Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

In der Lectüre und in den dadurch angeregten Gedanken störte ihn ein dumpfes Geräusch, welches vom Nebenhäuschen im Hofe heraufdrang. Er sah die Knaben des Rectors, welche schon Abends zuvor im väterlichen Hause wieder eingerückt waren, auf den Stufen der Vortreppe über einander sitzen, und hörte ihre Vorbereitung zu den morgen aufs Neue beginnenden Lectionen. Da sie verschiedenen Alters waren, so reichten sie von Quinta bis Prima hinaus und trieben folglich die Latinität von alauda cantat bis zum Exponiren des Virgil. Ganz laut wurden diese Studien betrieben, wodurch ein Geräusch entstand, nicht unähnlich demjenigen, welches in einer Judenschule zu tönen pflegt. Was Hermann in Erstaunen setzte, war, daß Keiner den Andern irrte, vielmehr Jeder sein Pensum 168 unter den fremden Beschäftigungen, die ihm vor dem Ohre klangen, fortlernte.

Nachdem dieses babylonische Sprachgemisch eine Zeitlang angehalten hatte, kamen zwei Söhne des Educationsraths vorsichtig durch eine Hinterthür geschlichen. Es war der Naturforscher und der Baumeister. Ersterer trug eine große Flasche, Letzterer einen Topf und ein leinenes Säckchen. Sie sahen sich vorsichtig um, als fürchteten sie, bemerkt zu werden, und schlichen sodann zu den Lateinern.

Sobald diese jene bemerkten, warfen sie Bröder, Cäsar und Virgil weg, stießen ein Freudengeschrei aus und hielten mit den beiden Angekommenen ein heimliches Gespräch, wobei von Letzteren viel auf Flasche, Topf und Beutel gedeutet wurde. Nachdem Einer darauf einen Spaten ergriffen hatte, zog der ganze Trupp durch die Hinterthür nach dem wüsten Platze ab, welcher dort zwischen Scheunen der Nachbarn neben dem Garten lag. Durch die offene Thüre sah Hermann sie noch an der Erde graben und wirthschaften, ohne gewahr werden zu können, was sie eigentlich vornahmen.

Im Verlaufe des Tages fragte er den Rector, ob seine Söhne Grammatik und Autoren immer auf die Weise behandelten, welche er wahrgenommen hatte.

Jederzeit, antwortete dieser. Sprache kommt her von Sprechen. Man kann sie nur laut lernen. An dem hörbaren Schalle prägt sich Alles lebendiger ein; stilles Lesen und Memoriren ist nur ein halbes Werk.

Ich habe mich deßhalb auch genöthigt gesehen, die Jungen nach dem Nebengebäude zu verweisen, welches früher eine Waschküche war, denn im Hause war das Getöse nicht auszuhalten, sagte die Rectorin.

Es gab allerdings zuweilen multum clamoris, sprach der Rector gravitätisch.

Hermanns Besuch bei dem Educationsrathe war ruchbar geworden, und diese Nachricht gab zu allerhand Scherzen über diesen Mann und sein Erziehungswesen Veranlassung, worin besonders die Rectorin unerschöpflich war. Sie verschonte auch sein Zöpfchen nicht, welches er freilich, auffallend genug, noch trug, da doch dieser Zierrath schon längst abgekommen ist, und meinte, er lasse es nach seinem Grundsatze von der Freiheit der Entwicklung stehen, weil die Haare nun einmal diese Richtung genommen hätten.

169 Dieser sonst würdige Mann und mein Freund wird durch seine fast pueril zu nennenden Grillen noch einmal das größte Unglück herbeiführen, sagte der Rector. Heute Morgen vertraute mir der Apotheker, welcher hier vorbeikam, daß zwei seiner nebulonum , der sogenannte Naturforscher und der Architect in der Offizin fünf Pfund Eisenfeilspäne und eine große Flasche Vitriolsäure angekauft hätten. Was nun die Knaben damit Verderbliches beginnen wollen, mögen die unsterblichen Götter wissen.

Bei diesem Hin- und Herreden wurde Hermann, der sich nun auch noch an so Manches aus den Gesprächen des Educationsraths erinnerte, das sonderbarste Verhältniß offenbar, eins von denen, welche der deutschen Stuben- und Gelehrtenwelt eine so wunderliche Gestalt geben. Beide Schulmänner gingen von Principien aus, die, jedes in seiner Art, etwas für sich hatten. Denn alle Bildung bestand ja von Anbeginn der Geschichte nur darin, daß man entweder durch einen mächtigen allgemeinen Begriff das Individuum zu steigern versuchte, oder sein besonderes Inneres erforschend, es zu entfalten suchte. Da sie nun aber diese Grundsätze auf die Spitze trieben, so sahen sie sich mit der Welt, welche eigentlich beide zu einer unbestimmten Mitte verflacht wissen will, in beständigem Widerstreite. Häufig kam der Fall vor, daß Eltern ihre Söhne dem Educationsrathe nach kurzer Frist wieder wegnahmen, »weil sie bei ihm nichts lernten«, und der Rector war schon verschiedentlich von der obern Behörde scharf bedeutet worden, die Kräfte der Jugend weniger anzugreifen, und über das Studium der Alten nicht alles Andere zu vernachlässigen.

Beide hatten aber beschlossen, fest zu beharren bei dem, was sie für wahr erkannten, beide fühlten sonach die Nothwendigkeit, zu stets bereiter Polemik gerüstet zu sein. Das Bedürfniß, sich in dieser zu üben, hatte die Gegner zu einander geführt, und da sie nebenbei joviale rechtschaffene Männer waren, so schlich sich unter allem Streit und Hader eine aufrichtige Freundschaft ein, die sich schon durch verschiedene wesentliche Dienste, welche Einer dem Andern erwiesen, bethätigt hatte. Freilich konnte ein Dritter bei ihren Zusammenkünften, welche wöchentlich regelmäßig einige Male stattfanden, davon nichts merken, denn diese gingen nie ohne hitzige Wortgefechte an.

Zwischen ihren Häusern hatte sich überhaupt ein förmlicher kleiner Krieg ausgebildet, und es war ein eignes Idiom entstanden, welches dem Nichteingeweihten unverständlich war. So hatte Hermann bei dem 170 Educationsrathe von den Alten, und bei dem Rector von den Ständen wie von lebenden Personen reden hören, und erst durch einige Fragen herausgebracht, daß mit dem ersten Ausdrucke die Söhne des Rectors und mit dem zweiten die des Educationsrathes gemeint waren. Die Gattin des Letzteren that sich viel auf den Einfall zu Gute, daß der Rector alles Ernstes bedauere, seinen Hirten nicht Schweine hüten zu sehen, weil dieser in seiner gegenwärtigen Verfassung doch noch keine vollkommene Aehnlichkeit mit dem homerischen Vorbilde zeige; die Rectorin dagegen nannte ihre rüstige Freundin wegen des schon berührten Stabes nie anders als die speerschwingende Minerva.

Das Geschick hatte noch außerdem für Mehrung der Verwickelungen gesorgt. Durch eine besondere Nemesis sah sich der Educationsrath gezwungen, seinen Pastor, bei dem es denn doch nun einmal ohne Römer und Griechen nicht abgehen konnte, zu dem Widersacher auf das Gymnasium zu schicken. Lange hatte er sich gesträubt; der Knabe, welcher ohnehin keinen raschen Kopf hatte, war daher für seine Jahre zurück geblieben und saß in einer unteren Klasse. Diesen Umstand verfehlte der Rector nicht bei Gelegenheit gehörig aufzustechen. Im Stillen hatte er sich vorgenommen, dem Pastor, sobald er nur erst die Rudimente hinter sich hätte, selbst alle mögliche Nachhülfe zu geben, ihn der Kanzel zu unterschlagen, aus ihm einen Philologen zu bilden, und so dem Gegner aus seinem eignen Blute den Rächer an den verachteten Klassikern zu wecken.

Dagegen erlebte der Rector nun wieder an seinen Knaben manches Leidwesen. Ihnen war streng jeder Umgang mit den Söhnen des Educationsrathes untersagt worden, von welchen der Vater nur Zerstreuung und allerhand thörichte Streiche besorgte. Aber die Alten fühlten eine unbezwingliche Neigung zu den Ständen, die immer etwas Neues vorzuweisen und anzugeben hatten, und befriedigten dieselbe aus hundert und aber hundert Schleifwegen. Gegenseitig wurden geheime Besuche abgestattet, denen der Educationsrath mit stiller Schadenfreude nachsah, der Rector dagegen durch einen Vorpostendienst, zu dem er sich selbst in Haus, Hof und Garten bequemen mußte, möglichst entgegen zu treten strebte.

Alles dieses störte indessen die Geselligkeit beider Familien nicht, und so war auch an dem Tage, von welchem hier die Rede ist, ein Abendessen im Garten des Rectors verabredet worden. Der Fischer hatte der Rectorin 171 einen großen Hecht, frisch aus dem Wasser gezogen, überbracht, welcher nicht allein verzehrt werden durfte.

Cornelie, welche das Lusthäuschen zum Empfang der Fremden ausschmückte, kam von ihrer Arbeit eilig zu Hermann und sagte leise zu ihm: Bringen Sie doch heute etwas auf, worüber kein Streit entstehen kann. Ich weiß gar nicht, warum sie hier zusammenkommen, wenn sie immer mit einander Zwist haben wollen. Es hört sich so unangenehm zu. Er ging und sann, wie er ihrem Gebote Folge leisten solle.

Als gegen die Zeit des Besuches der Rector in das Lusthäuschen trat, sah ihm seine Gattin einige Verstimmung an. Wir bekommen noch einen Fremden, der mir nicht ganz gelegen ist, sagte er. *** übernachtet auf seiner Reise nach *** in unserm Orte, und hat sich anmelden lassen. Er ist mir als Feind meines theuren, hochverehrten Johann Heinrich, und weil er, der Gelehrte, mit Süßduft und Modeschwatz den Chevalier, equitem, spielen will, äußerst widerwärtig, dennoch habe ich ihn, heuchlerischer Weltsitte gemäß, die auch den Biedern zwingt, willkommen heißen müssen.

Spricht er denn noch deutsch, oder schon nichts als Sanskrit und Prakrit? fragte die Rectorin.

Ich bitte dich, schweige. Bilem moves, ich möchte unartig werden, wenn mir bei seinem Anblicke die indischen Ungeheuer einfielen.

Der Rector befand sich, wie er immer pflegte, wenn er nicht ausging oder Schule hielt, im Schlafrock und Pantoffeln. Die Gattin ermahnte ihn, für heute, des fremden Gastes wegen, die bequeme Hauskleidung abzulegen, erhielt aber einen verneinenden Bescheid. Das fehlte noch, rief er, daß ich um des alten Gecken willen, von ehrbarer Gewohnheit abweiche! Nein, deus haec nobis otia fecit Wer mich nicht sehen will, wie ich bin intra privatos parietes, der bleibe haußen.

Die Rectorin, welche bei aller Achtung und Liebe für ihren Mann dennoch einen Blick für seine kleine Lächerlichkeiten hatte und oft befürchtete, daß er dadurch den Spott Dritter über sich hervorrufen möchte, war über die Weigerung etwas verdrießlich. Wie die Frauen sind, die gern im Angenehmen und Unangenehmen beharren, sie brachte gern noch ein Zwietrachtsthema hervor. Ich weiß nicht, was heute einmal wieder mit unsern Kindern sein mag, sagte sie. Sie lassen sich kaum blicken; wenn ich Einen sehe, so verkriecht er sich, oder macht ein sonderbares Gesicht. Gewiß ist eine ausbündige Schelmerei und für uns ein tüchtiger Aerger unterweges. 172 Wenn ich Dich doch überreden könnte, den lauten Sprachunterricht einzustellen, damit ich sie wieder in das Haus nehmen dürfte. In der Waschküche sind sie unserer Aufsicht entrückt, können thun, was sie wollen, und überdieß habe ich jetzt mit der großen Wäsche wegen Mangels an Raum immer meine liebe Noth.

Du häufest verkehrte Wünsche, erwiderte der Gatte gehaltenen Tons. Den lauten Sprachunterricht einstellen, hieße, von einem obersten leitenden Grundsatze abweichen, und dieses wirst Du Deiner großen oder kleinen Wäsche wegen wohl im Ernste nicht von mir verlangen. Was aber die heutige Unruhe der Knaben betrifft, so beruhige Dich darüber. Es ist morgen die große Klassenversetzung, der Quintaner und Tertianer rücken auf, Quarta und Secunda bleiben sitzen. Praesentiunt, praesagiunt, spei timorisve pleni das bringt sie so in Bewegung, und wenn Du mehr Menschenkenntniß besäßest, so hättest Du wohl den wahren Grund errathen können.

Der letztere Vorwurf, mit welchem der Rector, der sich für einen großen Menschenkenner hielt, gegen seine Gattin freigebig zu sein pflegte, traf sie empfindlich. Sie bezwang sich indessen diesesmal und fragte ihn nach einer Pause mit einer gewissen scharfen Freundlichkeit: Sage mir Väterchen, was hältst Du von unserm Gastfreunde?

Dieser Candidat Schmidt hat leider mehr von der modernen ästhetischen als von der gründlich gelehrten Bildung abbekommen, versetzte der Rector. Wenn er sich mir anvertraute, so wollte ich ihm wohl nachhelfen, denn er ist ein gescheidter, offner Kopf. Was sein Hiersein betrifft, so ist dieses nicht ohne geheime Absichten; er will unter der Hand etwas durchsetzen.

Hast Du das gemerkt? fragte die Rectorin, betroffen über den Scharfsinn ihres Mannes.

Freilich. Er will etwas über den Eutorp ediren, wozu es denn nun an allen Ecken und Enden fehlt. Da soll der Rector vorspannen. Deßhalb bringt er das Gespräch einigermaßen in fastidium beständig auf diesen Autor, und sucht mich auszuholen.

Sie schöpfte Athem, im Stillen überzeugt, daß, wenn sie auch in Nebensachen sich fügen müsse, ihr doch in den Hauptpunkten wohl die Herrschaft verbleiben werde. Indem sie ging, noch allerhand häusliche Besorgungen vorzunehmen, konnte sie sich nicht enthalten, ihrem Gatten 173 Zurückhaltung über den Eutrop gegen den Canditaten Schmidt anzuempfehlen.



 << zurück weiter >>