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Erstes Kapitel

Non scholae, sed vitae discimus. Was haben wir für das Leben gelernt, wenn wir die Schule verlassen?

Ein ganzes Kapital des Wissens, mit Recht so benannt, da wir es in capite aufgespeichert. Wir wurden heimisch am Skamander, am Piräus und am Tiber und wären befähigt, in jedem Augenblick die Führung eines ›schönumbordeten Meerschiffs‹, ja vielleicht das regelrechte Kommando auf einer Trireme zu übernehmen. Wir wissen, daß Sokrates ein großer Denker und Cicero ein Vorbild aller Redner war, die Menschheit ein nicht wieder erreichtes Blütealter zur Zeit des Perikles besessen, Dichtung, Kunst und Allgemeinbildung jener Periode den Gipfelpunkt denkbarer Vollkommenheit darstellte. Allein, wir wissen auch, daß dies alles nur so lange der Fall ist, als wir uns auf den Standpunkt archäologisch-philologisch-klassischer Betrachtung stellen, von dem aus die gleichzeitige Geschichte und Entwicklung des israelitischen Volkes uns als ein rohes Conglomerat von Mangel jedes Kunstsinnes, von niedrigster politisch-sozialer Ordnung und Barbarei anwidern muß. Doch erheben wir uns zu der gereinigten Anschauung, zu der wir als Christen, als Bürger nicht dieser eitlen, irdischen Vergänglichkeit, sondern jenseitiger ewiger Herrlichkeit verpflichtet sind, so erkennen wir Palästina als das im hervorragenden Sinne so bezeichnete heilige Land, seine Bewohner als das auserwählte Volk Gottes und die Griechen als sittenverderbte Heiden, ein Bild schwarzer Nacht, berufen, uns die aus dem Morgenland aufsteigende Leuchte der Menschheit – lucem ex oriente – durch den Gegensatz noch glanzesvoller erscheinen zu lassen. Wir gewahren, daß Sokrates ein abscheulicher Irrlehrer, das Fatum der antiken Dichtung ruchlose Blasphemie, die plastische Kunst sündhafter Sinnenreiz war. Wir befinden uns in dem nämlichen Doppelverhältnis, wenn wir die Ausbeute, unserer Religionsbelehrungen mit derjenigen des naturwissenschaftlichen Unterrichts vergleichen. Es ist ungemein schätzbar, sich angeeignet zu haben, was menschliche Forschung über den Ursprung, die Fortbildung des Weltalls, über die darin herrschenden Gesetze ins Licht der Wissenschaft gerückt hat, doch unter der Voraussetzung, daß wir nie vergessen, die einzig wahre, für Christen nutzbare Urkunde aller dieser Dinge befinde sich in den Büchern der Genesis. Die letzteren enthalten das Wissen, welches den Menschen achtbar hinstellt, ihn zu einer sittlichen Lebensauffassung, zur Erreichung einer höheren Daseinsstufe unter den Wesen der Schöpfung befähigt; die ersteren Kenntnisse besitzen einen gewissen praktischen Wert, befördern die Reifung des Verstandes und bilden eine Mitgift, der die Schule im irdischen Interesse ihrer Zöglinge nicht unbeträchtliche Bedeutung beilegen muß. Von so vielen Gegenständen höchsten Gewichtes in Anspruch genommen, vermag sie begreiflicher Weise der Frage, in welchen Zungen heute die verschiedenen Völker reden, keinen besonderen Wert zuzumessen, da sie bereits zwei Dritteile ihrer Zeit auf die gründlichste Erlernung vor einigen Jahrtausenden ausgestorbener Sprachen verwendet, und ebenso faßt sie natürlich, was nach dem Vandalismus der Völkerwanderung noch auf dem Erdball geschehen, in einige diktierte Jahreszahlen zusammen, in der pädagogischen Erkenntnis, daß alle sogenannte neuere oder neueste Geschichte nicht den Anspruch erheben kann, den Bildungselementen genauester Detailberücksichtigung des zweiten peloponnesischen Krieges die Wage zu halten. Eine Ausnahme bildet selbstverständlich – in protestantischen Landen – nicht vom historischen, sondern vom christlichen Standpunkt aus, die Geschichte des Reformationszeitalters, die sich als eine Fortsetzung der direkten göttlichen Einwirkung und Gnadenbeteiligung an den Geschicken der Menschheit unmittelbar als Supplement an den Text der heiligen Schrift anschließt. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Zwillingsschwester der Geschichte, der Geographie, ist die Frage wohl berechtigt, ob das Gymnasium etwa den Beruf habe, Seefahrer, Nordpol- und Afrika-Forscher oder Handlungsreisende auszubilden, und es genügt jedenfalls für das christliche Bedürfnis nicht nur, sondern ist ihm der beste Wegweiser in die eigentliche Heimat, wenn es auf dem Gebiet der Erdkunde ausschließlich mit topographischen Messungen, Schilderungen und Namensreichtümern zwischen dem Jordan, Nazareth und Emaus ausgerüstet wird. So, schwer beladen mit der Ernte mehr denn eines Decenniums – dreier Olympiaden durchschnittlich – besteigt der Abiturient an feierlichem Tage die rostra, das Katheder der zum erstenmal seit einem Semester wieder geöffneten, doch nicht gelüfteten Aula des Gymnasiums, in welche der Rektor ›Eltern, Vormünder und Freunde der Schule zu dem festlichen Akte geziemendst eingeladen‹ – und nachdem er seinen Dank für alle, so lange Zeit hindurch erlittenen Wohltaten, seine Hoffnung, daß es kommenden Geschlechtern nicht anders ergehen werde, in ciceronianischen, vorher approbierten Wendungen ausgesprochen, entläßt ihn der Lenker seines bisherigen Daseins, ›der all' dies Herrliche vollendet‹, mit der rührungs- und segensreichen Schlußapostrophe: ›Nun ziehe mit Deinem Kapital, das unsere väterliche Sorgfalt Dir in capite angesammelt, in die Welt hinaus, mein junger Freund – Du hast nicht scholae, sondern vitae gelernt – also nutze jetzt die Zinsen Deiner Dir zugeteilten Schätze für das Leben!‹

So verließ ich zum letztenmal den von mir zwölf Jahre lang Tag um Tag mit ausgetretenen roten Ziegelflur des Gymnasiums. Etwas roter Mehlstaub wirbelte von den Steinen in die Höh', ich bückte mich vor der Tür und schlug ihn von den Füßen. Draußen lag die dumpfe, enge, altbekannte Gasse der alten Stadt, doch eine neue Welt.

*

Eine neue Welt: Das Leben, die Freiheit, die Erwartung. Drei Namen ahnungsvollen Klanges, den kunstreich nachgebildeten, lockenden Früchten gleich, unter deren Schale die Hand des Verfertigers unbekannten süßmundenden, berauschenden Inhalt verborgen. Die Erwartung des Köstlichsten, die Freiheit, es zu suchen und zu genießen, das Leben, dessen Beginn diese Stunde erst gebracht. Auf dem Meere der Jahre, dem immer gleichen Wogenschlag der Tage hatten wir bisher wie die Ruderer auf den Bänken einer altrömischen Trireme dem Ziele entgegengestrebt; nun lag die Hafenbucht mit weißglänzenden Palästen, mit Olivenhainen, Palmen, nickenden Lorbeerwipfeln, mit glühenden, phantastischen Blüten in verschleierter Ferne unter schimmerndem Himmel vor uns, und der Fuß sprang an's Land. Einige Schritte lang ging der Boden noch leise unter ihm auf und ab; dann nach kurzer Weile hatte der Fuß die Sicherheit gewonnen, als ob er nie genötigt gewesen, sich den ungewissen Bewegungen der schwankenden Planke anzupassen.

Vielleicht bedurfte es bei mir erst etwas längerer Gewöhnung, während Fritz Hornung und Philipp Imhof mit beneidenswerter Schnelligkeit vollständige Behauptung des Gleichgewichts in ihrer neuen Stellung an den Tag legten. Imhof hatte dem Pedellen – doch nicht mehr dem alten Kähler, auf dessen Grab der Winter schon einige Male eine Schneedecke gelegt – am Morgen des ›feierlichen Aktes‹ einen neuen Seidenfilzhut modernster Fasson zur Aufbewahrung überbracht und vertauschte ihn, als wir die Aula verließen, mit der bis dahin vorschriftsmäßigen Primanermütze. So schritten wir, während er zart violet angehauchte Glacéhandschuhe anzog – »man trägt gegenwärtig in der großen Welt nicht anderes als violet,« bemerkte er, – zusammen die Gasse entlang, und Fritz Hornung lachte: »Wenn Tix – abera – mir heut nachmittag begegnet – abera – und ich das Gossenrecht habe, so werfe ich ihn herunter – hmabera – abera.«

»Also nach unserer Verabredung,« sagte Imhof, sich an der Ecke des Marktes, zu einem Besuch von uns trennend, »erweist Ihr mir das Vergnügen, heute abend auf meinem Hotelzimmer ein kleines Abschiedssouper bei mir einzunehmen. Wir werden ganz entre nous sein und Ihr braucht Euch in der Toilette nicht zu genieren. Ich habe meine Abreise auf morgen mittag festgesetzt und möchte gern, eh' ich in eine so völlig anders geartete Welt eintrete, noch einmal in ungezwungener Weise unsern alten Kreis bei mir versammelt sehen.«

Er grüßte, indem er seinen Zylinderhut halb gegen uns lüftete, wir sahen ihm nach, wie er in vollendeter Gentleman-Haltung und Nachlässigkeit die Straße entlangschritt, Fritz Hornung brach in ein lautes Gelächter aus:

»Du, großartig ist er, Reinold, jeder Zoll ein Großhändler. Aber das schadet nichts, schmecken soll es mir darum doch bei ihm heut abend, und wenn er uns Maränen mit Sub-, Kon- und Direktor-Fleisch – abera – gemästet vorsetzte. Freigebig ist er immer gewesen, das muß der Neid ihm lassen, in den letzten Jahren allerdings besonders mit Narrheit, und wenn er morgen abreist, will ich mir einen Knoten ins Taschentuch binden, daß ich übermorgen noch einmal an ihn denke. Aber wer weiß, wenn alle Stricke reißen, kann ich noch Dütendreher oder Sackträger bei ihm im Geschäft werden; die Schultern habe ich dazu, und wenn's mit der juristischen Pudelmütze, in die mein Alter mich partout hineinstecken will, nicht geht – eh' ich aus Lebensüberdruß ins Wasser spränge, müßte der letzte Nero oder Caro oder Schoßmops, dem ich einen Knochen abjagen könnte, von der löblichen Polizei ausgewiesen sein, und daß ich mir bei'm Rasieren mit dem Messer auch nicht der Kehle je zu nah komme, darauf kannst Du Dich verlassen. Uebrigens will ich mir meinen Bart stehen lassen, wär's auch nur um alopex, pix, Tix damit zu ärgern – abera – daß er nicht mehr sagen kann: Hornung, Ihr Kinn weist nicht die Glätte eines modesten Jünglingsangesichtes auf – hm-abera – Sie gehen entweder heute zum Barbier – abera – oder morgen in den Karzer – abera. – Es ist doch eine himmlische Luft, beides nicht mehr nötig zu haben, Reinold, und wir beiden sind im Grunde schon ausgemachte Philister, daß wir hier ruhig auf der Straße fortgehen, statt den Leuten Rad über die Köpfe weg und zwischen den Beinen durch zu schlagen. Na, ich will's den lieben Vettern und Basen schon ad oculos demonstrieren, daß sie sich einigermaßen irren, wenn sie mich für einen Philister ansehen. Auf die Mensur! Fertig! Los! Eugen Bruma zuerst – was wettest Du – zehn Faß Bier – daß ich ihm im dritten Gang die Theologie verhauen habe? Du hast ja auch noch ein altes Huhn mit ihm zu rupfen, einen ganzen Truthahn, wegen der Geschichte mit dem Judenmädchen damals. Ich muß übrigens sagen, eine Jüdin wäre nicht mein Fall. Wenn ich mich einmal verlieben sollte – wie's zugehen sollte, weiß ich freilich nicht – dann müßt's eine Semmelblonde mit indigoblauen Augen sein, ungefähr so wie ich selber – so hübsch, pausbäckig und apfelrund von Gesicht meine ich natürlich auch. Vorderhand will ich mich aber erst mal in die Frau Teutonia verlieben, die eine blau-weiß-goldene Mütze auf dem Kopf und eben solches Band über der Brust trägt. Du springst doch auch bei den ›Teutonen‹ ein? Unsinn, Du wirst doch kein Obscurant bleiben wollen, wie Bruma? Ich habe nur die Angst, der feige Patron nimmt keine Forderung an, aber dann warte ich die erste Gelegenheit ab und prügle ihn. Ein durchgebläuter Superintendent wäre auch nicht übel und ich würde schon dafür sorgen, daß seine Augen an der Grundfarbe mit Teil hätten, und einmal nicht nach rechts oder links in die herrliche Gottesnatur – wie Doktor Pomarius sagen würde – hinaussehen könnten. Du schläfst heut nacht noch in dem Apfelhof, nicht wahr? Ich habe mir gottlob meine Bude so gemietet, daß ich gleich heut schon einziehen kann – was ich sagen wollte und beinah' über dem Trennungsschmerz von Tix – abera – vergessen hätte – unter mir im selben Hause sind parterre zwei Zimmer frei geworden, die ausgezeichnet für Dich passen würden. Das Beste wäre, Du kämest gleich mit, um sie anzusehen, und dann können wir oben bei mir, während ich mich einrichte, noch gemütlich schwatzen.«

*

Philipp Imhof erwartete uns in einem mit Teppichen und roten Sammetmöbeln ausgestatteten Hotelzimmer. Er saß, als wir eintraten, die Abendzeitung in der Hand haltend, ganz schwarz gekleidet in einem Fauteuil, trat uns mit leichter Kopfverneigung entgegen, zog seine goldene Uhr hervor und sagte: »Es freut mich, daß ihr präzise seid; darin liegt wirklich ein Vorzug kleinstädtischer Gewöhnung, auf den man sonst kaum mehr rechnen darf.« Ein elegant für drei Personen gedeckter Tisch mit einem Blumenstrauß und mehreren entkorkten Flaschen nahm die Mitte des Zimmers ein, das von einem feinen Parfüm durchzogen war. »Wonach riecht's hier denn so, sind das die Blumen?« fragte Fritz Hornung. »Ich habe etwas Esbouquet aussprengen lassen,« erwiderte Imhof, »man zieht es gegenwärtig allem Sonstigen vor.« »Ein Bouquet zum Essen? danke, Früchte wären mir lieber,« lachte Fritz Hornung. Er stand und sah auf seine Füße nieder: »Du, Imhof, man zieht wohl auch die Stiefel bei Dir aus, damit man gegenwärtig nicht ebenfalls auf Blumen tritt?« – »Man sollte glauben, oder Du stellst Dich wenigstens, Hornung, als kämest Du vom Lande.« – »Na, den Appetit habe ich jedenfalls davon mitgebracht, darauf verlass' Dich!«

Die Tür öffnete sich, ein befrackter Kellner erschien mit Schüsseln, fragte nach den weiteren Befehlen Imhofs und verschwand wieder. Wir setzten uns an den Tisch und begannen zu essen, Fritz Hornung mit halb lachlustigen, halb innerlich vergnügt glänzenden Augen. »Das wirft der Wechsel für's erste nicht wieder ab,« sagte er, zugreifend. Eine uns völlig fremdartige Atmosphäre lag über der Tafel mit den Kerzen in silbernen Armleuchtern, nur Philipp Imhof befand sich an ihr offenbar wie in steter Daseinsgewohnheit. Er streckte nachlässig die Hand nach einer Flasche, nannte uns den französischen Namen der verschiedenen Weine, und fragte, für welchen wir mehr Neigung besäßen. »Für alle, der Name ist mir ganz gleichgültig,« antwortete Fritz Hornung, »ich trinke von jedem. Solcher Tag kommt sobald nicht wieder, und bei Onkel Pomarius gab's nur eine Etikette, die hieß Gänsewein.«

» Fi donc, erinnere nicht daran,« fiel Imhof ein. »Darf ich bitten, wir werden bei'm Fisch zum Rheinwein übergehen.«

Fritz Hornung tat nach seinen Worten, er trank von jedem; ich glaube fast, wir andern machten es ebenso, Speisen und Flascheninhalt verminderten sich in demselben Verhältnis, wie die Gesprächigkeit sich vermehrte. Der Tisch ward, beinahe ohne daß wir es wahrnahmen, abgeräumt, nur der Wein und allerhand Früchte verblieben; selbst Imhof ward allmählich beredter, weniger förmlich zurückhaltend und gedachte lang vergangener Jahre, unserer steten Gemeinsamkeit und manches Streiches, den wir zusammen verübt. Es kam etwas von Rührung in seine Stimme, das in halb wunderlichem Gegensatz zu seiner tadellosen Frisur, Wäsche und Kleidung, zu dem gelblichen Hautton seines Gesichtes stand, er hob das Glas und sagte:

»Stoßt an, wir wollen uns nicht vergessen! Wollt Ihr mir das Vergnügen machen, heut über zwei Jahre hier wieder mit mir zusammen zu kommen? Eure Hand darauf!«

Wir versprachen's bereitwillig. »Hier der Geheime Regierungsrat, Exzellenz in spe,« lachte Fritz Hornung, »und dort der berühmte Professor der Naturwissenschaften, Nachfolger Humboldts und Leuchte der Menschheit, Reinold Keßler.« Er schlug Imhof auf die Schulter und fuhr fort: »Der gute Kerl von ehedem steckt doch noch in Dir, Philipp, Du hast ihn nur ein bischen närrisch verkleidet in den letzten Jahren. Er ist etwas tief untergekramt worden, so daß ein derartiges Spülwasser nötig wird, um ihn wieder herauf zu schwemmen. Erst wenn der Wein Dir Deine Fixfaxen von Großstadt, Toilette, seinem Ton und sonstigem Unsinn aus dem Kopf bläst, erkennt man den alten Kameraden wieder. In vino veritas, bei Dir und mir – Offenheit ist das Beste unter Freunden, und ich wäre nicht wert, Deinen famosen Wein hier zu trinken, wenn sein Geschmack meine Zunge nicht gradaus sagen ließe, was ich denke. Ob's nach Deinem Geschmack ausfällt, weiß ich nicht, aber Du kannst's mir ebenso machen. Runde Wahrheit, was denkst Du von mir?«

Imhof lächelte und stieß an das Glas, das Fritz Hornung ihm entgegenhob. »Daß Du ein guter, treuer Bursche bist, Fritz, nicht gerad' für die feine Welt geschaffen und manchmal nicht vom besten Geschmack, aber mit Kopf und Herz vielleicht zu ehrlich für die Welt, wie sie ist –«

»Hoho, das heißt, ein bischen dumm,« fiel Fritz Hornung mit fröhlichem Gelächter ein. »Danke für das Kompliment, ich habe meine Talion weg. Und Keßler, wie steht's mit dem? Sag' auch von ihm Dein Sprüchlein, Imhof, und fürcht' Dich nicht!«

Philipp Imhof drehte mir seinen Blick zu und maß mich eine Sekunde lang damit. Es waren die alten Augen aus Knabenzeit, mit denen er mich ansah, und er versetzte leicht zögernd:

»Das ist schwerer zu sagen, denn in Reinold steckt ein X, mit dem eine Kaufmannsseele, wie ich – so wolltest Du mich doch eigentlich heißen, Fritz – nicht ganz zu rechnen weiß. Er wird so wenig gegen jemanden in der Welt unredlich handeln, wie Du, aber ich glaube, es könnte ihm vorkommen, sich selbst zu übervorteilen, um nicht zu sagen, sich zu betrügen, und sich einmal so fest zu rechnen, daß sein Fazit überall in die Brüche ginge. Ihr seid närrisch, Ihr beiden Zukunftsgelehrten, daß Ihr einen Thebaner oder Wollsack, wie man's moderner nennt, um seine Meinung fragt. Unsere letzte Flasche ist leer; gebt Ihr Röderer oder Cliquot den Vorzug?«

Das Letzte fragte er wenigstens versuchsweise wieder mit großartiger Nachlässigkeit in Ton und Gesichtsausdruck. Fritz Hornung rief: »Da hast Du auch Dein Dreifuß-Orakel, Reinold, wenn nicht aus Delphi, so doch aus Böotien. Ich bleibe meinem Wahlspruch treu: Immer beides!«

Wie lange er diesem Wahlspruch an dem Abend treu blieb, war auf die Minute gewiß nicht und auf die Stunde nur höchst unvollkommen anzugeben. Wir tranken zwei verschiedene Sorten Champagners, und da dies unfraglich aus verschiedenen Flaschen geschah, hatte es auch seine völlige Richtigkeit, wenn ich zwei silberne Hälse vor mir gewahrte. Nur sagte mir eine dunkle Empfindung, da wir den Wein nacheinander und nicht durcheinander zu uns nahmen, so müsse ich eigentlich auch die dickbäuchigen Flaschen nach- und nicht nebeneinander auf dem Tisch stehen sehen. Aber dieser logischen Annahme schlug die Tatsächlichkeit hartnäckig ins Gesicht, und zuletzt tat ich, was man jedem Augenschein-Beweise gegenüber am besten tut, ich nahm das Faktum an, ohne mir über die Möglichkeit desselben weiter den Kopf zu zerbrechen. Der Schaum brauste auf und die Lippen schlürften ihn fort; die perlenden Goldbläschen stiegen aus der Tiefe des Kelchglases und flimmerten, Gerede und Gelächter, Geschwätz und Geschwirr tummelten sich in gleicher Weise durcheinander. Fritz Hornung fing ab und zu an, ein Studentenlied zu singen, daß Imhof sich mit komischer Schreckgeberde sich die Ohren zuhielt, » Abominadle. Du hast so viel Gehör, wie ein alter Kater, Fritz!« – »Auf die Stimme kommt's nicht an,« lachte der Sänger, »der Kater kommt erst morgen hinterdrein.« Dann hob Imhof ziemlich schräg sein Spitzglas und sagte: »Zu guter Letzt' – auf das, was wir lieben!«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, nickte erfahren-verständnisvoll und flüsterte ihm, anstoßend, zu: »Lydi, Philipp.« – Er trank, legte den Kopf in den Sessel zurück und sah mich mit halb ermüdet-blinzelnden Augen an. »Heut über acht Tage findet ein Diner in meinem elterlichen Hause statt, bei dem unsere Verlobung offiziell verkündet wird. Ich kann Euch schon im voraus eine Karte, die ich gestern hierher erhalten –«

Er griff in die Tasche und zog ein goldgerändertes Blatt mit den Namen:

Lydia Bandstätter
Phillip Imhof

hervor. Aber, als ob etwas durchaus Gewöhnliches, nicht weiter Beachtungswertes darin liege, fuhr er fort: »Worauf hast Du denn getrunken, Reinold?«

Die Frage besaß allerdings ihre Berechtigung, denn ich hatte ebenfalls mein Glas bis auf den letzten Tropfen geleert. »Worauf?« wiederholte ich, und ich sah auf die Verlobungskarte, deren Namen kurios mit den Buchstaben durcheinanderliefen, daß es mir vorkam, als stehe schon »Lydia Imhof« darauf. »Ja, worauf?« repetierte ich nochmals und noch verwirrter, denn ich fühlte, daß mir das Blut bei der unglaublichen Vorstellung ins Gesicht stieg, mein Name könne mich einmal mit einem andern zusammen von einer solchen Karte anblicken, und ich ergänzte halb stotternd: »Auf niemand –«

»Bei niemand wird man nicht rot,« versetzte Imhof lakonisch, doch Fritz Hornung fiel mit wuchtiger Stimme ein:

»Das ist Recht, ich habe auch auf gar nichts getrunken. Ein fixer Kerl bekümmert sich nicht um das Frauenzimmervolk mit seinem Haargeflatter und Französisch-Geschnatter. Mir kommt keine zu nah –«

Er streckte seinen kräftigen Arm aus, als wolle er, falls es dennoch eine tun solle, den Empfang andeuten, den er ihr bereiten würde, Philipp Imhof wandte ihm kurz die Augen in der Weise zu, wie er mich vorher einmal angesehn und lächelte: »Wenn's die Rechte wäre, die's drauf anlegte, so bin ich überzeugt, zappelte just Fritz am ersten wie ein ungeschickter Nachtschmetterling im Spinnennetz und käme nicht wieder los, eh' sie ihm das Blut ausgesogen. Die sind ihre leichteste Beute, welche meinen, daß es keine gefährliche Spinnen in der Welt gibt, weil sie, wenn plötzlich ein Feuer vor oder in ihnen auflodert, wie die Schafe gradeswegs hineinrennen.«

Es lag etwas wunderlich altklug sich Ueberhebendes und doch auch wirklich Ueberlegenes in Wort und Ton, daß mir das unwillkürlich anfangs sich heraufdrängende Lachen in der Kehle sitzen blieb. Fritz Hornung war aufgesprungen und rief mit komischem Pathos:

» Dodona iterum locuta est! Wenn Du uns nicht all die Flaschen hier ponirt hättest und ein Fuchs statt eines angehenden Geldmarders wärest, Philipp, müßte ich Dir für die Schafe einen aufbrummen. So aber, glaube ich, brummt's uns allen genug im Kopf – also gute Nacht – guten Morgen, mein' ich – Du hast dafür gesorgt, daß ich morgen den Tag über an Dich denken werde, so lang' der Jammer blüht, und bist doch ein famoser alter Kerl, Philipp – 's ist auch ein Jammer, altes Haus, daß Du fortgehst und ein Geldfuchs werden willst – na, man kann Dich mal anpumpen, dann hört man von Dir. Heut über zwei Jahre also hier in dieser Stube wieder, ich werde vierundzwanzig Stunden vorher darauf hungern und dursten – gehab' Dich wohl, ich will Tix – abera – es rührt mich zu Tränen, wenn ich's denke – wenn ich an alles denke, wie gute Freunde wir waren und was für ein jämmerliches Leben Du mit Deiner Lybierin – Lysippe – Lysimache – wie sie heißt – auf Euren Geldsäcken führen wirst – ich muß Dich umarmen, armer Kerl – nimm meinen Segen –«

Fritz Hornung wischte sich noch die Augen, als er und ich draußen Arm in Arm die mondscheinhelle Gasse entlangwanderten. Er war zu meiner heimlichen Verwunderung plötzlich um einen halben Kopf kleiner als ich und antwortete, als ich schließlich diese überraschende Wahrnehmung nicht mehr zurückhalten konnte, schluchzend: »Das kommt vom Gram, Reinold, es frißt mir das Herz ab und schrumpft mir natürlich auch den Leib zusammen – ein so guter Kerl, der Philipp – und ein so unglückliches Geschöpf – weiß Gott, man muß darüber weinen. Nun hab' ich keinen mehr, als Dich, Reinold – ich muß Dich auch umarmen –«

Wie er die Anstalt zu diesem Vorsatz traf, war er auf einmal wieder gewachsen und in gewohnter Weise etwa um Fingerbreite höher als ich. Es ging nicht anders, ich mußte meinen Kopf anstrengen und über das Rätsel nachdenken; dabei sah ich vor mich hinunter und brach dann in ein Gelächter aus. »Ich glaube, Fritz, Du hast auf dem ganzen Weg die Gosse für den Trottoirstein gehalten und darum schrumpftest Du ein –« »Ich glaube es nicht nur, Reinold, ich hör' es leider, der Wein ist Dir zu Kopf gestiegen,« gab er zur Antwort. »Du bist zu sehr an Onkel Pomarius' Gänsewein gewöhnt, das muß anders mit Dir werden. Nimm Dich in Acht, der Schuft bringt Dich sonst noch, eh' Du mündig bist, um alles, was Dir Dein Alter –«

Aber die Rührung übermannte ihn wieder, er brach schluchzend ab: »Bleib' mein Freund, Reinold! Gib mir einen Beweis Deines Vertrauens zu mir! Was liegt Dir auf dem Herzen? Soll ich Tix – abera-ra – ohrfeigen oder soll ich den feigen Bengel, den Bruma, auf krumme Säbel – halloh, die Beine werden einem auch krumm auf diesem schiefen Straßenpflaster –«

Er hielt sich an meinem Arm, mir schoß seiner Vertrauensforderung gegenüber etwas wie eine Freundesverpflichtung durch den Kopf. »Ich würd's Keinem als Dir sagen, Fritz,« erwiderte ich.

»Was denn? Wem soll ich einen dummen Jungen aufbrummen?«

»Keinem, Fritz. Aber ich habe mein letztes Glas auch auf jemand getrunken, auf Aennchen.«

»Kännchen kenn' ich, aber Aennchen, Männchen, was für eine Gläserart ist das?«

»Ein Kristall mit frischem Wasser,« lachte ich. »Eigentlich heißt sie Anna.«

»Auch ein Frauenzimmer? Du –?« Er starrte mich im Mondlicht mit groß aufgerissenen Augen an. »'s ist richtig, Du hast von Kindheit auf immer mit dem Mägdevolk zusammengesteckt. Wie hieß die Jüdin noch, die sie aus der Stadt wegjagten? Aber von einer Anna hab' ich nie gehört, ich meinte, Dein Gänseblümchen – Maßliebchen wollt' ich sagen – hieße Magda –«

Ich mußte innerlich lächeln. »Magda ist meine Schwester –«

Doch Fritz Hornung hörte nicht mehr. »Was sagtest Du – frisches Wasser? Hör' 'mal, ich glaube, das ist die beste Idee, die Du in Deinem Leben gehabt hast. Sieh' Dich 'mal um, der Mond ist heut' so dumm wie eine abgeriebene Citrone – mir kommt's vor, irgendwo hier herum muß meine Bude sein. Von morgen an ist's ja auch Deine – da ist der Schlüssel, damit Du ihn kennen lernst – tu' ihn nur 'mal irgendwo in die – die – die herumkrabbelnden Mauselöcher da hinein. Ich hätt's wahrhaftig nicht gedacht – Du kannst's noch, ohne daß ich Dir zu helfen brauche. Also heut' über zwei Jahre, Reinold – was schwatzest Du für Zeug – morgen Vormittag, hol' mich zum Häringsfang ab, und sag' Deinem Apfelhöker zum letztenmal von mir –«

Die Tür schloß sich hinter ihm, ohne daß ich erfuhr, welchen Gruß ich Doktor Pomarius bringen sollte, und ich wanderte allein durch die hellen, hallenden Straßen weiter. Wie mir's schien, zum erstenmal in meinem Leben um diese Zeit, und gewiß zum erstenmal in dieser Gemütsverfassung. Sagte man, daß der Wein die Beine schwer mache? Mir war's zum Fliegen leicht und ich hörte nur an dem rundlaufenden Echo meines Fußtritts, daß ich nicht wirklich flog. Auch die Gedanken gingen wie auf Flügeln durch Zeit und Raum – hatte ich wirklich auf Aennchen, auf Anna Wende getrunken, als Imhof gesagt: »Auf das, was wir lieben?« Auf jemand, den oder die ich vermutlich im Leben nie wiedersehen würde? Die ich vielleicht nicht einmal mehr kennen würde, wenn sie jetzt plötzlich vor mir stünde? Aber auf wen sonst hätt' ich bei solchem Wahlspruch anstoßen sollen?

Es war wunderlich, wie das Leben sich drehte. Da stand Anna Wende noch deutlich mit ihrem goldblonden Haar, ihren blauen Augen und rotblühenden Wangen; aber sie blieb unbeweglich aus dem nämlichen Fleck, tat keinen Schritt weiter, und überall anderswo rann sie in leere Luft.

Oder drehte sich vielleicht nur das Leben, sondern ein klein wenig auch etwas in meinem Kopf?

Nein, ich dachte völlig klar. Auf Magda Helmuth, meine Schwester, hätte ich nach Fritz Hornung's Meinung das Glas leeren sollen? Auf das still, immer in gleicher Weise emporgewachsene, fröhlich-schwermütige Mädchen, den weißen Schmetterling, der immer noch wie einst im Schatten flog? Es gab nichts, was ich nicht für sie getan, freudig für sie hingegeben hätte – mein Leben selbst – aber wie würde sie über Fritz Hornung's Glauben gelacht haben, ich könne ein solches Glas mit ihr in Verbindung bringen! Das alte runde Stadttor lag hinter mir, und die Lindenallee tat sich auf, seltsam am Boden gestreift, silberweiß überglänzt und von dunklen Schatten der dicken Stämme durchzogen. Ich sprang über die imaginären schwarzen Gräben fort, mir war's, als würde es ein Unglück bedeuten, wenn ich einen der Schatten mit dem Fuß berührte. Dann schlug es plötzlich von meinem alten, jetzt unsichtbaren Freunde her ein Uhr, ich versah mich bei dem unerwarteten, dumpf hallenden Tone im Sprung und stand mitten in einem der wesenlosen dunklen Querbalken. Aber zugleich faßte mich schon eine andere Erinnerung und lenkte die Gedanken weit ab. Wie ich aufblickte, erkannte ich, daß es genau die nämliche Stelle war, an der ich einst Lea's gelbes Kleid von den beiden Buben verfolgt im Zwielicht vorüberflattern gesehen. Dort hinunter lag das Weidengestrüpp, in das sie sich geflüchtet, wo ich ihr zur Hülfe kam. Der Mond leuchtete so hell, daß es aus dem Wiesengrund bis hieher heraufschimmerte.

Wo war sie geblieben? Ich hatte nie wieder von ihr gehört. Auch über sie hatte das Leben sich schon gedreht und der Pflug den Zaun, in dem das Golddrosselnest gestanden, umgebrochen.

War es Unrecht, daß ich so selten mehr an sie gedacht? Ja, ich empfand's heut' Nacht, sie hatte es nicht um mich verdient und von allen Menschen einzig an mir mit ihrem sonderbaren, vollen Herzen gehangen. Aber eine Reue trat zwischen ihr Angedenken und mich, etwas, worüber ich mir selbst lange gezürnt, was ich noch heut' nicht vergessen konnte. Daß ich sie in jener Nacht im Carcer auf ihr Bitten »Schwester Lea« genannt – es war eine Versündigung an Magda gewesen, die mich noch jetzt – wie sollt' ich's nennen – mit einer Abneigung erfüllte, an Lea zu denken.

O, eine höchst sonderbare Welt, wenn man sie so im Großen und Ganzen, wie im Einzelnen und Allerspeziellsten überschlug. Eine durchaus närrische Welt, die Spaß daran fand, im Mondschein bald langsamer und bald schneller auf und ab zu tanzen – aber im Grunde hatte Fritz Hornung Recht, man besaß vielleicht noch mehr Anlaß über sie zu weinen, ohne daß es grade nötig schien, sich über ein konkretes Warum dafür klar zu werden.

Ich stand an der Pforte, die in unsern Garten führte. Das Bett war doch unfraglich eine der vollkommensten Erfindungen, auf welche die Menschheit in ihrem fortschreitenden Entwicklungsgange verfallen war. Wenn Einer vor zweitausend Jahren hier so gestanden hätte, wäre ihm nur die Wahl geblieben, unter welchem Baume er sich hinlegen und mit Laub zuscharren wolle.

Ja, die Menschheit ging vorwärts, wenn sie auch ab und zu einmal etwas zur Seite oder gar wieder zurück sto – stolperte.

Freilich, Er hätte vor zweitausend Jahren vermutlich keinen Bordeaux, Hochheimer, Röderer und Cliquot getrunken und insofern –

»O Du lieber Gott, Herr Keßler, wie lang' sind Sie ausgeblieben! Ich dachte schon – und wie wunderlich sehen Sie aus den Augen, Reinold –«

»Ja, und insofern, Tante Dorthe, hätte Er das Bett ja auch nicht so nötig gehabt.«

Leuchter und Licht schwankten in dem Rahmen der auf mein Klopfen geöffneten Haustür in der Hand der grauhaarigen Trägerin bedenklich, wie erschreckt, hin und her. »O mein himmlischer Vater,« stieß sie aus, »ich glaube, das Bett ist für Sie sehr nötig und Sie sind – Sie haben –«

»Es ist das Licht, Tante Dorthe – das Licht hat zu viel Hochheimer getrunken – es hält sich nicht ganz grade –«

Die Alte hatte meinen Arm gefaßt und zog mich mit sich. »Um Gotteswillen, komm', Kind – der Herr Doktor ist noch auf, daß er Dich nicht hört und Dir nicht begegnet!«

»Kommt mir gar nicht drauf an, Tante Dorthe –« Doch im selben Augenblick wirkte das Knarren einer Türangel merkwürdig ernüchternd auf mich ein. Doktor Pomarius tauchte im Schlafrock, Hauskäppchen und mit der langen Pfeife in der Hand vor mir im Gange auf, und mir war es plötzlich, als schrumpfe ich jetzt zu winziger Quintanergestalt zusammen, die im Vollbewußtsein ihrer Verstocktheit, Verderbtheit und Strafbarkeit dem vernichtenden Richterspruch entgegensähe oder vielmehr scheu die Augen von ihm abwende. Doch mit lächelnder Miene trat Doktor Pomarius auf mich zu, warf einen kurzen Blick über mich hin und sagte:

»Haben Ihre Studien mit einem vergnügten Abend begonnen, mein lieber Herr Keßler? Recht so, man muß das Leben genießen, so lange man jung ist. Nur kein Duckmäuser sein, leben und leben lassen! Freut mich, habe es von Ihnen auch nicht anders erwartet. Unter Freunden allein gewesen oder waren kleine Freundinnen dabei? Haha, Jugend hat keine Tugend! Wird etwas kostspielig werden, aber nachher öffnen Ihre Talente Ihnen ja auch ohne Vermögen eine glänzende Bahn. Lassen Sie nur stets alle Rechnungen an mich eingehen, ohne Scheu, wenn sie auch nicht immer für Herrenbedürfnisse sind, und schlafen Sie noch einmal recht angenehm unter meinem Dache aus!«

Die Welt war offenbar in stärkerer Drehung denn je begriffen, und da mein Bett zweifellos mit zu der Welt gehörte, konnte ich es ihm nicht zum Vorwurf machen, daß es sich mit ihr runddrehte.


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