Jean Paul
Leben Fibels
Jean Paul

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2. Nach-Kapitel

Meine Ankunft

Die Reise-Gelegenheit war ein markgräflicher Retour-Wagen mit Sechsen, in welchen mich der Leibkutscher, da ich dem Markgrafen und dadurch dem Kutscher vorgestellet war, willig einnahm. – Ich habe meine Ursachen, folgende Anekdote vorher zu erzählen, eh' ich im Dorfe ankomme.

Ein Graf A-a, der sein wichtiges Empfehlungsschreiben dem Minister B-b zu überreichen hatte, suchte aus Umständen noch spät abends zu Fuße dessen Haus, konnte aber weder dieses noch sich selber recht finden, ob er gleich jedes Haus doppelt sah und die Gegenstände um ihn noch stärker umliefen als er selber. Zum Glück legte das Wenige, was er über das Viel zu viel getrunken, ihn in eine Gosse seitwärts hinein. Unten fand er schon Herz und Brust eines andern Herrn, der aus ähnlichen Gründen sich nach den Gesetzen der fallenden Körper gerichtet hatte. Schrecklich fluchte der untere Herr über den ungeschliffenen Menschen, der sich auf ihn heruntergebettet habe; ob er denn nicht wisse, befragte er den Grafen, daß er den Minister B-b vor sich habe. »O entzückend, hinreißend!« – rief der Graf vor Freude darüber, daß der Minister drunten vorrätig lag – »Ich bin der Graf A-a und suche Ihre Exzellenz schon seit einer Stunde überall.« Hierauf machten beide, ohne sich erst von neuem zu umarmen, da sie ohnehin einander schon an die Brust gedrückt hatten, sich verbindlich, aber mühsam miteinander auf und halfen sich gegenseitig heraus, um, so gut das Gehen gehen wollte, Arm in Arm in das ministerielle Haus zu kommen, wo sie diesen Abend sich den Wechselfall so oft wieder erzählten, als sie forterzählen konnten. –

Ich bitte diese Anekdote so lange zu vergessen, als ich nicht daran erinnere, weil wir auf viel wichtigere Dinge zu merken haben. Noch vor Bienenroda zeigte der Kutscher mit der Peitsche auf ein Obstwäldchen voll Gesang und sagte: »Dort sitzt es, das alte Herrlein, und hat sein kleines Vieh bei sich!« Ich sprang, aus dem Fürstenwagen und ging auf den sogenannten Bienenroder zu. Da mich dem alten Herrlein meine sechs markgräflichen Pferde (ich durft' es erwarten) als einen Mann von Rang vorstellen mußten – meiner schlichten einfachen Kleidung nicht einmal zu gedenken, womit sich immer Fürsten und Helden vor ihrem vergoldeten Gefolge auszeichnen –: so nahm es mich ein wenig wunder, daß das Herrlein, ohne dem Pudel das Bellen zu wehren, noch lange mit seinem Hasen fortspielte, bevor es langsam – als wären Markgrafen ihm tägliches Brot – den wachstuchenen Hut von einem Kopf voll Haare abzog. In einem zugeknöpften Überrock – wofür ich seine Weste ansah –, in ein Paar Strumpfhosen von unten herauf – seine ungeheuern Strümpfe warens – und in einem Halstuch (Krawatte), das aber bis auf den Magen herabhing, schien der Greis modisch genug bekleidet. Noch seltsamer war sein überalter Körper zusammengesetzt: der Grund des Auges ganz weiß, der in der Kindheit schwarz ist – mehr seine Länge als seine Jahre schienen ihn zum Bogen zu krümmen – die aufwärts gedrehte Kinnspitze gab seinem Sprechen ein Ansehen von Wiederkäuen; – aber dabei waren seine Züge lebendig, seine Augen hell, die Kinnbacken voll weißer Zähne, der Kopf voll blondes Haar.

Ich fing endlich an: ich hätte bloß seinetwegen Pferde genommen, um einen Mann zu sehen, für welchen es gewiß wenig Neues unter der Sonne gäbe, ob er gleich selber etwas Neues unter ihr sei. Um ihn zu Mitteilungen über Fibel zu gewinnen, fuhr ich fort: »Eigentlich sind Sie als ein Fünfundzwanziger ein Mann in Ihren besten Jahren; denn nach dem Hundert geht eine ganz neue Rechnung an; daher Personen von hohem, wieder von eins an zählenden Alter, z. B. die Frau VerdutDictionnaire des Merveilles de la nature par Sigaud de la Fond. T. I. – Der 120jährige Greis von Rechingen in der Oberpfalz bekam 4 Jahre vor seinem Tode neue Zähne, die nach sechs Monaten wieder neuen Platz machten, und so fort. Hufelands Makrobiotik. Und so noch viele Verjüngungen der Veraltung. oder der Greis von Rechingen, Zähne und Haare und jede Verjüngung wieder bekommen, wie ich ja an Ihrem eignen Haar und Gebiß errate. Ein anderes ist ein Mann in Achtzigern wie Peter Zorten, der Ungar, welcher freilich in seinem fünfundachtzigsten Jahre nach dem Weltlaufe (zumal da er schon vorher 100 Jahre zurückgelegt) nichts anders erwarten konnte, als was darin eintraf, der Tod. Ich weiß übrigens aus dem erbärmlich philosophierenden Museum des Wundervollen, bei Baumgärtner in Leipzig (B. 7. 5.), recht gut, daß Castegneda versichert, in Bengalen sei ein Mann 370 Jahre alt geworden und habe viermal neues Haar und Gebiß und übrigens 70 Weiber gehabt, und daß mithin ein Mensch, wenn man bei dieser wie bei andern Nachrichten auch nur die Hälfte für wahr annimmt, wenigstens 185 Jahre alt werden kann. Genau genommen, halten Sie sich ohnehin für etwas älter, als Sie wirklich sind, wenn ich nach den Schalttagen rechnen soll; denn da nach jedem vierten Jahre viermal sechs Stunden eingeschaltet werden, dies aber, scharf genommen, falsch ist, weil nach genauester Berechnung jedem Jahre nicht sechs, sondern nur 5 Stunden, 48 Minuten, 45 Sekunden, 30 Terzien fehlen: so bleibt Ihnen, sogar bei Auslassung des Schalttags, wie z. B. anno 1800 geschah, doch noch ein Vorschuß von Zeit übrig, den Sie nachzuleben haben.«

Ich hatte mich so verwickelt – weil sich mir die astronomische Schmeichelei unter den Händen dünner ausspann –, daß freilich der Bienenroder kaum wissen konnte, was er dazu sagen sollte; und daher sagt' er auch nichts.

»Ich meines Orts gestehe gern,« knüpft' ich wieder an, »wär' ich einmal über das Jahrhunderts-Ziel oder die Kirchhofmauer von 100 Jahren hinüber, ich würde dann gar nicht wissen, wie alt ich würde, oder ob ichs wäre, sondern frisch und frei, wie ja die Weltgeschichte öfters getan mitten in Jahrtausenden, wieder von anno Eins zu zählen anfangen. Warum soll denn ein Mensch nicht so alt werden können als mancher indische Riesenbaum, der noch steht? Übrigens sollte man ordentlich protokollarisch alle Über-Greise vernehmen über die Mittel, wodurch sie ihr Leben ohne den Geheimrat Hufeland in Berlin so sehr zu verlängern wußten, als der Geheimrat selber nicht kann, da er sich nur zu achtzig bis neunzig anheischig macht. Wie stellten Sie es eigentlich an, teueres altes Herrlein? Aus einer langen Nase allein ist schwer, dünkt mich,« (beschloß ich in einigem Ärger über das Schweigen des Herrleins) »ein langes Leben zu drehen, wiewohl ein FranzoseIrgendwo habe ich in der Tat von einem Franzosen diese Bemerkung gehört oder gelesen, für welche sich indes manche physiologische Begründung finden ließe. die Sache behauptet.«

»Einige meinen wohl,« – versetzte das Herrlein sanft – »weil ich immer froh gewesen und das symbolum gebraucht: nunquam lustig, semper traurigEr wollte bloß das Umgekehrte sagen. ; aber ich schreib' es gänzlich unserem lieben Herrgott zu; die Tiere da um uns her sind ja auch nunquam lustig, wenigstens meistens lustig, leben aber doch nicht so weit über ihr Ziel hinaus als der Mensch, weil dieser das Ebenbild des ewigen Gottes auch in der langen Dauer vorstellt.« Der Mann schwieg. Solche Worte von Gott haben auf einer hundertundfünfundzwanzigjährigen Zunge viel Gewicht und Trost; – und ich wurde anfangs sehr schön angezogen; aber bei Erwähnung der Tiere fiel der Bienenroder wieder auf seine Tiere und fing – als sei er gleichgültig gegen einen mit Sechsen gekommenen Mann – wieder mit seinem Viehstande zu spielen an, mit dem Hasen, Pudel, Seidenspitze, Stare, ein paar Turteltauben auf seinem Schoße; auch ein lustiger Bienenstand im Obstwäldchen gehörte, da er die Bienen mit einem Pfiffe heraus-, mit einem andern hereinrief, zum Viehhofe, der ihn wie ein Hofzirkel umschrieb. Zu erklären war das Ganze nicht anders als durch meinen Gedanken: alte Menschen und alte Bäume haben eine rauhe kratzende Borke an, junge aber eine sehr glatte weiche.

Er sagte endlich: »Es soll sich aber niemand wundern, daß ein gar alter Mann, der ja alles vergessen und den auch niemand kennt und gern hat als der liebe Gott, sich bloß mit dem lieben Vieh abgibt. Wem kann ein altes Herrlein viel dienen? Ich gehe in den Dörfern da herum wie in lauter blutfremden Städten; seh' ich Kinder, so kommen sie mir wie meine grauen Kinderjahre vor; seh' ich Greise, so sehen sie wie meine vergangnen Greisenjahre aus. Ich weiß nicht recht, wohin ich jetzt gehöre, und hänge zwischen Himmel und Erde; doch Gott siehet mich immer hell und liebreich an, mit seinen zwei Augen, mit der Sonne und mit dem Mond. Und die Tiere leiten zu keiner Sünde an, sondern zur Andacht; und mir ist ordentlich, als säh' ich Gott selber vieles tun, wenn meine Turteltauben ihre Jungen so wärmen und ätzen; denn von ihm erhielten sie doch ihre Liebe und Kunst gegen die Jungen geschenkt.« –

Auf einmal schwieg der Greis lange und sah ordentlich wie wehmütig vor sich hin; das Kindtaufsglöckchen in Bienenroda schallte ins Gartenwäldchen herein. Endlich weint' er ein wenig; ich weiß aber nicht, wie ich nach seinen vorigen schönen Worten zu der Einfalt kam, die Tropfen bloß für Zeichen altkranker Augen zu halten. »Mir ist immer,« sagt' er, »da ich wegen meines Alters nicht gut höre, als wenn das Kindertaufglöckchen aus dem fernen Heiligengut schwach herüberklinge; hundertjährige Kinderjahre steigen aus alten tiefen Zeiten auf und sehen mich verwundert an, und ich und sie wissen nicht, ob wir weinen oder lächeln sollen. Oh! Oh!« – Darauf setzte er hinzu: »Hieher, mein Alertchen!« Er meinte seinen Seidenpudelspitz.


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