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So unterschied sich, dem Wesentlichen nach, darin seit Jahrhunderten ein wolkenlos schöner Maitag im ›Alten Land‹ für umblickende Augen weder von den heutigen, noch von lang vergangenen, und an solchem Tage des Jahres 1781 ging ein junger Mann in der Mitte der Zwanziger dort zwischen den weißblühenden Kirschbäumen dahin. Er war von Hamburg mit einem Boot über die Elbe nach Harburg gekommen; seine äußere Erscheinung kennzeichnete ihn als höherem Bürgerstande angehörig, obwohl er keine zeitübliche gepuderte ›bourse a cheveux‹, sondern kurzgeschnitten-leichtgewelltes Haar von natürlicher lichtbrauner Farbe um den Kopf trug. Auch ein andres Standesabzeichen, der kleine Galanteriedegen an der linken Seite, fehlte ihm; statt dessen führte seine Rechte einen kräftigen Stab, der im Verband mit einem leichten den Schultern aufgeschnallten Ranzen an die Ausrüstung eines umwandernden Handwerksgesellen erinnern konnte. Doch gab der Ausdruck seiner Züge auf den ersten Blick vornehme geistige Bildung zu erkennen; wer im letzten Jahrzehnt die Hochschule zu Göttingen besucht gehabt, hätte manches an Aehnlichkeit zwischen ihnen und denen des jungen Theologen, Dichters und Hainbundmitgliedes Ludwig Heinrich Christoph Hölty gefunden; ein jugendlich schwärmerischer Zug im Gesicht oder vielleicht mehr im Blick der blauen Augen stimmte völlig mit dem gleichen des schon vor fünf Jahren erst siebenundzwanzigjährig an der Auszehrung gestorbenen jungen Poeten überein. Wie's dieser gethan, trug auch der ihm Aehnelnde den schlanken Hals ohne die bräuchliche Einschnürung in fesselloser Freiheit, nur ein ungestreifter Linnenkragen schlug sich unter den leichtüberflaumten Wangen auf das Gewand herab. Alles brachte ein Wesen zum Ausdruck, das sich, unabhängig von modischer Vorschrift, an das einfach Natürliche und Zweckdienliche hielt. Das trat gleichfalls aus seiner Fußwanderung mit Ranzen und Stab zu Tage, denn eine solche war für Angehörige seines Standes durchaus ungewöhnlich, im Grunde unziemlich. Man begab sich überhaupt ohne geschäftlich zwingenden Anlaß selten weiter auf's platte Land hinaus und, wenn's geschah, zu Wagen oder zu Pferd, bediente sich nicht der Füße zum Zurücklegen meilenlanger Wege. Dafür eignete sich auch die stets sorgfältig à quatre epingles gehaltene Kleidung und Frisur der ›besseren‹ Stände nicht.

Der junge Wandersmann hier hatte sich indeß unbekümmert nach eignem Bemessen für seinen Zweck ausgerüstet, kam bereits von Harburg, war unter der gotischen Kirche des uralten Städtchens Buxtehude durchgeschritten, dessen verwunderlich klingender Name muthmaßlich das Gedächtniß an einen Bucco forterhielt, der sich in grauer Vorzeit als erster ›te Hude‹, zur Hütung des Viehs, an dieser Stelle angesiedelt, und wanderte weiter der Stadt Stade entgegen. Sein Schritt war rüstig und kräftig, obwohl er auch durch etwas blasse Gesichtsfarbe Aehnlichkeit mit Christoph Hölty bot. Doch rührte sie nicht von einem Krankheitskeim, sondern von Ueberarbeit her, deren etwaigen, mit einer Gefahr bedrohenden Folgen er durch länger andauernden Aufenthalt in frischgesunder Luft vorbeugen wollte. Das hatte er selbst sich verordnet, denn er war ein angehender Arzt, der vor kurzem sein Examen mit Auszeichnung bestanden und die Absicht hegte, sich in seiner Vaterstadt Hamburg niederzulassen. Einem wohlhabenden, zum Theil sogar sehr reichen Geschlecht entstammt, war er indeß nicht auf raschen eignen Erwerb angewiesen, konnte mit dem Beginn seiner Berufsausübung ruhig zuwarten und hielt sich als erforderlich vor, wer Andre zu heilen beabsichtige, müsse selbst dazu ausreichend gesunde Körperbeschaffenheit mitbringen. So hatte er den Vorsatz gefaßt, während eines Theils des anfangenden Sommers zu kräftigender Erholung Landluft, vielleicht auch Wasserluft einzuathmen, sich kein bestimmtes Wegziel vorgesetzt, sondern dachte dem Zufall zu überlassen, wohin dieser ihn an einen Ort, der ihm Gefallen wecke, führen werde. Das traf schon im ›Alten Land‹ zu, der Gegensatz zu den dumpfdunklen Hamburger Straßen übte bereits hier eine höchst erquickliche Wirkung auf ihn. Anheimelnd freundlich zogen sich durch die Marschniederung langhingereiht die einstöckigen Häuser der Bewohner unter dem stets gleichen, gradlinig den Horizont begrenzenden Deich dahin, der nur selten einmal einen Streifen von den grauen Wassern der Elbe gewahren ließ. Doch frischgrüne Wiesen, auf denen große Herden brauner oder gescheckter Rinder weideten, dehnten sich weitum, unsichtbar standen trillernde Lerchen darüber, manchmal jagte vom breiten Fluß her eine große Möwe mit weiß in der Sonne blitzender Brust landein, wies daraufhin, daß gegen Westen hinaus die Nordsee liege. Weich und warm begrüßte die Augen und das Gefühl überall der Frühling, von dem die Stadtgassen nicht wußten, am köstlichsten von den endlos sich forterstreckenden Blüthenzweigen der Kirschbäume her, drin Hunderttausende von Bienen schwirrten und surrten. Ab und zu hielt er den Fuß an, ein paar Augenblicke drauf hinzuhorchen; es klang, als sei die Luft mit einer summenden Sprache begabt und rede in dieser mit den jungen Lebenstrieben des Lenzes. Für solche Stimmen der Natur hätten wohl nur wenig Angehörige seiner kaufmännischen Heimathstadt ein Ohr besessen; vielleicht erläuterte sein Name, woher ihm dieser Gehörssinn zu theil geworden. Er hieß Arnold Lohmer, das war eine niederdeutsche Verkürzung von Lohmeier und überlieferte Kunde, sein Vorfahr habe sich einmal am Loh, am jungen, lichten Laubwald seßhaft gemacht. In dem war Vogelgesang und andrer vieltöniger Naturlaut heimisch gewesen, und der heutige Nachkomme mochte unbewußt noch ein Erbtheil der Sinnesempfänglichkeit dafür im Blut tragen.

Mit den Nachtherbergen in kleinen Städten sah's nicht besonders aus, doch genügsam nahm Arnold Lohmer am Abend mit einer Unterkunft in Stade vorlieb, schlief, von der ungewohnten Wanderung ermüdet, vortrefflich und setzte am Morgen seinen ziellosen Weg, jetzt durch das reiche Kehdinger Land fort. Hier umgab's ihn mit gleich freudigem Himmel und auch gleicher Landschaft, wie am Tag zuvor, nur verringerte sich die Zahl der Blüthenbäume gegen die des Alten Landes; dagegen stieg die Sonnenwärme noch höher an, so daß der junge Arzt fast bereute, sich die Schulter durch Mitnahme eines Mantels unnöthig beschwert zu haben. Nunmehr auf dem Deich weitergehend, hatte er zur Rechten stets den mächtigen Elbstrom unter sich als Begleiter, über den, im Sonnenduft verschwimmend, die Küste des holsteinischen Landes herübersah; als er im einstraßig langgestreckten Städtchen Freiburg eine verspätete Mittagskost eingenommen, verlockte der köstliche Nachmittag ihn, noch wieder gegen das westwärts einige Stunden entfernt aus der Ebene aufragende Schloß Nienhus aufzubrechen, auf gutes Glück, ob er in dem daneben belegenen Dorf ein Nachtquartier finde. Auf einsamem Feldpfad schritt er langsam fort; der linde Wind, der leis den Tag hindurch gegangen, regte, wie in Schlaf fallend, kaum da und dort noch leicht einen Halm, und Vorabendstille legte sich weit über das noch helle Land. Auch Arnold Lohmer hatte in Göttingen studirt, wo er zwar Hölty nicht mehr unter den Lebenden angetroffen, doch mit den Gedichten desselben noch vertraut geworden war, so daß er den Wortlaut mancher von ihnen im Gedächtnis trug. Und unwillkürlich kam ihm jetzt ein Lied des so jung Hingeschiedenen auf die Lippen, laut sprachen sie's vor sich hinaus:

Der Schnee zerrinnt,
Der Mai beginnt,
Die Blüthen keimen
Den Gartenbäumen
Und Vogelschall
Tönt überall.

Pflückt einen Kranz
Und haltet Tanz
Auf grünen Auen,
Ihr schönen Frauen,
Wo junge Mai'n
Uns Kühlung streu'n.

Wer weiß, wie bald
Die Glocke schallt,
Da wir des Maien
Uns nicht mehr freuen.
Wer weiß, wie bald
Die Glocke schallt!«

Da kam auch in Wirklichkeit Glockenschall durch die Luft, tönte vom Kirchthurm des nahgerückten Dorfes Nienhus her, und abbrechend, sah der laut Sprechende einen Augenblick halb betroffen auf. Aber dann lachte er frohgemuth und fuhr fort:

»Aus Lüften klingt
Geläut', es bringt
Der Ruf der Glocken
Auf blonden Locken
Den Myrtenkranz
Im Sommerglanz.

Da steht bereit
Die schönste Maid
Im Brautgeschmeide,
Im Hochzeitskleide.
Die Glocke schallt:
Ja bald! Ja bald!«

Das waren keine dem Maigedicht Christoph Höltys zugehörende Verse mehr, stammten überhaupt nicht von diesem her, sondern hatten sich im Kopf oder Herzen Arnold Lohmers selbst erzeugt und klangen, vom Augenblick geboren, als Fortsetzung und zugleich Gegensatz in Bezug auf den Schluß des Höltyschen Liedes aus seinem Munde. Das Dichten lag zu der Zeit für die studentische Jugend gewissermaßen in der Göttinger Luft, wie das Bienengesumm in den Kirschblüthen des Alten Landes, und offenbar hatte auch der junge Hamburger auf der dortigen Hochschule sein Theil davon abbekommen, so daß die eigenen Verse ihm ohne Vorbedacht mühelos auf die Zunge geriethen. Es ließ sich ihnen entnehmen, nicht zum erstenmal geschehe es so, wohl von Haus aus schon stecke auch in ihm ein Stück Poet, dessen Keim nicht der Göttinger Luft seinen Ursprung verdankt habe, nur von ihr lebhafter emporgefördert sein möge, was diese aus dem Stegreif hinzugedichteten Verse besagten, wußte jedoch nur er selbst, einem Hörer, der sie vernommen, hätte sich ihr Sinn entzogen.

Der Dorfkrug in Nienhus gab ihm keine andre Lagerstätte, als auf einer alten gepolsterten Ruhebank in der Gaststube, aber er machte sich am Morgen trotzdem frischgestärkt wieder auf und ging jetzt in das ostwärts vom Flüßchen Oste begrenzte Land Hadeln hinein. Vor ihm im Westen hob sich, schon weither sichtbar, eine größere Ortschaft vom flachen Boden, von zahlreichen Windmühlen umgeben, deren Flügel indeß heute bei völlig regloser Luftstille sämmtlich unbewegt gegen den Himmel standen. Der Hauptort von Hadeln war's, Otterndorf, an dessen Medem genanntem Bachwasser muthmaßlich ehmals der Fischotter besonders zahlreich gehaust hatte; fernab von aller lebendigen Regung des Verkehrs und geistiger Bedürfnisse lag das Ackerbürger-Städtchen oder der Flecken am kahlen Geestrand, durch die kleinen Fensterscheiben sahen die Augen von Frauen und Mädchen dem vorüberschreitenden fremden Vormittags-Ankömmling, verwundert gaffend, nach. Er ließ sich den Weg zum Schulhaus zeigen und trat neben diesem in ein niedrig unscheinbares Häuschen ein; das bildete doch in etwas ein Ziel für ihn, um dessenwillen seine Fußwanderung die Richtung am linken Elbufer entlang genommen. Wie er auf der fliesenbelegten Hausdiele an eine Tür klopfte, öffnete sie sich grad' im gleichen Augenblick und ein ungefähr dreißigjähriger mittelgroßer Mann mit hageren, derbknochigen Gesichtszügen wollte über die Schwelle auf den ziemlich trüblichtigen Flurraum heraustreten. Doch statt dessen prallte er jetzt sichtlich schreckhaft etwas zurück und stieß vom Mund: »Haining –«

Das war der Hainbundsname des verstorbenen Hölty gewesen, und um ein Wimperzucken lang hatte der plötzliche Anblick Johann Heinrich Voß, den seit drei Jahren in Otterndorf als Schulrector Angestellten, überwältigt, daß er den abgeschiedenen Göttinger Freund und Hainbundgenossen vor sich zu gewahren vermeint. Doch seine Natur ruhte im Wesentlichen auf der Grundlage eines nüchtern-klaren Verstandes, der sich keine Geisterwiederkehr und Spukgaukelei vormachen ließ, und sofort zur Besinnung gelangend, setzte er fast noch im gleichen Athemzug hinzu: »Sie sind's, lieber Lohmer, daran konnt' ich nicht denken, daß Sie in unser Nest geflogen, oder, wie's aussieht, als Wanderbursch gepilgert kämen. Im Dämmern übrigens ist Ihre Aehnlichkeit mit dem guten Haining wirklich merkwürdig und mir so stark noch nie aufgefallen. Er hat's leichter als wir, braucht sich nicht mehr mit störrigen Kälbern und Ochsen herumzuplacken. Kommen Sie in mein Schneckengehäuse herein, Tintenfischloch, sagt's besser. – Ernestine! Es ist Besuch aus der Welt da! – Das will hier heißen, als wär' der Mann aus dem Mond uns in den Schornstein herunter gefallen. In Wandsbek war's anders.«

Johann Heinrich Voß hatte vier Jahre lang in dem holsteinischen Flecken Wandsbek dicht bei Hamburg gelebt, von dort aus den Göttinger ›Musenalmanach‹ des Hainbundes redigirt und einen Briefwechsel mit der ihm von Angesicht völlig unbekannten jüngsten Schwester seines Gönners und Freundes Heinrich Christian Boie, der Tochter eines Diaconus in Flensburg, begonnen, die er in Folge davon um ein paar Jahre später als seine Gattin heimgeführt. Während dieses Aufenthalts in Wandsbek war er auch mit den seitdem verstorbenen Eltern Arnold Lohmers, wie mit diesem selbst bekannt geworden, hatte Antheil an dem damaligen, poetisch veranlagten Gymnasiasten und nachherigen jungen Studenten genommen und zeigte sich merkbar von der unerwarteten Einkehr desselben in Otterndorf aufrichtig erfreut. Nun zog er den Gast in sein ›Tintenfischloch‹, eine kleine, überall mit Büchern und aufgestauten Papieren ansehende Arbeitsstube, räumte einen Stuhl von einem Stoß drauflagernder Schulhefte frei, sprach allerhand, meistens in kurz abgebrochenen Sätzen, dazwischen und zündete, als ein Zeichen von Behagen, sich vermittelst Feuerstein und Schwammlunte eine gestopft im Wandwinkel lehnende lange weiße Thonpfeife an. Sein Gesichtsausdruck zeigte keinen Mißmuth, doch unverkennbar hatte die Lebensmühsal in engen Verhältnissen während des Laufs eines Jahrzehnts die Ueberschwänglichkeit, die sich ehmals aus den Briefen des schwärmerischen Hainbundjünglings ergossen, beträchtlich abgedämpft; was ihm vom Munde kam, ließ weniger einen Dichter vermuthen, als praktisch-verständigen Sinn und zuweilen etwas Rusticales des mecklenburgischen Pächters- und Schankwirthssohnes zu Tage treten. Andrerseits indeß wies ein Wandtisch auf einen größtdenkbaren Gegensatz dazu hin, denn darauf lag, eben von der Hamburger Verlagsbuchhandlung eingetroffen, ein Dutzend von Exemplaren der Homerischen Odyssee, die er als der erste im Hexametermaß des Originals in's Deutsche übertragen hatte. Ein Ausruf Lohmers: »Oh, ist die Odyssee fertig?« that kund, daß er von dieser großen Arbeit gewußt habe, und Voß fiel ein: »Ja, dazu ist wenigstens das Nest hier gut. Man hört dreihundert Tage im Jahr das Wasser klatschen und die Windorgel heulen, dabei kommt man in einer Woche mit dem göttlichen Dulder, den Lästrygonen und Sauhirten besser vorwärts, als in Wandsbek Monate durch.« Der junge Arzt lachte: »Das klingt, als fühlten Sie sich hier unter Halbwilden; gefallen Ihre neuen Landsleute Ihnen so wenig?« – »Gefallen?« wiederholte der Befragte etwas knurrenden Ton's. »Als Musensöhne und Grazien sind sie nicht vom Himmel gefallen, aber auf den Kopf auch nicht, sondern Kerle mit Grütze im Kopf.« – »Also doch!« – »Ja, sie haben schon vor ein paar hundert Jahren alle, die sich bei ihnen adlig dickmachen wollten, aus ihrem Land und zum Teufel gejagt.«

Das entsprach der geschichtlichen Wirklichkeit, denn die Nachkommen der alten Chauken in Land Hadeln hatten ehedem als demokratische Bauerngemeinde gewirthschaftet, bereits vor der Reformation das Weiteraufkommen eines entstandenen Adels nicht geduldet, und diese Bethätigung unabhängigen Freiheitsdranges rechnete ihnen offenbar der Enkel eines mecklenburgischen Leibeignen so hoch an, daß er dafür ihren erheblichen Mangel an geistiger Bildung und literarisch-ästhetischen Bedürfnissen in den Kauf nahm. Zu weiterer Auslassung darüber gelangte er nicht, da die Thür aufging und die zuvor von ihm herbeigerufene Hausfrau hereintrat.

Ernestine Voß, um vier Jahre jünger als er, war augenscheinlich in der Küche thätig gewesen, hatte eilig eine frische Schürze vorgebunden und eine andre Haube auf's blonde Haar gesetzt, doch ihr stillanmuthiges Gesicht trug auf den Wangen noch die Röthe vom Herdfeuer und daneben einen Zug, der lesbar innere Beunruhigung kundgab, ob die zubereitete Mittagskost für die Bewirthung eines Gastes mit ausreiche. Das Einkommen des Schulrectors in Otterndorf war ein äußerst mäßiges, Sparsamkeit im Hause nöthig geboten, und der alte Schmalhans mußte für gewöhnlich an den Kochtöpfen hantiren. So stand jene Besorgniß mit ziemlicher Deutlichkeit in den Zügen der jungen Frau ausgeprägt, doch ihr Mann klappte ihr mit der Hand auf's Schulterblatt: »Zähme Dich doch! Heida! Ein Puff auf den Rücken! wie meine Hedewig unter'm Kirschbaum sagt. Keine Angst, Stinchen, es reicht schon. Lohmer ist kein Polyphem, der ein ganzes Schaf auf einen Bissen herunterschluckt, und im Keller liegen noch ein paar Flaschen, denen der Wandsbeker Bote nicht nachschimpfen würd', sie kämen aus Thüringen.«

Voß begab sich weg, eine von ihnen heraufzuholen; Frau Ernestine tauschte während seiner Abwesenheit Begrüßung mit dem unerwarteten Besucher aus. Immerhin war der wenigstens keine Standesperson, aber als aus einer angesehenen Hamburger Familie doch muthmaßlich von ziemlich verwöhntem Gaumen, und etwas bänglich lag die Frage ihr auf, wie lange er wohl in Otterndorf zu verbleiben gedenke. Sich gradezu danach zu erkundigen, getraute sie sich nicht, flocht nur an geeigneter Gesprächsfügung geschickt ein, ihre häuslichen Umstände in der kleinen Amtswohnung seien so beschränkt, daß sie keine Gaststube hätten, und überhaupt sehe es mit einer Nachtunterkunft für Fremde im Ort recht übel aus. Darüber kam ihr Mann mit der Weinflasche zurück, von der er mit einem alten Löschblatt aus dem Papierkorb den Staub abwischte, durch das gesäuberte Glas den hellen Inhalt betrachtete und befriedigt sagte: »Ja, der Asmus omnia sua secum portans hat recht: Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsre Reben. Was macht er und sein ›Bauernmädchen‹ Rebecca? Hier hört und sieht man nichts das Jahr durch als Müller und Mühlengeklapper; ein Sigwart-Müller ist zum Glück nicht darunter. Das war ein hübscher Gedanke von Ihnen, Lohmer, sich hierher auf die Beine zu machen. Sind sie eigens um unsertwillen gekommen, oder haben Sie sonst noch Absichten in der Gegend?«

Das rührte an die Frage, die Frau Ernestine nicht vom Mund gebracht, und sie athmete erleichtert auf, wie der junge Arzt Antwort gab, daß er sich um seiner Gesundheit willen die Fußwanderung verordnet habe, am Nachmittag weiter nach Ritzebüttel-Cuxhaven wolle, um zu sehen, ob er dort vielleicht mit einem Fahrzeug zu längerem Aufenthalt nach einer der friesischen Inseln hinüberkomme.

Der tüchtige Schulrector war auch ein guter Hausvater, fühlte, daß durch diese Mittheilung seiner lieben Ehehälfte ein nicht ganz unbeträchtlicher Stein vom Herzen genommen werde, und versetzte, ohne eine schöne Redensart des Bedauerns über die schon so baldige Wiederaufbruchs-Absicht des Gastes zu machen: »Da stecken sie den Band ein; wenn Sie auf eine Kalypso-, Kirke- oder Nausikaa-Insel gerathen, kommt er Ihnen vielleicht bei Regenwetter zu paß. In Hainings Gedichten hatte der Mai immer nichts als Sonne; das meint Einer leicht, ›so lang die Bienlein umsummen den blühenden Baum;‹ mit den Bienen hatt' er's viel in seinen Liedern. Aber wird man als Arbeitsbiene trockner hinter den Ohren, kommt man auch dahinter, daß es im Wonnemond nicht weniger Platschtraufe und Niederschlag giebt. Sollt' mich nicht wundern, wenn's noch heut' damit losginge. Der Himmel macht freilich noch kein saures Gesicht, aber ich spür's seit heut' Morgen in der Wade ziehn.«

Er hatte ein Exemplar der Odyssee an Arnold Lohmer hingereicht, das dieser mit Dank in Empfang nahm; die junge Hausfrau war in die Küche zurückgegangen, und es dauerte nicht lang' mehr, bis sie zum Essen berief; vom Otterndorfer Kirchthurm schlug's Zwölf, das war die ländliche Mittagsstunde. Der Eßtisch stand schlicht, doch mit sauberem Linnen gedeckt vor dem hochbeinigen Sopha in der Wohnstube, durch ein offenes Fenster fiel die Sonne herein, Anheimelndes lag in der Beschränktheit und altväterischen Ausstattung des niedrigen Raumes, ging besonders von Ernestine Voß, ihrem einfach-netten Anzug, sanfteinnehmenden Gesicht und ganzen Wesen aus; sie bildete eigentlich in allem einen feinen Gegensatz zu ihrem nicht schön zu nennenden und nachlässig gekleideten Manne. Der empfand die von ihr auf den Gast geübte Wirkung und sagte, nach der Milchsuppe die Flasche aufkorkend: »Eine gute Frau ist die Sonne im Haus, wenn sie draußen fehlt; da hat der Mann nicht nöthig, noch dazu zu thun, kann den Schatten vorstellen. Wollen zuerst auf Stinchen anklingen; kochen kann sie auch, das ist 'ne tägliche Hauptsache. Wann wird's denn mit Ihrer Hochzeit, Lohmer?«

Dazu fiel die Belobte, ein wenig roth geworden, ein: »Ja, ich habe mich noch garnicht erkundigt, wie geht es Ihrer Braut?«

Aus den beiden Fragen erklärten sich die Verse, die der Fußwanderer am Abend vorher bei dem Schall der Nienhusener Kirchenglocke dem hölty'schen Mailied hinzugedichtet hatte. Er war schon seit einigen Jahren, im Grunde gewissermaßen bereits von Kindsbeinen auf, mit Lucinde Eschenhagen verlobt, seiner Cousine von mütterlicher Seite, der einzigen Tochter eines ausnehmend reichen Hamburger Kaufherrn, die als eines der schönsten und feinsterzogenen Mädchen seiner Vaterstadt galt; die Hochzeit hatte der Vorbestimmung gemäß alsbald nach dem Abschluß seines Examens stattfinden sollen, war indeß jetzt um der ihm nöthig gewordenen Erholung willen bis zur Sommermitte hinausgeschoben. Das berichtete er, sowie daß es seiner Braut auf's beste ergehe, und Ernestine Voß sagte, ihr Glas wieder fassend, ein bischen schalkhaft: »So können wir ja gleichfalls auf sie oder vielmehr auf Sie beide anstoßen, daß Sie in Ihrem künftigen Hause nicht auch neben ihr zum Schatten werden.« Um den schmallippigen Mund ihres Gatten ging ein lachender Zug, und er fügte an: »Ja, an Mutterwitz fehlt's Stinchen auch nicht. Also auf Ihr Wohl und das von Demoiselle Lucinde! Seit drei Jahren habe ich sie zwar nicht mehr gesehn, aber kann mir denken, daß Paris heut' in Hamburg bei ihr mit seinem Apfel nicht lange fackeln würde.«

Die zusammengestoßenen Gläser, ob auch nicht grad' von feinstem Krystall, gaben helltönigen Klang, und zu praktischer Betrachtung übergehend, fuhr er fort: »Ist eine gute Partie, die Sie machen, bringt jedenfalls einen hübschen Sack Hamburger Courantthaler mit in die Wirtschaft; den hätten wir auch nicht mit dem Rücken angesehn. Wird aber bei Ihnen im Haus mehr noth thun, als bei uns, denn vom Kochen weiß die Demoiselle vermuthlich so viel, als der Spatz vom Abc, und ist an das Tischlein-deck-Dich aus dem Märchen gewöhnt. Da kommt unser Schöps, und die dampfenden Kartoffeln dazu sind Ihnen zu Ehren. Hunger für's Zulangen, denk' ich, haben Ihre pedes apostolorum mitgebracht, der hilft auch über den Hammel weg.

›Klimme muthig den Pfad, Bester, den Dornenpfad
Durch die Wolken hinauf, bis du den Strahlenkranz,
Der nur weiseren Dichtern
Funkelt, dir um die Schläfe schlingst,‹

sang Haining in seiner Ode an mich – bald zehn Jahre werden's – er könnt' auch launig sein, und wenn er uns heut' hier vor der Schüssel sähe, würd's ihm wahrscheinlich nicht drauf ankommen, aus dem Strahlenkranz einen Kartoffelhaufen zu machen und dem weisen Dichter den Rath zu geben, so viel er möge, davon in den Schlund zu schlingen. Schade drum, daß er nicht mehr bei uns am Tisch sitzt; man muß ihn zu vergessen suchen. Wir wollen seinen Manen ein stilles Glas bringen. Aber über länger oder kürzer gehen wir alle den Hadesweg hinter ihm drein; auch Homeros mußte sterben und war mehr als er.«

Die Vorrathskammer Frau Ernestines hatte nur ein Stück gebratenes Lammfleisch zum Auftischen innegehabt, doch so wenig wie die Wirthe verlangte der Gast von der Mahlzeit andres als Beschwichtigung des Hungers, die Hauptsache ward von der Zukost des hin und her wechselnden Gesprächs ausgemacht. Und daran ließ der Otterndorfer Rector keinen Mangel; der seltene Besuch ›aus der Welt her‹ in Verbindung mit dem gespendeten Rheinwein regte ihn heiterlebendig an, so daß er launig mancherlei Erinnerungen aus vergangener Zeit heraufholte. Dabei gab sich deutlich zu erkennen, er sei nicht mehr der schwärmerisch-überschwängliche Göttinger Hainbundsjüngling; öfter einen kurzen Lachton dazwischen ausstoßend, schilderte er eine hochfeierliche Sitzung des Bundes, die zur Verherrlichung des Messiassängers stattgefunden.

»Obenan in einem Lehnstuhl saß Dein Bruder, Stinchen, wir andern als Bardenschüler mit Eichenblätterkränzen auf den Köpfen um den Tisch. Dann gings an. Boie nahm sein Glas, stand auf und sagte mit einer Stimme, die ihm vor zitternder Andacht beinah' stecken blieb: Klopstock! Jeder von uns sprach diesen höchsten Namen nach, und nach einem tempelhaft heiligen Stillschweigen, daß man eine Fliege schnurren hörte, tranken wir. Hinterher kamen die Halbgötter an die Reihe, einer um den andern, aber nicht so hohenpriesterlich – Ramler – Gleim – Geßner Uz – Gerstenberg. Jeglicher bekam seinen Schluck, größer oder kleiner, bis wer den Namen Wieland vom Mund brachte. Da flogen wir alle in die Höh', wie eine aufgescheuchte Gänseherde über den Zaun setzt, und schrien mit einer Stimme: Wieland, der große Sittenverderber sterbe! Und weil wir grade dabei waren, nahmen wir Voltaire gleich mit! Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae, stieß schon Seneca auf. Wenn Dein Bruder heut' als Justizrath und Dithmarser Landvogt dran gedenkt, Stinchen, werden sich ihm auch die Lippen krausen. Er hielt sich übrigens für kein großes ingenium, sondern sagte mir einmal ehrlich, Ich reime nur so 'mal die Idee eines andern oder was mir so ungefähr durch den Kopf geht. In der Ehrlichkeit hat's seine Schwester noch weiter gebracht, denn die reimt wohlweislich und zum Glück garnicht, sondern stickt und stopft für ihren Mann, wo's reißt und durchscheuert. Ich glaube nicht, daß Sie Ihre Frau viel mit Nadel und Fingerhut sehen werden, Lohmer. Ja, damals schrieb ich an Brückner: Gott wollte die Welt segnen und – es ward Klopstock. Tempera mutantur nos et. Vor ein paar Wochen holte ich mir den Messias von Gestell und blieb im ersten Gesang stecken, wie die Zähne in einem zu dickkleistrigen Mehlpapp. Aber der Buchhändler hatte mir grade die Abderiten von Wieland zugeschickt, die habe ich bis auf die letzte Krume aufgeknabbert und mir zu Stinchens großer Angst fast einen Buckel dabei angelacht; den, meinte sie, braucht' ich noch zu meinem Gesicht. Aber solchen Mann brauchen wir in Deutschland, und es war gut, daß er damals unserm Lalenbürgerwunsch nicht nachgegeben hat und gestorben ist.

Aus der Flasche ist wahrhaftig der letzte Tropfen heraus – was meinst Du, Stinchen, da unser Gast schon so schnell wieder weiter will, kann er heut' Abend keine zweite mehr bei uns trinken –«

In häuslichen Dingen war Voß offenbar gewöhnt und gewillt, sich erst über eine Beipflichtung seiner verständigen Frau zu vergewissern, sie freute sich jedoch merklich über die muntere Stimmung, zu der ihren Mann der Besuch erfrischt hatte, und antwortete: »Ich wollte Dich schon erinnern, daß unsre Gläser leer sind, dachte aber, eine Frau darf sich nicht in ernste Männerangelegenheiten einmischen.« Dazu lächelte sie allerliebst, und beruhigt-vergnügt stand er jetzt rasch auf nochmals in den Keller hinunterzusteigen; die Zeit seiner Abwesenheit benutzte Frau Ernestine, wieder auf die Braut des jungen Arztes, die ihr nicht von Angesicht bekannt war, zurückzukommen. Sie zählte höchstens ein Jahr mehr als er, doch fühlte sich merkbar in ihrer Frauenhaftigkeit ihm gegenüber in dieser Sache wie einem noch lebensunerfahrenen Knaben und erkundigte sich, fast wie eine Mutter ihren Sohn befragt hätte: »Ist es denn auch wirklich die Rechte?« Er wußte nicht, was er darauf erwidern sollte, sagte lachend nur: »Kann man denn auch eine unrichtige Braut haben? Woran sollte man das erkennen?« Darauf versetzte die weiblich mütterliche Weisheit aus dem Munde Frau Ernestines: »Mit Augen sehen, meine ich nicht, man kann nur in sich fühlen, ob es wirklich die Notwendige und Einzige für's ganze Leben ist.« »Dazu, dünkt mich, müßte Einer aus einer großen Menge zu wählen gehabt haben, sonst läßt sich das wohl nicht gut eidlich versichern.« – »Ja, das meint' ich eben, Sie sind noch so jung und haben vermuthlich noch nicht viel Andere zum Vergleichen kennen gelernt. Und ein Dichter, hat Heinrich mir gesagt, sind Sie eigentlich auch, denen kann man niemals ganz trauen – das heißt natürlich, außer ihm – ich meine, die können sich selbst nie so recht trauen, ehe sie auf die Probe gestellt worden sind –«

Da kam, das Gespräch abbrechend, Voß mit der neuen Flasche zurück, zugleich trat die Hausmagd mit dem Schluß der Mahlzeit, frischem Roggenbrod, erster Maibutter und einem großen Stück Holländerkäse ein, und wohlgemuth stieß er bei dem einladenden Anblick aus: »Das ist ja wie ein Bild von Chodowiecki zu dem Lied, das ich neulich für die Milchmädchen gedichtet habe, womit sie beim Melken die Kühe ansingen sollen:

Lieg und wiederkäu in Ruh
Dein gesegnet Futter:
Alles, gute, fromme Kuh,
Milch und Käse schenkest du,
Rahm und süße Butter.

Erheben wir denn, wie der göttergleiche Odysseus, der vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat, auch im Meere so viel herzkrankende Leiden erduldet, nochmals wieder die Hände zum lecker bereiteten Mahle. Ein kluger Mann war's, drum konnte er sich auch jederzeit auf den Beistand der blauäugigen Tochter des Aegiserschütterers verlassen. Sie haben aber auch klug den richtigen Tag ausgewählt, Lohmer, um Otterndorfer Sitte kennen zu lernen, denn sonst hätt' ich wieder nach der Fibel und dem Bakel langen müssen, doch gottlob verlangt die Weltordnung am Sonnabendnachmittag nicht, daß ich mit dem Dreschflegel auf meiner Schultenne herumklappen und meinen Fohlen Weisheitshafer in die dummen Mäuler hineinstopfen muß. Da braucht sich der Dreschochs heut' nicht das Maul zu verbinden.«

Behaglich nahm er seinen Platz wieder ein, pfropfte mit dem Korkzieher die geholte Flasche auf, schenkte die Gläser voll und ließ sich unter anerkennenden Lobesworten mit noch unverminderter Eßlust den Nachtisch weidlich schmecken. Danach stand er auf, trat zu seiner Frau hin und sagte: »Auch darauf verstand der Odenhaining sich und hätte gern ebenso mit seinem Röschen am eigenen Tisch gesessen. Schön hat er seine Sehnsucht danach kundgethan:

Unter Blüthen des Mai's spielt ich mit ihrer Hand,
Koste liebend mit ihr, schaute mein schwebendes
Bild im Auge des Mädchens,
Raubt' ihr bebend den ersten Kuß.«

Dazu bückte der Sprecher sich, küßte seine Frau Ernestine, ihre Hand fassend, herzlich auf die Lippen und ging dann, um seine Pfeife zu holen. Arnold Lohmer saß wunderlich-zwiespältig angerührt, mußte zuweilen einen Lachreiz beherrschen. Das war der gegenwärtige Johann Heinrich Voß, in dem wohl jetzt seine eigenste Natur zum Durchbruch gekommen, nüchtern hausbackener Sinn eines echten Schulmeisters und pedantischen Philologen, der den klassischen Schulsack mit in's Leben genommen hatte, die Odyssee in deutsche Hexameter übertragen zu können, und in lehrhaftem Philisterton die buttereinbringende Kuh besang. Doch trotzdem ging daneben auch ein wirklicher poetischer Anhauch von ihm aus, ließ empfinden, daß ihm Dichterblut im Herzen klopfe, und ein traulich-schönes menschliches Gefühl überkam aus der kleinen Stube, die gleich einem Rahmen um ein Idyll eines glücklich-zufriedenen, fest durch wechselseitige Liebe und Achtung verbundenen jungen Ehepaares dalag. Dem Gast war's sehr wohl zwischen ihnen, ungeschminkte Natürlichkeit ohne Prahlerei mit äußeren Zufallsgütern umgab ihn, einzig der Werth geistiger und gemüthlicher Bildung besaß hier Geltung. Manchmal kündete der Glockenschlag der Kirchenuhr das hurtige Vergangensein einer Stunde, und in dem Klange lag's wie etwas Mahnendes, daß es Zeit für Arnold werde, sich zu verabschieden, um ihn noch vor Nachteinbruch bis an sein Abendziel Ritzebüttel hingelangen zu lassen. Doch Voß nutzte die ihm selten gebotene Möglichkeit, einem verständnißvollen Hörer gegenüber sich über die neuen Wandlungen auf dem Gebiete der Literatur auslassen zu können, und noch eine dritte Seite seines Wesens, eine mehr und mehr zur Entwicklung aufgediehene polemische, kam dabei rückhaltlos zum Vorschein. Große Rauchballen aus seiner Pfeifenspule pustend, eiferte er polternd gegen das, was seiner Natur zuwiderging, ›den ätherisch-seraphischen Plunder‹ und ›die neue Mode, die sie romantisch heißen‹, stellte dieser seine Auffassung, was Dichtung sei und zu schaffen habe, entgegen: Getreue Darstellung der heimatlichen Landnatur und ihrer Bewohner, des Lebens der Sitten und Bräuche bei ihnen, untermischt mit lehrreichen Gesprächen und Gedanken, Ernst und Spaß an passendem Ort. Er ging damit um, in Hexametern eine derartige Epopöe oder besser Idylle abzufassen, die in einem holsteinischen Pfarrhaus handeln und drin die Tochter des alten Pastors, ihre Verlobung und Hochzeit mit allem Drum und Dran zum Hauptgegenstand der Schilderung werden sollte. Zuweilen brachte er eine Reihe von Versen draus vor, die sich ihm schon im Kopf gebildet hatten; Stellen aus einem Geburtstagsfest der Heldin, das mit Kaffeekochen im Walde gefeiert wurde; dann gerieth er wieder davon ab und auf eine andere ›neue Mode‹, ›den mittelalterlichen Unfug, den der hochfürstliche Kammerdiener in Weimar mit seinem Ritterschauspiel aufgebracht habe, draus sich ebenso, wie aus den thränseligen Leiden des jungen Werther eine Schlammflut von Verderbniß über die Fruchtäcker der deutschen Dichtung ergieße.‹ Das förderte Johann Heinrich Voß mit derbpolternder Stimme über die Zunge und qualmte so dicke Rauchwolken dazu, daß Frau Ernestine hin und wieder einen besorgten Blick nach ihren weißen Tüllgardinen am Fenster richtete, die allmählich von ihrer frischen Farbe einzubüßen schienen. Doch trug der Tabaksrauch daran wohl weniger Schuld als eine Veränderung des Lichts, denn an Stelle der Sonnenluft war nach und nach eine leicht grauverhängte getreten und ließ den Nachmittag schon weiter als in Wirklichkeit vorgerückt erscheinen. Das brachte den Gast einmal zum Bewußtsein, er dürfe seinen Aufbruch nicht länger hinausschieben, und da der Otterndorfer Rector seiner Meinung von der neumodischen Dichtung ausreichend Luft gemacht hatte, setzte er dem Vorhaben Lohmers ebensowenig ernstliche Einwendung entgegen, als die junge, auf Lüftung der Wohnstube bedachte Hausfrau. Beide begleiteten den Fortgehenden bis vor die Thür hinaus, wo Voß beim Abschied sagte: »Das waren 'mal ein paar gute Sonnabend-Freistunden für den Schulmeister, dran er noch nachträglich saugen kann, wie der Bär an den Pfoten. Halten Sie sich, wie der kluge Laërtessohn, zu Land und zu Wasser in einträchtigem Verband mit der nützlichen Zeustochter Pallas, und wenn auch Ihr Rückweg sie bei uns vorbeibringt, so klopfen Sie wieder an. Uebrigens bleiben wir vielleicht nicht allzulange mehr hier in dem Otternnest hocken, mein Freund Stolberg in Eutin hat Pläne für mich im Sack, die uns ebenso zu paß kämen, als meinem Pfarrhausidyll. Das ist zwar auch Einer mit blauem Blut im Leib, doch beim Fritz hat's nur die Farbe nicht die Art. Freilich, ›denken drüggt, seggt de Voß,‹ und es kann auch heißen: ›Ick glöw, ick warr hier en beten bliwen, sä de Voß, do seet em de Steert inne Fall.‹ Aber wird's im Sommer was mit Eutin, gehn wir vorher noch 'mal wieder nach Wandsbek, und da lad' ich mich zu Ihrer Hochzeit ein. Sehn Sie, ich sagt's schon, als Sie kamen, der Himmel macht ein schnakisches Gesicht, als möcht' er zu Abend noch Schwarzsauer auftischen. Der Mond kommt freilich hernach und verdirbt ihm vielleicht das Gericht. In Göttingen nannten wir ihn Luna, sangen ihn um Mitternacht an und glaubten, er hexe Wunder was zusammen; Haining schlug auf seiner Leier:

›Noch scheint der liebe Mond so helle,
Wie er durch Adams Bäume schien.‹

Adam hat seitdem in den Erkenntniß-Apfel gebissen und den jungen Adam ziemlich ausgezogen. Die Hauptsache ist, sich von keiner Evastochter ein X für'n U machen zu lassen, dafür ist ja bei Ihnen durch Ihre Braut auch gesorgt. Ich sehe, Athene hat schon Bedacht für Sie gehabt und Ihnen vernünftig eingegeben, einen Mantel mit auf den Weg zu nehmen. So kommen Sie gut nach Ritzebüttel hin und auf Ihrer Odysseefahrt weiter!«

Nun wanderte Arnold Lohmer wieder allein westwärts dahin. Ihn hatte es in gewisser Weise im Voßischen Häuschen mit einem heimathlichen Gefühl angerührt, das die prunkenden Häuser der reichen Hamburger Kaufherren, auch die seiner nächsten Verwandten, ihm nicht einflößten, und von Frau Ernestine war bescheidene Anmuth und Wärme natürlicher und echter Weiblichkeit ausgegangen. Aber doch dachte er sich eine Ehe, eine Frau, die seinige und das Zukunftleben in seinem eigenen Hause nicht so, ohne sich grad' angeben zu können, was für ihn daran, abgesehen von den zu eng beschränkten äußeren Umständen, noch anders sein müsse. Aehnlich erging es ihm gleichfalls mit dem derzeitigen Otterndorfer Rector, dessen selbständige kernige Mannhaftigkeit, gelehrte Kenntnißfülle und unzweifelhaft auch dichterische Begabung er gewiß nach Gebühr voll zu schätzen wußte. Allein jener hatte selbst zutreffend die Bezeichnung »Schulmeister« auf sich angewandt, der machte doch in ihm den eigentlichen innersten Bestand aus und sah überall auch aus seinen Dichtungen, hie als ein breites Stück, dort wenigstens mit einer Ecke und einem Zipfel hervor. Die Poesie war in der Empfindung des jungen Arztes etwas anderes und strömte ihm, mit seinem eigenen Gefühl übereinstimmend, vielmehr in vollstem Reichthum und Schönheit aus den neuartigen Schöpfungen dessen entgegen, den der demokratische mecklenburgische Schankwirtssohn mißächtlich einen fürstlichen Kammerdiener und schaumfluthgleichen Verderber der deutschen Literatur genannt; erst vor kurzem hatte Arnold den ›Götz von Berlichingen‹ mit herzklopfender Bewunderung und Entzücken gelesen, daß ihm alle vorherigen berühmten Dichtungswerke, sogar die Dramen Lessings dagegen abgesunken waren. Um keine Mißstimmung zu verursachen, hatte er sich jenen Bemerkungen seines Wirthes gegenüber in Schweigen verhalten, doch aus ihnen am deutlichsten einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Natur und der des ›Schulmeisters‹ herausempfunden. Vielleicht ruhte dieser Gegensatz im Wesentlichsten darauf, daß Arnold Lohmer ›die neue Mode, die sie romantisch heißen‹, von irgendeiner Seite als angeborene Mitgift in sich empfangen und unbewußt, ohne davon Gebrauch zu machen, von der Natur mehr mit dichterischer Phantasie und Regung begabt sein mochte, als Johann Heinrich Voß.

Solchen Wechsel von Gedanken und Gefühlen in sich beherbergend, ging er weiter, und jetzt ließ alles keinen Zweifel, daß hinter der graden Deichlinie zur Rechten sich nicht mehr die breite Elbmündung hinziehe, sondern die Nordsee selbst beginne, ihm bei jedem Schritt näher entgegen zu rauschen. Ihr dumpfes Geröhr erfüllte die Luft mit einem murrenden Ton, und zahlreicher jagten auf weitklafternden Schwingen große Wasservögel, schrille Rufe ausstoßend, landein; zugleich indeß bewährte sich die Wetterumschlags-Voraussage des Odyssee-Uebersetzers mehr und mehr als von richtiger Auffassung des ›schnakischen‹ Himmels eingegeben. Dieser überdeckte sich völlig mit bleigrauer Farbe, und in Stößen fuhr der umgelaufene Wind nun aus Nordwest dem Wanderer in's Gesicht, rauh und durchfröstelnd; kein Maitag mehr schien's zu sein, sondern als ob der November beginne. Arnold empfand, die kluge Rathgeberin Pallas Athene habe ihm in der That unsichtbar zur Seite gestanden, wie er seinen, an den beiden vorhergegangenen Tagen nur als lästig gefühlten Mantel auf den Weg mitgenommen; jetzt wickelte er sich, gegen den Wind ankämpfend, fest in ihn hinein. Das gab ihm ein warmes Behagen zurück und seine lebhafte Einbildungskraft wandelte ihm den langsamen Gang zu einem Traumflug vor. Aus dem mit fremdartigem Geruch um ihn witternden Anhauch der großen Salzsee entsprang's wohl; ihm war's, seiner harre am Ufer ein Schiff, oder er sei schon drauf und es trage ihn über unendliche Meerweite unbekanntem Wunderland unter scheitelrecht flammender Sonne zu, von fremden Eilandsküsten kämen Blüthenduft und Fruchtarom tropischer Zonen über die Wasser daher. In Wirklichkeit fiel vorzeitige Abenddämmerung um ihn ein, doch freudig und schön im Innern erregt, schritt er, wie von wiegenden Wellen fortbewegt, seinem Nachtziel entgegen.

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