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Nun sah Arnold Lohmer während Tag und Nacht zweimal Flut und Ebbe um die Insel wechseln und wohnte als Gast im Hause Hadlefs Terwisga. Als Arzt hatte er nichts mehr darin zu thun; die alte Belke war am vierten Tage nach seiner Ankunft aus dem Bett aufgestanden, voll hergestellt, Fuß und Hand wie vorher zu gebrauchen. So saß sie wieder an ihrem auf dem Tisch ruhenden Webstuhl von einfachster Art aus ferner Vormütterzeit, zog von der drehbaren Haspel die aufgewundenen Kettfäden durch die Schlitze und Löcher des senkrecht gegenüberstehenden Kammbretts, im Wechsel die Fäden hebend, senkend und den Schuß zurücklaufen lassend, und fertigte wie seit einem halben Jahrhundert, arbeitsam und der Thätigkeit bedürftig, ihr Bandwerk. Klar blickten dazu ihre Augen aus dem faltigen Gesicht; eine Friesin war's, deren rüstige Alterskraft der Schlaganfall nicht niederzuwerfen vermocht, der nur über sie hingefahren, wie ein Sturmwind über einen alten Baum, ihn kurz beugend, doch nicht zerbrechend. Ihre Erkrankung hätte wohl eigentlich keines ärztlichen Beistandes bedurft, so daß sie auch ohne ihn ebenso rasch zur Gesundung zurückgelangt wäre. Aber ihr Mann maß diese sichtlich der Hülfleistung des jungen Arztes zu, und ihm war's wie ein vom Himmel herabgefallenes Glück, jenen für längere Dauer als Gast bei sich im Hause behalten zu können.

Der Hofbesitzer war im Verhältniß zu den übrigen Inselbewohnern ein wohlvermöglicher Mann, mehrere Knechte und Mägde standen in seinem Dienst, die vom Morgen zum Abend stiller Geschäftigkeit oblagen. Die Kühe mußten gemolken, das weidende Mastvieh beaufsichtigt, zur bestimmten Zeit dem eintreffenden Händler übergeben werden, der es an's Festland hinüberbrachte und weiter zum Verkauf nach Hamburg oder Bremen schaffte: es wurde Gerstenbier gebraut und Roggenbrod gebacken, gebuttert und Käse gemacht; der Netzfang auf der See lieferte reichlich Fische und Garneelen, hier an der Westküste ›Kraut‹ benannt, wohl um sie als ein lebendiges Kraut des Wassergrundes zu bezeichnen. So war die Mittags- und Abendkost, wenn auch einfach, doch selbst für eine verwöhnte Hamburger Zunge schmackhaft, zumal da die Seeluft den sprichwörtlich besten Koch, einen regen Hunger beigesellte. Auf dem Tisch wechselten Erbsen-, Kohl- und Mehlsuppen, einmal in der Woche kam zum Rauch- und Pökelfleisch frischgeschlachtetes eines Rindes oder Schafes hinzu; im letzten Jahrzehnt waren Kartoffeln bräuchlich geworden, das Land Hadeln versah dann und wann auch mit andern frischen Gemüsen, und auf der Insel selbst wuchs der Strandwegerich, dessen Blätter von Alters her zerwiegt in spinatartiger Weise bereitet wurden. Schollen und Klippfische brachte fast jeder Tag, Milch und Buttermilch, Butter und Brod ließen sich an Güte nicht übertreffen. Das Sonntagsgericht bildete der ›Oonbras‹, ein aus Mehl, Milch, Eiern und kleinzerschnittenen Speckwürfeln hergestellter, im Backofen festkrustig gebackener Brei, Schinkenpudding mit Klößen folgte danach. Alle Speisen waren nahrhaft und kräftigend, und wenn auch Feinschmecker über manches die Achsel gezuckt haben möchten, so erinnerte die Beköstigung Arnold Lohmer durch ihre Reichhaltigkeit doch an diejenige, die dem sturmverschlagenen Odysseus auf der Insel der Phäaken aufgetischt worden.

Indeß nicht allein die Mahlzeiten regten ihn zu derartigen Gedanken an, sondern überall und fast den ganzen Tag hindurch drängten sich ihm Vergleiche auf, die das in Wirklichkeit ihn Umgebende zu einem Ineinanderfließen mit Bildern und Vorstellungen der Phantasie brachten, denn er stand völlig unter einem Zauberbann der Odyssee. Ein merkwürdiger Zufall war's gewesen, aber beinah wie eine vorbedachte Fügung erscheinend, daß Johann Heinrich Voß ihm in Otterndorf ein Exemplar seiner grad' eben im Druck fertiggestellten Uebertragung des großen homerischen Epos mit auf den Weg gegeben und eine ungeahnte Begegnung im Krämerladen zu Cuxhaven ihn nach Neuwerk geführt hatte, denn eine besser geeignete Begleitschaft als dies Buch hätte er sich nicht wünschen und erdenken können. Natürlich kannte er es bereits vom Gymnasium her, dort indeß war's ihm durch dürren grammatikalischen Unterricht eher widerwärtig als anziehend gemacht worden, weder die griechische Sprache, noch der Inhalt des Gedichtes seinem Verständniß richtig aufgegangen. Nun las er dies mühelos, seine Gedanken und Empfindungen einzig auf die dichterische Gestaltungskraft und poetische Schönheit desselben verwendend, und er las es in einer Umwelt, die wenigstens der deutsche Norden nirgendwo voller übereinstimmend dafür zu bieten vermochte. Wohl ragten keine wildzerrissenen Uferfelsen vor ihm empor und kein ›purpurnes Meer‹ dehnte sich in die Weite, doch die ruhelosen Wellen der See rauschten oder murmelten mit geheimnißvollem Stimmenton vor seinen Füßen wie an den fernen Gestaden des Mittelmeeres, und der strahlende Sonnengott zog in gleicher unvergänglicher Hoheit drüber hin. Wie Odysseus an's Eiland der Phäaken aber war auch er nicht durch friedliche Stille hierhergelangt, sondern von Sturm und Wogen geschleudert, und wenn er die Verse las:

›Hochauf donnerte dort an des Eilands Küste die Brandung,
Grauenvoll spritzend empor, und bedeckt war Alles von Salzschaum‹,

so stand ihm das Bild seiner eignen nächtlichen Ankunft auf Neuwerk vor Augen. Zwar mehr und mehr nur wie aus einer Traumerinnerung, denn die schönen Maitage dauerten an, ließen wilden Aufruhr der Natur beinah als eine Fabelmäre verschollener Vorzeit bedünken. Fraglos hatte er hier alles Das gefunden, wonach er von Hamburg ausgegangen, fühlte Tag um Tag ein Fortschreiten ruhvoller Erholung des Leibes und der Seele. Ihm kam's jetzt erst zum Bewußtwerden, auch diese hatte solcher bedurft, war während der letzten Monate in dem unablässigen Gesellschaftstreiben seiner Vaterstadt nicht zu sich selbst gekommen. Nun nahm sie im vollsten Gegensatz dazu mit jedem Athemzug das Wohlthuende der Stille und Einsamkeit, eine Nahrung ihres eigensten Wesens in sich auf; ihn durchdrang, Heilsameres könne dem Körper und Gemüth des Menschen nicht zu theil werden. Und innig vereint damit das Werk des großen Dichters aus fernen Tagen, das ihn doch in dieser Umgebung anrührte, als sei es erst jetzt entstanden, wachse von Vers zu Vers ihm selbst hier aus der Vorstellungskraft herauf. Er fühlte, unter all' den seltsamen Abenteuern der Odyssee dämmere ein Grundton der Dichtung hervor, für den er länger umsonst nach einem nennenden Wort suchte. Aber dann fand er dies plötzlich einmal: Das Heimweh war's, die Sehnsucht eines auf Irrungen Umgetriebenen nach dem Heimathglück, zu allen Zeiten die gleiche, wo eine Menschenbrust, ob bewußt, ob unbewußt, von ihr erfüllt war. Wenn er lesend am Uferrand auf dem sonnenwarmen Grasboden saß oder hingestreckt lag, umgab ihn eine Zeitlosigkeit, in der sich das Einst und Heute wunderbar miteinander verschmolzen. Die großen vorüberschwebenden Möwen sah er mit den Augen des Odysseus, hörte mit dessen Ohr ihren seltsam, wie klagend in der Luft verhallenden Ruf; mitunter traumhaft aufgehoben suchte sein Blick über der uferlosen Wasserweite am Himmelsrand nach dem Felsengestade Ithaka's. Doch dabei empfand er den Herzschlag in sich als seinen eignen, heut' lebendigen – den der gleichen großen Sehnsucht – und wie aus der schwellenden Flutwelle vor ihm überschwoll ihn ein tiefes Dankgefühl, trieb ihn einmal jäh auf, nach seiner Giebelstube zu laufen und in einem langen Brief dem Otterndorfer Schulrector den Dank für sein Odyssee-Viaticum auszusprechen.

Sonderbar und doch auch begreiflich war's, daß ihm sein Aufenthaltsort mit keiner andern Insel des Gedichts, nicht derjenigen der Kalypso oder Kirke, sondern nur mit dem Phäakeneiland zusammenwuchs. Wohl standen der ›auf dem Thron Unsterblichen gleich sitzende‹ König Alkinoos und seine Gemahlin in stärkstem Gegensatz zu Hadlef Terwisga und seiner Frau; doch wie die alte Belke an ihrem Webstuhle, saß auch die Königin Arete, ›drehend der Wolle Gespinnst, meerpurpurnes, gegen die Säule gelehnt‹, und trotz dem Glanz des Palastes ging doch von diesem etwas Einfach-Natürliches aus, daran das heutige Hauswesen der Alten auf der Nordseeinsel gemahnte. Die Königstochter Nausikaa reinigte mit eigenen Händen die Wäsche am Flußrand, und wie sie zur ›gepriesenen Wohnung des Vaters‹ heimkehrte, traten vor der Pforte ihre Brüder herzu, ›spannten schnell von der Lastfuhr die Maulthiere ab und trugen hinein die Gewande‹. Allen diente die hohe Stellung nicht zum Vorwand, sich hochfahrend müßig der Arbeit zu entziehen, vielmehr vollzog jeder ihm Obliegendes, schaffte mit an dem, was der Tag erforderte. Eine Lebensführung von ursprünglicher Art war's, gemeinsam für die Bedürfnisse, Ordnung und Wohlfahrt des Ganzen Sorge tragend, und so, wenn auch in schlichterem Zuschnitt, war sie heut' auf Neuwerk. Das schuf bei allem Abweichenden doch im innersten Wesen für das Gefühl eine Aehnlichkeit.

Und eigen war's, wie diese sich ihm an einem Morgen völlig zu einem wiederkehrenden Bild von der Phäakeninsel gestaltete. Schon früh zur Betrachtung des klaren Sonnenaufgangs in's Freie hinausgewandert, nahm er in einiger Weite am Uferrand mehrere weibliche Gestalten wahr, die auf dem Boden knieend die Arme regten, während eine, sie überragend, aufrecht neben ihnen stand. Näher hinzugelangend, erkannte er die Hofmägde seines Wirthes, sie reinigten in einem sich von der See her als Graben in's Land fortsetzenden Priel einen Haufen von Wäschestücken, und die mit der Hand deutend und anweisend Stehende war Age Terwisga. Sie hatte sich gleicherweise an der Arbeit mitbethätigt, denn ihre bis gegen die Schultern hin aufgestreiften Linnenärmel ließen die Arme entblößt, die einen auffälligen Gegensatz zu denen ihrer Gefährtinnen zur Schau stellten. Sie waren schön gebildet, doch von schmächtiger Schlankheit, nicht robust dick-ausgerundet, wie die der andern, und nicht rothfarbig, sondern es ging von ihnen wie ein mattweißer Elfenbeinschimmer aus. Die über dem grauen Elbwasser emporgestiegene Sonne warf ihr Goldlicht drauf, und unwillkürlich flog Arnold ein Ausruf: »Nausikaa!« vom Mund. Die Abgewendete hatte sein Herankommen nicht bemerkt, nun drehte sie den Kopf um, und eine leicht-rasche Bewegung ihrer Hand machte erkennbar, ein Antrieb erfasse sie, ihre Aermel von der Schulter herabzuziehn. Doch gleich wieder von dieser Regung ablassend, sagte sie: »Zum Waschen muß man die Arme frei haben. Bist Du auch schon aufgestanden? Zu wem hast Du gesprochen? Ich hab's nicht verstanden, was Du sagtest.«

Ihm stand's noch sonderbar vor den Augen und er antwortete: »Bist Du's denn und bin ich's?« Und sich umblickend, setzte er hinzu: »Wo wäre hier der Wald auch, in dem Odysseus geschlafen?« Aber danach lachten seine Lippen einmal. »Nein, das kannst Du nicht verstehen, und gut ist's, daß Du's nicht kannst. Sonst lägen wir seit Jahrtausenden todt und begraben, und mich däucht's doch schön, hier noch in der Sonne zu athmen.«

Sie fragte jetzt: »Steht das auch in dem Buch und kann ich's darum nicht verstehen?«

Nicht zum erstenmal war's, daß er etwas auf die Odyssee Bezügliches zu ihr gesprochen, und sie hatte ihn schon seit Tagen stets mit dem kleinen Bande als einem Begleiter an den Strand hinausgehn gewahrt. Doch kam ihm zum erstenmal ein Gedanke, der ihn erwiedern ließ: »Willst Du's auch lesen?«

Ein wenig Röthe stieg ihr in die Schläfen auf und sie schüttelte nur kurz mit dem Kopf, so daß er fragte: »Warum nicht?«

Nun versetzte sie: »Ich hab's nicht gelernt. Hier auf der Insel ist kein Schullehrer.«

Dazu kniete sie jetzt auch nieder, sich an der Wascharbeit wieder zu betheiligen; ihm fiel nichts zum Entgegnen auf ihre letzte Aeußerung ein, wortlos sah er sie nur überrascht an und ging weiter, da ihr gegenwärtiges Betreiben keine Fortsetzung des Gespräches zuließ. Auch rührte ihn eine Mißstimmung an, daß er sie, durch eine äußerliche Aehnlichkeit des Vorgangs verleitet, in einen Vergleich mit der Tochter des Alkinoos gebracht habe; ihm war bisher nicht in den Sinn gerathen, sich eine Vorstellung von ihren geistigen Befähigungen zu machen, doch eben hatte sie sich als ein vollständig bildungsloses Mädchen der untersten bäurischen Bevölkerungsclasse offenbart. So verdroß es ihn, sie gewissermaßen mit dem Namen der phäakischen Königstochter angesprochen zu haben, es lag für diese etwas Entwürdigendes darin. Allerdings trug sie nicht Schuld an ihrer Unwissenheit, woher hätte sie auf der abgeschiedenen Insel einen Unterricht nehmen sollen? Ihr war's nicht möglich gewesen, anders als die um das kleine Eiland kreisenden Möwen aufzuwachsen; das hätte er bei einem Darüberdenken sich selbst schon vorher sagen müssen.

Wie er seinen Fuß am Uferrand entlang fortsetzte, klang's ihm indeß plötzlich, wie wenn eine der über seinen Kopf jagenden Möwen eine Frage herunterrufe, ob denn Nausikaa habe lesen können? Das war närrisch, aber jedenfalls dieser Gedanke durch irgendetwas in seinem Kopf angeregt, und wie er drüber nachdachte, konnte er sich keine andre Antwort geben als: Nein, höchst wahrscheinlich nicht; wenigstens war in dem über sie handelnden Abschnitt der Odyssee nie davon die Rede. Nichts sogar gab eine Kunde, daß der König Alkinoos und die großen griechischen Helden in der Kunst des Lesens erfahren gewesen seien; ja es bestand selbst ein sehr begründeter Zweifel, ob der Urheber der unsterblichen Dichtung, Homer seine Verse niederzuschreiben vermocht habe.

Ueber diese merkwürdige Beantwortung der aufgeschossenen Frage mußte Arnold Lohmer lachen. Dann beruhte die Bildung, der Werth von Menschen, auch der geistige, unverkennbar nicht auf der Fähigkeit des Lesens und Schreibens, oder hatte dies mindestens in jener alten Zeit nicht gethan. Jetzt freilich verhielt sich's damit anders, sah man darin die ersten, nothwendigsten Grundlagen für den Aufbau geistiger und gemüthlicher Ausbildung, konnte sich eine solche ohne jene Bedingungen nicht vorstellen. Aber damals hatte niemand diese Anschauung gehabt, und sie wäre fraglos auch durchaus unberechtigt gewesen. So konnte doch nichts Entwürdigendes für die Nausikaa darin liegen, daß er eben unwillkürlich dazu gerathen war, die in so ähnelnder Weise an der Strandwäsche beschäftigte friesische Schiffertochter mit ihr zu vergleichen. Die Abkunft der letzteren mochte zwar dabei mitwirken, eine wirkliche Friesin, wie die andern Mägde hätte ihm den Ausruf wohl nicht vom Munde gebracht. Doch in Age Terwisga hatte sich von ihrer Mutter her südliches Blut, dem der Phäakentochter verwandt, mit dem nordischen vermischt, leuchtete gleichsam aus ihren elfenbeinfarbigen Armen über dem grauen Wattengrund auf. So mußten, nur von goldenen Spangen umschlossen, auch die Arme Nausikaa's in der Sonne weiß geflimmert haben.

Als er nach einigen mit dem Lesen der Odyssee auf einem Strandsitz verbrachten Stunden in's Haus zurückkehrte, fand er darin allein die alte Belke an ihrem Webstuhl geschäftig. So unter vier Augen war er noch nicht mit ihr zusammen gewesen, es zog ihn, sich neben sie zu setzen und ihre Arbeitshantierung an dem altväterischen Werkgeräth zu betrachten. Dies trug ihn auch in die Zeit zurück, von der seine Vorstellungen auf Neuwerk erfüllt worden, denn der erste von Menschenerfindung hergerichtete Webstuhl konnte nicht andrer, einfacherer Art gewesen sein, die Frauen und Töchter der Phäaken mußten an den ihrigen in gleicher Weise die aufgewundenen Fäden von der Haspel herab zur Verfertigung ihrer Gewebe gehoben und gesenkt haben. Die Alte wunderte sich über sein aufmerksames Zuschauen, fragte, ob die Handgriffe ihm nicht bekannt seien und seine Braut, von der sie gehört hatte, an ihrem Webstuhl andere mache. Das nöthigte den Hörer, die Lippen zusammen zu drücken, um einem Lachen den Durchgang zu verschließen, denn es gestaltete seinen Augen ein drollig-undenkbares Vorstellungsbild herauf, Lucinde Eschenhagen an solchem Geräth bei solcher Arbeit sitzend. Aber Belke Terwisga war nie von ihrer winzigen Insel weggekommen, hatte keine Ahnung weder von der großen Hamburger Welt, noch einer anderen Lebensführung, und glaubte offenbar, jedes Frauenzimmer müsse sich so wie sie durch eine häusliche Verrichtung nützlich machen. Arnold drängte sich's auf, ein merkwürdiger Gegensatz war's überhaupt zwischen dem reich ausgestatteten Raum, dem geräuschvollen, wahrscheinlich in französischer Sprache geistreich und witzig conversirenden Gesellschaftskreise, die seine Braut umgaben, und der stillen Stube hier, in der nur hin und wieder zu einem leisschnurrenden Ton der Weberei die gleichmäßige Stimme der alten Frau klang. Was sie sagte, war ebenso einfach, wie ihr altes Werkzeug, kein Einschlag von Esprit und feiner Bildung mischte sich drein. Doch dem jungen Arzt kam's einmal zum Bewußtwerden, er sitze lieber hier und höre ihrem Sprechen zu, als jenen graziösen Wendungen und Bonmots. Zweifellos kannte Belke das Wort und den Begriff Philosophie nicht, allein was ihr vom Munde gerieth, erschien ihm dieser innerlich mehr anzugehören und inhaltsvoller an menschlicher Bedeutung, als alle klangreich-gewandte Beredsamkeit, obwohl es nichts als schlichteste Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck brachte. Achtsam die Fäden handhabend und öfter eine Zeitlang mit der Zunge anhaltend, sprach sie von ihrem Hof, Wirthschafts- und Weidebetrieb, den Jugendjahren mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Weitergang ihres Lebens. Das Wort ›Liebe‹ kam dabei nicht vor, doch fühlbar bildete es ungenannt den haltgebenden Untergrund von allem, umschrieb sich mit der Meinungsabgabe, das Wichtigste im Leben sei, daß Mann und Frau zusammenpaßten, in Freud' und Leid zueinander hielten, und daß es immer unverändert ebenso bliebe, ob die Jugend auch davonginge und das Alter an die Stelle käme. Eine tiefe, dankbare Befriedigung von dem ihr auf dem Erdenweg zu theil Gewordenen klang daraus hervor; des frühen Verlustes ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter that sie wohl bedauerlich Erwähnung, doch kurz nur drüber hingehend; eine Schickung war's, auf die jede Mutter eines Schiffers sich gefaßt halten mußte, und das Beste, Nothwendigste hatte der Tod ihr damit nicht weggenommen. Zudem war mit ihrem Manne ihr die Enkelin geblieben, wohl vom fremden Mutterblut her anders als sie, und das Gefühl in ihr für Age war merklich nicht mit dem für ihren alten Lebensgefährten vergleichbar. Doch hatte sie einen Theil der großen, nicht mit dem Wort benannten Liebe auf das unter ihrer Obsorge herangewachsene Mädchen übertragen, erkannte dies trotz der andern Art als etwas für die Augen Wohlgefälliges und mit guten Eigenschaften Begabtes an, dran sie mit ihrem Herzen Antheil nahm. Dies kennzeichnete sich aus ihrer Besorgniß hinsichtlich der Zukunft Ages, wenn sie einmal von den Großeltern allein zurückgelassen werde. Für ihren Lebensbedarf sei wohl ausreichend gesorgt, aber nicht für das Nöthigste, damit das Leben seinen Zweck nicht verfehle, und daß sie dies finde, sei nur wenig Aussicht vorhanden. Es werde ihr schwer fallen, die Hofwirthschaft allein in gutem Stand fortzuerhalten, doch besser bleibe sie so, als einen Ehemann zu nehmen, der nicht zu ihr passe, sie wegen ihres Erbguts und ihrer Wohlgestalt heirathe, vielleicht zu leidlichem Einvernehmen, so lang' als sie beide jung seien, doch beim Altwerden ohne andre Gemeinsamkeit, als das Trachten nach Vermehrung des Erwerbes. So denke sie, nach Belkes Bedünken, auch selbst; auf der Insel sei keiner zum andernmal, wie's Hadlef von jungauf gewesen, und das Mädchen gehe mit keinem Gedanken an irgendeinen Mann um.

Sich so einfach wie denkbar ausdrückend, kamen die Aeußerungen von den Lippen der dabei weiterschaffenden Alten, zuweilen mehr einem lauten Selbstgespräch gleich, doch sie rührten Arnold dann und wann sonderbar wie aus einem Born echtester Lebenserkenntniß und ihrer Schätzung der Erdendinge nach dem einzig wirklichen Werthe an. Besonders aber übte auf ihn die Bemerkung eine eigenthümliche Wirkung, daß Eheleute, die nicht zu einander paßten, das hieß, nicht durch wahrhafte Liebe zusammengekommen seien, beim Altwerden keine weitere Gemeinsamkeit mehr besäßen, als das Trachten nach Vermehrung des äußerlichen Erwerbs. Ihm war's, als habe dieser schlichte Ausspruch einen Schuppenvorhang von seinen Augen weggenommen, etwas klar vor sie hingestellt, was er manchmal dunkel empfunden, doch sich nie zu deutlichem Verständniß gebracht hatte. Aber dies Wort traf auf die ehelichen Verhältnisse in fast allen ihm bekannten hochstehenden Hamburger Häusern zu, in denen Mann und Frau nicht, von den Herzen verbunden, miteinander, sondern nur nebeneinander hinlebten, einzig durch das gleiche Streben zusammenhingen, den Reichthum ihres Besitzes und vor den Augen der Welt ihr Ansehn, den Glanz der Repräsentation des Hauses zu erhöhen. Statt der Wirklichkeit eines inneren Lebensglückes trachteten sie nur dem Schein eines solchen nach; den Mann trieb nicht Liebe, für seine Frau immer mehr an Geldschätzen anzuhäufen. Vielmehr diente sie ihm als ein Mittel, durch sie, die Kostbarkeit ihrer Kleidung, den Werth ihres Juwelenschmucks zu prunken, Andre zu überbieten, und sie würdigte ihren Ehebund nach dem Maß, in welchem ihr von ihm dies vornehme Auftreten ermöglicht wurde. So war's, weil sie nicht ›zueinander gepaßt‹ hatten – oder vielleicht doch – vielleicht weil eben beide völlig zueinander paßten.

Wie er hierüber noch weiter nachdachte, ging die Thür auf, Age hatte ihre Linnenwäsche beendigt und trat herein, um ein Seil zum Aufhängen derselben zu holen. Sie war merkbar überrascht, den Hausgast allein bei der Großmutter anzutreffen, in ihren mit einem kurzen Blick über sein Gesicht hingehenden Augen schien sich kundzugeben, daß sie etwas drin zu lesen suche. Fast zugleich mit ihr kam von der Ebberthür des Pesels her auch Hadlef Terwisga und reichte dem jungen Arzt einen Brief, den ein Schiffer von Cuxhaven für ihn mitgebracht hatte. Ein Antwortschreiben der Braut Arnolds auf sein nach der Ankunft auf Neuwerk an sie abgesandtes war's, er öffnete es und überlas rasch den nur die Hälfte des Bogens füllenden Inhalt. Sie schrieb, daß es ihr leid sei, vielerlei gesellschaftlicher obligation halber auf seine Benachrichtigung heute nur kurz repliciren zu können, doch wolle sie nicht unterlassen, in Eile mille amitiés und félicitations an ihn zurückzusenden. Verwundert habe sie sich zwar darüber, daß er um der maladie einer alten Bauernfrau willen die nächtliche Bootfahrt unternommen und sich inconsidéré der Gefahr eines refroidissement ausgesetzt habe obendrein vraisemblablement ohne Aussicht auf eine entsprechende rétribution; seine künftige Praxis in Hamburg werde sich hoffentlich als plus lucratif herausstellen. Par bonheur indeß sei die Sache ja ohne Unfall abgelaufen und er habe so par hasard einen Platz aufgefunden, der nach seiner Darstellung sich als salutaire für seine Gesundheit erweise. Die visite in Otterndorf müsse sehr amusante gewesen sein; sie erinnere sich des Rectors Voß und seiner Frau d'autrefois, doch auch, daß wegen ihrer ärmlichen circonstances eine nähere liaison mit ihnen nicht möglich gefallen sei; gleichfalls habe es beiden am bon genre der Manieren, wie an der capacité eine interessante Conversation zu führen, völlig gemangelt. Das von ihm neuerdings aus dem Griechischen übersetzte Buch solle für ein sentiment délicat vielfach außerordentlich de mauvais goût sein, wie's ja auch vom monsieur Renard und seiner renarde rousse nicht wohl anders zu erwarten gewesen.

Arnold hätte gern seinen Wirthen etwas aus dem Briefe mitgetheilt, das bisher von ihm Gelesene hatte sich indeß nicht passend für sie gezeigt, doch beim Ueberblicken erwies sich der Schluß des Schreibens dazu geeignet, und er las diesen laut vom Blatte ab: »So sage ich Ihnen adieu, mein lieber fiancé; je suis charmeé, daß Sie einen so angenehmen lieu de séjour gefunden haben und erhoffe von seiner guten Luft und der, wie Sie mittheilen, nahrhaften nourriture de la campagne daß Beste zum retablissement Ihrer Gesundheit. Versichern Sie sich dieser ja in completester Weise, indem Sie nicht früher hierher retourniren, bis sich Ihre Indisposition vollkommen wieder retablirt hat. Denn das bildet die Hauptcondition Ihres künftigen hiesigen Prosperirens, und es wird deshalb, wenn auch malgré, doch patiemment sich Ihrem längeren Ausbleiben accomodieren

votre bien attachee
cousine et fiancée

Lucinde Eschenhagen.«

Der Lesende hatte für die Zuhörer die französischen Ausdrücke und Wendungen ins Deutsche übertragen und freute sich darüber, daß dieser Schluß des Briefes für seine Wirthe eine Anerkennung des günstigen Einflusses, den der Aufenthalt in ihrem Hause auf ihn ausübe, kundgab. Hadlef und Belke Terwisga faßten es auch so auf, zeigten durch ein Kopfnicken daß sie gleichfalls davon erfreut seien; Age dagegen, die an die Stubenwand getreten war und ihren Arm aufgestreckt hatte, flog ein lachender Ton vom Mund, dem sie nachfügte, nicht zu glauben sei's, wie närrisch ein Seil sich verschlingen und ›verheddern‹ könne. Dabei nahm sie dies von einem Haken herab, wirrte es scheinbar kurz mit den Fingern auseinander und begab sich damit wieder hinaus. Arnold stieg jetzt zu seiner Giebelstube hinan; ihm war gesagt worden, der Cuxhavener Schiffer fahre erst gegen Abend zurück, und er beabsichtigte, die Gelegenheit zu nutzen, auf den Brief seiner Braut zu erwiedern. Doch als der Papierbogen auf dem Tisch vor ihm lag und seine Hand die eingetauchte Kielfeder hielt, wußte er nicht recht, was er schreiben wolle, oder eigentlich, was für die Empfängerin von Interesse sein könne. Eine Schilderung der Insel und seiner Lebensführung hatte er ihr schon gegeben; darüber ließ sich nichts Neues hinzusetzen, man mußte das auch mit eigner Sinnesempfindung aufnehmen, eine schriftliche Wiedergabe blieb außer stande, bei dem Lesenden den nämlichen Eindruck zu erzeugen. Von seiner täglichen Beschäftigung mit der Odyssee zu berichten, wäre zwecklos gewesen, da Lucinde selbst offenbar die Dichtung nicht kannte und ungünstig gegen sie voreingenommen war; für die Hamburger Gesellschaftskreise eignete sich allerdings Homer sehr wenig, und ebenso paßte Johann Heinrich Voß nicht zu ihnen. Wenn er aus dem Französischen übersetzt hätte, würde er dort Leser gefunden haben, oder auch dann wohl kaum, denn die aus Frankreich kommenden neuen Bücher las man in gebildeten Häusern selbstverständlich in der Originalsprache, nur die ordinären Leute bedurften ihrer Verdolmetschung. Der am Tisch Sitzende legte die Feder hin, stand auf und ging, nachsinnend, was er schreiben solle, in dem engen Raum hin und wider. Ab und zu anhaltend, ließ er den Blick auf den alten Zinngeräthen im Wandschränkchen, den Korallen und tropischen Muscheln auf dem Gesims haften; das waren gleichfalls keine Gegenstände, um von ihnen zu erzählen, Hamburger Raritätenläden enthielten das Hundertfache weit kostbarerer Art, und daß diese hier anders auf die Phantasie einwirkten, konnten Worte nicht zum Verständniß bringen. Im Grunde übrigens besaßen die Insel und das tägliche Leben auf ihr für die Dauer etwas Eintöniges, dem körperlichen Befinden kam der Aufenthalt hier wohl zu gut, doch eine Nahrung für den gebildeten Geist boten die Menschen nicht mehr, als die Wasservögel; sie nahm ihr Ende mit der heut' vom Lesenden bis zum Schluß gebrachten homerischen Dichtung, für die der Ranzen Arnolds keinen Ersatz enthielt, so wenig als das Haus, in dem man, vielleicht mit Ausnahme des alten Hadlef, nicht zu lesen und schreiben verstand. Er trat an's kleine Fenster und sah hinaus, ein Mißmuth, nicht aufhellbaren Ursprungs hatte sich seiner bemächtigt. Oder doch, er entsprang dem Herandrohen des geistigen Mangels, der bevorstehenden Unfähigkeit, über den gleichförmigen Tagesgang wie bis jetzt durch Beschäftigung mit der Odyssee wegzutäuschen; am klügsten war's wohl, voll eintretendem Ueberdruß vorzubeugen und an's Festland zurückzukehren, nicht nach Hamburg noch, doch zum Aufsuchen eines anderen, besser dem Zweck entsprechenden Aufenthaltsplatzes. Draußen bewegte sich vor den Augen des in Gedanken Stehenden etwas Weißes hin und her, ohne daß er drauf Acht gab, dann gestaltete sich's ihm einmal zur Erkenntniß, Age Terwisga hänge an dem festgespannten Seil die Wäsche zum Trocknen auf und der Wind lasse die Stücke leicht flattern. Die damit Beschäftigte nahm sich von noch größerer Gestalt als sonst aus, sie mußte sich auf den Fußspitzen heben und die Arme hoch emporstrecken, doch ging von diesen kein elfenbeinartiger Schein mehr aus, sondern ein weißer gleich den Linnen, denn die Aermel schlossen sich ihr jetzt wieder bis zum Handgelenk herab. Auch in das dunkle Haar ihres Kopfes blies der Wind, so daß es sich an den Schläfen aufspann; bei ihrem Anblick gerieth dem Zuschauer am Fenster etwas von ihm Vergessenes in's Gedächtniß und veranlaßte ihn, da er die bis zum Mittagessen noch übrige Zeit doch nicht auszufüllen wußte, zu ihr hinunterzugehn. Unten angekommen, zögerte er indeß mit dem, was er eigentlich zu sagen beabsichtigte, fragte statt dessen: »Soll ich Dir helfen? Dir macht's Mühe, bis zur Leine hinaufzureichen.«

In ihrem Gesicht kennzeichnete sich einige Ueberraschung durch sein Herzukommen und Anerbieten, sie antwortete: »Ich bin groß genug dazu, aber wenn Du mir helfen willst –«

Ihm entflog: »Es ist doch eine Beschäftigung, der Hände wenigstens, und die Brüder Nausikaas haben ihr wahrscheinlich auch solchen Beistand geleistet.« Er besann sich, daß der Hörerin dies nicht verständlich sei, und setzte hinzu: »Hat es denn Eile? Die Sonne wird rasch genug trocknen.«

Sie nickte kurz. »Ja. Der Wind kommt aus schlechter Richtung und bringt bis zum Abend Regen.«

Am ganzen Himmel stand keine Wolke und den jungen Gelehrten verdroß der zuversichtlich belehrende Ton ihrer Entgegnung, so daß er etwas spöttisch versetzte: »An die Weissagung glaube ich nicht, danach sieht's nicht aus.«

Mit der Schulter zuckend, antwortete sie nur: »Darauf kommt's nicht an.« Es konnte sich auf beides beziehen, seine zweite und erste Aeußerung, that's vermuthlich auf jene, doch ihm klang's, sie habe damit seinen Glauben als werthlos bezeichnen wollen, und er erwiederte halbgereizt: »Ich würde wetten, daß es heute keinen Regen giebt.«

Ihre Augen schlugen sich gegen ihn auf, und sie fragte: »Um was wolltest Du wetten?«

Das wußte er nicht, ihm lag die Antwort auf der Zunge: »Um meinen Kopf,« aber das wäre albern gewesen, und er ließ es nicht laut werden, sondern schwieg. Als sinnlos empfand er sein letztes Reden und seine gereizte Stimmung überhaupt, doch das Mädchen hatte ihn heute durch etwas in Mißmuth versetzt, ohne daß ihm deutlich war, was; um aus diesem thörichten Behaben herauszukommen, griff er jetzt nach ein paar Holzklammern, befestigte damit ein Leintuch auf dem Seil und fragte: »Ist's so richtig?« Sie sah flüchtig hin und bejahte, danach fuhren sie, ohne weiter zu sprechen, nebeneinander in der Beschäftigung fort. Obgleich sie ihm an Wuchs fast ebenbürtig erschien, vermochten seine Arme doch leichter emporzureichen, sie mußte sich strecken, und beim Rückwärtsüberbeugen des Oberkörpers hob sich dann und wann ihre Brust hoch auf, daß die Formen derselben durch die Gewandung in jugendlich kraftvoller Schönheit hervortraten. Erst als die Arbeit zu Ende ging und sie das letzte Wäschestück festgemacht hatte, fiel Arnold ein, wodurch er veranlaßt worden war, aus seiner Stube zu ihr hinunterzugehn, und er fragte jetzt plötzlich: »Ueber was lachtest Du eigentlich drinnen, als Du das Seil von der Wand nahmst? Daß es sich verknotet hatte, war doch nicht so lächerlich.«

Sie sah ihn an, als müsse sie sich erst besinnen, aber gab dann Antwort: »Ich wußte nicht, daß eine Braut so an ihren Bräutigam schreibt. Du weißt ja, ich habe nichts gelernt, und bist drum überdrüssig, noch mit mir zu sprechen.«

Bei den letzten Worten stutzte er unwillkürlich, denn aus ihnen trat zu Tage, sie habe ihm im Innern gelesen und den Grund seiner Mißstimmung, über den er sich selbst unklar war, erkannt. In der That, das war's, die Kundgabe ihres Mangels an geistiger Ausbildung hatte ihn mit Verdruß angefaßt, da er sich aus ihrem sonstigen Wesen eine andere Meinung von ihr gestaltet gehabt. Doch nun ließ ihre klaräugige Erkenntniß des Ursprungs seines veränderten Verhaltens gegen sie den Unmuth in ihm mit einem Schlage zergehen, statt dessen überkam ihn eine Beschämung, daß er ihr zu der letzten Aeußerung Anlaß gegeben habe, und er entgegnete rasch: »Du kannst ja nicht dafür – Nausikaa hat auch nicht lesen können – und das macht nicht den Werth –«

Damit indeß war er wieder auf ein ihr unverständliches Gebiet gerathen, verließ dieses und fuhr, sie anblickend fort: »Du lachtest über etwas Andres als das Seil, sagtest eben, Du hättest nicht gewußt, daß eine Braut so an ihren Bräutigam schreibe. Kam Dir daran etwas lächerlich vor?«

Das Mädchen schwieg einen Augenblick, doch antwortete dann unverhohlen: »Wenn Du's wissen willst – mir klang's närrisch, daß sie Dich in ihrem Brief mit ›Sie‹ anredete –«

Er fiel ein: »Während Du mich ›Du‹ nennst. Um das zu verstehen, müßtest Du anders – nur die Eltern sprechen in Hamburg so zu Ihren Kindern, und untereinander die Leute –«

Sein Mund verhielt die Fortsetzung ›der untersten Stände‹. Daß in gebildeten Kreisen sich auch die Nächststehenden des ›Sie‹ als einer feinen Umgangsform bedienten, konnte er dem auf der weltabgeschiedenen Insel großgewordenen Mädchen nicht wohl begreiflich machen, und dazu rührte es ihn zum erstenmal selbst an, es liege eigentlich etwas Unnatürliches, fast Widernatürliches darin, wenigstens zwischen zwei Menschen, die sich so die Nächsten seien, wie Bräutigam und Braut, Mann und Frau. Johann Heinrich Voß und seine Frau wichen auch von dem Brauch ab, nannten sich ›Du‹; allerdings trug dies jedenfalls mit dazu bei, daß der auserlesenen Hamburger Gesellschaft eine nähere liaison mit ihnen widerstrebt hatte.

Obwohl die Arbeit des Aufhängens der Wäsche beendigt war, blieb Age Terwisga noch stehn, blickte prüfend nach dem westlichen Himmelsrand und sagte, nicht weiter bei dem letzten Gesprächsgegenstand verbleibend: »Ich denke, der Wind trocknet, eh' er den Regen bringt. Glaubst Du noch, daß der heute nicht kommt?«

In der Frage und diesem Zurückgreifen auf die vorher zum Ausdruck gelangte Meinungsverschiedenheit der beiden lag etwas Eigenthümliches, wie drunter Verborgenes, das sich Arnold nicht aufhellte, und er versetzte: »Warum –?«

»Ich meine, ob Du noch wetten willst.«

Ihren Mund umspielte ein leichtes Lächeln dabei, in dem sich jetzt erkennbar eine verhaltene Absicht kundthat. Doch über diese ungewiß, antwortete der Befragte: »Um welchen Einsatz könnten wir denn wetten? Was bekäme ich von Dir, wenn Du verlörest?«

»Das mußt Du bestimmen.«

Er sann kurz nach, dann flog ihm ein Einfall von der Zunge: »Ich weiß etwas – daß Du morgen Deine Sonntagstracht anzögst. Die hat mir als etwas Besonderes gefallen.«

Nun lachte sie wirklich. »Dabei käme ich leicht weg, denn morgen ist ja Sonntag, und ich thu's von selbst.«

Sie setzte nichts weiter hinzu, doch wartete merklich auf eine Frage von ihm, die er auch stellte: »Aber wenn ich verliere, was verlangst Du von mir?«

Darauf schoß ihr die unverkennbar fertig gehaltene Antwort über die Lippen: »Daß Du mir etwas aus Deinem Buch vorlesen sollst –«

Erst jetzt begriff er plötzlich, weshalb sie die Rede auf die Wette zurückgebracht habe. Sie trug ein Verlangen nach dem in sich, was ihr durch ihren Ursprung und das Heranwachsen auf der Insel versagt worden, und hatte es drauf angelegt, unter dem Anschein eines Spaßes sich eine Erfüllung dieses Begehrens zu verschaffen. Ihr mochte nachträglich aufgehn, durch die zu eilige Entgegnung habe sie ihrem Verhehlungstrachten zuwider gehandelt, denn sie wandte den Kopf zur Seite, dem Blick Arnolds eine ihr leicht in's Gesicht aufschießende Röthe zu entziehen. Doch er versetzte, als nähme er nichts davon gewahr und fasse ihre Erwiederung nur als scherzhaften Einfall auf; »Gut, so mag die Wette gelten, da hab' ich's beim Verlust noch leichter als Du, denn ich brauche keine Hand dafür zu rühren.« Seine vorherige Mißlaune war bis auf's letzte weggelöscht, er begriff nicht mehr, woher sie über ihn gerathen sei und ihm den thörichten Gedanken, von der Insel fortzugehn, aufgedrängt habe. Oder doch, der Grund für die völlige Umänderung seiner Stimmung lag auf der Hand, ihm fiel, wenn er die Wette verlor, wieder eine manche Stunde ausfüllende Beschäftigung zu, die gefürchtete müßige Leere des Tagesverlaufs konnte nicht eintreten. Aus der Vorstellung kam etwas, das ihm ein Lachen abnöthigte; brauchte er für diesen Gewinn denn die Wette zu verlieren? Das Mädchen schritt stumm vorauf in's Haus, wo jetzt die Mittagsmahlzeit bereit stand, und er folgte nach; mehrere Stunden lang dauerte der Sonnenschein noch unverändert an, doch dann entdeckte sein oftmals den Horizont musternder Blick, daß dieser sich im Westen grau zu färben begann. Die Dunstschicht verdichtete sich zu einer rasch emporrückenden Wolkenbank, und in einiger Entfernung am Ufer stehend, nahm er Age Terwisga schnell aus der Thür kommend und sich nach dem Trockenplatz wendend, gewahr. Mit der Hand prüfend, hob sie an, die Wäsche von der Leine einzusammeln; nun ging er hurtig hinzu, ihr wieder dabei behülflich zu sein. Der angesteigerte Wind pfiff mit sonderbar singenden Tönen, stob ihr manchmal vom unbedeckten Scheitel das Haar über die Augen, so daß ihre Hand es zusammenfassen und zurückstreifen mußte; einzelne Tropfen begannen schon zu fallen, als sie den gefüllten Korb miteinander unter das sichernde Dach trugen. Beide hatten während der geschäftigen Hantierung kein Wort ausgetauscht, nun wie sie unter der Thür Halt machten, sagte Arnold Lohmer: »Es regnet«, und das Mädchen antwortete drauf: »Ja«. Etwas Komisches lag in dieser Erhärtung und Bestätigung des bereits dicht niederrauschenden Regens, und hinterdrein flog Beiden gleichzeitig ein Lachen darüber von den Lippen.

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