeinen Inhalt und die Einteilung der einzelnen Kapitel kann man sich mit einigem Nachdenken ziemlich vergegenwärtigen. Es befanden sich recht amüsante darunter, wenigstens solche, die viel lautes Gelächter, witzige Redensarten, Klang von Gläsern und stolze Empfindung ruhmvoll durchgeführter Mensuren enthielten. Aber bei'm Wiederlesen wehte etwas von der Atmosphäre daraus, mit welcher die nicht fortgeräumten Utensilien eines Gelages den im Frühlicht Eintretenden anhauchen. Auch an komischen Episoden litt der Inhalt keinen Mangel, an manchem Spaß über hochgewichtigen Ernst, manchem Vergnügen an der Gipfelung des feingebildeten Ton's, in welchem die ›gute Gesellschaft‹ meiner Vaterstadt sich in bewundrungswürdig-unermüdlichem Wetteifer überbot. Diner's, Thee's, Assemblee's – Bälle, Kränzchen, Picknicks – die Freuden des Winters, des Sommers und ihrer Uebergangszeiten – die unmittelbare Nähe bestaunter Koryphäen und besternter Würdenträger, die Belehrung durch ehrfurchtumgebene altersgraue Erfahrung – Alles, was dem Schüler unerreichbar vor zaghaft-neidischen Blicken in der Ferne geschwebt, hatte sich dem Studenten wie durch ein magisches Sesamwort erschlossen, ja ihn fast in die Arme geschlossen, wenigstens was die an Zahl nicht geringfügigen Häuser mit zahlreichen jungen und jüngeren Mitgliedern weiblichen Geschlechtes anbetraf.

Doch nur zwei immer erfreuliche Abschnitte oder besser rote Fäden zogen sich durch das eigentümliche Buch. Sie führten den Titel: Magda und Erich Billrod, und bildeten die einzigen, die des Wiederlesens wert waren.

Vor Allem die erste der beiden Überschriften. Wechselnd aus ihr hervor wehte leiser Rosenduft, der frische Seehauch, manchmal rann köstliche Morgenfrühe mit goldumsäumtem Abendgewölk ineinander. Dann wieder summte traulich die altmodische Theemaschine, der Wind rauschte wie Meeresbrandung draußen in den Tannenwipfeln, die ihre Schneelast auf das Dach herabrüttelten, drinnen mit dem hellen Stimmchen schlug die alte Uhr. Zwischen Allem hervor aber blickte, wie aus grauen Kindertagen herüber, Magda's schmächtig blasses Gesicht mit den sammetweichen Veilchenaugen unter der durchsichtigen Stirn, deren silbernes Haar noch immer fein ausgesponnenem Metall glich und seine Farbe nicht um die leiseste Schattierung verändert hatte, so daß sie mich jedesmal wieder an einen weißen Finken – auf den der Schnee des Nordens gefallen – erinnerte. Sie war völlig erwachsen jetzt und in gleicher Weise ihr körperliches Gebrechen mit ihr heraufgewachsen. Ihr Mund redete nie davon und selten ihre Augen, ja, es schien mir dann und wann, als suche sie selbst vor mir ihre Unbehülflichkeit möglichst zu verbergen. Sie hielt sich in meiner Gegenwart zumeist still auf ihrem Sitz, und wenn ich sie am Arm führte, strengte sie sich unverkennbar an, das Schwankende ihres Auftretens nach Kräften zu beherrschen, daß es mir nicht fühlbar werde. »Warum tust Du Dir Zwang an?« fragte ich manchmal, »bei mir hast Du es doch gewiß nicht nötig.« Dann lächelte sie: »Du irrst Dich, Reinold, ich brauche mich nicht zu zwingen. Es geht schon besser als früher, und in einigen Jahren, glaube ich, wird es völlig gut werden.« Ich schwieg, denn sie freute sich offenbar ihrer Täuschung; doch wenn sie sich unbeobachtet meinte und ich sie so einmal gehen gewahrte, erkannte ich deutlich, daß die Jahre ihr keinerlei Besserung gebracht. Sie war auch am Heitersten, wenn sie in einem Bilderwerk blätternd oder auf mein Vorlesen hörend, dicht neben mir auf dem Sofa des kleinen, unverändert gebliebenen Wohnstübchens saß. Dann legte sie, auch unverändert wie von je, ihre Hand auf die meinige, und es kam mir immer zweifelloser zur Erkenntnis, daß sie die eigenartigsten Hände unter allen Frauen und Mädchen in der Stadt, vielleicht in der ganzen Welt besaß. Das Wort ›schön‹ bezeichnete sie nicht, denn andere konnten darauf ebenfalls Anspruch erheben; sie waren edel geformt wie aus schneeigem Marmor und doch lieblich, wie mit lebendiger Sprache begabt. Mir kam's allmählich, als müsse man ebensowohl auf ihnen zu lesen vermögen, wie in den Augen; vor Allem, wenn das Herzklopfen Magda Helmuth befiel, konnten die Hände es keine Sekunde lang verhehlen, denn ein bläulicher Schimmer tauchte dann aus dem Weiß herauf und durchfloß mit leiser Kunde das feine Geäder der Hände. Sie wußte es selbst, so schien's, und zog manchmal plötzlich die Hand zurück, das Herzklopfen zu verbergen, wie sie mich über die Besserungslosigkeit ihres Ganges zu täuschen suchte. Doch auch jenes hatte im Laufe der Jahre nicht abgenommen, im Gegenteil wollte mich bedünken, als trete es in der letzten Zeit fast häufiger als früher auf, wenigstens insofern, als es oftmals nicht allein Folge einer raschen Bewegung oder Anstrengung war, sondern ab und zu sich in völliger Ruhe, wenn wir lange nebeneinander gesessen, ohne erklärlichen Grund erhob. Dann, wenn ich es wahrnahm und sie es nicht zu hehlen vermochte, zog's mit leisem Rot um ihre Schläfen und sie sagte wohl: »Es ist ja töricht von Kinderzeit auf, Bruder Reinold, schilt es nicht, denn es kann nicht für sein Klopfen.«

Das waren trauliche, freundliche Kapitel des Jahresbuches und eng mit ihnen verflochten, verwachsen diejenigen, in welchen Erich Billrod den Hauptinhalt bildete. Nur hatten die letzteren zuweilen etwas Unklares, wunderlich Widerspruchvolles, das zu der sonst so sichern Denkweise des mir an Jahren ungefähr doppelt überlegenen Freundes in nicht verständlichen Gegensatz trat. Er leitete mich, wie er's fast seit einem Jahrzehnt getan, in Allem nach seiner Art und hatte mir am Beginn meiner Universitätszeit als Mitgift lachend den Rat erteilt: »Begnüge Dich in Deinen ersten Semestern mit einem Defizit, Reinold Keßler. Wer ein guter Zuckerbäcker werden will, muß sich als Lehrjunge erst an Süßigkeiten den Magen verderben; machst Du über's Jahr Deine Rechnung auf, so erschrick nicht vor dem Minus. Nur wer sich dann von seiner Addierung voll befriedigt fühlt, kommt überhaupt nicht dazu, ein Plus in seinem Konto zu verzeichnen.«

Und wenn ich kam und ein roter, frischer Terz- oder Quartstrich von meiner Stirn herunter redete, oder die Fama eines törichten Streiches, den ich mitbegangen, die Stadt durchlief, da lachte er ebenso: »Ich ehre die Helden, die für Freiheit und Vaterland Kuchen verzehren, daß man es ihnen aus dem Kopf und im Gesicht ansieht. Bist Du bald wie der Zuckerhut aus dem Kinderrätsel durch und durch voll Süßigkeit, Reinold Keßler?«

Nur wenn Erich Billrod mich im Hause der Frau Helmuth antraf, trat fast ausnahmslos das Widerspruchsvolle in seiner Ansicht und seinem Verhalten mir gegenüber zu Tage. Er tadelte mich dann, nicht selten mit fast heftigen Worten, daß ich nutzlos meine Zeit versäume, die uneinbringlich für den angehenden Jünger naturwissenschaftlicher Studien sei; ja er wußte mir mit genauer Sachkunde vorzurechnen, es wäre meine Pflicht, mich gegenwärtig in dem und dem Colleg zu befinden, oder physikalischen und chemischen Uebungen beizuwohnen. Auch Magda wußte es bei seinem Eintreten im voraus, daß er mit meiner Anwesenheit unzufrieden sein werde, stand, wenn sie sein Kommen durch's Fenster gewahrte, unruhig von meiner Seite auf und sagte: »Da kommt Onkel Billrod, Reinold; geh' durch die Hintertür, damit er Dich nicht hier findet und verdrießlich ist.« Denn er vermochte dies in der Tat – und allein hier – in solchem Grade zu werden, daß ihm eines Tages sogar gegen Frau Helmuth, die er in beinah kindlicher Weise verehrte, eine unmutige Antwort entflog. Sie bemerkte auf den gegen mich gerichteten Tadel in ihrer sanften Art, daß es ihr besser gefalle und auch für mich dienlicher scheine, wenn ich ihr und Magda vorläse, als nach Brauch der andern Studenten die Zeit auf dem Fechtboden, in der Kneipe und zu tollen Streichen verbringe, doch Erich Billrod fiel ihr fast beleidigend in's Wort: »Das sind Fragen, für die Ihnen das Verständnis abgeht, Frau Helmuth; Reinold Keßler ist selbständig, zu tun und zu lassen, was er will, aber wenn ich ihn auf törichten Abwegen betreffe, fühle ich mich berufen, ihm meine Meinung nicht zu verhehlen. Und Du, Magda, solltest nicht dazu beitragen, ihn in derartigem zeitvergeuderischen Nichtstun zu bestärken.«

Ich erinnere mich, daß Magda von der Seite her stumm die Augen zu mir aufschlug und daß ich deutlich in ihnen die Frage las: »Ist es wirklich Zeitvergeudung für Dich, Reinold, wenn Du bei mir bist?«

Die Dämmerung war immer tiefer geworden und der frühe Mond über meinem Durchblättern des wunderlichen Buches aufgegangen. Aber die weiche Luft hatte sich nicht gekühlt, die Leute schlenderten, nur lässiger noch als vorher, an meinem Fenster vorüber und die Kinder spielten auf den Haustreppen fort.

Im Grunde enthielten die 365 Seiten nichts, was sie, wenn sie ein wirkliches Buch dargestellt hätten, lesenswert gemacht haben würde. Es fehlte ihnen etwas dazu, etwas Besonderes, ein eigentlicher Kern. –

Welcher Art? Ich war gewissermaßen der Autor dieses speziellen Erdumlaufs um die Sonne, aber es glückte meinem Nachdenken nicht, herauszubringen, welchen Fehler ich in dem Jahrbüchlein gemacht, welchen befriedigenden Inhalt ich nicht drin hineinzulegen vermocht. Erich Billrod hatte richtig vorausgesagt; in meiner Rechnung nach Ablauf der ersten Jahre befand sich ein Defizit. Oder vielmehr nicht in der Rechnung, sondern in meinem – in mir selbst.

In meinem –? Natürlich das war's, in meinem Kopfe. Er enthielt nicht, was er hätte besitzen können und sollen. Nicht das tägliche Verweilen im Helmuth'schen Hause, aber die Kameradschaft, der studentische Brauch, der Comment der Verbindung und die Gesellschaft, in einem Worte die nutzlose und genußlose Torheit der Gewöhnung hatte mir das Minus rückblickender Empfindung eingetragen, indem sie mich von dem zufriedenstellenden Plus, das Fleiß, Tätigkeit, Kenntniserwerb begründete, abgehalten. Doch ich hatte die Einsicht der Wertlosigkeit meines bisherigen Treibens erlangt und Erich Billrod's Wort klang mir beruhigend in's Ohr, es sei das ein Gewinn, nicht zu teuer mit dem Verlust des ersten Jahres erkauft.

Vivat sequens, das der Arbeit, der sicheren Befriedigung!

Ich hatte halb unbewußt die Hand ausgestreckt, nahm das dreifarbige Band von der Brust und verschloß es mit der Cerevismütze zusammen in einem mit nicht mehr benutzten Sachen angefüllten Schubfach. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr; ich hatte eine Einladung für den Abend zu einer großen Gesellschaft bei'm Professor Liesegang angenommen. »Die letzte ihrer zwecklosen Sippe«, sagte ich mit lächelnder Bestimmtheit vor mich hin, kleidete mich an und verließ, einen alten Filzhut aus dem Winkel hervorsuchend, mein Zimmer.

*

Unfern dem Treppenaufgang des Liesegang'schen Hauses traf ich auf Erich Billrod. »Gehst Du auch in die Komödie, Reinold?« fragte er, seinen Arm in meinen legend. Zugleich musterte er in dem kärglichen Mondreflexlicht der Straße meine ungewohnte Kopfbedeckung und fügte hinzu: »Mir scheint fast, Du kommst aus einem Possenspiel, um in das andre zu gehn.«

»Ich habe nach Deinem Rat vor einem Jahr heut' meine Rechnung aufgemacht,« versetzte ich zögernd. Er fiel ein:

»Und ein Filzhut ist das Fazit? Eine hübsche Alliteration, die Deinem Geschmack Ehre macht. Die jungen Huldgöttinnen des Hauses werden freilich etwas sauer dreinblicken, wenn sie Dich ohne die leuchtende Symbole Deiner akademischen Herrlichkeit vor sich gewahren. Du wirst sehr obskur sein, Reinold Keßler, ein Stern, der sich in eine Schnuppe verwandelt hat, und der hoffnungsvolle Ruhm Deiner Vergangenheit wird hinter dieser Schwelle, dem des Patroklos ähnlich, in ein frühzeitiges Grab sinken.«

Er sagte es in bester Laune und ich fühlte unter den scherzenden Worten seine Anerkennung und volle Befriedigung heraus. »Mich wundert's nur, auch Dich – ich glaube, zum erstenmal – auf diesem troischen Wege anzutreffen,« erwiderte ich. »Was hat Dich dazu bewogen, Dein myrmidonisches Zelt zu verlassen?«

Erich Billrod lachte: »Keine Brisëis, noch die Ratsversammlung der Lenker im völkermordenden Streite. Aber Poseidon hat einen neuen Lästrygonen in unsern Areopag hierher verschlagen, den ich gestern von fern gesehen und der das unwiderstehliche Verlangen in mir geweckt, ihn mit beglückten Augen auch einmal in der Nähe zu betrachten. Er bildet einen Pfeiler der Wissenschaft, denn er hat trotz seiner Jugend schon ein, die neueste archäologische Periode begründendes Werk über das Kniegelenk eines attischen Torso ediert und ist dabei so apollinisch schön als düster, daß ich ihn im Verdacht habe, er ist Mahadöh selber, der zum siebenten Mal herabgekommen; ich höre, wo er erscheint, kommt er nicht nur vom siebenten Himmel, sondern dieser zugleich mit ihm über jedes weibliche Herz herab. Mein christliches Begehren ist, ihm als Folie zu dienen, ihn durch den Gegensatz noch göttlicher hervortreten zu lassen. Meinst Du nicht, daß ich mich dazu eigne, Reinold Keßler? Aber ich kann die Originalität des Gedankens nicht beanspruchen, ich glaube Magda Helmuth war's, die mich in jüngster Zeit einmal darauf gebracht. Im Uebrigen bin ich kollegialisch, wenn auch nur als deus minorum gentium, eingeladen, wie Du, und volenti non fit injuria. Da Du die Zuckerbäckerei unter Deinem Filzhut aufgegeben, fühle ich etwas wie Verpflichtung, für diesen sauren Ausfall durch einige Süßigkeit von meiner Seite zu entschädigen, und bin heut' Abend just in der Gebelaune dazu, ohne mich Richard dem Dritten in etwas Anderem vergleichen zu wollen, als in der Häßlichkeit.«

*

Ich traf in der Tat mit Erich Billrod zum erstenmal in einer Gesellschaft zusammen, und nicht zu leugnen war's, daß er sich in der Gebelaune befand und daß diese mir ziemlich unzweideutig erhellte, weshalb er nicht zu den gesellschaftlich beliebtesten Persönlichkeiten in meiner Vaterstadt gezählt wurde. Es ist schwer, eine derartige größere Vereinigung von Menschen, die wechselseitiger Unterhaltung, oder vielmehr gegenseitiger Hervorhebung ihres Wertes nachtrachten, darzustellen, sowohl auf der Bühne, als in Worten. Hier wie dort müssen sie in Einzelgruppen zerfallen, die einige Augenblicke in den Vordergrund treten und reden, um wieder in den beweglichen Rahmen der umherwandernden, unverständlich summenden Masse zurückzutauchen und andern Individuen kurzen Vortritt zu ermöglichen. Die Gesellschaft war bei unserer Ankunft bereits der Mehrzahl nach versammelt, einige Dutzend Herren standen im Frack und weißer Halsbinde mit einer Theetasse in der Hand, und ebensoviel Damen verschiedenster Generationen bildeten einen seßhaften Kranz um den Theetisch, in welchem die Sophaplätze unverkennbar die botanisch auserlesensten, wenn auch nicht grade durch Blütenreiz hervorragendsten Spezies der anwesenden Flora repräsentierten. Die sommerliche Vegetationsfolge war in vollständiger Abstufung von der Butterblume bis zur Herbstzeitlose und vom Frost schwärzlich verschrumpften Georgine vertreten; Veilchen, Rosen und Reseden befanden sich jedoch nicht darunter. Aus der Art der Kopfneigung der älteren und ältesten Damen ließ sich genau die Stellung ihrer Ehemänner in der Rangliste ablesen; die jüngeren lachten in schicklicher Weise fast unausgesetzt, weniger über einen speziellen Gegenstand, als aus allgemeinem Bedürfnis und weil sie die Aeußerungsmethode als die vorteilhafteste Beschäftigung ihrer Lippen und Augen ansehen mochten. Aus der gleichen Empfindung heraus redeten die Herren in kleinen Gruppen so eifrig miteinander, als habe seit geraumer Zeit jedem nichts wesentlicher am Herzen gelegen, als die Meinung des Andern über das berührte Thema in Erfahrung zu bringen. Jeder sagte allerdings nur, was der Andere ebensowohl wußte, aber jeder nahm es trotzdem verbindlich als eine schätzenswerte Bereicherung seiner Kenntnisse auf und zog daraus die Rechts- und Pflichtfolgerung, seinerseits wieder zur Belehrung des Andern beizutragen, so daß alle sich in köstlichster und nutzreichster Weise unterhielten. Jegliche Fakultät und jeglicher landesbräuchliche Titel besaßen Vertreter, aus den Knopflöchern leuchtete hie und da ein buntfarbiges Band, doch wo es mangelte, ließ der Gesichtsausdruck über dem Rock an dem nicht vorhandenen Mangel gleich hervorragender Verdienste keinen Zweifel. Die unbestrittenen Autoritätsspitzen der Gesellschaft bildeten der Präsident des höchsten Instanzgerichtes der Provinz, der sich vom Stiefelputzer zu dieser imposanten Würdenstellung heraufgearbeitet, und ein Geheimer Medizinalrat, dessen Geheimnis insofern einen öffentlichen Charakter trug, als hinter seinem Rücken niemand anzweifelte, daß er grade so dumm sei, wie er sich für klug hielt. Der Erstere war fettleibig, was ihm das Sprechen etwas erschwerte, und regte den Eindruck eines Atavismus, über dessen Richtung man sich nicht klar zu werden vermochte, da die verschiedenen Körperteile verschiedenartiger Abstammung entsprungen schienen; der Andere, von kleiner, magerer, beweglicher Figur, strich sich gewohnheitsmäßig den weißen Vollbart mit der in ganz Europa berühmten weißen Operationshand, an der ein Solitaire den Glanz der Armleuchterkerzen des Zimmers sammelte und in blendenden Strahlen zurückwarf. Sie standen, zwei Höchstkommandierenden bei einer Armeeparade ähnlich, im Gespräch nebeneinander und ein ehrfurchtsvoller Kreis von Zuhörern umgab sie in weiterem Subalternbogen, als die Tür sich noch einmal öffnete und Erich Billrod mir: »Der neue Lästrygone«, zuraunte. Ein hochgewachsener noch junger Mann trat herein und schritt, ohne die übrigen Anwesenden zu beachten, majestätischen Ganges auf den Theetisch zu, an welchem die Hausfrau, Frau Professor Liesegang sich halb aus ihrem Sessel erhob. »Ah, unser neuer Vasari, Aristoteles und Apoll in einer liebenswürdigen Person – Herr Professor ordinarius Rodenstein,« sagte sie mit einer darstellenden Handbewegung gegen die um den Tisch versammelten Damen. »Jettchen, eine Tasse für den Herrn Professor.« Fräulein Henriette Liesegang flog in holder Verwirrung leicht errötend aus dem Kranz ihrer Freundinnen – »Eine zu klassische Namensanhäufung für meine geringe Persönlichkeit, meine Gnädige,« versetzte Professor Rodenstein, sich verbeugend, mit tief sonorer, etwas geheimnisvoll umschleierter Stimme – »Sie sind sehr gütig, mein Fräulein« – und er nahm die Tasse aus Fräulein Henriette Liesegang's leise zitternder Hand. »Was ist Dir, mein Kind?« fragte die Mutter besorgt, »Du zeichnest Dich sonst vor Deinen Schwestern durch Deine natürliche Unbefangenheit aus; fürchtest Du Dich etwa vor dem Herrn Professor?« – »O, nichts, Mama,« erwiderte die halb Gelobte und halb Getadelte, den Blick zu Boden senkend, während ihre andere Hand einen Kristallteller mit Backwerk darreichte. »Sie sind sehr gütig, mein Fräulein; hoffentlich nur eine momentane Indisposition,« sagte Professor Rodenstein. »O, woran erinnern Sie mich,« rief Frau Professor Liesegang, »wir können es jetzt von der unfehlbarsten Autorität entscheiden lassen. Es behauptete nämlich jemand, Jettchen besitze ganz die Figur der Antike, und ich sagte nein. Zeig' einmal, mein Kind – bitte, geben Sie mir Recht, Herr Professor!«

»Aber Mama –« erwiderte Fräulein Henriette Liesegang, verschämt ihre Hand halb vorstreckend. »Hm, ja – Sie sind sehr gütig, mein Fräulein – Einiges ja und Einiges weniger. Zum Beispiel, die Hände der neuentdeckten, leider bis jetzt kopflosen Dryade – unzweifelhaft eine der höchstvollendeten Arbeiten von Phidias selbst, wie ich aus der Bildung des Ellenbogens nachzuweisen im Begriff stehe – Sie wissen, aus der Gegend von –«

»Wie interessant – fast unglaublich, aus einem Ellenbogen!« fielen mehrere Damen mit andächtig vorgebeugten Köpfen ein. »Ein an's Mythenhafte grenzender, genialer Scharfblick,« fügte Frau Professor Liesegang abschließend hinzu.

»Studien, Vertiefung, Gewöhnung, hm, ja –« Der Sprecher setzte sich, während Fräulein Henriette Liesegang ihm mit begeistert-erwartungsvoll aufleuchtenden Augen lauschend gegenüber saß, und aus dem Verlauf des belehrenden Vortrags tönte nur ab und zu noch ein tiefes »Hm, ja – nicht unzutreffend bemerkt – allerdings –« zu mir herüber. Dann sagte Erich Billrod hinter mir:

» Love's labour lost, der Fisch beißt doch nicht mehr auf den Hamen. Er ist selbst schon ein Hecht und hat's nicht mehr nötig.«

»Was nicht mehr nötig?«

»Einen Backfisch zu verschlucken, um aus einem Gründling zu einem Hecht anzuschwellen. Es ist eine sonderbare ichthyologische Metamorphose, Reinold Keßler, aber sie hält die Probe und ich kann Dir nur raten, wenn Du, eh' Dein Backenbart Deinem Schnurrbart ebenbürtig nachgekommen ist, Deinen Namen als den eines ordentlichen Professors in irgend einem Universitätskatalog zu sehen wünschst, Dich als Paris zwischen den drei Grazien dieses Hauses, die noch übrig geblieben, für Eine zu entscheiden. Wem von ihnen Du den Apfel reichst, bleibt völlig gleichgültig; es ist nur ein Tauschgeschäft, bei dem jede Dir als Mitgift eine Professur zurückgibt und eine Reihe schon vorhandener ordentlicher Schwäger obendrein. Eine gütige Fee hat ihnen allen diese köstlichen Angebinde bereits in die Wiege gelegt, und liebreiche Großväter, Oheime, Mutterbrüder wachen sorgsam darüber, daß die Wundergabe nicht verrostet, sondern stets mit märchenhafter Schnelligkeit ihre Zauberwirkung bewährt. Glaubtest Du, die Sache gehe anders zu in der Republik der Kathederwissenschaft? Res publica, Freund – vorwärts, die Dir am wenigsten zusagt, wird Dir das beste Katheder zutragen. Verträume nicht Dein Glück – pah, der praktische Corse hatte Recht, Du bist auch ein Ideolog.«

In der Tat, Erich Billrod war heut' Abend in einer Gebelaune, wie ich sie noch nicht bei ihm kennen gelernt, und ich sann fruchtlos darüber nach, was ihn, der zumeist in Anwesenheit einer größeren Zahl von Personen wortkarg und still zu sein pflegte, in so eigentümliche Stimmung und Lust, diese zu äußern, versetzt haben möge. Dann und wann traf ich ihn mit einem Mitgliede der Gesellschaft im Gespräch und fing ein kurzes Stück der Unterhaltung auf. Er stand neben Fräulein Henriette Liesegang, die ihm in kindlicher Begeisterung von dem Entzücken erzählte, in welches das letzte Konzert eines durchreisenden Klaviervirtuosen sie versetzt habe und mit welchen himmlischen Gefühlen sie täglich das Haus ihres Musiklehrers betrete, das sie jedesmal mit der Empfindung, der Beseligendsten der Künste wieder um eine Stufe näher entgegengehoben zu sein, verlasse. »Stehen Sie auch in einem so innigen Verhältnis zu ihr, Herr Doktor?« fragte sie, ihr leicht an einer Schläfe gelöstes Haar anmutig mit den Fingern der Antike zurückordnend. »Gewiß,« versetzte Erich Billrod mit artiger Miene, »unser Verhältnis zur Tonkunst in dieser Stadt ist bis auf einen unbedeutenden Partikelunterschied fast das nämliche, Fräulein. Sie haben auf Ihrem täglichen Entzückungsweg, wie ich das Vergnügen gehabt, wahrzunehmen, die Musik vor'm Magen und ich habe sie darin.« Er verbeugte sich und ging, ohne zurückzublicken, und ich fand ihn draußen wieder auf einem freien Platz vor der geöffneten Tür des Gartenzimmers, wo eine Anzahl der Gäste in der herrlichen Septembernachtluft auf- und abwanderte. Ein höherer Kommunalbeamter befand sich unter diesen, den vor einiger Zeit der unglückliche Zufall betroffen hatte, daß die unerwartete Revision einer ihm anvertrauten Kasse beträchtlichen Ausfall ergeben, den er im Augenblick selbst nicht zu decken im Stande gewesen, der jedoch von einem reichen Verwandten vollständig ersetzt worden war, so daß man allgemein in der Stadt mit Entrüstung von der unverzeihlichen Rücksichtslosigkeit der Revisoren gesprochen, die auf einen hochgeachteten und obendrein durch seltene Frömmigkeit ausgezeichneten Ehrenmann, wenn auch nur für kürzesten Moment den Verdacht einer Unterschlagung habe hinlenken können. Er trat an Erich Billrod heran, klopfte ihm jovial auf die Schulter und sagte:

»Man sieht Sie ja kaum irgendwo mehr, Herr Doktor. Immer in historischer Forschung vergraben?«

»Ja, in der Geschichte des alten grünen Kirchturms da, Herr Senator.«

Erich Billrod deutete vor sich hinaus, wo mein alter Freund im hellen Mondlicht aus ragender Nähe auf den Garten herabblickte; der Senator lachte kordial:

»Seit wann denn haben Sie sich auf das Gebiet der Kirchengeschichte verlegt, Herr Doktor?«

»Es läuft so ab und zu auch bei Kirchenpfeilern einmal etwas für mich verständliches Profanes mit unter, Herr Senator,« erwiderte Erich Billrod in verbindlichstem Ton, »und besonders kann das Verdienst dieses alten Turmes nicht preislich genug hervorgehoben werden, das er sich durch Mitteilung gewisser praktischer Methoden unserer allerdings noch nicht so durch und durch kultivierten Vorfahren erworben, wie wir uns dessen heut' zu rühmen vermögen. Ich stieß vor einigen Tagen bei'm Umhersuchen in unserem Stadtarchiv grade auf ein derartiges Beispiel aus dem 14. Jahrhundert, wo ein Ratsverwandter hujus loci sich am gemeinen Stadtsäckel vergriffen hatte. In Folge dessen brachte man ihn einfach in den Turm hinauf, bis dicht unter den großen Knauf – bei Tage können Sie mit guten Augen unterscheiden, Herr Senator, daß sich dort noch eine kleine Tür befindet – durch diese kleine Tür ward ein Balken herausgeschoben, der wohllöbliche Ratsverwandte in seiner Amtstracht darauf gesetzt, das Pförtlein hinter ihm verriegelt und ganz seinem Belieben anheimgestellt, in seiner Position am Hunger das Zeitliche zu segnen, oder dies etwas langsame Verfahren durch einen Sprung auf die Dächer seiner Mitbürger herunter abzukürzen. Eine originelle, doch empfehlenswerte Prozedur; für welche Alternative würden Sie sich entschieden haben, Herr Senator?«

Ich hörte eine Weile später nicht den Anfang, doch kam hinzu, als Erich Billrod an einem Kunstgespräche teilnahm, d. h. seine Anteilnahme beschränkte sich darauf, einer von Professor Rodenstein an einem Gemälde geübten Kritik zuzuhören. Das in Rede stehende Bild war seit einigen Tagen in der sogenannten Kunsthalle der Stadt ausgestellt und vergegenwärtigte fast in Lebensgröße Oliver Cromwell, wie er in seinem Arbeitszimmer im Ausdrucke seines Gesichtes die Wagschale König Karls I. zwischen Leben und Tod züngeln ließ. Der Maler hatte es mit ausnehmender Sorgfalt auch in den Einzelheiten der Umgebung des nachdenklich das Haupt auf einen mit Büchern beladenen Tisch Aufstützenden gearbeitet, und bei der Beschauung war mir ein welthistorischer Augenblick in lebendiger Verkörperung überwältigend entgegengetreten. Auch auf einige sonstige Teilnehmer der Gesellschaft schien es ähnlichen Eindruck geübt zu haben; als ich an den Kreis der Redenden hinangelangte, nahm grade Professor Rodenstein, der bisher dunklen Blicks geschwiegen, mit leichtem Achselzucken das Wort und sagte tieftönig:

»Hm, ja, für die Arbeit eines Neueren – es wäre nicht gerechtfertigt den Maßstab eines Zeuris oder Apelles an sie anlegen zu wollen. Doch selbst wenn wir auf Panänos und die Poikile zu Athen oder auf Polygnotes aus Thasos zurückgehen, müssen wir uns sagen, hm, ja, daß wir uns hier einem Falle der Typanographie, der Mißachtung des eigentlichen Zweckes künstlerischer Wiedergabe gegenüber befinden. Blicken Sie auf alle ausgezeichneten Meister des Altertums, so werden Sie auf ihren Gemälden niemals einen Anachronismus in der Behandlung der Gegenstände entdecken, welche redendes Zeugnis von dem Standpunkt der Kulturverhältnisse des entsprechenden Zeitabschnittes darbieten. Diese Vasen, diese Amphoren, diese Geräte profanen und heiligen Gebrauchs schufen die gleichzeitigen Meister der bildenden Kunst, und die Maler beeiferten sich, durch höchste Vollendung ihrer Technik vermittelst der Farben eine wahrheitsgetreue und annähernd sehr plastische Reproduktion solcher Vorbilder zu ermöglichen. Es scheint in entschuldbarer Weise Ihrem minder darauf hingerichteten Blick, meine verehrten Zuhörer, entgangen zu sein, daß dieser Cromwell auf dem in Frage gezogenen Bilde gar kein Cromwell ist. Denn was allein prägt ihm diesen Individualitätscharakter auf? Die Zeit, die Wahrheit der Umgebung, der Rahmen, der ihn umschließt. Ich bitte Sie nun, einen Blick auf den Tisch zu werfen, an welchem der angebliche Lordprotektor von England sich seinen in jener Zeitperiode beruhenden Erwägungen hingibt. Sein Arm stützt sich auf Bücher, gebundene Bücher. Ich kann Ihnen aber versichern, daß die kunstgewerbliche Forschung auf diesem Gebiete unwiderleglich ergeben, daß ein derartiger Büchereinband um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts noch nicht existierte, sondern zuerst vereinzelt im vorletzten Jahrzehnt desselben auftritt. Oliver Cromwell müßte demnach um dreißig Jahre älter, als etwa siebzigjähriger Greis nach der Krone getrachtet, die Hinrichtung des Königs Karls I. ungefähr um die Zeit der Thronbesteigung des ersten Oraniers stattgefunden haben. Aber das nennen gewisse Leute heutzutage Kunst.«

Professor Rodenstein schloß seinen letzten Satz mit einem düsteren Blicke der Mißachtung gegen die apostrophierten, doch ungenannten traurigen Persönlichkeiten, warf sein schöngewelltes dunkles Haupthaar mit olympischer Anmut aus der weißen Stirn zurück und ließ die Augen wieder mit einem Ausdruck über die atemlos verstummte Runde hingehen, der inhaltsvoll besagte, daß er nur einen flüchtigen Strahl der Sonnenfülle seines Urteilsvermögens über das vernichtete Bild hingeworfen habe. Endlich wagten einige Damenzungen zuerst sich zu lösen. »Eine wahrhaft tief greifende Auseinandersetzung – wie der Erleuchtete dem Laien mit einem Worte die echte Kunst von schwächlicher Stümperei zu scheiden vermag. – Welch' ein Glück, solcher Erklärung beiwohnen zu dürfen!«

»Es ist eigentümlich,« sagte Frau Professor Liesegang, »aber ich erinnere mich, daß meine Tochter Henriette mit den Fingern auf den Tisch hindeutete und äußerte: »Findest Du nicht, Mama, daß ein –? wahrscheinlich wollte sie »Anachronismus« sagen, doch wir wurden unterbrochen –«

Auch Erich Billrod unterbrach jetzt plötzlich die Hausfrau. »Es freut mich, daß Herrn Professor Rodensteins geistvolle Erläuterung so volles Verständnis bei Ihnen angetroffen, denn ich kann sie von meinem, dem profan-historischen Standpunkt aus, nur durchweg bestätigen. Ja, ich vermag der kunstgewerblichen Versicherung des Herrn Professors die geschichtliche hinzuzufügen, daß, wenn Cromwell sich auf einen solchen Bucheinband damals gestützt hätte, er zu einem ganz andern Resultat gelangt wäre, da er dann den König nicht hätte köpfen lassen, sondern das Haus Stuart noch heute in England regieren würde. Das haben meine historischen Forschungen unwiderleglich ergeben. Sie sehen also, welche geschichtliche psychologische und moralische Fälschung aus dem Kleistertopf eines Buchbinders hervorgehen kann und die weiteren Schlußfolgerungen darf ich Ihrem in so unübertrefflicher Weise angeregten Scharfsinn überlassen.«

»Hm ja – ein mir nicht ganz verständlich gewordener Commentar meiner Explication,« erwiderte Professor Rodenstein sonor aber wohlwollend, und ich vernahm, daß er einem neben ihm Stehenden hinzufügte: »Offenbar eine Persönlichkeit, welcher es nicht gegeben, ihre Gedanken aus einer gewissen Unklarheit durch die Sprache zur wissenschaftlichen Gegenständlichkeit des Ausdruckes zu erheben.«

Erich Billrod ward für seine Persönlichkeit dieses von einem leisen Zähneknirschen accompagnierten Votums nicht teilhaftig, denn er lauschte bereits respektvoll auf eine Aeußerung des Gerichtspräsidenten, der, manchmal in der Mitte eines Wortes Atem schöpfend, bemerkte:

»Ich halte überhaupt von diesen brod-losen Künsten nicht viel, soweit sie nicht einen Gegen-stand wissenschaftlicher Registrierung und Klassifi-kation bilden. Leute, die sich solchem vagen Firlefanz in die Arme werfen, sind meistens solche, die ihren Beruf verfehlt haben und zu nichts Nütz-lichem sonst zu gebrauchen sind. Es geht damit wie mit der sogenannten allge-meinen Bildung, welche nur besagt, daß jemand im Spe-ziellen nichts Ordentliches gelernt hat. Ich war einmal Stiefel-putzer und bin stolz darauf, denn ich meine, nur die Juris-prudenz, meine Herren, ermöglicht einen solchen Fortschritt ohne die nichts-sagenden Redensarten von humaner und Gott weiß welcher in Mode geratener Grund-lage. Alle Menschen sollten zuerst einmal Juristen sein, und ich gebe jedem tüchtigen jungen Mann den Rat, werde Ju-rist, dann erfüllst Du am vollkommensten den Zweck deiner Existenz auf der Erde, im Staate und in der menschlichen Gesellschaft.«

»Wie anziehend ist es,« flüsterte eine Stimme neben mir, »eine so hochgestellte Persönlichkeit in so klarer und begeisterter Weise über ihren Beruf reden zu hören.« – »Welche Bescheidenheit, seiner unbedeutenden Herkunft in so ruhiger Ueberlegenheit Erwähnung zu tun,« entgegnete eine andre, und eine dritte fügte hinzu: »Und welche tiefbedeutungsvolle Wahrheit in dieser prägnanten Darstellung des höchsten Wertes und der höchsten Befriedigung durch die juristische Wirksamkeit.«

Dann hörte ich als vierte Stimme plötzlich die Erich Billrod's, der bescheidenen Tones sagte:

»Es drängt mich, Herr Präsident, Ihnen meinen aufrichtigsten Dank für die heut' Abend von Ihnen mir geweckte neue Welt- und Lebensanschauung auszusprechen. Ich hatte bis jetzt mich immer der irrigen Meinung hingegeben, der Zweck der Existenz des Menschen auf der Erde sei, ein möglichst glückliches und sorgenfreies Dasein zu führen und zu diesem Behuf seien der Staat, die Gesetze, die Ordner und Verwalter derselben – diese ganze unter Menschen, wie sie sein sollten, überflüssige Maschinerie – nur Mittel zu dem Zweck, daß die Erdenbewohner in friedlicher Gegenseitigkeit den Berufsarten, Pflichten und Freuden ihres Daseins, den Aufgaben und Wünschen des Kopfes und des Herzens, der traulichen Ruhe des Familienlebens, der Begeisterung für Dichtung, Künste, und Wissenschaften, dem mählichen Bildungs- und Erkenntnisfortschritt der Menschheit nachtrachten könnten. Von diesem irrigen Gesichtspunkt aus habe ich bisher die Jurisprudenz nur als ein Gerät zur Verhinderung der schlechten Triebe unseres Erdbodens, zur Ausrottung und Niederhaltung des Unkrautes angesehen, damit die wirklichen Saaten, Blumen und Früchte emporwachsen könnten, und ich danke Ihnen für die Berichtigung meiner fehlerhaften Anschauung, daß die Rechtsformeln und ihre Ausübung sich Selbstzweck sind und die Menschen sich für sie in der Welt befinden, statt wie ich bis heut' fälschlich angenommen, die Jurisprudenz nur als ein notwendiges Uebel für die Menschen.«

Wenn Erich Billrod die Absicht verfolgte, sich in der Abendgesellschaft des Professor Liesegang beliebt zu machen und seinen gesellschaftlichen Ruf in der Stadt zu rehabilitieren, so schlug er jedenfalls absonderliche Wege nach diesem Ziel ein, die dahin führten, daß sowohl die männlichen als weiblichen Konstituanten der Assemblee ihm mit einer unverkennbaren Beflissenheit aus dem Wege gingen. Doch er übersah mit der unbekümmertsten Miene jede Absichtlichkeit und nahm von keinem noch so ostensiblen Ausweichen Notiz. Er befand sich, wie er gesagt, in der Gebelaune; das Warum blieb mir ein Rätsel, wie seine hiesige Anwesenheit überhaupt. Nur das Eine lag klar vor, daß er hierhergekommen war, um in solcher Weise zu dem Amüsement der Gesellschaft beizutragen, und nur die erste Frage nach dem Antrieb, der ihn zum Kommen bewogen, blieb unerledigt. Zu meinem Erstaunen trank er sogar beim Souper – es war unfraglich seine Henkersmahlzeit in der guten Gesellschaft – mehr, als ich seiner gewohnten Mäßigkeit nach für glaublich gehalten, wenn ich's nicht mit eignen Augen gesehen, und der genossene Wein trug nicht dazu bei, seine Lippen in einen harmonischeren Akkord mit dem uns umgebenden Konzert zu versetzen. Es ward an unserer Seite des Tisches von einer Persönlichkeit geredet, deren Name mir unter dem Geklapper von Gabeln, Messern und gewechselten Tellern verloren gegangen war, und ich erhielt nur im Allgemeinen die Aufklärung, daß sich das Gespräch um einen außerordentlich liebenswürdigen jungen Mann drehte, der sich in nächster Zeit, aus der benachbarten Handelsmetropole hierher übersiedelnd, bei uns niederzulassen gedenke, um ein großes überseeisches Exportgeschäft in unserer Stadt zu begründen. Man wußte nicht grade Bestimmtes über ihn, war jedoch in seinem Lobe durchaus einmütig, und eine der älteren weiblichen Autoritäten der Tafelrunde bemerkte remüsierend, daß, so wenig Erfahrungen sie begreiflicher Weise in ihrem Leben sonst in Kaufmannskreisen gemacht habe, ihr doch einige Mal auf's Erfreulichste entgegengetreten sei, daß ein derartiger Vertreter des wirklichen Großhandels nicht selten mit seinen wahrhaften Verdiensten um die Förderung menschlicher Wohlfahrt die feinste, universelle Bildung verbinde und deshalb jedenfalls als Pflicht erscheine, dem Erwarteten den Eintritt in die gute Gesellschaft der Stadt in jeder Richtung zu erleichtern. Diese wohlwollende Erklärung fand allseitig bereiteste Zustimmung, in die sich jedoch wieder Erich Billrod's Stimme mit der Entgegnung einmischte: »Die Sache ließe sich auch etymologisch kürzer ausdrücken, Frau Konferenzrätin, daß Geltung von Geld herstammt; er besitzt Geld, also gilt er selbstverständlich und gehört nicht zu den sonstigen Kaufmannskreisen.« Die Eßbestecke überklapperten indes die Worte des Sprechers, die, von einer Emporziehung der Nasenflügel einiger zunächst Sitzender abgesehen, niemand beachtete, und das Gespräch der Tischgruppe ging auf einen anderen Gegenstand über, zu dessen Berührung der anwesende Hauptpastor der Stadt Anlaß gegeben. Er tat etwas näselnden Tones, doch in wohlgegliederter Syntax des Ausdruck's, eines heutigen Falles seiner Seelsorge Erwähnung, wo er einer Frau, die über den erfolgten Tod ihres seit langer Zeit schwer erkrankten Kindes in blinde und taube Verzweiflung geraten, ermahnend vorgehalten, wie unchristlich sie sich durch ein solches Gebühren versündige, da sie, statt dem Ratschlusse Gottes, der ihr Kind lieb gehabt und es deshalb zu sich genommen, dankbar zu sein, sich den Einflüsterungen des sündigen Eigenwillens hingegeben habe, ihr verblendetes Gemüt gegen das Walten der himmlischen Liebe aufzulehnen. Da sei es dem Weibe wie Schuppen von den Augen gefallen, an welchem Abgrunde ewiger Verderbnis sie gestanden, und wundersam getröstet und gebessert habe er selbst sie in tiefer heiliger Ergriffenheit verlassen. Die Mitteilung, welche ihrem Urheber ein wenig Trockenheit in der Kehle verursacht hatte, so daß er dieser durch ein modestes Zu-sich-nehmen der lieben Gottesgabe aus dem vor ihm stehenden Glase abhalf, verfehlte naturgemäß nicht, besonders auf die Zuhörerinnen gleichfalls den ergreifendsten Eindruck zu erregen und sie in eine religiös-hingebende, weichherzig-bewegte, gefühlvoll-erfaßte Gemütsstimmung zu versetzen, die sogar über Erich Billrod's heut-abendlich-frühere Aeußerungen den Schleier der Nächstenliebe breitete und, als er jetzt dem Pastoren zugewendet das Wort ergriff, mit aufmerksamer Rührung seiner Einschaltung Beachtung angedeihen ließ. Er sagte, und zwar so laut, daß seine Stimme fast das surrende Gespräch am entgegengesetzten Ende des Tisches zum Schweigen veranlaßte:

»Ich habe etwas Aehnliches, doch mit schon früher eintretendem erfreulichem Ausgange heut' erlebt, denn ich traf einen vermutlich irrsinnigen Mann auf der Straße, der einen dicken Knüttel in der Hand trug und mit ihm einen kleinen, blondlockigen, allerliebsten Knaben über den Kopf schlug, so daß der Kleine auf das Steinpflaster niederstürzte. Dann trat der Mann das Kind mit dem Fuß, es schrie noch, aber lag schon mit gebrochenen Augen –«

»Unglaublich! Empörend! Himmelschreiend!« Es brach in stürmischem Durcheinander von den Lippen der Hörerinnen; der Pastor fügte bedeutsam hinterdrein: »Eine solche Bestialität einem unschuldigen Knäblein gegenüber ist wohl nur aus frühzeitigster, verstocktester Abwendung vom Gottes-Worte erklärlich.«

»In diesem Augenblick,« fuhr Erich Billrod fort, »kam der Vater des Knaben hinzu.«

»Und was tat er? – Riß die Vaterliebe ihn zu besinnungslosem Tun fort?« Die Spannung der vorgeneigten Gesichter hatte sich auf's Höchste gesteigert; eine der Damen sagte vernehmlich zu ihrer Nachbarin: »Wäre es mein Kind gewesen, ich glaube, ich hätte den Unmenschen getötet.«

»Er ging auf den Mann zu, drückte ihm die Hand und dankte ihm,« schloß Erich Billrod ruhig seine Erzählung.

Es blieb einen Moment in der Zuhörerrunde lautlos still, nur alle Augen hefteten sich, wie an der Zurechnungsfähigkeit ihrer Ohren oder des Berichterstatters zweifelnd, auf den letzteren; endlich gab ein Mund der allgemeinen Ueberzeugung Ausdruck:

»Also war der Vater selbst auch ein Irrsinniger?« »Warum, gnädige Frau?« versetzte Erich Billrod mit artigster Miene. »Doch nicht weil er das nämliche tat, wohin die heiligen Bemühungen des Herrn Pastors die von ihm erwähnte Mutter geführt, die dem ›lieben Gott‹ dafür gedankt, daß er ihr Kind in langer Krankheitsmarter zu Tode gebracht? Dieser Mann, scheint mir, war viel dankenswerter, da er den Knaben kürzer leiden ließ, offenbar doch auch nach dem Ratschluß der himmlischen Liebe, denn es wäre unchristlich, anzunehmen, daß es ohne den Willen der letzteren zu geschehen vermocht hätte.«

Das Rollen der zurückgeschobenen Stühle vom anderen Ende des Tisches her übertönte den Schluß der Worte, das Souper war beendigt und aus einem saalartig geräumigen Nebenzimmer lockten schon die angeschlagenen Töne eines Flügels zur köstlichsten Fortsetzung des abendlichen Gesellschaftsprogramms. Die Damen und Herren ließen eilfertig ihre Fingerspitzen in der Hülle bereitgehaltener weißer Lederüberzüge verschwinden und strömten dem Raume zu, aus dem unter den einzig nicht behandschuhten, langsehnigen Fingern des genialen städtischen Musikheros, des Kapell- oder Konzert- oder sonstigen Meisters, Herrn Lackschuh's, die süßen Tonbilder einer Française entquollen. Ausrufe des Entzückens, der Ueberraschung, des Dankes begrüßten ihn. »Oh, es ist Herr Lackschuh selbst, der sich herabläßt, uns diesen Abend zu verherrlichen! – Hören Sie auf seinen Anschlag, ein Blinder müßte ihn unter Tausenden herauserkennen! – Ein anbetungswürdiger Künstler, dem keiner zu vergleichen! – Er wird den neuen Walzer spielen, den er kürzlich erst komponirt hat. – Ach, was auf Erden wäre überhaupt der himmlischen Wirkung solcher Musik vergleichbar? Mir hüpft der Fuß schon in Gedanken an den Walzer.«

»Gewiß ein anbetungswürdiger Gegenstand,« sagte Erich Billrod hinter mir. »Ganz Finger ohne Kopf, nur Ton, ohne daß je im Leben ein Gedanke ihn beeinträchtigt hätte. Es fehlt nur der äußere Strohwisch über der Erhabenheit seines Hohlschädels, etwa in Form einer symphonisch klingelnden Schellenkappe, um die Leute das volle Ebenbild ihres Gottes erkennen und ihm den geweihten Glanzlack von seinen Schuhen küssen zu lassen.«

Der Rundgang der Française erreichte sein Ende, die älteren Herren zogen sich an Spieltische in Seitengemächer zurück, die älteren Damen nahmen Wandsitze im Tanzsaal ein, Herr Lackschuh warf, die dunklen Augen zum Plafond aufschlagend, Kopf und Oberkörper nach rückwärts und ließ die weit vorgestreckten Hände mit einem jubelnd begrüßten Fortissimo in die Tasten greifen. Dann drehten die Paare sich wirbelnd an uns vorüber, die Kleider flogen, die Gesichter flammten – »Nun, willst Du Dir kein Verdienst um das weibliche Geschlecht mit erwerben, Reinold Keßler?« fragte Erich Billrod.

Ich schüttelte den Kopf. Wir standen abseits, unbeachtet vor dem offenen Türrahmen eines von der Gesellschaft verlassenen Zimmers und mir war's nicht mehr begreiflich, daß ich dieses Durcheinander, welches mir heut' lächerlich, fast Widerwillen regend, erschien, bis vor Kurzem selbst häufig mitgemacht hatte. Und gedankenlos dreinblickend erwiderte ich:

»Mich däucht nicht, daß man sich viel Verdienst damit erwirbt.«

»Da tust Du den löblichen Institutionen der feinen Gesellschaft Unrecht, Reinold Keßler. Versuch's doch einmal, fasse am Theetisch oder sonst in einem Hause, das Dich als Gast aufgenommen, die Hand der Tochter, lege ihr Deinen Arm um die Hüfte, drücke ihn sanft gegen ihre jungfräuliche Brust, und ich glaube. Du wirft von seltenem Glück sagen können, wenn Du aus dem in seinen heiligsten Gefühlen entweihten Hause mit heilen Gliedmaßen und am andern Tage aus der Stadt ohne kriminalgerichtliche Verfolgung davonkommst. Aber zieh' ein paar weiße Handschuhe an, verbeuge Dich, wie Du's in der Tanzstunde gelernt hast, und Du kannst das alles, kannst das Zehnfache, ohne zu befürchten, auf Widerstand, sittliche Entrüstung und empörte Schamglut zu stoßen. Die junge Dame braucht dann nicht zu erröten, also tut sie's nicht; es ist Sitte geworden, daß Du sie wie eine Braut in die Arme faßt, daß Dein Atem, Dein Blick bis zu ihrem entblößten Busen hinabstreift, Deine Knie die ihrigen berühren und Du Dir das Verdienst erwirbst, sie auf erlaubte Weise in der sonst verbotenen Trunkenheit ihrer Sinne schwelgen zu lassen. Morgen wird sie wieder sittig erglühen, wenn Du überhaupt anzudeuten wagst, daß sie Kniee besitze, und in heißer Entrüstung wird Dir die Mutter den Türausgang zeigen, die jetzt dort lächelnd herabsieht, wie ihre Tochter sich lechzend an die Brust ihres Tänzers festschmiegt. Heut' Abend Natur, Reinold Keßler, denn die Schicklichkeit erlaubt's, und morgen Anstand, denn die Schicklichkeit gebietet's. Zög'st Du ihnen die Larve ab, so wären sie auch morgen alle nackt wie heut' – aber hab' keine Furcht, daß sie ihre Natur am hellen Tage und ohne weiße Glacéhandschuhe herauskehren könnten. Dazu müßte etwas Ungewöhnliches kommen, etwa ein Sangesheld, der das hohe Cis aus einem sechs Fuß hohen Kehlkopf heraufhimmelt, oder ein paar schwarze Feuerbrände, die in einem Weiberkopf knisterten, auch die andere Hälfte dieser guten Gesellschaft einmal über Nacht auf den Kopf zu stellen: Willst Du mit? Ich habe den Ekel satt und will Mondsilber statt dieser tropfenden Unschlittlichter. Komm.«

Ich folgte der Aufforderung bereitwillig, wir empfahlen uns auf französische Weise und traten in die noch immer hellbestrahlte Gasse hinaus. Erich Billrod blickte noch einmal kaustisch lachend auf das Haus zurück und sagte: »Man könnte bei dem Volk von neronischen Gelüsten erfaßt werden, daß es nicht Einen Kopf, aber Einen contra situm hätte, um es darauf zu hauen.«

Nun gingen wir eine Weile schweigend; ich hatte immer eine Frage auf der Zunge, doch statt der, die ich beabsichtigte, brachte ich fast gedankenlos eine andere hervor. »Hörtest Du den Namen des jungen Großhändlers, der hierher kommen soll?«

Erich Billrod sah merkbar aus anderen Gedanken auf und erwiderte gleichgültig: »Einer aus dem großen Krämernest, in dem ein Rabe schwarz geleckt wie der andre aussieht; ich glaube, er heißt Imhof.«

»Imhof? Philipp Imhof?« fiel ich höchlichst überrascht ein.

Das weiß ich nicht; meinetwegen Crassus oder Crösus. Ein goldenes Kalb ist's nach den Anbetungspräliminarien der feinen Gesellschaft jedenfalls.«

Er war einsilbig, als sei der sonderbare, wie von einem Gallengetränk herstammende Rausch, der den Abend hindurch aus ihm geredet, verflogen und habe einer plötzlichen Ernüchterung Raum gemacht. An der Ecke, wo sein Weg abbog, stand ich still und brachte die lang verhaltene Frage hervor:

»Weshalb bist Du eigentlich in die Gesellschaft gegangen?«

Auch Erich Billrod hielt inne und wandte die Augen im Mondlicht gegen mein Gesicht. Einige Sekunden schweigend, dann antwortete er:

»Ich hatte Dich seit gestern nicht gesehen, Reinold Keßler, und wollte Dir nach so langer Trennung zum erstenmal nicht allein, sondern in einem Kreise, wo feiner Ton herrscht, begegnen. Gute Nacht – es kommt einmal ein Tag im Leben, der die Gebelaune mit sich dringt. Wenn Du mich morgen besuchst, denke ich, wird sie vorüber sein.«


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