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Der Juni, zählte zu den nur wenigen Monaten, die an den deutschen Nordseerändern länger andauernde Sonnentage zu bringen pflegten, freilich vermochte er sie auch durch schwere Stürme, in ihrer Heftigkeit denen des Spätherbstes kaum nachstehend, zu unterbrechen. Doch bewährte er in diesem Jahre seinen guten Ruf, ließ dem trüben Regen niederströmenden Tag bereits am nächsten etwas Aufhellung folgen, und wenn der Westwind auch noch seine Wolkenherde in dichtem Gedränge am Himmel dahintrieb, half er zugleich doch, unten das triefende Weidegras und durchweichte Erdreich aufzutrocknen, so daß die Sonne bei ihrer Wiederkehr am zweiten Morgen nicht viel mehr daran zu bessern vorfand. Auf's Neue ward es, wie's vorher gewesen; der traurig-finstre Ernst, der über der Insel gelegen, war weggeschwunden, sie zeigte abermals ein heiter lächelndes Antlitz, und in einem Einklang dazu scholl auf ihr das Lachen, das oftmals ein Zwiegespräch zwischen dem jungen Gast im Hause Hadlefs und der Enkelin des Alten begleitete. Doch waren sie neben diesem, nun schon seit bald zwei Wochen gewohnten Thun in ein neuartiges Verhältniß zueinander getreten, das eines Lehrers zu seiner Schülerin, die er in der Kunst des Lesens unterwies. Wie dies anzustellen sei, hatte ihm zuerst etwas Kopfzerbrechen verursacht, allein dann war er auf ein eigenthümliches, wohl kaum noch je zuvor angewandtes, doch gut den Zweck erfüllendes Verfahren gerathen. Ihm widerstrebte, seinen Unterricht in einem Raum des Hauses zu ertheilen, die freie Welt draußen bedünkte ihn allein dafür geeignet und geschaffen, so kam er darauf, die dem Mädchen unbekannten Buchstaben nicht auf ein Papierblatt zu schreiben, sondern mit einem feinzugespitzten Stöckchen bei der Ebbe in den tellerebenen feuchten Wattensand einzuzeichnen. Da standen sie in großer Gestaltung genau erkennbar, er benannte sie seiner Zuhörerin mit ihrem Laut, und sie sprach diesen nach, übte sich dann, auch den Schriftzug mit der Stabspitze nachzubilden. Um die Zeit des tiefsten Wasserstandes mußte es geschehn, eine wunderbare Schiefertafel war's und ein seltsamer Schulraum, sich zur Unermeßlichkeit ausdehnend; die Strandvögel, Regenpfeifer, Kampfhähne und Austernfischer liefen trippelnd im Halbbogen drumher, kamen manchmal, wie neugierig zuschauend, näher heran, hoben sich in die Luft und flatterten, ihre Rufe ausstoßend, über die Köpfe des Lehrers und der Schülerin hin. Merkbar strengte diese sich mit aller Kraft an, zu lernen, doch der Erfolg trat zu ihrem Bemühen in kein rechtes Verhältniß. Dem Zergliedern der Worte, die ihr beim Sprechen so leicht und selbstverständlich von der Zunge glitten, stand sie unbeholfen gegenüber, ein erwachsenes Geschöpf, für das Neue und Fremde nicht mehr mit der Eindrucks- und Aufnahmefähigkeit eines Kindes ausgerüstet. Ab und zu sagte sie, den Kopf schüttelnd: »Du giebst Dir umsonst Mühe mit mir, es geht nicht, ich bin zu dumm.« Das kam ihr halblachenden Ton's vom Mund, aber rührte den Hörer jedesmal sonderbar an, als klinge dabei aus ihrer Stimme etwas herauf, das ihn an den klagenden Ruf der Möwen erinnere, und in ihm ward ein Gefühl rege, als ob er vorhabe, eine Möwe in der Buchstabenkunde zu unterweisen. Doch ließ er nicht davon ab, beharrte, die Verzagende ermuthigend, sie lobend, wenn ihr einmal etwas besser gelang, mit unvermindertem Eifer, bis die Lehrstunde zu Ende gegangen. Dann empfing das Mädchen gewissermaßen einen Lohn für die erwiesene Beflissenheit; miteinander suchten sie einen geeigneten Platz auf, zumeist am Hang der Hochwölbung, eines kleinen alten Dünenrückens unter dem Leuchtthurm, ließen sich dort auf dem sonnenwarmen, mit graugrünen Halmen des Strandhafers, da und dort auch mit etwas Haidekraut bewachsenen Sand nieder, und Arnold fuhr im Vorlesen aus dem Odyssee fort. Da zeigte sich Age Terwisga merkwürdig verwandelt, ein wie von Tag zu Tage weiter reifendes Verständniß für die Welt der homerischen Dichtung, das ihr durch die fremdtönigen Namen der Götter und Menschen nicht beeinträchtigt ward. Sie wußte der oft für sie schwierig oder nicht genießbaren Schale überall den eigentlichen Kern zu entnehmen, das Geschehende mit seinen Beweggründen; ihr Gesichtsausdruck that kund, daß sich die Antriebe, Vorstellungen und Empfindungen der handelnden oder leidenden Personen auf sie übertrugen. Reglos horchend saß sie mit lebhafter als sonst gefärbten Wangen, in ihren auf die Seeweite hinausgerichteten Augensternen lag ein eigener, nicht wie von außen auf sie fallender, sondern aus ihrem Innern heraufkommender Glanz. Dann und wann überschlug der Lesende einige Verse, ohne sich selbst Rechenschaft zu geben, weshalb, aus einer unbestimmt-unwillkürlichen Anwandlung. Doch bemerkbar ward's bei der Wiederanknüpfung, und sie fragte einmal: »Warum läßt Du etwas aus?« Das brachte ihm erst den Anlaß zum Bewußtwerden, seine Zuhörerin sei ein Mädchen, für dessen Ohr sich ab und zu eine Stelle der alten Dichtung nicht eigne. Er versetzte: »Weil –« doch stockte, da er den wirklichen Grund nicht angeben konnte, und fügte schnell nach: »Es war etwas, das Du nicht verstanden hättest.« Aber an ihrem, ihm zugewandten Blick wich der seinige dabei vorüber, und eine Röthe stieg ihm in die Schläfen. Zum erstenmal hatte ihn im Zusammensein mit ihr jene Gefühlserkenntniß überkommen, sie gehöre dem andern Geschlecht an und ein Sittengebot sei's, darauf bei ihr nicht weniger Rücksicht zu nehmen, als bei einer vornehmen Hamburger Dame. Eher noch sorglicher, denn von ihrem Wesen ging, dem ihrer Heimathinsel gleichend, eine jungfräuliche Naturreinheit und Unberührtheit aus, wie sie sich in den Kreisen der großen Stadt wohl selten wirklich so, nur dem Anschein nach, vorfand. Und er erschrak bei der Vorstellung, durch eine Unachtsamkeit diese hohe Naturwürde seiner Zuhörerin zu beleidigen, überlas fortan stets erst am Morgen den nächsten Gesang, um eine für Age Terwisga darin nicht passende Stelle unvermerkt ausschalten zu können.

Einmal kam der Leuchtthurmwärter Geert Grawander aus seiner luftigen Höhe zu den Beiden, die er schon mehrmals so drunten beisammen wahrgenommen, an den Hang herunter und fragte: »Wat makt Ji hier tosam? Lißt de Herr wat ut dat Book? Ick hör' dat bet na baben; kannst Du dat denn verstahn, Age?« Merkbar hatte eine Neugierde ihn herbeigebracht, er setzte sich gleichfalls auf den Sand und hörte eine Weile lang dem Lesen Arnolds mit zu. Aber dann sagte er, den Kopf schüttelnd und aufstehend: »Nee, dat kann ick nich verstahn, un ick glöv meist, Age, Du kannst dat ok nich un schullst de Tid nich damit verspillen; dat is nix vör us, wul blot as Koken vör fiene Lüd, dato hörst Du doch nich und verdarvst Di de Mag damit.« Er stieg wieder zu seinem Thurmgelaß hinauf, seine Worte lagen dem Ohr Arnolds noch mit drolligem Klang in der Luft, und er fragte: »Soll ich aufhören? Spürst Du schon etwas Uebles im Magen?« Dazu mußte er lachen und das Mädchen that's ebenso; freilich war's eine komische Vorstellung, daß die Odyssee eine schmackhafte Kost für den alten Grawander sein solle. Er hatte sein Lebelang nichts andres im Sinn gehabt, als achtsam die Spiegel seines Leuchtfeuers blank geputzt zu halten und nach den vorbeiziehenden Schiffen auszusehn; das machte die Aufgabe und den Inhalt seines Lebens aus, was damit nicht zusammenhing, nannte er Zeitvergeudung. Doch auch mit Hadlef und Belke verhielt sich's nach dieser Richtung ziemlich in gleicher Weise; die letztere, völlig wieder gesundet, machte nach der Vorschrift des jungen Arztes zur Erholung von ihrer Webstuhlarbeit allnachmittäglich einen Rundgang um die Insel, und ihr Mann begleitete sie dabei, ließ sie nie allein außer Gesichtsweite vom Hause fort. Langsam wanderten die beiden Alten nebeneinander, dann sah man sie wohl da und dort eine Zeitlang am Uferrand stillstehn und auf die Seeweite hinausblicken. Worte tauschten sie nicht viel, das war nicht Friesenbrauch und auch unnöthig, denn jeder wußte, was der andre dachte, und verstand ihn ohne ein Lautwerden der Gedanken. Einmal kamen sie so auch an dem Platz vorüber, wo Arnold Lohmer vorlas, hielten ein bischen an und hörten zu; indeß nur kurz, dann gingen sie weiter. Augenscheinlich fiel die Odyssee an ihnen ähnlich ab, wie an Geert Grawander, sie konnten für sich nichts daraus entnehmen. Der kleine Vorgang brachte Arnold deutlich in's Bewußsein, von allen Bewohnern Neuwerks sei keiner sonst zu einer Antheilnahme an der Dichtung und einem Verständniß derselben befähigt, als Age Terwisga. Wie war sie allein in solcher Umgebung dazu gelangt? Absonderes lag darin, aber doch nicht Unerklärbares; es mußte als ein Erbtheil von ihrer Mutter herstammen, bei der selbst diese Anlage vielleicht nur gering ausgebildet gewesen sein mochte. Doch ihre Tochter war gleichsam als ein südländisches Reis auf den friesischen Stamm der väterlichen Abkunft gepfropft worden, hatte vermittelst der Kraft der letzteren ihren angeborenen Keimtrieb stärker entwickelt. Denn fraglos stellte sie auf der Insel ein solches Edelreis dar; Arnold erkannte mehr und mehr, in ihr müsse von Kindheit auf ein Drang nach höherem geistigem Emporkommen gelegen haben, der ohne irgendeine fördernde menschliche Beihülfe geblieben. Nur aus der großen Naturwelt ihrer Heimath hatte er eine Nahrung aufnehmen können, und nun war dem innersten Kern ihres Wesens, diesem Verlangen durch den Zufall eine Unterstützung zugebracht worden, gegen die sie sich anfänglich mit scheuem Trotz ihrer selbständigen Eigenart ablehnend verhalten. Dann jedoch hatte sie erfaßt, was sich ihr, nicht mehr erhofft, plötzlich dargeboten, und mit ganzer Hingabe suchte sie jetzt daraus den Trieb nach dem immer vergeblich Begehrten zu nähren und befriedigen. Diesen Einblick in ihre Seele erhellte sich Arnold zum erstenmal in voller Klarheit, als die beiden Alten nach kurzem Verweilen ihren Rundweg fortsetzten, und ihnen den Blick nachwendend, sagte er lächelnd: »Deine Großeltern würde das Geschick des Odysseus und der Penelopeia nicht bekümmern, wenn ich es ihnen vorläse; Du bist merkwürdig von andrer Art als sie.« Das Mädchen gab drauf Antwort. »Die brauchen nur sich selbst und wollen nichts, als beieinander sein. Aber mein Leben kommt ja von ihnen her, da muß es auch doch wohl von ihrer Art haben.« Sie hatte kurz aufgesehen, doch ihre Augen gingen bei der Entgegnung am Gesicht Arnolds vorüber, nach ihrer Gewohnheit in die Ferne hinaus, und er fuhr nach der flüchtigen Unterbrechung im Lesen fort.

Indeß nicht nur die Zeit dieses Vorlesens und des Unterrichts sah die Beide zusammen verweilen, sondern bei guter Witterung brachten sie täglich noch mehrere sonstige Stunden miteinander zu. Er hatte ja keinerlei Obliegenheit, so begleitete er sie und half ihr bei dem, was sie stets während der Ebbe betrieb. Dann ging das Mädchen mit einem Weidenkorb auf die trockengelegten Sande hinaus, um die dunkelblauen, eßbaren und äußerst schmackhaften Miesmuscheln einzusammeln, sowie mit einem kleinen gestielten Netz aus den Prielen, den tieferen Rinnen, in denen das Wasser zurückgeblieben, Taschenkrebse und ›das Kraut‹, die Garneelen, aufzufischen. Da verwandelte Arnold sich aus dem Lehrmeister zu einem Kameraden, der vielmehr seinerseits auf den Gängen von der Gefährtin mancherlei zu lernen vermochte. Allerhand wunderliches, ihm völlig fremdes Muschelgethier lag auf den Watten verstreut, das große gewellte Kinkhorn mit seinen sonderbaren, kugelich zusammengeballten Eierhülsen, der merkwürdig als Bewohner in ein leeres Schneckengehäuse eingezogene Einsiedlerkrebs, seine vier spitzen Beine aus der Schalenöffnung streckend und mit zwei langgestielten Augen aufmerksam hervorblickend. Runde, stachlichte Seeigel und braunrothe Seesterne mit fünf oder sechs polypenhaften Saugfüßen, auch hellroth berüsselte Fischreusen gesellten sich hinzu; zuweilen hatte die Flut vom tieferen Meergrunde versteinerte Ueberbleibsel aus ferner Vorzeit, ›Donnerkeile‹ und Bernsteinstücke heraufgeschwemmt. Das alles kannte Age Terwisga von Kindheit her, wußte Namen dafür und that es gleichfalls in den Korb hinein; den Bernstein hieß sie mit urältester Bezeichnung ›Glesum‹, eine auf riesenhaftem Schiff umfahrende Göttermutter hatte ihn einstmals als Halsschmuck getragen und das Mädchen deshalb die im Lauf der Zeit von ihr aufgefundenen Bruchstücke auch zu einem Halsband zusammengereiht, dem alte Kraft innewohnte, vor bösen Geistern zu beschützen. Davon sprach sie in einem Tone, der nicht recht unterscheiden ließ, ob sie diese Schutzkraft nur für eine Märe und Aberglauben halte oder selbst davon überzeugt sei, beides schien sich ihr zu vermischen, wie wenn sie's mit dem Verstand ablehne und doch mit einem Gefühl in sich trage. Auf den Wattenwandrungen trug sie keine Schuhe, die hätten sich in den feuchten Grund zu scharf eingedrückt und das Ausschreiten stark behindert; das hatte auch Arnold bald eingesehen und ging, wenn er sie so begleitete, auf ihren erfahrenen Rath wie jeder Inselbewohner ebenfalls barfuß. Vor allem erforderte dies das Ueberspringen der schmaleren Priele mit Nothwendigkeit, beim Anlauf dazu wäre Schuhzeug bis an die Knöchel in den weichen Boden eingesunken. So aber fiel ein leichtes sich Hinüberschwingen möglich, und die Beiden fanden Vergnügen daran, in der Behendigkeit des Sprunges zu wetteifern. Die bloßen Füße Age's zeigten sich, der Größe des Mädchens entsprechend, nicht klein, aber unterschieden sich doch in ähnlicher Art von denen der friesischen Gehöftmägde, wie's an dem Wäschemorgen ihre entblößten Arme gethan. Ihre Breite war erheblich geringer, und aus einer schönen Untadligkeit ihrer Ausbildung sprach unverkennbar gleichfalls die Herstammung von der Mutter. Der Blick des jungen Arztes haftete manchmal mit anatomischer Bewunderung auf ihnen, ihm waren durch seinen Beruf viele Menschenfüße, auch, von Frauen und Mädchen, zur Anschauung gekommen, doch so fehlerlos gestaltete Zehen hatte er kaum je bei einem gefunden, von früh auf durch kein täglich einzwängendes Schuhwerk in der freien Entwicklung beeinträchtigt. Wenn Age Terwisga sich über ein breiteres Wasserrinnsal fortschwang, flog ihr grauer Friesrock zuweilen etwas empor, ließ flüchtig auch das schmale Knöchelgelenk und eine Handbreit des sich zu kraftvoller Wade anrundenden Beines sichtbar hervortreten. Doch offenbar dachte sie nicht dran, dies zu vermeiden, bekümmerte sich nicht darum. Die zimperliche Achtsamkeit und Scheinsprödigkeit städtischer Damen war etwas ihr Unbekanntes, naturgemäß war's so, und ihr kam nicht in den Sinn, was sie beim Sprung kurz zur Schau bot, könne von jemandem als weiblicher Sittigkeit zuwiderlaufend angesehn werden.

Nicht nur über Meergethier und Gestein konnte sie ihren Begleiter unterrichten, manches ihm nicht Bekannte wußte sie auch von der Vergangenheit der Insel mitzutheilen. Diese hatte gleich den nordfriesischen Halligen ehedem größeren Umfang besessen, an einigen Stellen war's noch durch Abstufung des Wattengrundes erkennbar, und eine von diesen hielt Age für den Platz, auf dem sich das wichtigste Ereigniß, das Neuwerk erlebt, zugetragen. Das war vor bald vier Jahrhunderten geschehen, als hier noch kein Leuchtthurm gestanden und die einsame Insel, bei den Schiffern arg in Verruf, kaum je von einem Fahrzeug besucht worden. Damals hatte die Hansestadt Hamburg eine Flotte gegen ihre gefährlichsten Feinde, die ›Vitalienbrüder‹ oder ›Likedeeler‹ gerüstet, die seit Jahrzehnten den Handelsschiffen in der Nordsee auflauerten, sie überfielen und wegschleppten oder ausraubten und verbrannten. Ihr Oberhaupt war der weitgefürchtete Claus Störtebeker, ein Mann von gewaltiger Körperkraft und unschreckbarer Tollkühnheit; von einem edlen Geschlecht sollte er abgestammt sein, und die schöne Tochter des großen ostfriesischen Häuptlings Keno ten Broke hatte heftige Liebe zu ihm erfaßt, so daß sie seine Frau ward, die ihn überallhin auf seinen wilden Umfahrten begleitete. Seinen Seeräubernamen trug er von einem ungeheuren Becher, dessen Inhalt er auf einen Zug herunterzustürzen vermochte; bei den Gefangenen, die ihm in die Hände fielen, stellte er eine Probe an, ob sie es ihm gleichthun könnten. Gelang's ihnen, so nahm er sie als brauchbare Beihelfer zu sich aufs Schiff, doch wenn sie sich außer stande zeigten, den Trunk zu bewältigen, warf er sie über Bord. Lange Zeit hatte der mächtige Hansabund, der selbst den dänischen König niedergezwungen, sich von ihm und seinen Genossen in der Ost- und Nordsee auf's schwerste schädigen lassen müssen, bis die Hamburgische Flotte nach Ostfriesland ausgezogen, dort Schlupflöcher und Vesten der Likedeeler eingenommen, die Insassen niedergemacht oder als Gefangene nach Hamburg gebracht, wo ihnen auf der Richtstatt des Grasbrook die Köpfe vor die Füße gelegt worden. Doch half dies dem schlimmen Uebel nicht ab, denn Claus Störtebeker war mit seinen überaus hurtig segelnden Schiffen entkommen, und vergeblich machte der Anführer der hansischen Seemacht, Simon von Utrecht, mit seinem Hauptschiff, der ›bunten Kuh aus Flandern, die mit den starken Hörnern durch das Meer brauste‹, auf die Entronnenen Jagd, bis ihm eines Tag's Kunde ward, sie lägen am Rande von Neuwerk gleich einer Anzahl von Seehunden vor Anker. Ein offener Versuch, ihrer dort habhaft zu werden, verhieß aber keinen Erfolg, da sie sich voraussichtlich im Tageslicht nicht überraschen lassen und die größere Geschwindigkeit ihrer Fahrzeuge ihnen abermals zum Davonkommen verhelfen würde. Dies zu vereiteln, ersann ein Ewerschiffer aus dem Elbdorf Blankenese bei Hamburg einen klugen Plan, ruderte in einer Jolle allein durch Wind und Nebel beim Nachtdunkel an die Insel und begab sich über diese hin zu den Schiffen der Seeräuber, die er, von Meth und Wein berauscht, in festem Schlaf liegend antraf. So gelang's ihm, sich unvermerkt an Bord aufzuentern und in die Angelröhren der Steuerruder geschmolzenes Blei zu schütten; ebenso ungesehen kehrte er danach zur Hamburger Flotte zurück. Die hatte sich im Dunkel durch das gefährliche, mit Untiefen drohende Fahrwasser Neuwerk nicht nähern dürfen doch als der Morgen zu dämmern begann, segelte sie herzu, und wie bei dem Anblick ihrer Uebermacht Claus Störtebeker sich nun mit den Seinigen eilfertig zur sichernden Flucht wenden wollte, versagten ihnen die festgelötheten Steuer, die Schiffe ließen sich nicht bewegen, denn auch das Eingießen von siedendem Oel löste die Bleiklammer nicht ab. Die wilde Räuberschaar mußte den Kampf aufnehmen, der drei Tage und drei Nächte durch angedauert haben sollte. Aber die ›bunte Kuh‹ Simons von Utrecht war zu stark, rannte mit ihren Hörnern das Hauptschiff Störtebekers in Trümmer, die See färbte sich roth vom Blute der Erschlagenen, und zum Schluß ward jener mit dem Ueberrest seiner Helfershelfer gefangen und gefesselt nach Hamburg davongeführt, um dort auf dem Grasbrook gleicherweise wie ihre Vorgänger durch das Richtschwert des ›Meisters Rosenfeld‹ um ihre Köpfe verkürzt zu werden.

Vom letzterem Vorgang wußte Arnold Lohmer, erhaltene Volkslieder sprachen davon, wie die Frauen und Jungfrauen Hamburgs mit vielem Wehklagen und Beileid der ungeschreckt-trotzigen, stattlich in ihre reichsten Gewänder gekleideten Seeräuberschaar das Geleit zur Richtstatt gegeben. Ein Reimspruch berichtete, der Meister Rosenfeld habe ›in geschnürten Schuhen bis an die Enkel im Blut gestanden‹, und dran knüpfte sich die Sage, von Einem aus dem ehrbaren Rath sei nach Vollendung der ›Arbeit‹ an ihn die theilnahmvolle Frage gestellt worden, ob er schwer an Erschöpfung leide. Da jedoch habe der Befragte grimmig gelacht und erwidert, ihm sei's nie im Leben wohler zu Muth gewesen und er spüre genug Kraft in sich, um noch den ganzen Ehrbaren Rath ebenfalls um seine Köpfe kürzer zu machen. Das sei diesem aber mit Grausen in die Glieder gefahren, so daß er augenblicklich Auftrag gegeben, einen Kopf, der so gefährliche Gedanken und Gelüste beherberge, gleichfalls vom Rumpf abzuschlagen.

Doch daß Neuwerk der Schauplatz des blutig-ingrimmigen Kampfes zwischen den Hamburgern und den Likedeelern, sowie der Niederwerfung Claus Störtebekers gewesen, war Arnold unbekannt, und gespannten Ohres horchte er auf das, was Age Terwisga ihm darüber mittheilte. Ihr Wissen stammte von alten Fortüberlieferungen auf der Insel her, aber sie hatte diese aus eigenem Vermögen zu einer eigenthümlichen Anschaulichkeit der Schilderungen zusammengefaßt, fraglos würde kein Andrer es so gekonnt haben. Mehrfach rührte es den Hörer an, in ihrer Darstellungsweise liege etwas von homerischer Art; mit außerordentlicher Kraft der Phantasie gestaltete sie alles wie Selbstgesehenes und -Vernommenes vor die Sinne, und als sie von der Einschüttung des geschmolzenen Blei's in die Steuer durch den Blankeneser Schiffer gesprochen, hatte es nicht nur den Eindruck geregt, als ob sie zuschauend daneben gestanden, sondern auch, wie wenn der kluge Odysseus von einer seiner listigen Thaten erzählt habe. Eine seltsame, staunenweckende Naturbegabung sprach aus dem Mädchen, dem das Begreifen dessen, was jedes kleine Kind sich spielend zu eigen machte, das Erlernen und Nachschreiben des Alphabetes so schwer fiel; sie vermochte gewissermaßen alles aus sich selbst zu schöpfen, doch nichts ihrem Wesen Fremdes von außen in sich aufzunehmen; dem gegenüber lag eine Schranke vor ihrem Verständniß. Uebrigens, obgleich sie's mit keinem Wort kundgab, wandte merklich ihre Antheilnahme sich mehr den Seeräubern zu, weil diese nicht in gleichgestellt-offenem Zweikampf, sondern durch Anwendung von List ihrer Gegner überwältigt worden; ein Gerechtigkeitsdrang schien sich in ihr gegen das nächtlich-heimliche Festmachen der Steuerrohre aufzulehnen, und Arnold Lohmer konnte sich nicht erwehren, daß diese von ihr ausgehende menschliche Empfindung auch über ihn Macht gewann, obwohl die Anschauung seines Verstandes sich auf die Seite der Hamburger stellen mußte. Sie standen während der Erzählung Ages auf dem trocknen Wattengrund an einer Stelle, bis zu der sich damals der westliche Inselrand erstreckt und wo nach der Meinung des Mädchens die tosende Seeschlacht stattgefunden hatte; nun lag hier ringsum todte Leere und Stille, nur fernher vom Westhorizont kündigte ein dumpftöniges Gemurre die rückkehrende Flut an. So wandelten sich Menschengeschlechter und Dinge auf der Erde, waren auch an diesem einsamen Eiland gekommen und vorübergeschwunden, und die grauen Sande überdeckten wie eine riesenhafte stumme Gruftplatte die Vergangenheit; nur Wind und Welle und die schwebende Möwe blieben immer dieselben, die stets gleiche Gegenwart. Nirgendwo anders konnte die Erkenntniß der Vergänglichkeit des Menschendaseins, das Gefühl dessen, was dies flüchtige Leben als seinen Zweck zu erreichen suchen müsse, so in's Innerste eindringend, überkommen; der junge Arzt blickte ein Weilchen schweigsam in die Ferne hinaus. Dann gerieth ihm eine Frage auf die Zunge: »Sagt die Ueberlieferung nichts davon, ob die junge Frau des Störtebeker mit hier bei dem Untergang ihres Mannes zugegen war und was aus ihr geworden ist?« Age Terwisga, die gleichfalls verstummt gestanden, hob den Kopf und antwortete: »Die wird Ran zu sich heruntergenommen haben, oder sie ist zu ihr gegangen.« Das verstand der Hörer nicht gleich und fragte: »Was meinst Du damit?« Nun versetzte das Mädchen nur kurz: »Sie war eine Friesin«, und bewegte den Fuß zum Weitergehen vor. Arnold aber wachte dabei das Gedächtniß an die Herfahrt von Cuxhaven in der Sturmnacht auf, während der seine Bootführerin ihm von der weißhaarigen Ran erzählt hatte, um ihn über den in jedem Augenblick drohenden Untergang wegzutäuschen, und anknüpfend entgegnete er: »Du sagtest mir im Boot, als wir uns noch fremd waren, Ran strecke ihre Hand nur nach dem, für den es die Stunde sei. Seitdem hast Du mir nicht wieder von ihr gesprochen; thu's jetzt, hier paßt der Ort dazu, und ich höre gern noch mehr, welcher Art sie in der Vorstellung der Leute ist. Denn Du selbst glaubst ebensowenig an sie, als an die Wunderkraft Deiner Bernsteinschnur.« Doch Age schüttelte nur den Kopf und erwiederte: »Weiter kann ich Dir nichts sagen, ich weiß nichts von ihr, meine Stunde war noch nicht.« Merkbar wollte sie heut' von Ran nicht sprechen und hören, fügte ausschreitend hinterdrein: »Wir müssen zurück, die Flut kommt,« und sie wandte sich schweigend vorauf dem Inselufer zu.

Nur an seltenen Tagen im Jahr trug die Himmelskuppel über der Nordsee auch bei völliger Wolkenlosigkeit tiefblaue Farbe, meistens mischte sich ein weißlicher Ton hinein und den Horizontrand umgab ein verschleiernder Streifen bläulichen Dunstes oder Duftes, der den Fernblick beschränkte, oft selbst die Festlandsküste nicht mehr wahrnehmen ließ. So zeigte der Junihimmel sich jetzt und verhieß nach langer Erfahrung durch sein Aussehen eine Beständigkeit der guten Witterung; unbeständig dagegen, immer sich ändernd, waren Ebbe und Flut. Die letztere trat täglich beinah um eine Stunde später als am Vortage ein, wie der Mond, ihr Urheber, nach vierundzwanzig Stunden ungefähr mit gleicher Verspätung über den Horizont zurückkam. Dadurch verschoben sich stetig, die ›Gezeiten‹, wie Flut und Ebbe mit einem Sammelnamen benannt wurden; wo vor vier Tagen die Sande am Vormittag vom Wasser überdeckt gewesen, lagen sie nun um diese Zeit trocken, zeigten sich dafür am Nachmittag unzugänglich; jeder Tag brachte im Kleineren solchen Wechsel, nach dem Age Terwisga und ihr Begleiter sich mit ihrem Hinauswandern auf die Watten und Einsammeln in den Korb richten mußten. Gegenwärtig begann die Ebbe schon ziemlich früh am Morgen und erreichte gegen Mittag ihren tiefsten, nur kurz andauernden Stand, so brachen die beiden jetzt alsbald, nachdem Arnold seinen Frühimbiß eingenommen, auf und folgten dem absinkenden Wasser nach, während der Unterricht und das Lesen der Odyssee auf den abendlichen Wiedereintritt der Ebbe verlegt worden. Der Himmel bot seine, Sicherung verbürgende Erscheinung dar, nur im Westen begrenzte ihn ein ganz feiner grauer Strich, so schmal, daß er für den Blick kaum auffaßbar war; weich kam der leise Wind von ihm her, die nur leicht verhängte Sonne überfloß alles mit heitrem Licht und erfüllte auch die Gemüther der beiden nebeneinander Ausschreitenden mit Frohsinn. Ihre Schatten bewegten sich gleichfalls über die Sandfläche fort, trennten sich auseinander und stießen dann einmal plötzlich mit den Köpfen zusammen; darüber scherzten und lachten sie. Rundum blinkten auf den Watten von der See zurückgelassene Dinge, zuweilen mit geheimnißvollem Glanzschein, wie kostbare Schätze; denen liefen sie, jeder nach seiner Seite zu, kehrten wieder, zeigten ihre Funde und verspotteten sich wechselseitig über die Herrlichkeiten, die sie zu entdecken gemeint. Dann blieb Arnold Lohmer einmal wie festgebannt stehn und stieß, mit der Hand deutend, hocherstaunt aus: »Was ist das? Ist da über Nacht eine Insel aus der See aufgewachsen?« Die Umgebung von Neuwerk war ihm nach allen Richtungen schon genau vertraut, und er wußte, daß sich nach Norden wie nach Westen nirgendwo eine Landküste gewahren lasse; doch deutlich hob sich heute vor seinen Augen über dem bläulichen Duftstreifen am Himmelsrand nordwärts ein kleines Eiland auf, länglich hingestreckt und in der Mitte wurftartig erhöht, so klar ausgeprägt, daß man auf der Anwölbung ein Gebäude zu unterscheiden glaubte. Auch Age sah jetzt, der Deutung folgend, hin, hielt den Blick kurz drauf verwandt, aber sagte dann: »Das ist nichts, nur Trug, er wird gleich wieder fort sein.« Dazu hob sie den Arm, machte mit der Hand eine wie wegscheuchende Bewegung, und merkwürdig war's, als ob die Inselerscheinung dadurch in der That zum Fortschwinden gebracht werde, denn sie begann zu verblassen und zerrinnen. Das Mädchen drehte den Kopf davon ab und ging weiter, doch wortlos, wie's den Eindruck machte, durch den flüchtigen Anblick verstimmt und der bisherigen fröhlichen Scherzlust beraubt. Dann indeß brachte sie vom Mund: »Die Ebbe wird heut' so niedrig, daß wir bis nach Scharhörn kommen und sehn können, ob Seehunde dort liegen; aber wir dürfen uns nicht aufhalten.« Und sie gesellte dieser Mahnung ein eilfertiges Fortschreiten hinzu.

Unweit gen Norden zog an Neuwerk die breite und tiefe Elbausmündung vorüber, doch im Westen wie im Osten lag es von Watten umgeben, dem Steilsand, Ribbel- und Bottsand, am weitesten westwärts dehnte sich der größte, ›Scharhörn‹ benannte Sand hinaus, mit dem ›Scharhörner Riff‹ endend, das die See beständig mit einem weißen Brandungsgürtel umlagerte. Dort kamen hauptsächlich, um sich zu sonnen, die Robben herauf, von denen dem jungen Arzt trotz seinem Wunsch noch keine zu Gesicht gerathen, da sie in scheuer Vorsicht die der Insel näher belegenen Wattenränder nicht aufsuchten. Ihn erfreute es, heut' vielleicht sein Verlangen, das Age bekannt war, erfüllt sehn zu können, und er beschleunigte mit ihr den Schritt; was sie bei dem Anblick des so sonderbar über dem Dunststreif aufgetauchten kleinen Eilands gesagt und gethan hatte, sowie ihre danach merkbar verwandelte Stimmung war ihm nicht verständlich geworden, und rasch schwand ihm auch beides aus dem Gedanken. Denn die Fortsetzung des weglosen Weg's erheischte Aufmerksamkeit; wenngleich nur selten ein breiteres Priel die Fläche durchzog, enthielt sie doch vielfältig ein feines Geäder von kleinen Tiefrinnen und dazwischen senkten sich Mulden, mit zurückgebliebenem Wasser angefüllt, ein. Auch die Beschaffenheit des Bodens wechselte, der fester war, wo er aus reinem Meersand oder einer Thonschicht bestand; zuweilen indeß bildete eine schwanke Torflage den Untergrund oder Strecken wurden von einem breiigen Schlick überlagert. Rathsam war's, solche brüchig-schlüpfrige Stellen zu umgehn, und das Mädchen, das sie untrügbar sofort mit dem Blick unterschied, gab in öfteren Zickzackwendungen die am günstigsten einzuschlagende Richtung an. Ueberall zeigte sich der Scharhörner Sand gleichmäßig von laufenden und aufflatternden Wattenvögeln bedeckt, die vielfach sich mit Gezänk und Geschrei ihre Beute abzujagen suchten; weiter draußen, der See zu, umschloß ein dichter Kranz größerer dunkler Punkte den Rand des trocken gelegten Sandes, unablässiges rohrendes Geschnatter ließ sie als ein Durcheinander Tausender von Wildgänsen und -Enten erkennen. Neben dieser lärmend-lebendigen Gegenwart redeten todte Reste mit stummer Sprache von einer fernen Vergangenheit, ›Rollholz‹, schwarzfarbige Holzstücke in kuglich oder eiförmig abgerundeter Gestalt, Wäldern entstammt, die in grauer Vorzeit hier gestanden, als noch gesichertes Festland sich weit in das jetzige Gebiet der See hinauserstreckt. Auch ähnlich von rastlosen Wellen rundgeschliffenes und heraufgerolltes Gestein sah hin und wieder aus dem Schlamm, legte letztes Zeugniß von Wohnstätten ab, die einmal Menschenhände in der heutigen weiten Oede erbaut gehabt. Vermuthlich durch Senkung des Bodens waren diese ehemals höher ragenden Landstriche dem zerstörenden Angriff der Wogen preisgegeben worden; indeß hatte sich hier sogar eine Welt mit tropischem Wachsthum befunden, ab und zu bückte Age Terwisga sich, ein Stückchen Bernstein, das ausgeschwitzte Harz eines vorzeitlichen Palmenbaumes aufzuheben; nichts Geringstes entging dem möwenartigen Scharfblick ihrer Augen. So wanderten die Beiden dem Scharhörner Riff entgegen, an dem große dunkle Flecken die Anwesenheit der gesuchten Seehunde kundgaben. Einige lagen unbeweglich, offenbar schlafend, auf dem Sand hingestreckt, doch hinter ihnen tauchten andre im Wasser auf und nieder, schnellten sich, auf dem Rücken oder Bauch schwimmend, hurtig wie in tanzendem Spiel durcheinander. Ein fesselnd unbekannter Anblick war's für Arnold Lohmer, der von der Seite seiner Gefährtin fort sich schnell den nächsten zuwandte, um sie genauer betrachten zu können. Doch hatte er nicht mit der Vorsicht der stets eine Wache ausstellenden Robben gerechnet, denn auf einmal fuhren alle ruhig ausgestreckt liegenden gleichzeitig mit einem jähen Ruck empor, eine schwärzliche Masse drängte sich augenblicklang zusammen, stürzte in's aufplatschende Wasser, und im Nu war die gesammte Schaar spurlos verschwunden.

Fast zugleich aber begab sich noch etwas Andres, von dem enttäuschten Zuschauer ebenso Unvorhergesehenes. Er stand plötzlich ganz in eine vollkommen undurchsichtige, feuchtweiche Masse eingehüllt; der Westwind hatte den dünnen grauen Strich vom Horizont heranbewegt, und eine eigenthümliche Nebelschicht war's, die sich offenbar nur niedrig über dem Boden hinzog, denn von obenher schimmerte die blaßblaue Himmelsfarbe erkennbar hindurch. Nach den Seiten dagegen ließ sich auf doppelte Schrittweite nichts mehr wahrnehmen, und Arnold fand keinerlei Anhalt dafür, wo seine Begleiterin geblieben sei. Er glaubte zwar, die Richtung einschlagen zu können, aus der er von ihr gegangen, doch mußte nach wenigen Schritten einsehn, sie aufzufinden sei im wörtlichen Sinne aussichtslos, jede leiseste Abbiegung müsse ihn an ihr vorbeiirren lassen. So blieb er stehn und rief laut: »Age!« Dann nochmals, aber es kam keine Antwort. Erst nach mehrfacher Wiederholung klang's von der entgegengesetzten Seite her, aus der er eine Entgegnung erwartete: »Arnold!« Nun wechselten die Rufe hin und wieder, kamen sich näher, und dann tauchte plötzlich ein sonderbares Bild vor ihm auf. Der Nebel lag, jetzt nach oben scharf abgeschnitten, so niedrig, daß der Kopf des herzukommenden Mädchens bis an den Hals aus ihm hervorragte, von der Gestalt dagegen war kein Schimmer zu gewahren. So nahte sich auf dem grauen Gemenge allein ihr vom dunklen Haar umrahmtes Gesicht, gleich dem aus einer Wasserfläche hervortauchenden einer Schwimmerin, und durch Gegensatzwirkung erschienen ihre Augen, über der Nebeldecke wie zwei blauleuchtende Edelsteine. Auch Arnold befand sich mit dem Kopf ebenso im Freien, ohne daß ihm zur Vorstellung gerieth, er müsse den nämlichen absonderen Anblick bieten; seine Phantasie gestaltete sich im ersten Augenblick das körperlos schwebende oder schwimmende Antlitz zu dem einer Wila, einem in nordischen Sagen umgehenden Meerjungfrauen-Wunder, so daß ihm unbewußt vom Munde flog: »Wer bist Du?« Darauf klang die Antwort zurück: »Wer sollte ich denn sein? kennst Du mich nicht mehr?« und zweifellos war's die Stimme Ages Terwisga, die jetzt rasch dicht zu ihm herankam, und die Lippen beider umspielte gleichzeitig ein lachender Ausdruck, ohne daß sich eigentlich ein Anlaß dazu geboten. Obwohl sie so im gleichen Fall war, fragte sie: »Warum lachst Du?« und er versetzte: »Warum thust Du's?« Doch nach flüchtigem Anhalten fuhr er fort: »Noth, scheint es, lehrt nicht nur beten, sondern auch rufen; ich glaube, wir haben uns durch sie zum erstenmal mit unsern Namen genannt.« Sie erwiderte nichts darauf, ihrem Gesicht ließ sich indeß mit ziemlicher Deutlichkeit entnehmen, derselbe Grund habe auch ihr Lachen veranlaßt; nun sprachen sie einiges hin und her über den jähen Einfall des wunderlichen Nebels, der jedoch für Age nichts Fremdes war. Nach ihrer Erfahrung bedeutete er nicht Uebles, sondern Gutes, sie kannte ihn seit langem, hatte nur früher als Kind nicht mit dem Kopf aus ihm hervorgeragt, und so war's ihr ein paarmal geschehen, daß sie, obwohl in der Nähe der Insel, kaum nach dieser zurückfinden gekonnt. Beim letzten aber brach sie ab und setzte schnell hinzu: »Heute sind wir weit von ihr und dürfen nicht länger warten.« Es schien, daß ihr Ohr einen Augenblick scharf aufhorchte, dann fügte sie nach: »Komm! Halte Dich dicht neben mir, damit wir uns nicht wieder aus dem Gesicht verlieren,« und merklich zur Eile drängend, schlug sie den Rückweg ein.

Von diesem, seiner Richtung hatte Arnold nicht die leiseste Ahnung berührt; ringshin war nichts vorhanden, als die fast eben geglättete Nebeldecke, der weißbläuliche Himmel drüber und an diesem ein hellerer Fleck der verhängten Sonne. Nach dem allein richtete sich augenscheinlich das Mädchen, das jetzt auf die Bodenbeschaffenheit nicht Acht gab, keine Zickzackumwege einschlug, sondern ständig gradausgehend, nach jedem Schritt den Blick wieder gegen den lichteren Sonnenfleck aufhob. Manchmal ging's so über klebrige Schlickstrecken, die den Fuß hemmten, oder er sank an Stellen, wo eine Torfschicht den Untergrund bildete, bis über die Knöchel ein, auch Wasserrinnen nöthigten öfter zum Uebersprung. Der junge Arzt sagte einmal: »Wir thun, glaube ich, besser, hier ein Stück nach rechts oder links auszubiegen,« doch seine Begleiterin hielt ohne Erwiderung die grade Richtung weiter inne. Dabei beschleunigte ihr Gang sich immer mehr, sogar breiteren Prielen wich sie nicht aus, verschwand ab und zu auch mit dem Kopf unter dem Nebel, als sei sie in den Boden niedergesunken. Dann hatte sie, ihren Rock fest um die Knie zusammenraffend, ein tieferes Rinnsal durchschritten, Arnold erkannte es nur daran, daß er, ihr nachfolgend, bis zu den Hüften in Wasser eingetaucht war. Wenn sein Kopf wieder frei über die Nebelschicht hinaufgelangte, lag in der Luft ein leises, dumpfes Murren, fernher aus Westen kommend, das ihm den Gehöreindruck regte, sich zu verstärken. Seit wie lange sie schon gegangen seien, wußte er nicht zu bemessen, eine Stunde konnt's gedauert haben, oder auch erst eine halbe; für die Zeit gab's so wenig ein Maß, wie für den Raum umher. Vor seinen Augen war nichts als der Kopf Ages Terwisga und ebenso für seine Empfindung; ihn bedünkte es, als gehe er in einem Traum, der jeden Versuch, über diesen nachzudenken, unter einem nebelnden Gefühlswallen auslösche. Dann schlug einmal ein Ausruf des Mädchens an sein Ohr: »Da sind sie schon!« – »Wer?« fragte er zurück.

»Ihre Boten.«

Ein kreischendes Gelärm erscholl gleichzeitig über ihm, Tausende von Möwen und Seeschwalben durchschossen und erfüllten auf einmal die Luft, und plötzlich faßte ihn Besinnung und Erkenntniß an, wessen Vorboten sie seien; sie meldeten die Flut, jagten ihr kurz voraus. Darum eilte Age in solcher Hast, mit dem mannigfachen Aufenthalt auf dem Hinweg war's zu weit bis zum Scharhörner Riff gewesen, sie mußte, ihrer sonstigen unfehlbaren Sicherheit entgegen, heute Morgen auch kein Zeitgefühl in sich getragen, den Wiedereintritt der Flut nicht richtig bemessen haben. Doch ihr Ohr hatte offenbar schon länger die Ankündigung derselben aufgefaßt, und sie war sich der durch den Nebel zum äußersten Maß angesteigerten Gefahr bewußt. Arnold fragte jetzt: »Wie weit sind wir noch von der Insel?« Ihre Antwort lautete: »Ich weiß es nicht, wann wir auf sie treffen.« Er suchte möglichst ruhige Gelassenheit in seine Wiederholung ihrer Worte zu legen: »Und wenn wir nicht auf sie treffen, was dann?« »Dann – dann finden wir sie nicht. Es wird schlimmer –«

Das letzte bezog sich auf den Nebel, der jetzt in wallende Unruhe zu gerathen und höher aufzusteigen begann, so daß er auch die Köpfe der Beiden umhüllte. Nur der Grund vor dem Fuß ließ sich noch matt unterscheiden, und das Mädchen sagte nun: »Da ist ein breites Priel, mir müssen durch. Aber ich konnte Dir dabei aus den Augen gerathen – komm!«

Sie griff nach seiner Hand, zog ihn mit sich durch die Wasserrinne, die unverkennbar von der nahenden Flut sich schon stärker anfüllte, dann liefen sie, so Hand in Hand bleibend, eiligst vorwärts. Doch nur einige Minuten mochten vergangen sein, da kam's ihnen von hinten nach, noch hurtiger laufend als sie. Zuerst fast unmerklich, eine leis huschende, ganz kleine, kaum fühlbar anrührende Welle; rasch aber folgten schon andre um ein wenig höher drein, und wieder neue spülten bereits leicht über die Füße herauf. Mit dem Himmel waren auch die droben wildjagenden Wasservögel unsichtbar geworden, nur ihr unablässiges Gekreisch schlug, wie ein Hohngelächter klingend, herunter, tönte, als ob sie zuharrend auf das Wehrloswerden einer Beute lauerten. Arnold Lohmer kam's klar in's Bewußtsein, zum andernmal greife die Nordsee nach seinem Leben, diesmal mit scheinbar spielender Hand, doch in Wirklichkeit mit Fängen, aus denen, wenn es ihnen zu packen gelang, kein Entrinnen möglich fiel. Aber mit keinem Gedanken dachte er heut' an seine eigene Bedrohung, sondern einzig an die seiner Gefährtin. Wie eine erdrückende Last legte sich's ihm auf, er trage die Verschuldung an ihrem Untergang; zu den Kniekehlen schlugen ihm jetzt die Flutwellen hinan, und im athemlosen Lauf stieß er durch den rauschenden, brausenden Ton des Wassers hervor: »Age, zürnst Du mir?« Sie vernahm's noch und fragte, den Kopf zurückwendend: »Ich Dir? Warum?« – »Daß Du durch mich – weil ich zu den Seehunden wollte –«

Was ihr durch seine Schuld bevorstehe, sprach er nicht aus; sonderbar schien sie's zugleich zu bejahen und verneinen, denn ihr Mund erwiderte nochmals, doch ohne einen Klang des Vorwurfs: »Ja, durch Dich kam's, ich gab nicht Acht.«

Nun mit Gedankenschnelligkeit stieg das Wasser ihnen zu den Hüften auf, begann die Füße schwanken zu lassen; ihre Hand klammerte sich fester um die seinige. Da verschwand sie, war ausgeglitten und vornübergestürzt. Er bückte sich ihr nach, sie aufzuraffen, auf seine Arme zu heben, doch blitzschnell richtete sie sich selbst empor, von ihren Lippen flog ein unverständlicher Laut – nun noch einer, deutlicher: »Wir haben's« – im Fall hatte ihre Hand ihn nicht losgelassen, riß ihn gewaltsam mit, in halber Besinnungslosigkeit fühlte er, aufwärts. Dann stand er plötzlich auf festem Boden, nicht mehr im Wasser, ihr Fuß war gestrauchelt, weil er unversehens gegen etwas angestoßen, und dies war der erhöhte Rand der Insel gewesen. Fast im letzten Augenblick hatten sie noch, statt an dem kleinen Eiland in's Leere vorbeizuirren, unter der genau richtigen Führung des Mädchens das rettende Ufer erreicht; hinter ihnen, wie in Wuth über die ihr entronnene Beute schäumend, schnob wild die Nordsee an der Küste empor.

Wie Arnold Lohmer diese Erkenntniß aufgegangen, brachte er als erstes vom Mund: »Der Himmel hat gewollt, daß wir noch beisammen bleiben sollten – freilich nicht mehr als die, die wir vorher gewesen, denn eigentlich gehörten wir schon zu den Todten und fangen hier in diesem Augenblick ein neues Leben an.« Unwillkürlich flog's ihm heraus, wie es sich seiner Vorstellung aufgedrängt; halb ernsthaft empfunden klang's und halb übermüthig. Age erwiderte: »Ja, es wollte uns nur äffen,« ihre Hand deutete dabei, und in der That zerging jetzt das, was für sie die Hauptgefahr ausgemacht. Der mit der Flut stärker angeschwollene Wind stieß in den Nebel, trieb ihn in die Luft empor, und aus seinen zerrissen umherwogenden Ballen tauchte dicht vor dem Blick der bisher unsichtbare Leuchtthurm auf. Nun sagte Arnold vollernsten Tones: »Schön ist's, daß wir noch auf der Düne die Odyssee weiter lesen können – ich danke Dir für Deine gute Führung, denn ohne sie wäre ich nicht wieder hier.« Seine Hand streckte sich dazu nach der ihrigen aus; sie versetzte: »Nein, von mir war's kein Verdienst, nur ein guter Zufall, aber von Deiner Braut habe ich doch den Dank verdient.« Er fühlte bei den Worten an ihrer Hand, daß sie von einem Frostschauer durchlaufen ward, so daß er, jetzt erst ihrer völligen Durchnässung gedenk werdend, hastig einfiel: »Dich friert, Du mußt Dich rasch umkleiden.« Kurz antwortete sie: »Du auch,« und sie gingen über die Insel dem Gehöft zu. Das dunkle Haar Ages war vollständig aufgelöst, hing ihr wasserschwer bis über die Hüften herab, denn nun schritt sie wieder in ganzer Gestalt sichtbar neben ihm; eigen rührte ihn an, daß ihm lieber gewesen wäre, ihr Kopf schwimme oder schwebe noch körperlos allein über der der Nebelschicht, das grobe graue Kleid stand nicht im Einklang zu jenem wilaartigen Bild. Als sie an's Haus gelangten, ward etwas in seinem Gedächtniß wach, das ihn fragen ließ: »Wo ist Dein Korb geblieben?« sie sah stumm auf ihre leeren Hände nieder, und er beantwortete selbst die Frage: »Den hast Du wohl fallen lassen, als Du nach meiner Hand griffst, damit ich Dir nicht verloren ginge. So bin ich auch daran schuld, daß Du all' Deine gefundenen Schätze eingebüßt hast.« Ueber die hatten sie auf dem Hinweg viel gespaßt und gelacht, und dazu hätte jetzt diese Erinnerung dran wieder Anlaß geboten, denn der Verlust des Korbes mit seinem Inhalt stand in keinem Verhältniß zu dem geretteten Leben. Doch das Mädchen entgegnete nur, ohne die Lippen zu einem Lächeln zu regen: »Ja, er ist weg,« und sie begab sich schnell in ihre Kammer. Hier setzte sie sich auf eine Bank, blieb eine geraume Zeitlang so sitzen, ohne daß ihr der Gedanke an die Nothwendigkeit des Umkleidens kam; fast konnt' es den Eindruck regen, als verharre sie absichtlich in der kalten, triefenden Nässe fort. Aber dann warfen ihre Hände einmal mit plötzlicher Regung die Kleider ab, und eh' sie trockene wieder angelegt, nahm die Kammer augenblick-flüchtig eine Gestalt wahr, die in vollendetem Ebenmaß und wundersamer Uebereinstimmung zu dem Antlitz, das allein über der Nebeldecke geschwebt hatte, stand.

Einen halbdrolligen Anblick dagegen bot um eine Stunde später am Mittagstisch der junge Arzt, den Hadlef Terwisga mit Bekleidungsstücken aus seinem Wandschrank versehen; Durchnässung gehörte auf der Insel zu häufigen Vorkommnissen, und die beiden Wattengänger hatten im Hause nichts davon mitgetheilt, daß sie nur mit genauester Noth der Gefahr entronnen seien, von der Flut überholt zu werden. Draußen lag wieder ungetrübte Helligkeit, und der Alte that des vorübergeflogenen Nebels, als eines öfter unerwartet so auftretenden Vorganges keine Erwähnung. Dagegen fragte er, ob Arnold die Luftspiegelung von Süderoog wahrgenommen habe, die, wenn sich auch hin und wieder einmal ereignend, doch zu den seltenen, seit Jahren nicht mehr vorgekommenen Erscheinungen gehöre. Aus dem Sprechen ergab sich, das seltsam im Norden über dem bläulichen Duftstreifen am Himmelsrand aufgetauchte kleine Eiland sei die südlichste der Halligen mit dem Namen Süderoog gewesen, die mehr als sieben Meilen entfernt, in Wirklichkeit unter dem Horizont außer dem Gesichtsbereich liege. Doch bei einer gewissen Beschaffenheit der Luft hebe diese zuweilen, besonders um die Mitte des Vormittags, solche weitentlegenen Dinge, Dörfer, Kirchthürme, auch ferne Schiffe auf der See höher und zum Sichtbarwerden herauf, häufig in umgedrehter Lage, manchmal indeß in der richtigen, zumeist nur für kurze Andauer. Dann und wann geschehe es auch mit einer der ostfriesischen Inseln im Westen so; bewirkt werde der täuschende Vorgang muthmaßlich durch übereinander gelagerte Luftschichten von verschiedener Dichtigkeit, doch eine sichere Erklärung gebe es für die ›Kimmung‹, wie man es heiße, nicht. Deshalb gehe im Mund der Leute um, diese werde von einer Wasserfee, des Namens Einbet oder Morgana, verursacht, und bei den Schiffern trage die Kimmung auch die Benennung Seegesicht. Aus der letzten Mittheilung ging Arnold Lohmer auf, es handle sich um etwas, ihm aus geographischen Büchern Bekanntes, die › Fata Morgana‹ am mittelländischen Meer und in der afrikanischen Wüste, von welcher dem Reisenden zuweilen derartige Spiegelbilder weitentlegener Gegenden als nah vorgetäuscht werden solle. Daß dies aber gleicherweise an der Nordsee stattfinden könne, hatte er bisher nicht geahnt und vernahm davon mit lebhaft gewecktem Interesse. Uebrigens schien auch Hadlef von diesem Auftauchen der Hallig Süderoog eigenthümlich berührt worden zu sein, ihm etwas Besonderes zuzumessen; er tauschte einmal beim Sprechen einen längeren Blick mit seiner Frau aus, dessen stumme Sprache sie sichtlich verstand und wie zustimmend erwiderte. Age nahm an dem Gespräch keinen Antheil, die Sache war ihr offenbar altbekannt, ließ sie gleichgültig; bevor noch die Unterhaltung drüber zum Schluß gekommen, stand sie auf, einer häuslichen Besorgung nachzugehn, und kehrte nicht mehr an den Tisch zurück.

Im Verlauf des späteren Nachmittags traf Arnold, in die Wohnstube tretend, Belke Terwisga bei ihrer gewohnten Beschäftigung an; er hatte nur flüchtig hineinblicken wollen, doch sie fragte, ob er komme, um ihr wieder beim Weben zuzusehen, und es klang eine Aufforderung und ein Wunsch daraus, daß er bleiben möge. So setzte er sich neben sie, und nach Kurzem begann die Alte von der vormittägigen Luftspiegelung zu sprechen, sowie eine Schilderung von Süderoog daran zu knüpfen. Eine der kleinsten Halligen war's, nur ein einziges Wurftgehöft drauf vorhanden, in dem ein Friese, Follrich Folkarts mit Frau und Kindern wohnte. Sie standen, wenn auch etwas entfernt, zu Hadlef in Verwandtschaft, waren deshalb früher hie und da mit ihrem Segelboot zum Besuch hierhergefahren, doch im letzten Jahre nicht mehr. Ihr Auskommen hatten sie, indeß nur ziemlich karg, ihr bischen Weidegrund ernährte nur wenig Vieh, so daß sie ohne Unterlaß arbeitsam sein mußten. Redlichere und bessere Leute aber gab's kaum und dazu bescheidenere, denn sehr wahrscheinlich kamen sie in letzter Zeit um ihrer geringen Umstände willen nicht mehr nach Neuwerk, keinen Verdacht auf sich laden, sie hofften von ihren wohlhabenderen Verwandten eine Beihülfe zu erhalten.

Das erzählte Belke, schwieg ungewiß ein bischen, doch hob nach dem Verstummen wieder an, die heutige Erscheinung von Süderoog über dem Himmelrand sei ihr, wie ebenso ihrem Mann, als eine Mahnung und gute Verheißung vorgekommen. Follrich Folkarts hatte neben einer Tochter einen jetzt zwanzigjährigen Sohn, Namens Anlof, und schon seit Jahren hätten sie beide gedacht, aus ihm werde vielleicht der beste und einzige junge Mann für Age zum Heirathen. Denn auf Neuwerk wären keine andre Friesen, und ein solcher müsse er für sie doch sein, damit sie zusammenpaßten, in Freud' und Leid zu einander hielten. Hab' und Gut bekomme sie ja bald einmal als Erbtheil reichlich genug, darauf brauche nicht gesehn zu werden, nur daß der Mann rechtschaffen und tüchtig sei. Das stehe bei Anlof Follrichs nicht in Zweifel, auch hübsch von Gesicht und stattlich wär' er; die beiden hätten als Kinder schon, wenn sie zusammengekommen, miteinander gespielt und sich immer gut vertragen. Darum setzten Belke und Hadlef die alleinige Hoffnung, noch zu erleben, daß sie ihre Enkelin in Sicherheit zurückließen, auf eine eheliche Verbindung zwischen ihr und Anlof, und durch das Auftauchen von Süderoog heut' seien sie gemeinsam mit der Zuversicht erfüllt worden, es habe bedeuten wollen, daß ein Verlöbniß der beiden zu stande kommen werde, wenn sie sich jetzt nur wieder beisammen befänden.

Die Alte schwieg abermals ein wenig, eh' ihr weiter vom Munde kam, deshalb halte sie einmüthig mit Hadlef für das Beste, daß Age in den nächsten Tagen, wenn günstiger Wind werde, nach der Hallig hinübersegle, um allerhand Vorräthe als Geschenk und Nachbargruß dorthin zu bringen, denn sie selbst dürfe von dem eigentlichen Zweck der Fahrt nichts ahnen, sonst wehre sich von vornherein ein Mädchentrotz in ihr dagegen; Hadlef aber wolle ein paar geschriebene Worte an Follrich Folkarts mitgeben, damit dieser wisse, was die Verwandten wünschten und hofften. Und nun brachte Belke ein Anliegen an Arnold Lohmer hervor; er sei für sie als Arzt auf die Insel gekommen, doch Age bedürfe weit mehr eines Beihelfers für ihr noch so junges und langes Leben, und so wär's ihr nicht anders, als hätte der Himmel ihn dazu hierhergeschickt. Nämlich, das Mädchen nach Süderoog zu begleiten und mitzuhelfen, daß die Fahrt zum guten Ende führe. Sagen dürfe natürlich auch er ihr nichts von seinem Vorhaben, nicht etwa gradwegs zureden, aber sicherlich könne er unvermerkt einen Einfluß auf sie üben, denn sie gäbe ihm williger als sonst jemand Gehör, weil er ein vornehmer Herr sei, der sich ihrer Unwissenheit so freundlich angenommen, und weil sie wisse, daß er es gut mit ihr meine. Zudem habe er selbst ja eine Braut und könne drum aus eignem Fühlen am besten begreifen, wie nothwendig es für Age wäre, auch solch' einen sicheren Anhalt zu finden, damit ihr Leben, wenn sie allein zurückbleibe, nicht seinen Zweck verfehle.

Aus den Aeußerungen und dem Bittwunsch der Sprecherin ging hervor, wenngleich ihr alter Mann bei weitem für sie das Wichtigste auf der Erde ausmachte, sei sie doch auch mit einer innerlichen Herzenssorge für die Zukunft der ihrem Wesen halbfremden Enkelin bedacht, und die Hand ausstreckend, bat sie zum Schluß: »Sag's mir zu, Doctor, und versprich's, daß Du dabei helfen willst, so gut Du's kannst. Denk' an Deine eigne Braut und wie Ihr zueinander haltet, da wirst Du's schon so fertig bringen, wie wir's in der Hoffnung haben, denn sie hört auf Dich.« Arnold Lohmer saß überrascht, wußte nicht gleich, was er darauf erwidern solle. Er nahm lebhaft Antheil an einer guten Gestaltung der Lebenszukunft Ages Terwisga und mußte der Alten beipflichten, daß es dringend nöthig für das Mädchen sei, nicht nach einem Weggang der Großeltern unter der blutfremden Inselbevölkerung ohne einen festen Halt vereinsamt zurückbleiben. So versetzte er nach kurzem Schweigen rasch: »Ja, Mutter Belke, ich will thun, was ich kann,« und nahm ihre Hand dazu. Dieser Zusage kam am Abendtisch Hadlef behülflich durch die Mittheilung entgegen, er wolle in den nächsten Tagen, sobald der Wind es gut möglich mache, Age mit dem Boot einmal nach der Hallig Süderoog hinüberschicken, um seinen Verwandten dort allerhand Dinge zur Nahrung bringen zu lassen, denn die Luftspiegelung am Vormittag habe ihn beunruhigt, als ob sich ein Zeichen drin kundgethan, daß sie an Noth litten. Dem fügte der Alte die Frage an seinen Hausgast nach: »Hast Du nicht Lust, Doctor, die Fahrt mitzumachen? Bei richtigem Wind geht's schnell hin, und Du bekämst die Eidermündung und Pellworm zu Gesicht, bei heller Luft kann man von der Süderooger Wurft auch nach den Amrumer Dünen hinübersehn. Sorge wegen Deiner Braut brauchst Du nicht zu haben, Age bringt Dich sicher wieder her, als ob sie Schifferhosen anhätt'«. Arnold entgegnete rasch darauf: »Wenn sie mich mitnehmen will, thät' ich's gern; bei meinem Fortgehn von Hamburg lag's mir im Sinn, vielleicht nach den nordfriesischen Inseln zu kommen; so ginge das doch in Erfüllung.« Die Fahrt hatte sich in der That seiner Vorstellung als etwas Neues und eigenartig Schönes bemächtigt; ein kurzer Blick Hadlefs drückte ihm Dank für seine Bereitwilligkeit aus. Age entgegnete auf die bedingende Frage, die seine Betheiligung von ihrer Zustimmung abhängig gemacht, mit keinem Wort, doch setzte auch dem Vorhaben ihres Großvaters keinerlei Einwand entgegen. Wie am Mittag begab sie sich bald zur Verrichtung einer häuslichen Obliegenheit vom Tisch fort und kam erst zum Gutnachtwunsch zurück, als Arnold gleich den andern, dem Inselbrauch gemäß, frühzeitig nach seiner Schlafstube davonzugehn im Begriff stand. Das geschah im Juni unter der nordischen Breite noch bei klarer Tageshelle, und er blickte nach eine Weile aus dem offenen Fenster seines Giebelgemachs über die See hinaus. Ein seltsamer Tag war's gewesen, der besonderste seit seiner Ankunft hier. Draußen lag jetzt die Ebbe wieder, und wie um Haaresbreite, bei der leisesten Irrung seiner Führerin im Nebel hätte er gegenwärtig mit Aga Terwisga leblos auf dem Wattensand gelegen, wie ein von der absinkenden Flut zurückgelassenes Rollholz. Er suchte sich eine Vorstellung davon zu machen, wann und wie diese Botschaft nach Hamburg gelangt sein und mit welchem Ausdruck des Gesichtes seine Braut sie empfangen haben würde. Doch ward's ihm nicht möglich, sich dies deutlich vor Augen zu bringen, sie waren von dem langen Tag zu stark ermüdet und wollten zusinken. Seine Lider hoben sich nur beim Auskleiden noch einmal auf und ließen noch einen Blick auf den buntschillernden Riesenmuscheln haften, die der Vater Ages von tropischen Küsten hierher mitgebracht hatte. Dann fühlte er, sich auf's Bett hinstreckend, er sei nicht mehr völlig wach, sondern sein Bewußtsein schwinde bereits in einen Traumzustand hinüber. Denn ein Rauschen war um ihn, er empfand seine Hand fest von einer andern gehalten, und eine Stimme sagte neben ihm: »Ja, durch Dich kam's, ich gab nicht Acht auf die Flut, aber von Deiner Braut hab' ich doch Dank verdient.«

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