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Der Juni hatte seinen guten Ruf an der Nordsee, daß er andauernd heitere Tage bringe, bewährt, doch unterließ nicht, heut' zu zeigen, er stehe keineswegs unter der Botmäßigkeit des höchsten Sonnenstandes, sondern sei unabhängig, nach eignem Belieben seine Sommertracht zu wechseln und sich auch in völlig andrer darzustellen. So lag er jetzt düster gewandet über der Insel, durchzog schon am frühen Nachmittag mit Schattenfäden die Luft, daß der Blick auf Neuwerk kaum von einem Gehöft zum andern hinüberreichte, nur dämmernd noch den Umriß der Wurften unterschied. Aus Westen trieb der Wind lückenlos unermeßliche Wolkenmassen daher; zu dem grauen Regenvorhang, mit dem sie das kleine Eiland umbreiteten, gesellten sich von ihnen abgelöste, große, tief heruntersinkende Nebelfetzen, gleich flatternden Laken das Oberstück des Leuchtthurms umschlingend, sich drum verwickelnd und losgerissen wieder weiter treibend. Keinen Zweifel erlitt's, nicht die Nordsee erzeuge dies übergewaltige Gedränge am Himmel, es entstamme von weiter her einer unerschöpflichen Vorrathsansammlung des atlantischen Oceans, das Gefühl regend, Tage, vielleicht Wochen müßten vergehn, bis der Wanderzug der dunklen Kühe Wodans, als welche die ersten Ansiedler an diesen Küsten die Wolken aufgefaßt, sein Ende erreiche.

Schon einmal, noch im Mai, hatte Arnold Lohmer auf der Insel solchen Umschlag der Lichtfreudigkeit zu halbnächtlicher Trübseligkeit erlebt, doch als er, nach einer Anzahl von Stunden aus dem Schlaf erwachend, aufstand und seine inzwischen leidlich getrockneten Kleider wieder anlegte, stellte sich seinem durch's Fenster hinausgehenden Blick das draußen Sichtbare noch anders als damals vor Augen. Keine braunen Rinder hoben sich belebend von dem grünen Weideland ab, aber auch dieses selbst lag um mehr als die Hälfte verschmälert; die Flut war wieder eingetreten und hatte, vom Wind gejagt, das Wasser bis etwa auf hundert Schritt vom Unterrand der Wurft heraufgehoben. Mit rohrendem Gemurr wälzten sich die Wellen, da und dort weißgelben Schaum aussprühend, über die verschwundenen Grasflächen; dem Beschauer kam's aus der Odyssee, so schilderte die alte Dichtung das Schattenlicht um das stygische Gewässer, ›ganz von Nebel umwölkt und Finsterniß‹, über das Odysseus auf den Befehl der Kirke zum Reich des Aïdes hinuntergefahren. Doch kurz nur verweilte die Vorstellung des Angekleideten bei dieser Vergleichung; in ihm selbst trieben Gedanken und Empfindungen wie eine wogende Flut, ließen ihn auf die der See als auf Gleichgültiges nicht achten. Der Schlaf hatte ihm etwas gebracht, von dem er sich zwar nicht mit klarer Auffassung angeben konnte, was es sei, aber es war da, unveränderlich, und eine Befreiung seiner Brust ging davon aus. Sie athmete nicht mehr mühsam, wie während der Heimfahrt von der Düne her, sondern leicht; ein sonderbares Gefühl erfüllte ihn, über dem schweren Wolkengetriebe ständen die Sterne in leuchtend Pracht, wohl gegenwärtig für seine Augen noch nicht wahrnehmbar, doch sie seien vorhanden, er müsse nur warten, bis sie strahlend vom geklärten Himmel herabgrüßten. Eine Weile blieb er noch am Fenster stehn, stieg dann die kurze Treppe hinab. Die Diele unten lag schon beinah in völligem Dunkel, auch aus der Küche her fiel kein Lichtschein; bei starkem Wind wurde nach altem Brauch in allen Häusern das Herdfeuer ausgelöscht, und so war's heute geschehn. Nur auf dem Tisch der Wohnstube brannte in einem schüsselartig breitausgebauchten Messingleuchter eine Talgkerze, deren am röthlich schwälenden Docht aufzüngelnde Flamme kaum ihren Flackerschein bis an die Wände hinwarf. In der Hochsommerzeit war's ein winterliches Bild, wie der Gast es hier noch nicht vor Augen gehabt, die Weltabgeschiedenheit der kleinen Erdscholle im Meer sah ihn draus an. Bei seinem Eintritt saßen Hadlef und Belke nebeneinander auf einer Bank, wohin sie sich zum Besprechen einer Sache zusammengesetzt zu haben schienen; der Alte stand jetzt auf, begrüßte den jungen Arzt, ihm die Hand reichend, und sagte: »Hast Du die Augen eine Zeit zugemacht? auf dem Wasser macht's sie müde. Zurück habt ihr's nicht gut gehabt und seid unnöthig in den Regen gekommen. Se will em nich, denn is dato jo nix mehr to seggn.«

Offenbar hatte Age, wohl auf ein Befragen von ihren Großeltern, kundgegeben, daß sie nicht Anlof Follrichs Frau werden wolle; ihr mocht's mit Vorbedacht herausgekommen sein, um von vornherein seiner angekündigten Hierherkunft und Werbung einen festen Riegel vorzuschieben. Augenblicklich trat sie selbst zur Herrichtung des Abendtisches ein, so daß Hadlef vom Gegenstand seines letzten Sprechens abließ und dranknüpfte: »Du willst morgen wieder nach Hamburg, Doctor, hab' ich gehört. Bei der schlechten Witterung giebt's hier für Dich natürlich lange Zeit. Awers röwer kümmst Du wul nich, wie kriegt öwer Nach Storm, dat keen Seil rut kann.«

»Glaubst Du, daß der Wind noch stärker wird?« Arnold wandte nach der Frage seinen Blick dem Mädchen zu und fügte drein: »Mir wär's nicht bange davor, wenn Age mich hinüberbringen will. Sie muß den Entscheid thun.«

»Du sagtest's mir, daß Deine Braut auf Dich wartet. Da gieb nur an, wann Du fahren willst; ich habe Dich hergebracht und bringe Dich auch wieder zurück.«

Sie erwiderte es gleichmüthig, schien nicht an eine gefahrdrohende Verstärkung des Windes zu glauben, doch der Alte sagte bedachtsam: »Da kommst Du wieder durchnaß nach Cuxhaven, Docter, der Regen hört vor morgen Abend nicht auf.«

Der Kopf des Mädchens machte eine unwillkürlich stutzende Bewegung. Arnold Lohmer flog mit einem lachenden Ton vom Mund: »Davon hab' ich freilich heute genug gehabt! Meinst Du, daß er nicht eher aufhört? Dann will ich's mir doch noch bedenken.«

Länger als eine Woche war vergangen, seitdem im Gegensatz zu der Zeit vorher kein Lachen mehr über die Lippen des Sprechers gekommen, zum erstenmal klang's wieder fröhlich von ihnen auf und überraschte sichtlich Age Terwisga als etwas Unerwartetes, fast wie Unverständliches nach seiner schweigsamen Wortkargheit während der langen Heimfahrtstunden. Sie verließ die Stube wieder, ihrer Obliegenheit weiter nachzugehn, doch dauerte es ungewöhnlich lange, eh ihr Zurückkehren die abendliche Kost fertig herrichtete. Dann indeß saßen alle um den Tisch, und die heitre Gemüthsstimmung Arnolds offenbarte sich gleicherweise in seinem Sprechen und Thun. Den Speisen zugreifend, sagte er: »Ich spür's, daß ich gestern Abend zuletzt gegessen habe. Du ebenso, Age – ich glaube, unser Korb ist auf der Düne stehn geblieben, wir hatten's zu eilig – hast Du nicht auch Hunger?« Die Befragte antwortete kurz: »Ja,« doch entsprach diesem nur wenig durch ihre Betheiligung an der Mahlzeit, regte bei dem geringfügig von ihr über die Lippen Gebrachten den Eindruck, daß sie sich Zwang anthue. Die Talglichtflamme schweifte in der unablässig durch die Fensterfugen dringenden Zugluft, und auch kaum unterbrochen knarrte und knackte das Gebälk von rasch sich folgenden Windstößen; ab und zu scholl dumpf aus dem Stall ein unruhiges Aufbrüllen der Rinder herüber. Nach der Beendigung des Essens ging Hadlef einmal vor die Thür hinaus und sagte zurückkommend: »Die Nacht ist wie eine Krähenfeder, man sieht nicht die Hand vor'm Gesicht.« Halb ohne Wissen entflog Arnold drauf, was er seit seinem Aufwachen seltsam im Gefühl trug: »Aber die Sterne sind drüber und warten, daß der Wind die Wolken verjagt.« Das verstand der Alte nicht, sondern versetzte: »Nee, de Wind däh dat nich, wenn nich de Vullmaan ok weer. To sehn is nix vun em, awers he is da.« Welchen Sinn dies habe, begriff jetzt der Hörer seinerseits nicht und achtete auch nicht drauf, daß Hadlef hinzusetzte: »Na, wi sünd jo nich in'n Harvst, üm de Sünnwendtid geiht dat wul vörbi.« Arnold hatte nichts draus entnommen, als das Wort ›Vollmond‹, das ihm die Erinnerung an den gestrigen Abend aufweckte und die weißbeglänzte Düne wieder wie leibhaft vor die Augen stellte. Dazu hörte er das Sprechen von zwei Stimmen, seiner eignen und der seiner nächtlichen Gefährtin; sie redeten laut und schnell gegeneinander, denn eigenthümlicher Weise brachte ihm das Gedächtniß grade den Zwist, der sich zwischen ihnen entsponnen, zurück. Den thörichten Streit, als ob plötzlich aus der Luft eine Zanksucht über sie gekommen, um ein Nichts, um sein von ihr behauptetes Ungeschick bei dem Herstellen der Schlafstätte für sie. Darüber hatten sie sich wie zwei rechthaberische Kinder ereifert, sie den Anfang damit gemacht und er ebenso nicht abgelassen; deutlich klang's ihm wieder im Ohr, wie wenn sie beide von etwas gestachelt worden seien, den Hader immer weiter und immer lauter bis zur Entzweiung und zum Auseinandergehn fortzusetzen. So überaus sinnlos-närrisch war's gewesen und deshalb auch der Anlaß dem Mädchen nachher, als sie sich wieder zusammengefunden, völlig aus dem Gedächtniß entfallen. Arnold Lohmer mußte bei der Erinnerung dran plötzlich einmal lachen, denn seit heut' Nachmittag hatte er die verlorene Fähigkeit dazu zurückgewonnen.

Dann stand er wieder allein am offnen Fenster seiner Kammer und blickte hinaus; die beiden Alten waren nach ihrem Brauch bald zur Ruh gegangen und ihre Enkelin, die sich nach der Rückkunft nicht zum Schlafen gelegt, wohl ebenso, da sie nach dem Abtragen des Eßgeräths nicht mehr in die Stube zurückgekommen. Der volle Mond, wenn auch fast um eine Stunde später heut aufgehend, mußte schon über dem Horizont sein, doch kein leisester Schimmer deutete die Stelle an. Ringsum lag schwarze Nacht, einer mit ungeheuren düstren Schwingen alles zur Unsichtbarkeit überdeckenden, fauchenden Rieseneule vergleichbar; ineinander mischten sich das stoßweise Schnauben des Westwindes und ein unterlaßloses rohrendes Gemurr des Flutwassers, das jetzt bis an den Fuß der Wurft heraufgeschwollen zu sein schien, die Nothwendigkeit der Erderhöhungen für die Häuser erkennen ließ. Arnold fühlte noch keine Müdigkeit wieder, doch wie mit erblindeten Augen dazustehn, war zwecklos; so schloß er das Fenster und legte sich, im Finstern bis in's Kleinste mit seinem Stübchen vertraut, zu Bett. Der Schlaf kam ihm nicht, aber er verlangte auch nicht danach; in vollstem Maß anders war's, hier in der Lichtlosigkeit wachend zu liegen, als im Mondglanz auf der Düne, doch nicht minder eigenschön, Vorstellungen heraufgestaltend und belebend. Wechselnd kamen sie und flossen, wie von wandernden Flußwellen weiter getragen, vorbei; er ging wieder unter den blühenden Kirschbäumen durch's Alte Land, die Bienen summten über ihm, und nun sagte Johann Heinrich Voß von diesen: »Mit den Bienen hatte Haining es viel in seinen Liedern.« Denn er war in das Otterndorfer Schulhaus gekommen, saß dort am Tisch, und der jugendliche Rector knüpfte dran: »Auch der Odenhaining hätte gern ebenso mit seinem Röschen am eignen Tisch gesessen; schön hat er seine Sehnsucht danach kundgethan:

Unter Blüthen des Mai's spielt ich mit ihrer Hand,
Koste liebend mit ihr, schaute mein schwebendes
Bild im Auge des Mädchens,
Raubt' ihr bebend den ersten Kuß.«

Dazu bückte Voß sich, küßte seine Frau Ernestine auf die Lippen und begab sich davon, um seine Pfeife zu holen. Aber er kam nicht zurück, sondern Arnold trat zu Cuxhaven in Timm Stade's Krämerladen, dessen Thür sich gleich danach wiederum aufthat, eine weibliche Gestalt mit rothem Kopftuch über dunklem Haar hereinzulassen. Die blieb jetzt überall, ob um sie her auch ein häufiger Wechsel vorging; ein Bild war's, dessen Rahmen sich nur veränderte. Im Mondlicht hob es sich vom Steuersitz eines Bootes auf, wie aus weißgemähnten Wellen emporsteigend; dann schritt's in der Sonne auf endlos einsam umhergedehnten Sanden dahin; ein sonderbarer Nebel kam, verdeckte es bis zu den Schultern hinan und ließ, wie in einem Märchenvorgang, allein ein körperloses Antlitz durch die Luft schweben –

Weiter und weiter, sich aneinander reihend, zogen so kommende und zergehende Gesichte vor den offnen Augen des schlaflos Liegenden vorüber. Dazwischen hörte er den um's Haus tobenden Aufruhr, das Rütteln an den Pfosten und Schüttern des Mauerwerks, doch nicht wie nah um ihn her, sondern als sei's in einer weiten Ferne, habe mit seiner Lagerstätte nichts zu thun, vielmehr erhöhte es ihm das schöne Gefühl einer ruhevollen Beschwichtigung. Dann und wann nur sagte er sich, draußen auf der See nähme der Wind zu und hohes Flutgewoge überdecke jetzt strudelnd und schäumend alle Watten. Aber um etwas später ging er trotzdem auf diesen, nach Bernstein suchend, mit Age Terwisga; um sie rauschte das Wasser, ihnen bis weit über die Hüften hinauf, doch bekümmerte sie nicht, denn sie hatten an der Düne ihre Kleider abgelegt, und das Mädchen sagte: »Wenn's zu hoch wird, so schwimmen wir.« Beiden erschien's so naturgemäß, von dem Hochstand des Wassers geboten, wie sie sonst barfuß über die Sande wanderten, doch es bekundete, daß er schließlich nicht mehr bei wacher Besinnung verblieben, sondern von einer Traumtäuschung überkommen sei. Daraus gelangte er noch einmal durch einen heulend seine Giebelkammer anpackenden Windstoß zu halbem Bewußtsein und sprach vor sich hinaus: Ja morgen fahre ich nach Cuxhaven zurück.« Doch um ein paar Augenblicke später klang's nochmals von seinem Mund in's Dunkel: »Ich kann's ja nicht – der Sturm hat ja das Boot weggerissen.« Und die letzten Worte begleitete er mit einem lachenden Ton, denn ein Traum hielt ihn wieder im Bann.

Als er vom Schlaf aufwachte, durchgraute ein mattes Licht seine Stube, der schon seit Stunden angebrochene Tag glich dem vorigen, brachte statt der Morgenhelle nur graue Dämmerung. Sturmgepeitscht jagten am Himmel die Wolken, der Inselboden war vollständig verschwunden, das Wasser schlug rundum bis zum Unterrand der Wurft hinan; in eine kleine Aushöhlung an ihr heraufgezogen, lag schaukelnd das Boot, offenbar noch gestern von achtsamer Hand geholt und festgemacht, doch der Segelmast und die Ruder fehlten drin. Auch in einen Frühtraum Arnolds mußte es sich nochmals eingemischt haben, denn er nahm's mit einem verwunderten Blick gewahr und murmelte vor sich hin: »Ich meinte, es wäre weggetrieben und käme nicht mehr wieder.« Nun ging er hinunter, der Morgen war schon bedeutend weiter vorgerückt, als es schien; Belke Terwisga saß allein in der Wohnstube, doch nicht an ihrem Webstuhl, das trübe Licht reichte zur Arbeit dran nicht aus. Sie hatte durch's Fenster hinausgesehn, drehte bei seinem Eintritt den weißen Kopf um und fragte: »Bist Du's, Docter? Bei dem Wetter woll'n die Augen nicht recht mehr.« Er antwortete mit einem Scherz drauf, daß sie noch viel zu jung sei, um an eine Abnahme ihrer Sehkraft denken zu können, und fügte nach: »Die Flut geht hoch heute, so hab' ich sie noch nicht gesehn.« Dazu schüttelte indeß die Alte den Kopf: »Das ist nicht Flut, die kommt erst; das ist Ebbe, aber der Sturm läßt das Wasser nicht ablaufen und der Mond thut's auch mit.« Auf außergewöhnliche Vorkommnisse bei den ›Gezeiten‹ erstreckte die Kundigkeit des jungen Arztes sich noch nicht recht, und er erhielt auf sein Fragen jetzt Auskunft, daß zweimal im Verlauf des Monats, zur Zeit des Neu- und Vollmondes die Flut regelmäßig höher ansteige, am meisten um die Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr und Herbst. Dann heiße sie Springflut, weil es aussehe, als ob die Wellen in Sprüngen herankämen, und während des Winters bleibe das Wasser dann öfter auch bei der Ebbe über dem Weideland stehn; das thue dem Graswuchs durch die Wirkung des Salzwassers wohl Schaden an, bringe aber sonst für gewöhnlich keine Gefahr mit sich, wenn nicht zu der Springflut grad' noch eine Sturmflut hinzukomme. Merklich indeß lag Belke daran, mit Arnold von anderem als Ebbe und Flut zu sprechen, und sie ging bald auf das, was ihr die Gedanken erfüllte, den Mißerfolg der Fahrt nach Süderoog über. Darauf hätte er sich lieber nicht eingelassen, aber da es nicht zu vermeiden war, sprach er gradezu offen aus, auch nach seinem Dafürhalten sei's unmöglich, daß Age Anlof Follrichs heirathe. Wenn der auch ein braver Mensch sein möge, passe er doch in allem nicht zu ihr, die von der Natur feinere Art im Kopf und Herzen bekommen habe. Einer, der die nicht begreife und ihr darin nicht gleich wäre, dürfe nicht ihr Mann werden; um das zu können, müsse ihr Lebensgenosse einem andern Stand angehören, der die Anlagen in ihr zu höherer Ausbildung brächte. Darüber jedoch kennzeichnete sich ein Erschrecken im Gesicht der Alten, und in's Plattdeutsche verfallend, stieß sie aus: »Wahr' de Hewen se davör, Du meenst doch nich, Docter, dat se en Herrn inne Stadt heuern schull? Dat gaw jo nix as Unglück vör em un ehr – nee, dato kennst Du se doch nich lang nog, se is vun unsen Slag un mutt bi em bliwen. Dat weet se ok sülbn un is to klok, höger ut to wulln. Awers wenn se Anlof Follrichs nich will, weet ick keen mehr.«

Das Zwiegespräch nahm ein Ende, denn die Beredete trat herein; sie mußte das Herabkommen des Hausgastes von oben vernommen haben und brachte das Frühstück für ihn, ordnete es auf dem Tisch und fragte: »Wann willst Du fahren? Der Regen ist nicht mehr stark, in einem Oelrock kommst Du trocken nach Cuxhaven hin.« Doch Belke fiel ein: »Du büst jo wul snaksch, Deern, und mit dem linken Fuß aus dem Bett gekommen? Bei dem Sturm sollt' der Docter über's Wasser?«

Das Mädchen antwortete kurz: »Seine Braut wartet auf ihn,« und die Alte murmelte: »Brud her, Brud hin – sie will ihren Bräutigam doch lebendig wieder haben, da muß sie bei dem Wind noch warten.« Nun sagte Arnold lachend: »Ich glaube, Mutter Belke hat recht, warten lassen ist besser, als nicht am Leben zu bleiben; morgen wird der Sturm wohl vorbei sein.« Aus der Erwiderung sprach, daß er den Entscheid gefaßt habe, seine Wegfahrt von Neuwerk noch zu verschieben; Age versetzte nichts mehr, sondern ging wieder hinaus. Er blieb jetzt allein, denn gleich danach veranlaßte das jähheftige Schlagen einer Thür die Alte, ebenfalls davonzugehn, um nach dem Rechten zu sehen. Das Frühstück mundete ihm vortrefflich, er befand sich in freudiger Gemüthsstimmung, die wohl schon seit gestern Abend über ihn gekommen, doch deren Ursprungsgrund sich ihm erst während seines Gesprächs mit Belke klar erhellt hatte. Dabei war er ganz von der Erkenntniß und dem Gefühl durchdrungen worden, für das Lebensglück Ages Terwisga sei ihre Verbindung mit einem Manne aus gebildetem Stande unerläßlich und sein Hierhergerathen nach der Insel habe ihm als eine wichtigste Lebensaufgabe bestimmt, dies zur Ausführung zu bringen. Er mußte noch bleiben und rathschlagen, durch welche Vorgabe er die Großeltern bereden könne, das Mädchen mit ihm nach Hamburg fahren zu lassen; wenn das geschah, mußte der Plan vermittelst kluger Bedachtsamkeit seinen Fortgang zum Ziel nehmen. Im Geist ging er die Zahl seiner näheren jüngeren Bekannten durch; es ließ nicht Zweifel, die Schönheit und Eigenart Ages werde sie alle als etwas Neues, Unbekanntes anziehen, fesseln, sie ihnen über die lediglich zu einigen gewandten äußerlichen Manieren erzogenen, doch inhaltsleeren jungen Damen ihrer Gesellschaftskreise emporheben. Nur vermochte er sich nicht darüber schlüssig zu werden, wer von den in's Auge gefaßten ihm als der Wünschenswertheste erscheine, am sichersten die Erfüllung der Absicht, das wahrhafte Glück des Mädchens verbürge; seiner Vorstellung heftete sich nach verschiedenen Richtungen an jeden mehr oder minder ein Bedenken, keiner entsprach voll den vom Werth Ages bedingten Anforderungen. Doch war der Kopf Arnolds ganz von der ihm neu aufgegangenen Idee eingenommen, und er stieg wieder zu seiner Kammer hinan, um ungestört reiflicher über sie nachzudenken. Hier indeß ließ er zunächst von dem bisher Erwogenen ab, wandte sein Nachsinnen dem zuerst in Betracht Kommenden zu, durch welches Mittel er erzielen könne, daß Age Terwisga ihn nach Hamburg begleite. Daran schlossen sich unmittelbar andre Fragen, wo sie dort eine Unterkunft finden solle, und ihre Kleidung war für die Stadt nicht geeignet. In Bezug auf das letztere bedünkte ihn am rathsamsten, Ernestine Voß um Beihülfe anzugehn, das Nöthige in Otterndorf beschaffen zu lassen, und was die Wohnung betraf, so stellte sich ihm zunächst das Eschenhagen'sche Haus als das dafür bestgeeignete dar. Allein diesen Gedanken verwarf er ziemlich rasch wieder; das Wesen Lucindes paßte nicht zu dem des Mädchens, im Grunde waren beide völlig entgegengesetzte Naturen und würden schwerlich zu einer Annäherung aneinander gelangen. Auch er selbst würde nicht recht wissen, wie er sich im Hause seiner künftigen Schwiegereltern zu der von ihm dorthin Gebrachten verhalten solle; alles drin, das Benehmen, die Umgebung und Lebensführung, war so anders, als hier auf der Insel. Age mußte von Heimweh nach dieser befallen werden.

Uebte er denn aber auf sie selbst die Macht aus, ihre Zustimmung zu seinem Vorhaben, natürlich ohne Mittheilung des Zwecks, zu erreichen? Das bildete jedenfalls die Hauptfrage, der die übrigen erst nachfolgten. Ihren Eigenwillen hatte sie manchmal mit fester Entschiedenheit gezeigt und behauptet, hin und wieder sogar in einer fast schroffen Art; sie war im Innern zur Selbständigkeit veranlagt und in solcher aufgewachsen. Aber doch auch lag Biegsames in ihr, wo sie ein Vertrauen gefaßt, und Arnold trug als Gefühl in sich, zu ihm hege sie dies, wie zu Keinem sonst. Er hatte auf Süderoog bewiesen, daß er mit besserem Verständniß ihres Wesens und Werthes als die Großeltern für ihr Bestes bedacht sei, und beim Nachsinnen zerging seiner Empfindung alle Besorgniß, von ihrer Seite könne ihm ein unbezwinglicher Widerstand entgegengesetzt werden. So galt es also, auf ein Mittel zu denken, durch das er die Einwilligung der beiden Alten zu seinem Plan gewinne.

Unvermerkt gingen Stunden vorüber, während er dergestalt mit den Gedanken hin- und herschweifend am Fenster stand; wechselnde Bilder trieben vor seinen geistigen Augen vorbei, und er nahm erst zufällig einmal mit einem Niederblick der leiblichen gewahr, daß sich der Stand des Wassers unter ihm verändert habe. Offenbar hatte die Flut eingesetzt und hob jenes wallend und quirlend jetzt bis zur Mitte der Wurft hinan; von der Seite der Windrichtung her kamen kurze, wie aus aufgewühlten Löchern plötzlich in die Höh' wachsende Wellen, schlugen, sich überstürzend, noch weiter empor und schleuderten ein gelbliches Gischtgekröse fast bis zu der Hauswand auf. Mit Ausnahme des kleinen Dünenkernes in der Mitte war die Insel vollständig verschwunden, nur da und dort schwamm noch die Oberhälfte einer Wurft gleich einem dunklen umgeschlagenen Ewer über dem grauen Gewoge; der Regen hatte sich etwas abgeschwächt, so daß die Luft ein wenig heller geworden, dagegen wuchs unverkennbar der Sturm noch an Gewalt, einzelne seiner Stöße ließen fühlbar das Haus zittern, als ob er die tief in den Grund gerammten Pfosten zum Schwanken bringe. Aber flüchtig nur verharrte Arnold Lohmer bei dieser umschauenden Betrachtung, dann kehrte er zu seinen Ueberlegen und Planausarbeiten zurück. Alles Andre erschien ihm daneben bedeutungslos, doch durchschoß gegenwärtig plötzlich einmal etwas Neues seinen Kopf, die Erinnerung daran, daß er gestern während der Fahrt gesprochen habe, er müsse heut' nach Hamburg zurück, seine Braut erwarte ihn. Wie war er dazu gerathen, das zu sagen? Er begriff's nicht; in ihrem letzten Brief war von solcher Erwartung nicht die Rede gewesen, sie hatte ihn im Gegentheil ermahnt, Neuwerk nicht eher zu verlassen, als bis er zweifellos zum erfolgreichen Antreten seiner ärztlichen Praxis wiederhergestellt sei. Durch den regnerischen Witterungsumschlag verursachte üble Laune mußte ihm sinnlos die Worte vom Mund gebracht haben; vielleicht hatte auch die ungewohnte Nacht im Dünensand durch eine körperliche Nachwirkung dazu beigetragen und erst das Ausruhen bei der Heimkunft ihn von der Mißstimmung befreit. Jedenfalls war's ihm heute durchaus unverständlich, warum jene Aeußerung ihm entfahren sei.

Da erscholl von drunten der bekannte, den Zugehörigen des Gehöfts die Mittagstunde ankündigende Hausglockenton, und Arnold stieg zum Essen hinunter, er wußte nicht, ob ihm der Vormittag lang geworden oder verflogen sei. Weil des Sturm's halber kein Feuer angezündet werden durfte, bot der Tisch nur kalte Speisen; wie üblich, ward bei ihrem Verzehren wenig gesprochen. Hadlef sagte einmal: »Das sind fünfzehn Jahre, daß es nicht mehr so gewesen. Age weer dree Johr old, aber Du kannst Dich wohl nicht drauf besinnen.« Die Angeredete schüttelte den Kopf und versetzte: »Bin ich schon so lang auf der Welt? Mir kommt's erst viel kürzer vor. Glaubst Du, das Wasser geht noch höher, Vater?« – »Das weiß keiner; wenn's bei der Ebbe fällt, darauf kommt's an.« Der Alte fuhr gegen den jungen Arzt gerichtet fort: »In Hamburg am Hafen spüren sie's jetzt auch, das Elbwasser kann nicht dagegen auf.« Arnold erwiderte: »Woher weißt Du's? Bist Du einmal in Hamburg gewesen?« – »Ja, als ich noch als Junge zur See fuhr, da schossen sie mit Kanonen, als es bei ihnen so ankam und in die Straßen lief. Dat is sößtig Johr her und noch wat dato.« Dem Hörer schoß der Gedanke auf, dran anzuknüpfen und sein Vorhaben zur Rede zu bringen, doch er schloß den halbgeöffneten Mund wieder, ihm erschien's besser, zuerst mit dem Mädchen allein drüber zu sprechen. Bald stand Hadlef auch auf, trat an's Fenster und sagte: »Dat Boot mutt höger up;« dies anzuordnen, ging er hinaus. Belke begab sich zum Pesel hinüber, wo sie in ihrem alten Linnenschrank zu kramen anfing, Leintücher von einer Seite auf die andre legte; es machte den Eindruck, als suche jeder nach einer Beschäftigung, um sich über eine Wartezeit hinwegzubringen. So blieb Arnold, allein gelassen, in der Stube, denn Age hatte sich ebenfalls zu einer häuslichen Thätigkeit entfernt. Er hing wieder seinen Entwürfen nach, um ihn war ein unablässiges Geknatter wie von zerspringenden Holzfasern des Balkenwerks der Wände. Dann kam er zu dem Entscheid, nach ihr zu suchen, doch vermochte sie im Hause nirgendwo zu finden, öffnete schließlich die Ebberthür, wozu er seine ganze Kraft aufbieten mußte denn der Wind drückte mit voller Gewalt gegen sie. Da stand unvermuthet Aqe Terwisga draußen nah vor ihm am Wurftrand mit umgeknotetem Kopftuch, ihr Rock flatterte wild im Sturm, und Schaumgerinnsel flog ihr bis zur Brust empor. Abgewandt sah sie auf das Wogenschwellen dicht vor ihren Füßen nieder; er rief sie bei Namen, doch sie hörte es nicht. Erst als er seine Hand ihr auf die Schulter legte, drehte sie das Gesicht herum, blickte ihn wie ungläubig an und sagte: »Bist Du noch hier? Ich glaubte, Du wärest unterwegs.« Vielleicht hatte sie auch anderes gesprochen, unverständlich nach doppelter Richtung war's, der Wind riß ihr die Worte von den Lippen fort. Er fragte, so laut er konnte: »Ist's immer noch Flut? Wann kommt die Ebbe?« und sie entgegnete ebenso: »Um vier muß sie anfangen.« – »So viel ist's wohl bald.« – »Ja, man merkt's noch nicht.« Aus ihrem Stimmenton klang's, als mache der Wasserstand, den sie noch nie so hoch erlebt, ihr ein Vergnügen, doch fiel's kaum möglich, gegen die Stöße des Windes standzuhalten; beide bewegten sich nicht freiwillig, sondern wurden in's Haus zurückgeworfen, mit einem Donnerschlag ähnlichen Krachen schlug die Thür hinter ihnen zu. Arnold war jetzt zu dem erwünschten Beisammensein mit Age gelangt und beschloß, es für seinen Zweck zu nutzen, nur fand er nicht gleich einen passenden Uebergang und sagte deshalb: »Wollen wir uns setzen und soll ich weiterlesen, wo wir auf der Düne stehn geblieben? Da hörtest Du beim Letzten nicht zu – weißt Du's noch? – und wir gingen auf den Bernsteinsand hinaus, und als wir zurückkamen, zankten und entzweiten wir uns. Das war närrisch, ich weiß nicht, wie's über uns gerieth.

Sie wiederholte: »Ja, das war närrisch – aber wär's auch, wenn Du jetzt lesen wolltest. Du könntest die Buchstaben nicht sehn, und ich würde wieder nichts hören vor dem Lärm von draußen. Laß uns Acht geben, ob das Wasser fällt.«

Er hatte, um zu seiner Absicht überzugehn, einen bedachtlosen Vorschlag gemacht; zum Lesen war's zu trüblichtig, und gleicherweise traf der andre von ihr angeführte Gegengrund zu. Auch hier im Innern mußten sie lauter als sonst sprechen, um ihre Worte verstehn zu lassen, die von einer Ineinandermischung pfeifender, heulender und knatternder Töne umbraust wurden. Arnold trug auf der Zunge, zu erwidern: »Laß uns zu meiner Kammer hinaufgehn, dort sieht man's am besten,« doch die Antwort blieb ihm ungesprochen im Munde stocken, er wußte nicht, warum er sie nicht hervorbrachte. Oder hätt' er's doch gethan und ward durch einen dumpfdröhnenden, wie ein kurzer Donnerschlag klingenden Schall angehalten? Aus verworrenem Sinn entflog ihm: »Was war das?« Darauf entgegnete eine andre Stimme als die des Mädchens: »Do mutt en Schipp vör de Elb in Nod sin und löst sin Kanon.« Hadlef Terwisga war ungehört hereingekommen, an's Fenster tretend und ausblickend setzte er hinzu: »De Vageln kamt ok un wüllt rin, dat is nix Godes.« Auffälliger Weise kämpfte draußen wohl ein Dutzend von Möwen und Sturmvögeln sich mühsam durch den ungeheuren Luftaufruhr gegen das Hausdach heran und schien an diesem kreischend nach einer bergenden Zuflucht zu suchen; ihre sonstige Scheu vor menschlichen Wohnungen war verschwunden. Der Alte wandte sich wieder der Thür zu und sagte im Vorbeigehn: »Wi wüllt dat Veh anne Tüder nehm, Age; wokeen kann weeten, as dat warrd.«

Da war Arnold Lohmer wieder allein; was das letzte bedeutete, hatte er nicht verstanden. Der dumpfe Hall des Kanonenschusses wiederholte sich nochmals und versetzte ihn in eine unbekannte körperliche Erregung. Vor seine Phantasie stellte sich das muthmaßlich auf der tobenden See vom Untergang bedrohte Schiff, mit gerefften Segeln sah er es haltlos wie ein Stück Rollholz hin und her geschleudert, krampfhaft klammerte sich die Bemannung an Masten und Tauen fest, nicht von den überstürzenden Wellen fortgerissen zu werden. Zum erstenmal überkam ihn ein deutliches Gefühl der Wildheit, mit der die Naturmächte auch auf die kleine Erdscholle um ihn her eindrangen, und daß jetzt nicht die Stunde sei, seinen Zukunftsplan weiter zu durchdenken. Im Hause ging alles ruhig zu, aber er empfand, wortlos warte jeder auf etwas, das Nämliche. Er saß horchend, ohne zu wissen, worauf; schnell nahm die karge Tageshelle ab, die Gegenstände in der Stube wurden unsichtbar, nur vor dem Fenster erhielt sich ein bleicher Dämmerschein. Für ihn gab es nichts zu thun, so blieb er auf der Bank sitzen, in einer Zeitlosigkeit, sonder Anhalt, ob Viertelstunden oder ganze vergingen. Einmal hörte er einen kurzen Ruf: »Dat Water löppt nich af,« und ihm ging auf, die Ebbezeit müsse gekommen sein, ohne daß sich das Erwartete, Erhoffte eingestellt habe. Dann nach einer Weile rührte ihn an, als klinge das ständige Brüllen der Rinder von einer anderen Seite her; das ließ ihn unwillkürlich aufstehn und der Richtung zu, gegen Osten in's Freie hinaustreten. Hier, windab, war's verhältnißmäßig ruhig, eine mit Grassoden belegte Erdböschung dachte sich von der Wurft zum Bodengeschoß des Gehöfts hinan, und das Zwitterlicht reichte noch aus, zu unterscheiden, daß Mägde an Halftern das widerstrebende Vieh nach oben in den Heuraum emporführten. Auch Hadlef und Age bethätigten sich mit dabei, es dauerte ziemlich lange, bis das Sträuben der Thiere bewältigt und sämmtliche droben hinter dem wieder geschlossenen Scheunenthor untergebracht worden. Im letzten schwindenden Tagesschimmer hatte der Vorgang etwas die Sinne sonderbar Anfassendes, er entsprang unverkennbar einer vorsorgenden Befürchtung, das Wasser könne bis zum Stall hinaufsteigen. Nun war das schattenhafte, nur dunkle Umrisse zeigende Bild vor den Augen Arnolds weggelöscht, der weißköpfige Alte und das Mädchen kamen von der Böschung herunter, und er ging mit ihnen in's Haus zurück. Der Regen hatte, die gestrige Voraussicht Hadlefs bewährend, beinah völlig aufgehört, und es regte den Anschein, auch der Sturm beginne sich etwas abzuschwächen, wenigstens verlängerten sich die Zwischenräume seiner tobend stoßenden Anfälle. Drinnen äußerte Arnold diese Wahrnehmung, doch der Alte versetzte nur: »Dat is to lat un helpt nich mehr;« er schloß ein kleines Gefach in der Wand auf, nahm zwei mit Silberstücken gefüllte Beutel draus hervor und bewahrte sie in den Taschen seines Friesrocks. Alles, was gethan ward, ging mit friesisch bedachtsamer Ruhe vor, doch wies gleichmäßig auf ein sich Bereiten Unabänderlichem gegenüber hin. Im Pesel und der Wohnstube waren ein paar Talglichter angezündet, deren Dochte Age Terwisga dann und wann, wenn sie lang glösten, mit einer breiten Putzscheere abschnitt. Das that sie mit sichrer Hand, nur an ihren Augen ließ sich bei genauerer Beobachtung ein Zeichen innerlicher Erregung erkennen, doch keiner von Bangniß verursachten; eher schien's auf eine in ihr sich vorausrichtende Erwartung von etwas ungewiß geheimnißvoll und großartig herannahendem hinzudeuten. Ihre bisher seit dem gestrigen Morgen fortgedauerte Schweigsamkeit wandelte sich fast zum Gegensatz um; beim Vorüberkommen an dem Sitzplatz Arnolds trieb sie's, mit ihm zu sprechen. Wechselnd von diesem und jenem, was sie beide während seines Hierseins auf der Insel zusammen gethan; es war, als trachte sie danach, ihn und sich selbst durch laute Gesprächigkeit über den langsamen Weitergang der Zeit wegzubringen. Nun gedachte sie der Odyssee, fragte, was Nausikaa jetzt denke und thue, da Odysseus wohl von Scheria abgesegelt sei; ob sie wieder mit den Mägden zum Strand hinunterfahre, die Gewänder ihrer Eltern und Brüder dort zu waschen. Davongehend, putzte sie die flackernde Kerze, kam zurück und sagte: »Jetzt reicht das Wasser auch an der Düne bis zu dem Platz, wo wir gesessen, und hebt Banke Jaspers Korb auf, den wir vergessen haben. Ich sehe ihn schwimmen und schaukeln – auf und nieder – auf und nieder – da sinkt er weg und kommt nicht wieder in die Höh. Das ist nicht schlimm, wir brauchen ihn ja nicht mehr – aber unser Boot ist auch weg, der Sturm hat's losgerissen, und es treibt wohl kieloben auf der See. Das ist schlimm, denn wie sollst Du nun morgen nach Cuxhaven hinüberkommen?«

Bei der letzten Frage that Age Terwisga etwas den Worten Widersprechendes, was sie außerdem seit bald zwei Wochen nicht mehr gethan. Denn ein Lachen flog ihr vom Mund, und hastig aufspringend, lief sie zum anstoßenden Pesel hinüber, um nachzusehen, ob das Talglicht dort des Putzens bedürfe. Arnold Lohmer saß, auf ihre Rückkehr wartend; ihre Stimme klang ihm eigentümlich zwiefach geartet im Ohr, zugleich wie altvertraut und wie neu, so hatte er sie seit der Mondnacht auf der Düne nicht mehr vernommen. Doch vorderhand harrte er umsonst, nebenan fragte Hadlef, ob das Abendessen noch nicht gerichtet sei. Daran hatte Age offenbar heute nicht gedacht, denn sie antwortete verneinend, und der Alte erwiderte: »Da bring's geschwind her, die Flutzeit fängt bald an, und es kann sein, daß wir tagelang nichts haben.« So leistete das Mädchen dem Geheiß Folge, nach kurzem saßen sie zuviert am Tisch; beim Anblick der Speisen empfand der junge Arzt, daß sich schon wieder Eßlust in ihm rege, und sprach die mit halber Verwundrung aus. Hadlef entgegnete drauf: »De Wind un de Soltluft makt Hunger, lang' man godt to!« sorglich gab er Acht, daß auch Belke nicht zu wenig esse. Unverkennbar minderte sich draußen die Wucht des Sturmes, doch wie Arnold dies einmal zur Rede brachte, versetzte der Alte: »Awers de Dünung kümmt na. Wi könnt nix dohn, as töben. Hebbt de Deerns ok orrig eeten? Lat mi en Korf kriegen, Age.« Diese holte das Verlangte herbei, und er legte die Ueberreste von der Mahlzeit, Brod, Käse, Rauchfleisch und gebackenen Flunder hinein, wie wenn er drin Nahrungsvorrath für eine Fahrt zusammenthue. Der junge Arzt wollte fragen, zu welchem Zweck dies dienen solle, doch ein sonderbar klitschender Ton, anders als die mannigfachen Geräusche bisher seit dem Morgen, lenkte ihn davon ab; es hatte geklungen, als habe der Wind draußen ein vor dem Fenster hängendes nasses Tuch gegen die Scheiben geschlagen, und er drehte den Kopf dorthin. Seinen Blick wahrnehmend, sagte Hadlef: »Jo, se kümmt;« da wiederholte sich's noch einmal gleicherweise, und der Lichtschein ließ ein glimmerndes Herabrieseln von Wasser am Glas erkennen. Da der Regen aufgehört hatte, konnte es nicht aus der Luft stammen, mußte von untenher bis zum Fenster heraufkommen; Arnold begriff plötzlich, die wiedereinsetzende Flut war's, deren Wellen über das während der Ebbe in gleicher Höhe stehen gebliebene Wasser heranzurollen begannen und beim Branden am Wurftrand Schaummähnen hoch emporwarfen; ein weißliches Geflacker tauchte vor den Scheiben auf und verschwand. Nun sagte der Alte, von der Bank aufstehend: »Dat is beter, Belke, wi tövt nich länger un gaht bi Tid rup. Kumm! Nimm Du den Korf, Age. De Deerns schüllt ok kamen.« Er nahm den Leuchter, faßte seine Frau an der Hand und zog sie nach der Thür. Ihr kam vom Mund: »Dat hefft wi noch nich tosam belevt, Hadlef; glövft Du, wi kamt noch wedder dal?« Kurz antwortete er nur: »Jo, wenn't sin schall;« sie warf von der Schwelle noch einen Blick nach ihrem Webstuhl zurück, dann verschwand sie durch die Thür. Age ergriff den Korb, ging gleichfalls hinaus und rief nach den Mägden; jedoch rasch wiederkehrend, fragte sie in die dunkel gewordene Stube hinein: »Bist Du noch hier?« Aus dem Ton ihrer Stimme klang, daß es Arnold gelte, und er entgegnete: »Ja.« – »So komm, mir müssen hinauf – nein, warte – im Pesel brennt das Licht noch, das muß ich erst ausblasen.«

Gleichmüthig sagte sie's, fast als liege in ihrer Vergeßlichkeit etwas Spaßhaftes. Erst jetzt ging ihm zu deutlichem Verständniß auf, es drohe eine Gefahr des Hereindringens der steigenden Flut in's Erdgeschoß des Hauses, darum habe Hadlef das Hinaufsteigen Aller nach oben angeordnet und sei mit der Alten voraufgegangen. Auch im Nebenraum losch nun der Lichtschein aus, wiederkehrend klang der Fußtritt Ages, und sie sagte: »Im Pesel läuft schon Wasser auf den Boden. Wo bist Du? Kannst Du im Dunkel die Treppe finden. Viel schlafen werden wir wohl in der Nacht nicht, aber danach ist ja Zeit, um es einzuholen. Stoß' Dich hier nicht am Balken und geh' hinter mir drein. Ich will fest auftreten, damit Du hörst, daß ich vor Dir bin.«

Alles, was sie sprach, hatte einen sorglosen, beinah fröhlichen Klang, und wie ein Kind, dem ein neuartiges Erlebniß Vergnügen machte, gab sie sich Mühe, beim Aufwärtssteigen die Stufen unter ihrem Fuß knacken zu lassen. Arnold folgte ihr, an der Treppenumbiegung kam von droben Helle entgegen; in der Giebelkammer hatte Hadlef den Leuchter auf den Tisch gestellt, neben dem er mit Belke wartend stand. Wie die Nachgefolgten sich zu ihnen gesellten, fragte er: »Sünd de Deerns ok da?« und auf eine bejahende Antwort trat er durch die Thür seitwärts in den anstoßenden Bodenraum hinüber, wo unter seinen Händen kurz ein hölzerner Gegenstand klapperte. Zurückgekommen, sagte er, seine Frau an der Hand fassend: »Denn wüllt wi röwer gahn;« Arnold äußerte verwundert: »Warum? Können wir hier nicht bleiben?« Der Alte versetzte: »De Stuv is uppe Muer utbut, nich up de Posten. Blas Du dat Licht ut, Age! Kumm us na, Docter.« Belke führend, ging er voran; das Mädchen blieb allein zurück und ließ die weitgeöffneten Augen noch ein paarmal durch ihre, dem Gast abgetretene Kammer rundgehn. Langsam hob der Athemzug dabei ihre Brust hoch auf; dann blies sie die Talgkerze aus, stand noch daneben, bis der rothe Docht verglüht war, und ging den Andern nach.

Vollständige Finsterniß erfüllte nun den großen Bodenraum, der bei regnerischem Wetter auch am Tage fast lichtlos lag; nur wenn die Sonne schien, stand eine Luke im Schilfdach offen, ließ dann etwas Helligkeit ein. Davonher kannte Arnold den niedrigen, doch weitausgedehnten Platz, beim täglichen Vorübergehn war sein Blick hineingefallen, in's Innere getreten war er nie. Ungefähr aber konnte er sich jetzt im Dunkel eine Vorstellung von dem machen, was er nicht sah; drüben an der Seite des Thorzugangs mußten die Rinder im Heu hingestreckt liegen, murrende Laute und Geräusch ihrer Gliederregungen schollen von dort her. Sonst herrschte tiefes Schweigen in dem Raum, kein Stimmenton klang, der die Stellen andeutete, wo die Hausbewohner sich niedergelassen, nur aus einer Ecke ward ab und zu leis ein Getuschel der Hofmägde vernehmbar. Arnold hatte sich ebenfalls auf eine Heulagerung gesetzt; ihm war zu Sinn, als halte ihn ein wunderlicher Traum umsponnen. Darin befand er sich inmitten der schäumenden, schnaubenden Nordsee zwischen Leuten, die unsichtbar und stumm warteten, ob etwas schreckvoll Herandrohendes geschehe oder an ihnen vorübergehe. Aber er wußte, eine wirkliche Gefahr sei nicht vorhanden, sondern nur ein tolllärmendes Spiel kreise in der Runde umher, ein Nachtspuk, den die leuchtend aufgehende, mit köstlicher Wärme durchfließende Sonne verscheuchen werde. Die war das in Wirklichkeit Kommende, sie zu erharren, saß er hier in der todten Finsterniß, und ihre Erwartung ließ ihm kein bangendes, vielmehr ein freudiges Gefühl in der Brust schwellen. Unter sich vernahm er ein Klirren wie von zersplitternden Gläsern, doch ihm war's, ein Ton aus weiter Ferne sei's, und ein andrer ging, ihn auslöschend, drüber hin. Sein Ohr spannte sich an; wie ein leiser Athemzug unweit von ihm klang's; er horchte, und eine Täuschung schien's. Aber dann war es wieder da, ob auch kaum hörbar, nur von einem Empfinden aufgefaßt, und den Kopf in die Richtung wendend, flüsterte er: »Bist Du hier neben mir, Age?« Doch es kam keine Antwort, sie mußte irgendwo weiter entfernt sitzen, die leise Frage nicht vernehmen, und der einen Athemzug vortäuschende Ton kehrte auch nicht wieder.

Oder ein jähes, donnergleiches Getöse übertäubte plötzlich alles, das Windgeheul und Rohren der See, krachend, schmetternd. Ein erschütternder Stoß durchfuhr das Gebäude und es schwankte, als sei's, vom Grund losgerissen, im Begriff seitwärts überzustürzen, angstvoll schrilles Aufkreischen der Mägde schlug hinterdrein. Danach durchklang kurz die Stimme Hadlefs Terwisga das Dunkel: »De Muer is weg.«

Weiter sprach er nichts, doch für Arnold bedurfte es auch keiner Erläuterung mehr. Gehör und Gefühl sagten ihm, daß etwas geschehen sei, woran er nicht gedacht, was er für unmöglich gehalten. Die Flutwellen hatten das Steinmauerwerk des Hauses eingedrückt, zerschlagen und niedergebrochen, unter seinen Füßen hörte er das wogende Wasser durch die wandlosen Stubenräume klatschen. Nur die festgerammten Pfosten des Gebäudes waren geblieben und trugen noch das auf ihnen ruhende Balkengerüst; seit vielen Jahrhunderten wußten die Anwohner der Nordsee, gegen diese, wenn sie bis über die Wurft anschwelle, schütze keine Steinmauer, nur der Bodenraum biete dann noch eine letzte Rettungszuflucht für Menschen und Vieh. So geschah's jetzt, denn das Schlimmste, am meisten Gefürchtete war hereingebrochen, Zusammentreffen einer Sturmflut mit der Mondflut; darauf hatten seit gestern Hadlefs und Belkes kurze Aeußerungen, von Arnold Lohmer nicht verstanden, vorausgewiesen. Doch in diesem Augenblick stand's zum erstenmal erkannt vor ihm, kein blinder Schreck eines Traumspiels sei es, sondern Wirklichkeit, in der sich 's um Leben und Tod handle. Mit dem aber hatte die Flut ihn schon einmal bedroht, daß er geglaubt, in der nächsten Minute werde alles vorüber sein, und trotz seiner plötzlichen Erkenntniß sprang er nicht entsetzt auf, blieb in seltsam ruhiger Gelassenheit sitzen. Ein klares Gefühl war in ihm, daß er ein Andrer geworden sei, als der, welcher vor einem Monat nach Neuwerk gekommen; sein Vorleben jenseits jenes Tags lag wie abgesunken, als stehe er in keinem Zusammenhang mehr damit. Und kein Bereuen regte sich in ihm, hierher und in diese Todesgefahr gerathen zu sein; wenn er's noch einmal zu entscheiden habe und wisse, was ihm auf der Insel bevorstehe, so thue er es doch ebenso wieder. Nicht Gleichgültigkeit war's, was diese Nacht bringen werde, Weiterdauer oder ein jähes Ende seines Daseins; im Gegentheil, ein Lebensdrang durchklopfte ihm die Brust, stärker, verlangender, als je zuvor. Aber wenn der Untergang kommen mußte, so mocht' es hier geschehen; leichter, fast schöner war's, hier zu sterben, als irgendwo sonst auf der Erde. So verharrte er ruhig auf seinem Platz; ein Widersetzen gegen die Uebergewalt der Natur war unmöglich. Hadlef Terwisga hatte gesagt, man konnte nichts thun, als warten – warten, ob die Flut noch höher, bis zum Bodenraum ansteige, auch in ihm das Leben verschlinge.

Springflut und Sturmflut –

Zwar der Sturm schwieg jetzt beinah völlig, doch mit dumpfem Donner dröhnte es unablässig gegen das Gehöft heran, kollerte polternd Gestein, das noch standgehalten, auf die umgestürzten Massen herunter. Das vom Wind draußen aus der See aufgewühlte Wasser war's, die Dünungswellen, von denen der Alte gesagt, daß sie nachkämen. Hochemporgewölbt rollten sie daher, eine die andre drängend, und jede um etwas höher als die vorige. Drüben hatten sie auch die Düne überwogt, umbrandeten, sich haushoch aufbäumend, das Gemäuer des Leuchtthurms.

Kein Auge konnte dies Weitersteigen wahrnehmen, nur vom angespannten Ohr ließ sich's hören, oder eigentlich mehr nur vom Instinct eines Kundigen empfinden. Arnold war kein solcher, ihm ward bei dem unterlaßlos gleichmäßig rohrenden Getöse keine Veränderung merkbar. Doch nach Ablauf einer Zeit klang wieder einmal ein einsilbiges Wort vom Munde Hadlefs: »Kumm!« Er hatte, die Hand seiner alten Lebensgefährtin gefaßt haltend, gesessen, zog sie jetzt dran auf und mit sich durch's Dunkel. Warum und wohin, sagte er nicht, und sie fragte nicht danach, war seit länger als einem halben Jahrhundert gewöhnt, seinem Geheiß zu folgen. Tastend fand er sich zurecht, und bald knarrte sein Stiefel auf einem Holz; vor dem Verlassen der Giebelkammer hatte er die kleine, zum Oeffnen der Dachluke bestimmte Leiter nach jener aufgerichtet, stieg nun rückwärts die Sprossen hinan und hob an beiden Händen Belke hinter sich drein. Gegenwärtig dachte er einzig an sie, das ihm allein Unentbehrliche auf der Welt, vergaß, daß noch andres Leben auf dem Bodenraum zurückbleibe.

Ein Ohr in diesem aber hatte den eigenthümlichen Vorgang aufgefaßt, und plötzlich fühlte jetzt auch Arnold Lohmer seine Hand von einer anderen ergriffen, aus der Richtung her, wo er zuvor den Athemzug zu hören geglaubt. Eine Stimme sprach gleichfalls dabei: »Komm. Wenn's der Vater thut, muß es sein,« und Age Terwisga zog ihn ebenso nach der kurzen Leiter hin und hieß ihn an dieser aufsteigen. Sie mußte während der letzten Stunde, oder wie lang es gedauert, in der Finsterniß regungslos kaum auf Armeslänge von ihm entfernt gesessen haben und ihr Athmen das gewesen sein, was er vernommen. Ihm ging jetzt auch auf, daß er's gewußt habe und deshalb unbeweglich sitzen geblieben sei; willenlos folgte er dem Zug ihrer Hand, doch begriff nicht, was er thun solle, fragte, die Leiter mit den Fingern umfassend: »Wohin willst Du mich bringen? Kommst Du mir nach?« Sie antwortete: »Ja. sei vorsichtig oben. Klammre Dich sicher an und setze Dich rittlings auf den First. Jetzt rasch!«

Nur ein halbes Dutzend von Sprossen ging's aufwärts, da umfing seinen durch eine Oeffnung in's Freie tauchenden Kopf frische Luft, und zugleich wich das todte Dunkel um ihn ab. Ein matter Schimmer überhellte vor seinem Blick das nur sanft abgeschrägte Schilfdach des Hauses, ließ dieses und an einer Seite auf dem First die dunklen Umrisse und das weiße Haar Hadlefs und Belkes unterscheiden. Engzusammengedrückt saßen sie, sein linker Arm hielt sich fest um ihren Leib geschlungen, mit der andern Hand klammerte er sich zum eignen Halt in's Rieddach hinein. Doch die Augen Arnolds gingen nur flüchtig über sie hin, und auch das Ueberraschende, daß er etwas mit ihnen wahrzunehmen vermochte, gelangte ihm nicht zum Bewußtwerden. Sein Kopf bückte sich wieder durch die Luke zurück und er fragte: »Kommst Du?« Schon dicht unter ihm klang's zurück: »Ja, ich bin hier;« das Mädchen war unmittelbar hinter seinem Fuß nachgestiegen; auch sie dachte nicht dran, daß noch Leben auf dem Boden zurückbleibe.

Das also bildete eine allerletzte Zuflucht vor der Flut, das Dach. Aber warum? War sie denn nöthig? Arnold saß jetzt nach dem Geheiß rittlings auf dem First, und sich an diesem zwischen den zusammengedrückten Knien haltend, hockte neben ihm Age Terwisga. Rundum unter ihnen wälzte sich in nicht bemeßbarem Abstand ein gährendes Gewoge auf und nieder.

Da erscholl mit herzstockendem Klang die Antwort auf die ungesprochene Frage nach dem Warum. Ein plötzliches wildes Aufbrüllen der Rinder und Stampfen ihrer Hufe, ein markdurchschneidender Schrei aus den Kehlen der Mägde. Die Wellen hatten das Zugangsthor über der Böschung erreicht, seine Bohlen gleich dünnen Kartenblättern aufgesprengt, und mit breiter Wucht stürzte das Wasser in den Bodenraum. Wie ein gieriges Raubthier schnob es nach dem Leben drin, überschwoll alles im Nu, riß nieder, erstickte und verschlang. Fast nur augenblickkurz noch ein Ringen, ein stöhnender Todeskampf, dann ward's still, die See hielt ihre Beute gepackt und schleppte sie mit sich fort. Denn zugleich war auch die Giebelkammer verschwunden, ungehemmt schoß die eingedrungene Flut als ein Strom an der entgegengesetzten Seite wieder in's Freie hinaus.

Noch andres aber war geschehen oder geschah beinah unmittelbar danach; doch verging etwas an Zeit, eh' es Arnold Lohmer zur Erkenntniß kam. Dann indeß fühlte er, der First, auf dem er ruhte, verändre seine Lage, bewege sich, und nun sah er es mit den Augen. Der ungeheure Aufdruck des Wasserschwalls von untenher hatte das Dach vom Gebälk abgehoben, die festverflochtene Schilfmasse hielt zusammen, doch sie trieb, hin und hergeworfen, gleich einem großen umgestürzten Boot, das statt eines Kiels den Dachfirst nach oben wandte.

Ja, mit Augen erkannte er's jetzt auch, denn der matte Schimmer, der ihm durch die offne Luke entgegengefallen, verwandelte sich, ungemein schnell anwachsend, zu einem Dämmerungslicht. Von einer hellgewordenen Stelle am Osthimmel ging dies aus, dort zerfaserte seine Wolkendecke, als öffne sich in ihr ein weißes Thor. Draus flog's wie ein Funken hervor und erlosch wieder, aber der gelichtete Fleck dehnte seine Größe ringsum nach allen Seiten weiter aus. Der schon ziemlich hoch aufgestiegene Mond that's, der Urheber der Springflut; es war, als verjage er die Wolken, um sein nächtliches Werk zu beschauen.

Das Dach aber trieb als ein Spielzeug des Wassers dahin, nun im Kreis umhergedreht, nun von einer sich höher emporreckenden Woge gepackt und eine Strecke weit wie ein Korkstück fortgeschleudert. Mit Anspannung aller Kraft trachteten die vier Gestalten auf dem Schilfkiel sich festzuhalten, der Instinct des Lebens grub ihre Hände in das Riedgeflecht ein; ein Gischtmantel umsprühte sie, stob ihnen manchmal bis hoch über die Köpfe auf und fiel wieder herab. Dann waren sie noch deutlicher sichtbar geworden und jetzt einmal fast taghell von weißem Glanz übergossen. Groß und rund trat der Mond in eine Lücke, um die alles Gewölk wie fliehend wegsank. Er beleuchtete ringsum nichts als die See, dunkle, hohlklaffende Wellenthäler und schaumgekrönt glitzernd nachdrängende Wellenberge. Wenn die an den Dachrand trafen, bäumten sie auf und leckten, sich überschlagend, bis zu den Knien der oben Sitzenden empor; ein geisterhafter Anblick war's, als umwallten hundert Leichengewänder den treibenden Ueberrest des zertrümmerten Gehöfts. So hatte seit grauer Vorzeit die Nordsee mit nie gestilltem Hunger an diesen Ufern gefressen, wo sie Meilen um Meilen weit jetzt über dem ›ertrunkenen Land‹ rauschte, Felder und Wälder, Dörfer, Herden und unzählbare Menschenleben verschlungen. Kein seit Gedenken nicht mehr erlebtes Geschehniß war das heutige, nicht die gesammte Westküste mit dem Untergang bedrohend. Am Festland hielten die Deiche muthmaßlich stand, und ebenso boten die größeren, durch Dünen geschützten friesischen Inseln dem Verderben Trotz. Nur die Halligen standen ohne ein Bollwerk der Gefahr gegenüber, auf ihnen reichte die Höhe der Wurften nicht mehr aus, und ihr Geschick theilte Neuwerk.

Von diesem ragte ein einziger Bau noch aus der gährenden Wasserwüste auf, klar jetzt mit seinem hellfarbigen Kalkbewurf sichtbar, der Leuchtthurm. Er allein gewährte einen Richtungsanhalt, ließ erkennen, das Dach werde gegen Nordost fortgetragen. Ueber allem aber, silberne Flammenpfeile niederschießend, thronte nun unumwölkt der Vollmond, wie er in der Nacht über den Dünen von Sanct Peter gestanden. Vorgestern erst, doch war's, als liege ein Leben dazwischen, und wie eine aus diesem her anrührende Erinnerung kam's jetzt einmal Arnold Lohmer zur Blickerkenntniß, Age Terwisga trage ihre Bernsteinschnur wieder um den Nacken gelegt, als sei sie bedacht gewesen, damit ihr kostbarstes Besitzthum zu retten. Sie erhielt sich dicht an seiner Seite, ihm das Gesicht zuwendend, unverändert in ihrer hockenden Stellung, fast wie wenn sie keines Anhaltens der Hände bedürfe; ihr Gesicht zeigte keine leiseste Anwandlung von Furcht, in dem Mondlicht besaßen der Schnitt und der ruhvolle Ausdruck ihrer Züge etwas, als sei eine wundervolle Veredlung an ihrem Antlitz vorgegangen. Ab und zu fragte sie: »Hältst Du Dich noch sicher?« Er antwortete: »Ja,« und setzte einmal hinzu: »Glaubst Du, daß noch eine Rettung für uns möglich ist?« Sie erwiderte: »Vielleicht treiben wir an die Düne und finden unsern Korb noch wieder.« Beinah wie ein fröhliches Scherzwort klang's ihr vom Mund, von Bangniß wußte zweifellos ihr Inneres nichts.

Eine Zeitlang verblieb's so in gleicher Art, nur augenscheinlich vergrößerte sich die Entfernung vom Leuchtthurm, er zerrann zu ungewissem Schimmer und schwand dem Blick weg. Dann aber ging etwas vor, eine Wandlung, die sich durch veränderte Bewegung des Daches kundgab. Es ward plötzlich einmal wirbelnd im Kreis gedreht, schaukelte und schwankte stärker als bisher, tauchte bald auf der einen, bald auf der andern Seite tiefer hinunter, als drohe es, sich zu überschlagen. Dadurch wurde der Abfall des Firstes steiler, der Halt auf ihm mühsamer; das Mädchen sagte kurz: »Wir sind über den Sand weg im Fluß.« Das gab die richtige Begründung des Wechsels an; sie waren nordwärts in die offene Elbmündung hineingetrieben. Hier griff aus der Tiefe die Unterströmung nach dem Dach, während oben die Flut es gegen sie drängte. Das ließ ihre Wellen sich höher aufbäumen, manchmal rollten sie bis über den First hin. Und nun kam's einmal von den Lippen Belkes: »Ick kann nich mehr, Hadlef.«

Ihre Hände waren von der Kälte des Wassers erstarrt, vermochten sich nicht länger anzuklammern, nur der Arm ihres Mannes hielt nach ihren Leib umfaßt, doch auch ihm verging die Kraft, zu hoch waren die Jahre der Beiden gestiegen. Ueber länger oder kürzer mußte eine Woge kommen und sie von seiner Seite wegreißen; er antwortete: »Eenmal mutt dat jo sin, Belke, wi hebbt godt tosamholln.« – »Jo, Hadlef, dat hebbt wi, awers nu is dat ut mit mi, denk' noch an mi, Du kümmst vellich dör.« – »Jo, wi blivt tosam, Belke.« Sein Arm hob sich dabei höher auf und umschlang ihren Nacken; mit Worten nahmen die beiden alten Lebensgenossen keinen weiteren Abschied voneinander. Sie hatten seit Jugendtagen zusammengehalten und so thaten sie's in der letzten Stunde; sie wußte auch, er werde sie nicht allein lassen, um vielleich selbst noch Rettung zu finden und ihrer zu gedenken. Ihr war's nur vom Mund gekommen, noch einmal von ihm zu hören, daß er bei ihr bleibe, wie sie ihn nicht allein gelassen hätte. Einzig an sich wechselseitig dachten die beiden Alten gegenwärtig, den gemeinsamen Schluß ihres Erdentags, nicht an ihr Kindeskind, das mit ihnen dem Untergang entgegentrieb. Sie waren sich der Inhalt ihres Lebens gewesen und das ihrer Enkelin ein fremdes von andrer Art, für dessen Zukunft sie wohl Sorge getragen, doch mit Pflichttreue, nicht mit einem Vollgefühl ihrer Herzen. Das hatte sie mit schlichter unschwächbarer Kraft nur für einander erfüllt, und an die Tochter der fremdländischen Frau ihres Sohnes dachten sie in diesen Augenblicken nicht mehr.

In das feste Geflecht des Schilfdaches aber sog sich jetzt allmählich das Wasser hinein, so daß es schwerer wurde, tiefer herabzusinken begann und die Wellen sich immer häufiger bis über den First herüberwälzten. Und nun kam einmal eine, mächtig aufgethürmt; wie ein dichter Rauchqualm umstob ihr Gesprühe das Dach, und als es zerflog, war die Stelle, wo die beiden Alten gewesen, leer. An Arnold Lohmer vorbei sah's Age Terwisga und sagte: »Sie sind fort und wir allein noch übrig. Miteinander sind sie fortgegangen.«

Kein Leid sprach daraus, vielmehr ein Aufklang des Gefühls, daß ihnen nichts Besseres habe zu theil werden können, und zugleich wie eine freudige Bereitschaft, den Beiden nachzufolgen, klang's aus den Worten. Das Mädchen faßte bei diesen nach einer Hand Arnolds und sprach weiter: »Im Schlaf auf der Düne hieltest Du mich so – da riß ich mich los von Deiner Hand und sprang auf. Denn ein Traum war's damals – aber nun halte ich sie fest, jetzt ist es Wirklichkeit. Hättest Du mich an dem Abend nicht angetroffen, so wärst Du nicht zu uns auf die Insel gekommen – und nicht – Du wärest nicht bis heute auf ihr geblieben. Ich weiß, meine Schuld war's, daß wir so hier beisammen sind – vergiebst Du's mir in unsrer letzten Stunde – oder wird's Dir zu schwer, zu sterben?«

Seltsam ineinandergemischt, halb geflüstert und halb wie ein Jubelton kam's ihr von den Lippen. Sich nur noch mit der einen Hand auf den First stützend, hatte sie ihren Halt geschwächt, oder wenigstens erschien's Arnold Lohmer so. Eine hohe Woge schwoll heran, und mit Schreck durchfuhr's ihn. Ihm war's, seine Todesgefährtin schwanke, werde jählings von seiner Seite weggerissen, und sie zu halten, schlang er plötzlich den freien Arm um ihren Nacken, wie's Hadlef Terwisga bei seiner Belke gethan. Und danach erwiderte er: »Ja, wir gehen auch miteinander, Age – nein, ich segne den Abend, der mich zu Dir und mit hierhergebracht.«

Dicht entgegen blickten sich ihre Augen, nah, mit jeder Minute näher rückend, vor ihnen lag das Unabwendbare, denn das Dach sank tiefer ein, doch aus keinem ihrer Gesichter sprach ein leisestes Anzeichen von Bangen; als gewahrten sie ein Glück vor sich, durchfloß sie freudig-rothe Lebensfarbe, und enger drängten die beiden sich, gleich den Alten zuvor, aneinander.

Da geschah Unvorgesehenes, im ersten Augenblick nicht Begriffenes. Geisterhaft tauchte durch den Mondglanz unweit von ihnen etwas Weißes auf, groß, fast blendend. Doch rasch sich nähernd und nun klar erkennbar. Ein Schooner mit gebauschten Segeln war's, von der Flut gegen die Elbströmung aufgetragen; dunkle Gestalten drängten sich an der Brüstung. Das Fahrzeug hielt auf das treibende Dach zu, es regte den Eindruck, daß Augen auf dem Schiff die nah vom Untergang Bedrohten wahrgenommen und sich Hände bereiteten, ihnen Hülfe zu leisten.

Plötzlich flog's Arnold Lohmer jauchzend vom Mund: »Nein, wir gehen nicht miteinander hinab, Age, wir bleiben beisammen. Das ist nicht der Tod, ist Rettung, das Leben! Es war uns nicht bestimmt, den Alten schon nachzufolgen – wir sind jung und werden noch leben –«

Mit einem hastigen Ruck hatte sie aus seinem haltenden Arm ihren Kopf weggezogen, richtete ihn auf, und ihre Augen hielten sich gleichfalls nach dem Segel gewandt. Sonderbar reglos-starren Blicks, und von ihrem Gesicht fiel die rothe Lebensfarbe ab, als wandle sich's zu weißem Gestein um. Unverkennbar ward's jetzt, auf dem Schooner sei ihre Noth bemerkt, man setze dort alles in Bereitschaft, sie zu retten.

Wie in einem Glückrausch aber sprach Arnold weiter: »Noch nicht zu spät war's – und der Retter ist bei uns und hat uns aufgenommen. Und wir spotten der Flut – und ich nehme Dich mit mir nach Hamburg – seitdem wir von der Düne zurückgekommen, trug ich's im Sinn, doch ich wußte nicht, wie – nun hat's der Wille des Schicksals bestimmt und führt es aus –«

Mächtig kam eine weißgemähnte Welle heran, der Age Terwisga den Blick entgegenrichtete. Ein irrer Glanz ging zwischen ihren weitoffenen Lidern hin und her, und sie stieß vom Mund: »Da – siehst Du's? Meine Mutter ist's, sie winkt mir. Ran hat sie vom Grund heraufgehoben und ist bei ihr und streckt die Hand. Ja, mit Dir – aber ich darf's nicht – sie ruft, meine Stunde ist's –«

Die verworren Sprechende griff plötzlich nach ihrer Bernsteinschnur, die sie von sich riß und über den Kopf Arnolds warf. Dazu sagte sie: »Bringe Deiner Braut den Gruß von mir!« Fast zugleich aber umschlang ihr Arm wie eine Klammer seinen Nacken, und ihre Lippen preßten sich auf die seinigen. Mit krampfhafter Gewalt, athemraubend, als wollten sie mit der Luft die Seele ihm aus der Brust trinken.

Dauerte es einen Augenblick oder eine Ewigkeit? Er wußte es nicht und wußte nicht, was danach geschehen war. Hatte die hochheraufgerollte weiße Welle sie von seiner Seite weggerissen? Einzig das sah und fühlte er noch, daß er allein sei.

Nur um ein Bruchtheil einer Minute vor dem Herankommen des Schooners war's vorgegangen. Enterhaken flogen von seinem Deck nach dem sinkenden Dach, zogen es an den Schiffsrumpf; mehrere, von geschickten Seemannshänden ausgeworfene Seile umfaßten mit Schlingen den Körper Arnolds, hoben ihn, besinnungsverlassen, der Fallreeptreppe entgegen, wo ausgestreckte Arme ihn empfingen. Als sie ihn weiter empor an Bord gebracht und wie leblos auf den Boden gelegt, versank hinter ihm das mit Wasser vollgesogene Dach des Gehöfts Hadlefs Terwisga in der schäumend drüber hinwogenden See.

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