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Eine kleine Welt des Menschenlebens war's auf der Insel, doch eine große der Natur. Auch diese nicht wie auf dem Festland den Boden mit bunter Lebensfülle überdeckend, kein Baum ragte von der winzigen Erdscholle auf, kaum ein niedriger Busch; sie kannte keine Kornsaat und kein Blühen, nur Graswuchs und ein paar Kräuter dazwischen. So war's gewesen, als die ersten Menschenaugen hier um sich geblickt, in aller Zeit ebenso zu verbleiben. Die erste Kunde davon hatte vor bald zwei Jahrtausenden der ältere Plinius in seiner Naturalis historia der Welt übermittelt: Zweimal während der Länge eines Tages und einer Nacht schwelle in jenen mitternächtlichen Gegenden, unermeßlich heraufflutend, das Meer an und schwinde wieder ab; man könne im Zweifel sein, ob man ein Land oder Meer vor sich gewahre. Dort hause ein bejammernswerthes Geschlecht, das sich auf Hügeln, die Menschenhand so hoch aufgeworfen, als die Flut emporsteige, Hütten gebaut habe; Seefahrenden erschienen die Bewohner gleich, wenn das Wasser alles überdeckt halte, doch Schiffbrüchigen, wenn die zurückweichenden Fluten verronnen seien und ihnen Fische und Muscheln zur Nahrung hinterlassen. Außer stande seien sie, gleich ihren Nachbarn, Rinder zu besitzen und sich von Milch zu ernähren, sogar mit wilden Thieren könnten sie nicht kämpfen, da ihr Land kein Buschwerk trage. Für den Fischfang flöchten sie sich Netze aus Schilfrohr und Binsen, erwärmten ihre Speisen und ihre vom Nordwind erstarrenden Glieder mit einem zusammengerafften Schlamm, den sie mehr im Wind als in der Sonne zum Trocknen brächten. Wasser zum Trinken erhielten sie allein vom Regen, den sie in Erdhöhlungen vor ihren Häusern sammelten und aufbewahrten.

Dieser Bericht des römischen Schriftstellers sprach nicht nur von den Inseln, sondern im Ganzen von den germanischen Küstenstrichen an der Nordsee, und noch bis um ein Jahrtausend später hatten sich an diesen die Zustände in der nämlichen Beschaffenheit forterhalten. Dann erst war mählich den vereinzelt auf ihren Wurften hausenden Uferangesessenen aufgedämmert, daß sie sich zusammenthun müßten, mit vereinter Kraft die große gemeinsame Feindin, die Nordsee, von ihren Wohnstätten abzuwehren. So hatten sie mit dem Deichbau begonnen, an dem unablässig Geschlechter um Geschlechter gearbeitet, bis es ihnen endlich gelungen, den langen Dammgürtel von der Westküste der cimbrischen Halbinsel bis zur Emsmündung so hoch und fest herzustellen, daß er eine Schutzmauer nicht nur gegen die gewöhnliche Flut, auch gegen anrasende Sturm- und Springfluten gebildet. Als das Ziel erreicht worden, lag die nordische Uferwelt wundersam verwandelt da. Wuthschäumend brach sich die ohnmächtige Gier des aufstürmenden Wasserschwalls an der schräg langhin abgedachten Außenseite des über haushohen Deiches, hinter dessen Innenseite dem Meer abgerungene, gesicherte Landstrecken entstanden, die Marschen mit dem fruchtbarsten Boden der Erde. Von dem wuchs jetzt Kornsaat in einer Ueppigkeit und zu einer Höhe, wie sonst nirgendwo, empor, unvergleichbare Weideflächen ernährten große Rinderherden. Nun bedurften die Häuser nicht mehr des Schutzes durch aufgeworfene Hügel; um Kirchthürme schlossen sich Dorfschaften zusammen, im Weiterschritt der Jahrhunderte da und dort zu Städtchen anwachsend; Buschwerk und Bäume stiegen auf. Die von Plinius geschilderte, erschreckend trübselige Landschaft bot den vollständigsten Gegensatz zu seiner Darstellung; an die Stelle des Nahrungsmangels, der dürftigsten Armseligkeit waren Ueberfluß und Reichthum getreten. Ein Bauer konnte zu seinem Sohn, der in die Fremde hinaustrachtete, sagen: »Hier ist die Marsch, und die ganze andre Welt, die ist bloß Geest; was willst du dummer Junge da in der Welt?« Geest' ward der höhere, aus Sand, Geröll und Moorgrund bestehende, unfruchtbare Boden am Rande der Marschen benannt, bis zu dem vormals die Meerflut hinangerollt war.

Solche Wandlung hatte der Deich geschaffen, doch nur auf dem Festland; die zahlreichen, diesem vorgelagerten friesischen Inseln von der holländischen bis zur jütländischen Grenze nahmen daran nicht theil. In der Mehrzahl sahen sie sich, hauptsächlich die größeren, von der Natur durch Dünenumwallungen geschützt; dagegen ungefähr anderthalb Dutzend der kleineren, ›Halligen‹, die ›Salzwassereilande‹ benannt, lagen dünenlos, noch ebenso der Wasserwillkür preisgegeben, wie ehemals die Festlandsküste. Ihre Zahl hatte früher die jetzige beträchtlich übertroffen, aber unablässig die See an ihnen genagt, sie vermindert, besonders die letzte ungeheure Sturmflut im Jahre 1634 fast die Hälfte von allen mit ihren Häusern und Insassen spurlos verschlungen. Von jeher war überall auf ihnen die Bewohnerzahl zu gering, Kraft und Hülfsmittel derselben nicht ausreichend gewesen, um eine Eindeichung zu ermöglichen; die Ausgaben dafür hätten auch in keinem Verhältniß zu dem Gewinn gestanden. So hausten die Nachkommen noch gleicherweise wie ihre Väter in grauer Vorzeit auf ihren Wurften, bis eines Tag's oder in einer schreckenvollen Nacht die Hochflut donnernd an ihre Häuser, zum Dach emporsteigend, heraufschlug, die Mauern gleich Kartenblättern zerbrach und hurtig alles zerschmettert in gährendem Gewoge mit sich fortriß. Noch als das ›bejammernswerthe Geschlecht‹ des Plinius saß die Halligenbevölkerung auf ihren kleinen Schollen, übriggebliebenen Stücken vom Meer zerschlagener größerer Eilande, ebenso dem schließlichen unabwendbaren Untergang entgegensehend, wie die Vorfahren. Doch mit einer ruhigen von Jahrhunderten überlieferten Gelassenheit und stets von der Arbeitsnöthigung des heutigen Tages über den Gedanken an das, was der morgige bringen könne, hinweggehoben, hinweggetäuscht.

Die Halligen erstreckten sich aus Norden von der größeren, durch Dünen und Deich gesicherten Insel Föhr her der schleswigschen Westküste entlang; ihre südlichste und zugleich kleinste war ›Süderoog‹, nur auf einer einzigen Wurft ein Gehöft tragend. Dann trat seitwärts von der holsteinisch-dithmarsischen Küste eine Lücke ein; was hier einmal vordem als Landstrecken aus der See geragt, lag seit Menschengedenkzeit von ihr verwüstet, im ›Sande‹ verwandelt, weitgedehnte Uferstriche, die bei der Tiefebbe zum Theil als trockne Sandflächen dem Wattenmeer entstiegen, dann von zahllosen, nach zurückgebliebenem Wassergethier haschenden Strandvögeln überflattert und überlaufen. Erst diesseits der Elbmündung tauchte wieder als völlig vereinzeltes Eiland Neuwerk aus dem Meer, gleichfalls ringshin von großen Sanden umgeben. So bildete es gewissermaßen ein Mittelglied zwischen den nordfriesischen und den jenseits der Wesermündung dem oldenburgisch-hannoverschen Festland vorgelagerten ostfriesischen Inseln, ungefähr gleich weit nach Westen von Wangeroog, der nächsten unter den letzteren, wie von der Hallig Süderoog im Norden entfernt, die gleicherweise schon außer der Gesichtsweite von Neuwerk lagen. Doch gehörte dies keiner der beiden Gruppen an, stand auch außer Verkehr und sonstiger Verbindung mit ihnen. Schon seit einem halben Jahrtausend hatte die große Hansestadt Hamburg die Hand auf die für ihre Schiffahrt hochwichtige, bis dahin nur O oder Oge benannte kleine Insel gelegt und auf ihr anfänglich einen hölzernen Leuchtthurm, dann, als dieser von einem Brand zerstört worden, den jetzigen aus festen Steinen errichtet, das ›neue Werk‹, nach dem das Eiland seitdem seinen Namen erhalten. Vermuthlich war erst dadurch hier eine menschliche Ansiedlung entstanden, denn die Namen der Bewohner gaben fast sämmtlich niedersächsischen Ursprung zu erkennen, mit alleiniger Ausnahme dessen Hadlefs Terwisga, der vor zwei Menschenaltern von Terschellen hierhergezogen, als einziger Friese auf Neuwerk seßhaft war.

Dergestalt theilte die einsam an der Elbausmündung belegene Insel – wohl der Ueberrest einer Halbinsel, die sich in der Vorzeit vom Land Hadeln weit in die See zum Dünenrücken des ›Scharhörner Riffs‹ gegen Nordwest erstreckt – bis auf den kleinen höheren Rücken in ihrer Mitte die Beschaffenheit der Halligen, verstattete keine Kornsaat, ließ nicht Baum noch Busch aufgedeihen, bot den Ansässigen nur Viehweide und Fischfang zur Ernährung. Eine abgeschieden kleine Welt des Menschenlebens war's in wechselloser, dürftigster Umgebung, aber dennoch eine großanrührende der Natur, ihrer Herrschermacht. Fast gewaltiger noch trat diese hier auf, als bei den Halligen, die zum größten Theil von den Inseln Amrum und Föhr gegen die vom Nordwest aufgepeitschten Wasser einige Deckung empfingen. Doch hier lag, abgesehen von der meilenweit entfernten Festlandsküste im Südosten, das winzige Stückchen Erde fast schutzlos der offenen Nordsee ausgesetzt; wäre der Leuchtthurm nicht entstanden, so hätte sich wohl kaum jemand unterfangen, den Fuß zu bleibendem Aufenthalt herzusetzen, sich eine Wurft zum Hausbau aufzuhöhen. Allerdings hatte nach Errichtung der Wurften eine spätere Zeit den Beginn gemacht, auch Neuwerk mit einer künstlichen Umwallung Schutz zu verleihen, doch als diese, hauptsächlich von der ungeheuren Sturmflut des Jahres 1634, zum größten Theil vernichtet worden, waren die Kräfte und Mittel der wenigen Bewohner zur Wiederherstellung zu schwach gewesen, und nur da und dort bewahrten noch einige Ueberbleibsel die Erinnerung an jenen Deichgürtel, gewährten, nothdürftig ausgebessert, stellenweise den Weidestrecken eine wenig verläßliche Obhut.

Für ein empfänglich-bewegbares Menschengemüth aber verging hier keine Stunde, die ihm nicht eine Einprägung hinterließ. Alles übte solche Wirkung, das Schöne und das Anschauernde, die rundum bis zum Himmelsrand niedersteigende blaue Kuppel mit der an ihr auf- und abwärts rollenden, flammenden Goldkugel, wie der dunkle, windgejagte Wolkenflug, selbst der bei dämmerndem Unterweltslicht einförmig graufallende Regen. Die in stetem Wechsel immer wiederkehrende und immer wieder abschwindende Flut, das Anschwellen, Rauschen und quirlende Schäumen der Wogen, die todte Ruhe und Stille der Ebbe. Rings im Umkreis die unermeßliche Rundsicht, nun über die uferlose See, nun im Vordergrund über die leeren Watten und Sande, die auch einmal von sommerlichem Grün überdeckt gewesen, Wurften und Wohnungen mit Menschenleben auf sich getragen. Vergangenheit und Gegenwart gingen dem Gefühl ineinander über, in die Heiterkeit mischte sich ein Schattenfall der Schwermuth ein. Weiße Segel wanderten fern vorbei, in's Ungewisse über das trügerische Meer nach fremden Ufern hinausziehend oder glücklich zu heimischen Gestaden rückkehrend. Mit traumhaften Empfindungen überkam ihr Anblick, die Phantasie erregend und Bilder vor ihr heraufgestaltend; als ein kleines Abbild der blinkenden Schiffslinnen schwebte die Möwe mit schneehellem Brustgefieder am Strande entlang, wie ein Klageruf tönte ihr Schrei aus der Luft herab, verhallte und kehrte wieder. Das Menschendasein nahm hier ein anderes Gesicht an, als drüben auf dem festen Lande; was dort in buntem und lautem Getriebe unablässig hundertfältig mit dem Streben nach Gewinn, dem Meiden von Verlust den rechnenden Sinn beschäftigte, sank in der Einsamkeit der Insel ab; nur von Erhabenem umgeben, besann die Seele sich hier auf sich selbst und den eigentlichen Werth des vom Leben Dargebotenen. Arnold Lohmer durchdrang's von Tag zu Tage mit deutlicherer Erkenntniß, er sei aus einer kleinen Welt gekommen und in eine große versetzt worden.

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