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Drittes Kapitel

Sie war's, als ich am andern Spätnachmittag kam. Es war noch das nämliche Zimmer aus meiner frühen Knabenzeit, in dem die Sonnenstäubchen immer noch einsam und gleichsam anmaßlich auf und nieder tanzten, als seien sie eigentlich seit Menschengedenken die einzigen Rechtsinhaber dieser stillen Verlassenheit.

Ja, Alles bis in's Kleinste völlig unverändert. Es kam mir heut' wie durch Zufall zum erstenmal deutlich zum Bewußtsein, und mir war's, als sei auch für mich schon ein volles Menschengedenken darüber hingegangen. Dieselben aus zahlreichen kleinen Scheiben wie ein Gitterwerk zusammengesetzten breiten Fenster mit den gelben Vorhängen, die altväterischen Möbel, die schweigsam feierlichen Büchergestelle an den Wänden und zwischen ihnen in den schlichten, wurmdurchlöcherten Holzrahmen die Landschaften mit ihrem fremdartigen, braunrötlichen Ton, als falle unablässig ein Abglanz herbstlicher Abendsonne darüber hin. Nichts war von der Stelle gerückt worden, nichts umgemodelt und erneuert, nur das täglich wiederkehrende Licht, die Goldstäubchen, die Jahre hatten die Decken der Tische, die Ueberzüge der Sessel, die Einbände der Bücher etwas abgeblaßt. Sonst war Alles geblieben, saß Erich Billrod auch heut', als ich eintrat, ebenso am Schreibtisch, wie er's damals getan, als ich zum erstenmal zu ihm gekommen. Seit Menschengedenken – wenn dies für mich auch nur ein Jahrzehnt bedeutete – doch welche Unermeßlichkeit von langem Winterschnee und kehrendem Frühling, von Sonne und Sturm, Gedanken, Empfindungen und Wandlungen lag für mich in dem kurzen Wort. Erich Billrod aber hatte hier Tag um Tag ein Jahrzehnt lang immer in nämlicher Weise gesessen und in die tanzenden Sonnenstäubchen hineingesehen.

Man weiß oft nicht, warum Einem manchmal plötzlich eine solche Vorstellung kommt, die sich seit langer Zeit an jedem andern Tage der Empfindung schon ebensowohl hätte aufdrängen können und es trotzdem nie getan. Aber heut' hielt sie mich unwillkürlich in der Mitte des großen Zimmers an und ließ meine Augen auf der Rückseite des Schreibenden haften. Hatten das täglich kehrende Licht, die Goldstäubchen, die Jahre auch über den Scheitel Erich Billrod's einen bleicheren Schimmer gezogen?

Ganz leis, doch er war da, ich sah es auch zum erstenmal. Es schien nur wie der Anhauch eines Aschenregens, doch keine Zugluft blies ihn mehr hinweg. Das Jahrzehnt hatte das Verhältnis der Jahre zwischen ihm und mir ungeändert, aber immerhin bildeten meine zwanzig noch erst die Hälfte der seinigen.

Mich verwirrte etwas, wie er sich jetzt auf einmal rasch umwandte und die Augen scharf auf mich heftend, als ob er meine Gedanken erraten, fragte:

»Mißfallen Dir meine grauen Haare oder haben sie Deinen Beifall, Reinold Keßler? Verzeih' mir meine Unhöflichkeit, ich habe noch eine notwendige Arbeit und Dir eine Lektüre auf den Tisch gelegt, um Dich inzwischen zu amüsieren.«

Er deutete, das letzte Wort eigentümlich betonend, auf einige halb gelblich gewordene, beschriebene Blätter, die ich, als ich seine Handschrift erkannte, mit einiger Verwunderung aufnahm. Ich überflog die ersten Zeilen und antwortete:

»Gedichte habe ich öfter von Dir gelesen, doch ich wußte nicht, daß Du auch Novellen geschrieben –«

»Novelle – eine Neuigkeit, ein sonderbarer Vorfall, das ist das rechte Wort,« fiel er ein. »Du hast immer die richtige Nomenclatur für die Dinge, Reinold Keßler. In der Tat, ich habe auch einmal auf dem Gebiet einen nutzlosen Versuch gemacht; es ist lange her, und ich hoffe, die jugendliche Torheit wird mich nicht plagen, ihn zu wiederholen. Aber er fiel mir heut' grad' in die Hand und paßt vielleicht dazu, Dir eine Viertelstunde des Wartens auszufüllen. Wenn Du Lust hast, lies die Novelle und kritisiere das Machwerk scharf; Du bist ja in die Jahre gekommen, Verständnis dafür zu besitzen.«

Er drehte den ergrauenden Kopf zurück. »Hat sie keinen Titel?« fragte ich, mich in den Sessel setzend. Nun wandte Erich Billrod sich noch einmal: »Einen Titel? Du hast wieder Recht, ein ordentliches Kunstwerk will auch einen Kopf haben. Heiß' es »Nacht und Tag«, oder »Herz und Augen«; ein Doppeltitel ist das beste Aushängeschild, um rührungsbedürftige Leser anzulocken. Also gehab' Dich wohl, ich nehme eine Weile von Dir Abschied.«

Er schrieb weiter und ich las auf den halb vergilbten Blättern:

*

»Robert Lindström stand in verhältnismäßig frühen Jahren vor der Beendigung seiner Studien, denn er trat eben über die Ausgangsschwelle seines zweiten Jahrzehnts, als sein gewählter Lebensberuf ihn veranlaßte, noch für ein Semester eine kleine deutsche Universitätsstadt zu besuchen, an der ihm der wünschenswerteste Abschluß seiner Lehrjahre geboten ward. Seine Familie stammte, wie der Name kundtat, ursprünglich aus dem skandinavischen Norden, doch schon seine Großeltern hatten ihre Heimat verlassen und sich in Deutschland seßhaft gemacht. Er war, noch bevor er sein Leben selbständig einzurichten vermocht, verwaist und im Hause eines Vormundes aufgewachsen, der die gegen ihn übernommenen Verpflichtungen erfüllte, ohne daß je ein engeres Verhältnis, ein menschliches Nähertreten zwischen ihnen stattfand. So ward er eine isolierte, mit Notwendigkeit gegen Andre und in sich selbst widerspruchsvolle Natur. Was ihn bewegte, erfreute, mit Hoffen oder Bangen regte, mußte er ohne Mitteilung im Innern verschließen, und er gewöhnte sich dergestalt, sich als eine Ausnahme von den übrigen Menschen, weder nach einer guten noch schlimmen Seite hin, doch schlechtweg als ein nicht Zugehöriger zu seiner Umgebung zu betrachten. Mit der Erinnerung an schöne, traumhafte Tage seines Elternhauses ging er einsam umher; die Sonne war seine Freundin, sein Umgang der im Wind bewegte Grashalm des Feldes, der braunrote Waldrand, auf dem das Abendlicht verglühte. Manchmal vom unwiderstehlichen Drang gefaßt, sein volles Herz hinzugeben, stieß er auf die kalte Verstandesrichtung des Vormundes, der ihm sarkastisch zu verstehen gab, daß seine Empfindungen einen Ausfluß wesenloser, lächerlicher und für die Zwecke des Lebens durchaus schädlicher Sentimentalität bildeten, für die grade er ganz besonders eine möglichst ungeeignete Persönlichkeit sei. Derartiges Behaben möge in der Jugend für Leute Vorteil mit sich bringen, die dadurch in den Augen empfindsamer Weibergemüter das Einnehmende äußeren Wesens erhöhen und auf solche Weise vielleicht ihre Glücksumstände verbessern könnten. Robert Lindström konnte daraufhin, obwohl er den Sinn der Worte nicht deutlich faßte, die Frage nicht zurückhalten, weshalb er denn grade eine so ungeeignete Persönlichkeit in dieser Hinsicht darstelle? »Der Spiegel kann Dir verständlichere Antwort darauf geben als ich,« erwiderte sein Vormund kaltlachend, und der Abgefertigte befragte am Abend die schweigsame Glasfläche, auf die er hingewiesen worden. Doch der Spiegel erteilte keine andere Antwort, als er sie ihm des Morgens stets beim Ankleiden zu geben pflegte, warf das genau bekannte Gesichtsbild eines für seine Jahre ziemlich kleingewachsenen Knaben zurück, dessen Stirn die Narbe einer in frühester Kindheit erhaltenen Brandwunde aufwies. Als Lindström daraufhin unternahm, seinen Vormund noch einmal über die Erfolglosigkeit des erteilten Rates zu interpellieren, entgegnete der kurz: »So warte noch eine Weile und befrage dann irgend ein Mädchen, zu dem Du Vertrauen gefaßt hast, notabene wenn's kein Krüppel, keine Blinde oder höchstens keine Einäugige ist.«

Dazu bot sich jedoch Robert Lindström in seiner Vereinsamung keine Gelegenheit und er vergaß auch das Ganze bald. Aber er empfand mit den Jahren, daß er sich veränderte. Nicht in seinem eigentlichsten Innern, doch in seinem früheren Drang und Verlangen, dies hervortreten zu lassen. Er ward nicht scheu, sondern geizig mit dem, was Andere nicht wollten; sein Gefühl stumpfte sich nicht ab, nahm vielleicht in der Stille zu, aber seine Aeußerungen modelten sich nach der Denk- und Redeweise seines Vormundes um. So erreichte er das Jahr seiner Mündigkeit in einem Gemütszustände, der vom Leben nichts erwartete und nichts verlangte, als den Genuß, den die Vertiefung in seine Wissenschaft ihm gewährte, und im Besitz beträchtlichen Vermögens sah er sich voll selbständig und unabhängig in einer fremden Welt, mit der sein Herz keinerlei Zusammenhang besaß.

Als er zum erwähnten Zwecke des Abschlusses seiner Studien in die kleine Universitätsstadt gelangte, hatte die Abneigung gegen allen Verkehr mit Menschen sich in ihm bereits dergestalt zur Bedürfnislosigkeit ausgebildet, daß er jede andere als die oberflächlichste Bekanntschaft selbst mit seinen Altersgenossen mied und seine Zeit nur zwischen angestrengter Arbeit und der abendlichen Erholung auf einsamen Feldwegen teilte. Er war mit dem Beginn des Sommersemesters eingetroffen und gewahrte täglich den Fortschritt des Frühlings um sich her, dessen grün und farbenfreudig hervorsprießende Grüße ihm von Allem am Vertrautesten, mehr als irgend ein Mensch heimatlich in die Seele hinablächelten. Dann erkrankte er und vermochte wochenlang das Zimmer nicht zu verlassen. Der Arzt wollte es ihm auch einige Tage länger noch verweigern, doch eines Spätnachmittags hörte er durch das geöffnete Fenster aus einem Nachbargarten die Nachtigal herüberschlagen und eine unwiderstehliche, fast knabenhaft wieder erwachende Sehnsucht zog ihn in die milde Luft hinaus. Er verließ die Stadt und schlug draußen den ersten Weg ein, der sich ihm öffnete, gleichgültig, wohin der Zufall ihn führen möge. Der Himmel war bedeckt, so daß es früher als gewöhnlich dämmerte; es hatte geregnet und die Erde duftete. Erstaunt sah er, wie während seiner Krankheit die Blütenpracht des Vorsommers über die Welt hereingekommen, der Waldrand, zu dem die nur kurze Entfernung ihn hingeführt, stand dicht und geheimnisvoll im dunklen Laubschmuck, davor bogen sich über einen Gartenwall schwerwallend und duftend blaue Syringenblüten bis auf den Weg hinab. Er streckte die Hand und brach eine von ihnen, aus der noch die Regentropfen im Zwielicht wie glitzernde Perlen zur Erde träufelten; das Auge sah nicht deutlich mehr, doch alle anderen Sinne empfanden etwas, wie von süßtrunkener Schönheit umflüstert und umatmet. Und plötzlich rief hinter dem blauen Wogen des Walles die helle Stimme eines Mädchens laute Worte gegen das Häuschen zurück, dessen Giebel noch halb erkennbar über das Gebüsch heraufragte.

Es waren sehr gleichgültige, sehr gewöhnliche Worte ohne jede Bedeutung, denn sie sagten nur: »Hier bin ich, Mama, und die Bank hier ist trocken und schön, daß wir auf ihr sitzen können.« Aber trotzdem war's Robert Lindström in dem nächsten Augenblick, als würde er von den verklingenden Tonwellen des Rufes emporgehoben und weit durch Zeit und Raum dahingetragen, wo die Träume des Herzens in ihrer frühesten und einzigen Heimat weilten, denn die bedeutungslosen Worte drüben waren nicht in der Sprache des umgebenden Landes, sondern in der gerufen worden, welche seine Mutter ihn, als die der Großeltern, noch spielend in der Kindheit gelehrt. Zum erstenmal seit einer öden Unermeßlichkeit schlugen die mehr schon als halb vergessenen und doch in einem Nu den ganzen Zauber, den Reichtum, die Liebesfülle der Kinderheimat heraufbeschwörenden Laute ihm wieder an's Ohr, in's Herz hinein und weckten seiner eigenen Zunge das lang verlorene Vermögen, daß er in der nächsten Sekunde unwillkürlich, fast unbewußt, vom Wege her gleichfalls auf Schwedisch laut erwiderte: »Und ich bin hier draußen und habe keine Bank, um mich darauf zu setzen.«

Ein verwunderter Ton, doch ein freudig-einstimmender antwortete ihm aus dem Garten, dann eine Frage: »Wer ist der Landsmann, der vorüberwandern wollte, ohne sich zu uns zu setzen?« und nach einer Minute befand Robert Lindström sich, ohne zu wissen, wie es so gekommen, drüben in dem Gärtchen auf der Bank, zwei weiblichen Gestalten gegenüber, denen er seinen Namen genannt, deren Namen er von ihnen erfahren und mit denen er redete, als ob er seit Jahren bereits ein Freund ihres Hauses gewesen, wiewohl die tiefe Dämmerung des späten Maiabends ihm nicht einmal verstattete, die Gesichter seiner beiden Gefährtinnen zu unterscheiden. Er wußte bis jetzt nur, daß die Aeltere, die Mutter des Mädchens Frau Ingermann, ihre Tochter Asta hieß und das Gespräch ergab, daß jene bereits bald nach der Vermählung mit ihrem seit längerer Zeit schon verstorbenen Gatten aus Schweden fortgezogen und sich in Deutschland niedergelassen habe. So war die Tochter, in Deutschland geboren und erwachsen, keine Ausländerin mehr, sondern ihre Heimatssprache die deutsche, und nur unter sich redeten die beiden Frauen noch manchmal schwedisch, Asta der Mutter zur Freude und Erinnerung, die dadurch in die Tage ihrer Jugend und ihres ehelichen Glückes zurückversetzt ward. Still und fast ohne Verkehr mit Menschen wohnten sie hier auf ihrem kleinen Besitztum am Waldrand; wie in der Abstammung, ergab sich bald auch in der Stellung zum Leben eine Aehnlichkeit zwischen den zufällig zusammen Gekommenen, und die doppelte Uebereinstimmung erzeugte ein schnelles Vertrauen, einen Anschluß, der sich, schon nach Ablauf kaum einer Viertelstunde, in unverhohlener Weise von beiden Seiten kundtat. Man sprach bald deutsch, bald schwedisch, Robert Lindström suchte aus seinem Kindergedächtnis eifrig die Bruchstücke des mütterlichen Unterrichts hervor, die Frauen lachten fröhlich über seine Fehler und verbesserten sie, es war ein für alle stimmungsvolles und liebliches Erinnerungs-Genießen in der köstlichen Sommernachtluft. Der Syringenduft umzog die von den Blütentrauben überlagerte Rundbank, dann trat der Mond kurz hervor, ließ die Hälfte der letzteren, auf der Lindström saß, im vollen Schatten, doch warf sein hellstes Silberlicht auf der andern Seite über Asta Ingermann's Antlitz. So tauchte sie wie ein Lichtbild vor Robert Lindström auf, sommerlich in Weiß gekleidet, wohl noch kaum achtzehn Jahre alt, schlank, zart und mädchenhaft in der Anmut ihrer Formen und aller Bewegungen. Der Mondreflex glitt an dem schlicht von der Stirne herabgescheitelten, hellblonden Haar in ganz leichtem spielendem Schimmer herunter, die Augen mochten grau sein, allein in der eigenen Beleuchtung traten sie fast dunkel aus dem blassen und doch von frischester Jugend redenden Gesicht. Lieblichkeit war vor Allem der Eindruck, den Asta Ingermann erregte, ihre Züge und ihr Wesen ließen sich nicht besser, als durch die Empfindung auffassen, daß sie vollkommen dem glockenartigen Klang entsprachen, mit dem ihre Aussprache der hellen schwedischen Vocale vorher im Dunkel das Ohr berührt hatte. Das Auftauchen ihrer Lichtgestalt war jedoch, wie gesagt, nur ein kurzes, schweres Gewölk drängte sich an die Mondscheibe und überhüllte sie, die Dunkelheit verstärkte sich zur Finsterniß, und die Mutter gab das Zeichen zum Aufstehen, da offenbar ein schwerer Regensturz drohe. Sie ermahnte Lindström eilig den Heimweg anzutreten, reichte ihm die Hand und sagte: »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, dann auch von Angesicht zu Angesicht, nicht als Fremde, sondern als Freunde, wie mich däucht, daß wir es heut' in einer Stunde geworden.« Auch Asta streckte ihre, nur an einem leichten Schimmer in der Lichtlosigkeit erkennbare Hand aus, und Robert Lindström umschloß, empfand sie in der seinigen so weich und warm und schmal, als ob er sie zugleich mit Augen sähe und genau durch eine Zeichnung wiederzugeben vermöge. Das Mädchen sagte ebenfalls, doch in schwedischer Sprache: »Leb' wohl! Ich denk' es auch, daß wir nicht nur Landsleute sind, sondern Freunde sein werden« – es war Robert Lindström, wie er nun allein auf dem finstern Weg nach Haus wanderte, als gehe er auf einem andern Stern, der keiner Sonne bedürfe, weil er sonnengleich durch sich selbst leuchte und bis in's Herz hinein wärme. Das Unwetter ereilte ihn, und der Regen strömte mit Frühlingswucht auf ihn nieder, doch ihm tönte nur ein Wort im Ohr, das seine Lippen immer vor sich hin wiederholten: » Far väl!« Er wußte wohl, daß die schwedische Sprache keinen anderen, konventionell auch in der dritten Person anredenden Imperativ besitze, wie die deutsche, aber ihm klang's trotzdem, als liege in diesem » Far väl!« auch ein deutsches »Leb' wohl!«, die Sprache der Vertraulichkeit, der nächsten Zugehörigkeit, wie kein anderer Mund auf Erden, vor Allem der eines Weibes sie ihm je entgegengetragen. Durchnäßt traf er m seinem Hause ein, aber er fühlte sich so gesund, so lebensvoll, so jugendstark, daß er in lautem Monolog des Arztes spottete, der ihn noch länger als krank betrachten und an's Zimmer fesseln gewollt. Vom Frührot überstrahlt wachte er auf und sah gegen das Himmelsblau Träume vor sich gaukeln, die ihm die Nacht gebracht und genommen und ihm nur als ein namenloses, süßes Sehnen und klopfenden Herzschlag hinterlassen. War das die nämliche, freudlose Welt, die gestern um ihn gelegen, von der er nichts erwartete, nichts verlangte – und was hatte sie mit einem Zauberschlage verwandelt? Er sprang auf und wollte seine Arbeit beginnen; aber aus den Blättern der alten Bücher dufteten Syringen zu ihm auf, und er warf sie zur Seite. Er mußte hinaus, es erdrückte ihn, wo der goldene Frühlingshimmel nicht über ihm war; er lief in den Wald und hörte die Vögel jauchzen, und er zürnte der Sonne, daß sie so unsagbar langsam zu ihrer Mittagsheimat hinaufstieg. Dann endlich – seine Uhr sagte, die Schicklichkeit erlaube es jetzt – und er stand wieder unter den blauen Syringenwogen und klinkte mit zitternder Hand das kleine Gartenpförtchen auf. Zwischen dem grünen Laub sah er Asta's weißes Kleid schimmern, sie wandte ihm halb den Rücken und hielt einen frisch gebrochenen Blütenstrauß in der feinen durchsichtigen Hand, die genau von der Farbe und Gestaltung war, wie sein Gefühl sie gestern abend erschaut, wie – er wußte es jetzt plötzlich am stockenden Herzen – wie einer der Träume zur Nacht sie ihm auf die Stirn gelegt hatte. Sie sah und hörte ihn nicht, bis sein Fuß dicht hinter ihr im Weg aufknirschte, da wandte sie sich um und fuhr wie erschreckt zurück und blickte ihm halb ängstlich ins Gesicht. Auch er grüßte nur stumm, denn ihm versagten vor ihrer lieblichen, sonnumflossenen Anmut die Worte, bis sie zögernd fragte: »Zu wem, mein Herr –? ich glaube. Sie täuschen sich –«. – »Ich weiß, daß ich es nicht tue, doch Sie scheinen den halben Landsmann über Nacht schon ganz vergessen zu haben, Fräulein Asta,« fiel er nun heiter ein. Sie schrak diesmal bei dem ersten Klang seiner Worte unverkennbar leicht zusammen, denn die Blumen glitten ihr aus der Hand, und die Stirn, unter der ein unsicherer Blick beinah scheu über sein Gesicht streifte, etwas zurückbiegend, antwortete sie langsam: »Sie sind Robert Lindström –?«

Doch er verstand die Frage nicht – o, noch lange nicht. Er lachte: »Ich vergaß, daß unsere Bekanntschaft sich gestern Abend nur auf das Gehör erstreckt hat, doch wenn der Mond mir auch nicht eine Minute lang geholfen, hatte für mich das Ohr fast hingereicht, mir Ihr Bild auch so vor die Augen hinzustellen, wie ich es jetzt sehe.« Asta Ingermann errötete leicht und erwiderte ungewiß: »Die Einbildungskraft ist bei dem Einen fähiger als bei dem Andern – mein Ohr hätte Sie auch aus Tausenden erkannt, Lindström –«

Die Mutter kam vom Haus her und Asta eilte ihr entgegen und sprach leise einige, es schien bittende Worte mit ihr. Dann trat Frau Ingermann auf den Wiedergekehrten zu, bot ihm die Hand und sagte: »Es freut mich herzlich, Sie so bald wieder bei uns zu sehen. Sie überhaupt mit meinen Augen zu sehen,« und auf ihre Aufforderung ging der Gast mit ihnen in das freundliche Häuschen, sah die anheimelnden Räume, in denen die beiden Frauen ihr stilles Dasein verbrachten, und dann saßen sie wieder zusammen auf der Bank unter den Syringen, wie alte Freunde nach dem vertraulichen Ton ihres Gesprächs, der freimütigen Rückhaltslosigkeit, mit der sie sich gegenseitig den bisherigen Verlauf ihres Lebens, seiner Ereignisse und Empfindungen aufschlossen. Asta saß auf der nämlichen Stelle wie am Abend zuvor, nur fiel statt des Mondes jetzt die Sonne über sie, nicht auf ihr Gesicht, nur auf einen Teil ihres weißen Kleides, doch trotzdem mußte der Widerschein sie blenden, denn sie hielt zumeist die langen, dunklen Wimpern tief herabgesenkt, und besonders immer wenn Robert Lindström in längerem Zusammenhange sprach, hörte sie mit geschlossenen Augen zu. Dann nickte ihr Kopf wohl leise für sich hin und es ging ein Lächeln über die seinen Linien ihres Mundes, das hastig zerrann, wenn sie die Lider wieder öffnete und fast schwermütigen Ausdrucks dann einen flüchtigen Blick über den Verstummenden hinschweifen ließ. Mehr als eine Stunde ging so wie im Fluge vorüber, sie verschlang mit zehnfachem Einschlag der Sympathie das seltsam geknüpfte Band zwischen den sich gestern noch unbekannten Menschen; als Robert Lindström Abschied nahm, sagte Frau Ingermann herzlich: »Wir hoffen nun nicht mehr Freunde zu werden, wir sind es schon, wie denn die beste Freundschaft sich zumeist in kürzester Zeit findet und erkennt, und ich denke, so lange Sie in unserer Stadt bleiben, Lindström, werden Sie keinen Tag zu Ende gehen lassen, ohne daß wir Sie auch hier bei uns gesehen.« Er stimmte freudig zu und versetzte, auf das Mädchen blickend: »Wenn auch Sie einwilligen, mich täglich hier zu haben, Fräulein Asta –«. Sie sah an ihm vorüber, schloß dann, indem sie ihm ihre Hand darreichte, plötzlich wieder wie von der Sonne geblendet, die Augen und entgegnete mit unverhehlter Wärme: »Gewiß, dem Freunde gilt auch meine Bitte.« – »Und zu welcher Zeit des Tages?« fragte er, »darf ich am Besten –?« Nun fiel das Mädchen ihm rasch in's Wort: Meine Mutter hat gebeten, Sie möchten keinen Tag zu Ende gehen lassen – lassen Sie uns immer das Ende des Tages zusammen verbringen, wenn Ihre Zeit es so erlaubt. Die Sommernächte sind so köstlich, und es hört und spricht sich so traulich schön in der Dunkelheit.« –

Ja, die Sommernächte waren köstlich. Wenn nur die Sterne funkelten oder der Mond, kaum Licht ausgießend, wie ein Kahn über dem schwarzen Schattenriß des Waldes in der Unermeßlichkeit schwebte. Wenn der Wind in den unsichtbaren Baumwipfeln säuselte, ein Wetterschein bleich und bläulich manchmal am fernen Horizont dahinging. Die Syringen waren verschwunden, und Rosenduft zog allabendlich durch die Dunkelheit des Gartens. Asta Ingermann hatte wohl Recht gehabt, es sprach und hörte sich gut so im tiefen, weichen Schatten der Sommernacht. Sie zog die Stimmen und die Seelen zueinander; sie schloß die Herzen auf, deutete den Wert des Geistes und des Gemütes. Wie eine Blume, die erst nach dem Untergang der Sonne ihren duftenden Blütenkelch ausbreitet, entfaltete Asta in dem schleierüberwebten Dämmerlicht der täglich-abendlichen Zusammenkunft den stillen Reichtum ihres Denkens, ihrer Empfindung, aber ihrer Stimme Klang redete deutlich, daß sie nicht kam, um zu sprechen, sondern um zu hören, nicht um zu geben, sondern um beglückt zu nehmen. Und traumhaft zog allmählich die Sommernacht nicht nur die Gedanken, sie zog heimlich auch die Hände zueinander, daß sie sich in holder Vertraulichkeit umschlossen und stumme Spreche in die Worte der Lippen dreinredeten.

Es war zu dunkel, als daß die Augen der Mutter es zu sehen vermocht hätten, doch sie empfand es ungesehn, den verschlungenen Händen konnte kein Zweifel darüber bleiben, aber sie erhob keinen Einspruch dagegen, suchte nicht die beiden Hände zu trennen. Mit mütterlicher Zärtlichkeit hing sie selbst an Robert Lindström, sie blieb zurück, wenn die Tochter den Gast bis an die Pforte des Gärtchens begleitete und erst dort von ihm Abschied nahm.

Dann, eines Abends so an der Pforte, ihre Hand in der seinen haltend, sagte er mit bebender Lippe: »Ich komme morgen nicht, wenn der Tag endet, Asta, sondern zum erstenmal früh, wenn er begonnen, und gehe erst zu Deiner Mutter und dann zu Dir – weißt Du weshalb? Soll ich kommen?«

Ihre Hand zitterte, ein Schauer rann durch sie hin und ihr Mund schwieg. »Du antwortest mir nicht – soll ich kommen, oder gehen, um nicht wieder zu kehren, Asta?« wiederholte er.

Er hatte einen Schritt durch die Pforte getan, nun griff sie erschreckt nach seinem Arm und flüsterte hastig, wie mit ängstlicher Bitte: »Nein, bleib', – komm morgen – doch wie heut', wie immer –«

»Um Dir zu sagen –?«

»Ja – doch sag's mir dort auf der Bank – im Dunkel, Robert –«

Sie ließ ihn los und ging eilig zurück, und er hörte einen schluchzenden Ton, den sie zurückdrängte. »Warum im Dunkel, was man sich für den ganzen hellen Tag des Lebens sagen will?« dachte er. Doch erklärend fügte er sich hinzu: »Ein Mädchen ist ein wunderliches Rätsel, sie will nicht gewahren lassen, daß die Wange glüht, wenn die Lippe ja spricht.«

Aber die Umstände fügten, forderten es anders. Als Lindström in seine Wohnung kam, fand er einen Brief vor, der ihn zur Ordnung wichtigster Angelegenheiten dringend und unaufschiebbar nach einem ziemlich entfernten Ort abberief. Er schwankte, ob er am Frühmorgen Asta mündlich noch Mitteilung von seiner Reise machen oder sie schriftlich benachrichtigen solle; nach einigem Zaudern tat er das letztere. Doch wie er die Feder in der Hand hielt, wollte sie sich nicht mit der kurzen Anzeige begnügen, sie fügte Alles hinzu, was sein Herz erfüllte, was der Mund am andern Tage zu sprechen beabsichtigt; auf einem zweiten, an die Mutter gerichteten Blatte warb er in förmlicher Weise, doch herzlichen Wort's um die Hand ihrer Tochter. Dann reiste er ab, und in dem Ort, wo seine Angelegenheit ihn zu verweilen zwang, erhielt er die Doppelantwort auf seinen Brief. Ein doppeltes Ja – freudig schrieb die Mutter, daß sie es lang geahnt und keinem Manne das Glück ihres Kindes so ruhig vertraue. Asta's Brief war von zehnfacher Länge, doch ihre zierliche Handschrift unebenmäßig, als ob sie oft abgebrochen und wieder begonnen. Auch der Grund dafür leuchtete aus den Zeilen hervor. Mit jedem Neubeginn der Worte fand sie neuen Wert und Vorzug des Geliebten; er war ihr einem gelesenen Buche gleich, aus dem sie sich alle Einzelheiten bis in's Kleinste zurücklief und sich mit jeder Vermehrung der Summe beglückter von dem Glück, es als Eigentum zu besitzen, überzeugte. Sie schrieb, daß sie ihn schon an jenem ersten Abend geliebt, wo der Zufall ihn fremd zu ihnen unter die blühenden Springen geführt und seine Stimme ihr, wie keine, heimatlich in's Herz hinabgeklungen. Daß sie keinen Mann auf der Welt lieben könne und werde, als ihn. Daß sich für sie nichts Höheres, Köstlicheres erträumen lasse, als immerdar im Dunkel neben ihm zu sitzen und auf den warmen, herzvertrauten Klang seiner Worte zu lauschen. »O komm' so, Robert,« schloß sie, »wenn wir uns zuerst wieder sehen« – sie hatte das letzte Wort durchstrichen und »begegnen« an die Stelle gesetzt – »und Deine Asta wird so glücklich sein, wie je eine Braut es auf Erden war.«

Es war der erste, doch nicht der letzte Brief, den Robert Lindström empfing, denn seine Abwesenheit verlängerte sich weiter hinaus, als er gedacht, und fast jeder Tag brachte ihm ein neues Zeugnis stets erhöhter Liebe und Sehnsucht, mit der Asta Ingermann seine Heimkehr erwartete. Dann traf er eines Abends spät, in seiner Wohnung ein, vermochte nicht zu schlafen und schlief doch gegen den Morgen ein, um erst im Volllicht des Vormittags zu erwachen. Eilig flog er den bekannten Weg hinab, der Wald stand jetzt leicht mit gelbem Schimmer untermischt, denn der Sommer wollte scheiden und hinter dem Gartenpförtchen wiegten bunte Astern ihre Sterngesichter im milden Sonnenlicht. Er war um einen Tag früher gekommen, als er's für möglich gehalten, so daß ihn niemand erwartete; er wollte, freute sich auch zu überraschen. Und da gingen die beiden Frauen auch, ohne ihn wahrzunehmen, ahnungslos drüben auf einem Gartenwege, Asta im hellen Morgenkleide, anmutiger denn je, denn sie trug ihr goldlichtes Haar unbefangen in der Einsamkeit gelöst, daß es ihr Gesicht gleich dem eines Madonnenbildes umrahmte und lang leuchtend auf den Rücken und die Schultern herabfiel. Robert Lindström konnte seine Lippen nicht bändigen, er mußte ihren geliebten Namen ausrufen: »Asta!« und sie hörte es und fuhr zusammen, und er vernahm, daß im nächsten Moment die Mutter halblaut, doch in einem eigentümlichen Tone sagte: »Mut, mein Kind, es muß einmal sein, dann ist's vorüber.« Nun wandte Asta Ingermann sich und kam auf ihn zu, aber obwohl die Sonne hinter ihr stand, wieder wie von den Strahlen geblendet, mit geschlossenen Augen. Sie streckte beide Hände vor und lächelte glückselig: Robert – –«. »Du weißt ja gar nicht, ob er es wirklich ist, Kind; so sieh ihn doch an,« ermahnte die Mutter mit dem sonderbar muteinflößenden Tone von zuvor. »O, mein Herz kennt seine Stimme,« erwiderte sie, aber sie gehorchte, öffnete langsam die Lider und sah ihm zwei Sekunden lang in's Gesicht. Dann lief ein Schauer tödlicher Blässe wie der Bote einer Ohnmacht über ihr Antlitz, sie stieß einen jammernden Schrei aus: »O Gott, Mutter, ich kann's nicht – nimm mir meine Augen!« und die Hände über ihre Stirn schlagend, warf sie sich besinnungslos vor einer Rasenbank zu Boden.

» Far väl – –!« Es war noch ein anderes Wort, das durch Robert Lindströms im Irrsinn hämmerndes Gehirn zuckte, als er zum letztenmal unter dem verblühten Syringenwall hin den Weg zur Stadt hinabschwankte. Aus seinem Gedächtnis kam es ihm herauf, von kaltlächelnder Lippe gesprochen, Wort für Wort, wie Tropfenfall auf weißglühendes Metall: Willst Du das Warum wissen, so befrage irgend ein Mädchen, zu dem Du Vertrauen gefaßt hast, notabene wenn es kein Krüppel, keine Blinde oder höchstens keine Einäugige ist.«

Es vergingen einige Tage, dann erhielt Robert Lindström die Anzeige, daß Asta Ingermann einem redlichen, achtungswerten Manne, der ihr Vater zu sein vermocht hätte, und dessen Werbung sie schon einmal abgewiesen, ihre Hand gereicht habe, sie heiratete ihn bald darauf und –«

*

Das Novellenmanuskript Erich Billrods brach plötzlich am Ende des letzten Blattes mitten im Satze ab, ich schlug den Bogen nochmals um, doch es war nichts mehr vorhanden. Nachdenklich sah ich über den Rand des vergilbten Papiers vor mich hinaus, die Goldstäubchen tanzten nicht mehr auf und nieder im Zimmer, denn die Septembersonne war bereits untergegangen, und nur eine einsamliche Abendhelle lag noch über den Wänden, Büchern und Bildern des großen Gemachs. Auch über Erich Billrods leicht ergrauendem Scheitel – nun drehte er den Kopf und ich wich mit einer mir selbst nicht recht erklärlichen Befangenheit seinem auf mich gerichteten Blicke aus. Dann sagte er gleichgültig:

»Ich bin fertig. Hat das Machwerk Dich amüsiert, Reinold Keßler?«

»Du weißt selbst, das Wort ist kein Ausdruck dafür,« entgegnete ich unschlüssig. »Mir ist's eher, als hätte ich eine Tragödie gelesen.«

Er lachte: »Welche den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen zermalmt. Du kommst erst kurz von der Schule und hast Deine Klassiker noch für den nötigen Gebrauch im Kopf.«

Ich mußte halb verwirrt etwas erwidert haben, daß der Schluß der Erzählung fehle, denn Erich Billrod stand auf, ging einigemal im Zimmer hin und wieder, blieb vor mir stehen und versetzte:

»So will ich Dir ein Anrecht auf Mitarbeiterschaft gönnen, ich bin nicht eitel auf meinen Autorenruhm. Schreib' an den Rand: Robert Lindström ging in die Welt hinaus, ein Jahrzehnt lang oder so, und als er zurückkam, war Asta Ingermann einige Jahre, nachdem sie ihrem braven Manne ein Kind geschenkt hatte, gestorben. Da setzte er sich hin and schrieb gelehrte Bücher, um sich auch ein Verdienst an der Menschheit zu erwerben. Mich däucht, der Schluß wäre so künstlerisch abgerundet genug – aber schreib' ihn auf den Rand von den alten Blättern da, nicht auf ein neues!«

Er ging wieder auf und ab, und mir gingen ebenso wunderlich, fast wie in einem Traum die Gedanken. War es Erich Billrod oder Robert Lindström, der da stumm vor mir hin und wieder schritt. Ohne es zu wissen, sprach ich nicht wie von dem Gebild einer Dichtung, sondern wie von etwas wirklich Gewesenem, indem ich sagte:

»Asta Ingermann muß schön – ich meine in eigener Art lieblich gewesen sein.«

»Du kannst Dich überzeugen.« Erich Billrod stand still und öffnete ein geheimes Schubfach seines Schreibtisches. »Jeder Künstler arbeitet nach einem Modell, ich hab's deshalb auch getan, wenn ich auch nicht hoffen kann, daß meine Darstellung der Wirklichkeit sich würdig erweist.«

Er legte ein kleines, in Pastellfarben gemaltes Medaillonbrustbild eines wundersam lieblichen Mädchengesichtes vor mich hin. Das goldene Haar flockte sich leicht auf der weißen Stirn, und die hellen, grauperlenden Augen blickten wie lebend den Beschauer an. Ja, das waren die Züge, das Antlitz, das dem hellen Tonklang ihrer schönen Heimatssprache geglichen.

»Asta Ingermann –« sagte ich, und ich sah mit einem Blick, der mein Verständnis aussprach, zu Robert Lindström auf. »Und doch fasse ich nicht, daß das Herz unter diesem weißen Brusttuch die Augen nicht zu beherrschen vermochte –«

»Die Ausnahmen bestätigen die Regel,« fiel er mit bittrem Klang ein, »und Liebe ist eben nicht immer blind.«

»Doch echte, wahre Liebe –?« erwiderte ich – »dies Mädchenantlitz muß täuschen – die Sprache seiner Augen ein trügerischer Schein gewesen sein.«

Erich Billrod riß heftig das kleine Bild aus meiner Hand. Er zauderte einen Moment und schloß die halb geöffneten Lippen wieder zusammen; dann versetzte er kurz:

»Du solltest von dem Bilde mit etwas mehr Pietät reden, Reinold Keßler, denn es war Deine Mutter.«

*

Ich schloß die Tür Erich Billrods hinter mir und trat in den von leiser Dämmerung überwebten Garten hinaus. Hochaufatmend; die Luft drinnen hatte mir heut die Brust beengt, und wie vor halber Bewußtlosigkeit der Sinne und Gedanken kreisten die Dinge um mich her durcheinander.

Das also war die Lösung des Rätsels eines Jahrzehnts, der unbegriffenen Liebe Erich Billrods für mich, für Asta Ingermanns Sohn, der nur um zweier Augen willen nicht Reinold Lindström hieß, sondern Reinold Keßler. Deshalb hatte er mich nach seiner Rückkehr aus fremden Landen aufgesucht, über meinem Leben gewacht, war mir Lehrer und Erzieher gewesen, wie nur ein Vater es dem eigenen Kinde zu sein vermag. Ja, rückempfindend war's mir jetzt, als ob er zu mancher Stunde, in träumerische Vergessenheit gewiegt, mich wirklich als sein Kind betrachtet habe.

Doch warum besaß in den letzten Jahren sein Mund, sein Blick manchmal plötzlich etwas Herbes für mich? War es die Erinnerung, die ihm bei manchem Anblick zurückkam, ihm den bitteren Schmerzensstachel neu ins Herz drückte? Weshalb aber hatte sie früher seine Zärtlichkeit für mich nicht unterbrochen, als das Gedächtnis der qualvollen Vergangenheit noch lebendiger, ungestümer in ihm gewesen? Es regte das Gefühl, als liege ein Teil des Rätsels trotzdem noch überschleiert und weigere seine Lösung.

Ein heißer, neuer, bis zu dieser Stunde unbekannter Wunsch war plötzlich in mir erwacht, das Bild meiner Mutter zu besitzen. Aber ich empfand zugleich, Robert Lindström würde es für nichts auf der Welt fortgeben, und ich dürfe ihn nicht einmal darum bitten, denn er habe mehr Anrecht darauf, als der Sohn Asta Ingermanns selbst.

Ich wollte mich durch die Gartenpforte auf die Straße hinauswenden, als aus dem Zwielicht der Ruf meines Namens ertönte. Es war Magda's Stimme, und sie kam, so eilig sie's vermochte, heran, legte ihren Arm in den meinen und zog mich mit sich den Gartenweg hinunter. »Du warst hier und wolltest so fortgehen?« sagte sie vorwurfsvoll, »das wäre doch zum erstenmal gewesen. Jetzt hast Du's noch leicht, im nächsten Jahr wird's Dir schon mehr Mühe machen.«

»Warum, Magda?« fragte ich fast gedankenlos.

»Weil der Arzt gestern hier war – Du dachtest für den Abend wohl nur an Deine große Gesellschaft und kamst deshalb nicht, sonst hätt' ich Dir's gestern schon erzählt – und der sagte, wir müßten, wenn der Frühling wiederkomme, um meiner Gesundheit willen, auf die Insel hinausziehen. Es ist ganz töricht, denn ich bin ja so gesund wie ein Mensch es nur sein kann, und eigentlich meinte es der Doktor auch gar nicht so sehr, sondern der Onkel Billrod brachte ihn erst durch allerhand Vorstellungen und griechische Namen, glaub' ich, dahin, daß er zuletzt sagte, es sei unumgänglich notwendig. Da war die Großmama in ihrer Sorglosigkeit natürlich auch überzeugt, aber ich hätte mich mit dem Onkel Billrod, wenn er nicht in die Gesellschaft fortgemußt hatte, beinah erzürnt, so ärgerlich war ich.«

»Ich hätte mein sanftes Schwesterchen erzürnt sehen mögen – und was sagtest Du ihm, Magda?«

»Er sei recht häßlich – sag' mir, Reinold, es fiel mir bei dem Wort zum erstenmal auf« – sie hielt einen Augenblick inne und sah' mir in's Gesicht – »findest Du nicht auch, daß der Onkel Billrod in Wirklichkeit ungewöhnlich, beinah abschreckend häßlich ist?«


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