Karl Immermann
Düsseldorfer Anfänge
Karl Immermann

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5.

Mitternacht war nahe. Der Tanz im Saale machte eine Pause. Man fand sich in einzelnen Gruppen zum Souper zusammen. Die drei Dominos wollten aufstehen, und sich einer solchen Gruppe anschließen; da drang ein halbes Dutzend junger Leute, Spanier, Türken, Tyroler, herbei, und setzte sich ohne weiteres an den Tisch der Dominos, so daß diese, welche sich von lauter angenehmen Gesellschaftern und guten Freunden umgeben sahen, nun auch sitzen blieben. Man verhandelte über die Frage, was man essen und besonders was man trinken sollte, und nahm sie sehr ernsthaft. »Denn,« sagte der rote Domino, »der Gaumen ist uns von würdiger Unterhaltung trocken geworden, und hat deshalb ein wohlerworbenes Recht auf würdige Anfeuchtung.«

Während dieser Debatte war der papageigrüne Domino, der nach dem fünfzehnten oder sechzehnten Robber des Spiels nun genug hatte, aus dem Zimmer gegangen. Mit bedeutendem Schmunzeln war er gegangen, und mit einem auffallenden Gefolge kehrte er zurück. Ihm folgte nämlich ein Junge, der in einem seefarbenen Tritonen- oder Fischhabit stak, und ein Kellermeister aus dem Mittelalter. Der jugendliche Triton oder fischichte Junge trug auf seinem Schuppenhaupte ein Austernbrett von dem Umfange eines Wagenrades, der Kellermeister schleppte sich mit zwei gefüllten Flaschenkörben, aus denen die wohlbekannten verpichten, drahtumflochtenen Korke hervorsahen. Der Papageigrüne ließ sich mit Grandezza Austern und Champagner auf den Tisch stellen. »Was soll das?« riefen alle, denen die frischen Colchester Mollusken, die rot und grünen Etiketten von Forest Fourneaux père et fils à Rheims gar nicht unlieb deuchten.

»Dank, wie ihn die Praxis der Theorie darzubringen vermag,« versetzte der Papageigrüne. Er hieß den Triton und den Kellermeister abtreten, und fuhr fort: »Ich bin bei meinem Whist da so mit den Brocken Reflexion, Betrachtung, Untersuchung, die von eurem Tische fielen, vollgefüttert worden, daß ich ja der schändlich Undankbarste sein müßte, wollte ich mich nicht für diese himmlischen Gaben durch einige irdische Nahrung revanchieren. Womit speiset man aber die Weisen? Rosinen und Krachmandeln sind Studentenfutter, die Götter nehmen nichts zu sich als Nektar und Ambrosia, die Weisheit gedeiht am besten bei Austern und Champagner. 78 Greift daher zum Gewehr, d. h. zu Messer, Citrone und Glas, ihr drei aus Morgenland; was euch, junge Leute betrifft, so kommt ihr freilich hier zum Feste ohne alles Verdienst, rein durch die Gnade des Himmels!«

Ein Einfall verfehlt nie seine Wirkung, wenn Austern und Champagner ihn unterstützen. Alle lachten, erklärten den Papageigrünen für einen Menschenfreund und braveren Mann, als Bürgers braver Mann gewesen, und griffen zum Gewehr. Bevor jedoch die erste Auster ihren Untergang fand, rief der Papageigrüne: »Halt! Ich mache zum Gesetz dieses Intermezzos, daß niemand während desselben eine neue Abstraktion oder sonstige Tiefsinnigkeit aufbringen darf. Denn gar zu viel ist ungesund. Die alten Geschichten, die ihr begrübelt und besprächelt habt, möget ihr noch vollends ausrennen lassen, denn man darf die Natur, ist sie im Lauf, nicht hemmen, Neues könnt ihr euch auch erzählen, soviel ihr wollt, aber so lieb euch die Gnade eures Wohlthäters ist, nur Fakta, simple Fakta, handgreifliche Fakta, dürft ihr vorbringen.«

Man löste die Drähte, die Korke flogen gegen die Decke, der ungeduldige Wein schäumte in die roten, flachen Schalen. Es ist ein Fortschritt des Jahrhunderts, daß die peinlichen Stengelgläser immer mehr abkommen, die dem Genie von Epernay so lange die unwürdigsten Fesseln anlegten. Nach den ersten Gläsern war das munterste Geschwätz im Gang. Die jungen Leute sagten, daß man im Saale über den Konventikelkram der drei Dominos vielfältig gelacht habe; diese versetzten, daß sie sich ja sonach um den Zweck des Festes, die allgemeine Fröhlichkeit, verdient gemacht hätten. Sie wurden befragt, wovon unter ihnen die Rede gewesen sei, und darauf wurde noch einmal Aristophanes genannt. Die verschiedensten Meinungen erhoben sich hierauf, denn von diesem Dichter hat jeder die seinige. Der Papageigrüne machte aber bald der Diskussion ein Ende, indem er ausrief, Aristophanes sei ein Zotenreißer und nichts weiter. Er brauchte eine noch kräftigere Bezeichnung, welche die Geschichte des Abends aber vergessen hat.

»Er war frech, und darum gefiel er den frechen Athenern, denn das Volk bringt man immer nur durch Frechheit zu seiner Fahne,« fuhr der Papageigrüne fort.

79 »Wenigstens muß alles, was unterm Volke auf eine andere Stelle rücken soll, durch Usurpation bewerkstelligt werden,« sagte der blaue Domino.

»Richtig!« rief der schwarze Domino. »Ich habe davon bei der Gelegenheit, wo ich aus meiner Verborgenheit in das öffentliche Leben unserer guten Stadt übertrat, selbst die Erfahrung gemacht. Meine Thätigkeit damals war auch ein Usurpation, wenn gleich ich mir verbitten muß, daß sie eine freche genannt werde.«

»Wie sollen wir das verstehen?« fragte der rote Domino.

»Mein ganzes theatralisches Wirken hier war usurpiert,« antwortete der schwarze Domino. »Ich glaubte an meine Fähigkeit, der Bühne eine andere Gestalt zu geben, ich war so dreist, diesen Glauben durch die That auszusprechen, und usurpierte auf solche Weise die Macht, welche mir der Demos von Düsseldorf gutwillig nie übertragen haben würde.«

Die jungen Leute, welche zu den Anhängern der untergegangenen Bühne gehörten, forderten den schwarzen Domino auf, ihre Geschichte zu erzählen. Er versetzte, er müsse sich selbst erst darauf besinnen, und zuvor von allem Schmerz über die Zerstörung der Anstalt frei sein.

»So bleib bei den Anfängen, wie du sie bezeichnet hast; erzähle uns die Anfänge deiner Usurpation,« sagte der blaue Domino. »Es ist mir immer dunkel gewesen, wie an unserem mäßigen Orte, wo doch wahrhaftig der Sinn für Litteratur nicht durch alle Klassen verbreitet ist, plötzlich ein Theater mit litterarischer Haltung, mit dem Versuche, eine Schule der Darstellung zu gründen, hervorspringen und sich ein paar Jahre hindurch erhalten konnte.«

»Plötzlich geschah es auch nicht,« erwiderte der schwarze Domino. »Die Keime schlugen nur aus. Es war eben alles dazu vorbereitet und reif. – Ich will euch wohl auch von diesen Anfängen erzählen,« fuhr er fort, »denn ich mag mich gern in die Erinnerungen an eine glückliche, arbeitsame Periode versenken. Wenn es nur nicht dem Gebote unseres gütigen Titus hier zuwider ist.«

»Nein,« rief der Papageigrüne, indem er eine große Auster verschlürfte, »vom Theater höre ich gern plaudern. Ihr wißt ja, daß ich seit zweiundzwanzig Jahren meinen Platz abonniert halte.«

»Bei Sonnenschein, und Sturm, und Regen, jeden Tag, den Gott der Herr giebt, unter klassischen Himmelszeichen und unter 80 Sternschnuppen, mochte Seydelmann spielen, oder der Herr X, die Frau Y, das Fräulein Z,« sagte der rote Domino. »Ihr seid gleichsam die pensée immuable des Theaterauditoriums.«

»Daß ihr mich aufzieht für meine Großmut, vergebe euch Gott der Herr,« versetzte der Papageigrüne, und trank Champagner. »Das Theater ist einmal da, also müssen die Leute hineingehen, ich gehöre zu den Leuten, also muß ich ins Theater gehen.«

»Gegen die Bündigkeit dieses Schlusses läßt sich nichts einwenden. – Nun aber erzählen Sie.«

»Sehet zuvörderst in diesem unserem ehrwürdigen Freunde den Demos,« hob der schwarze Domino an. »Fest und unerschütterlich ist er, die Bretter, wie sie sind, gehören zu ihm, und er gehört zu den Brettern, wie sie auch sein mögen. Jetzt hört von mir. Als ich hier ankam, hatte ich an einem Tage den vertraktesten Kontrast zu schauen. Mittag war's; mein erster Gang war auf die Akademie. Hallende Gänge, massive Räume empfingen mich. Schadow führte mich umher. Hübner malte an seinem Fischer, Lessing an der bizarren Landschaft, die das Licht von hinten empfing, so daß sich das Ritterschloß in der Mitte wie ein Schattenriß abschnitt. Hildebrandt machte Romeo und Julia, Sohn Rinald und Armida, Mücke einen Narziß. Junges, versprechendes, wenn auch noch unentwickeltes Leben in anständiger Wiege. Nachmittags hörte ich in meinem Gasthofe, es sei hier auch Theater. Der Name der Gesellschaft wurde mir genannt, die, im Herbst zusammengestoppelt, den Winter durch sich für das Wohl der Menschheit bemühe, und im Frühling, wenn die Schwalben kommen, wieder auseinander fliege. Der zweite Gang war also abends ins Schauspielhaus. Es war nicht leicht, in das Allerheiligste dieses Tempels vorzudringen, denn dunkel, wie es sich für die Avenuen zu Mysterien ziemt, waren die Korridors, denen hin und wieder die Bedielung fehlte, so daß man in dieses und jenes Loch trat, und gegen manchen rohen Pfosten stieß man in der Dunkelheit.«

»Ein nichtswürdiges Lokal war's in der That, das alte Gießhaus, worin sie damals spielten,« fiel der Papageigrüne ein. »Man wußte gar nicht, was man im Parterre unter den Füßen 81 hatte, ob es noch Bruchstücke von ehemaligen Bohlen waren, oder der reine Müll. Einmal bricht ein dicker Mann mit seinem Beine durch den Fußboden seiner Loge durch, eine Dame, die in dem Raume darunter sitzt, fällt in Ohnmacht vor Schreck über den dunkeln Körper, der da so plötzlich vor ihrem Gesichte hängt, der arme Mann renkt sich aber das Bein aus. Indessen saß sich's doch recht hübsch darin, und man war einmal daran gewöhnt. An den Logenbrüstungen umher standen auch die Namen der Theaterschriftsteller und der Komponisten angeschrieben; die Theaterschriftsteller schwarz, die Komponisten rot. Das sah recht gut aus.«

»Wenn man sie nur hätte deutlich lesen können!« rief der schwarze Domino. »Aber, Lieber, der Kronleuchter verbreitete doch ein gar zu zartes Dämmerlicht. – Sie gaben an jenem Abende ein Stück, ich weiß nicht mehr welches. Darauf folgte eine Merkwürdigkeit. Ein Gastwirt aus der Nähe, der sich bewußt war, daß die Ader des Schönen in ihm rinne, deklamierte den Ausbruch der Verzweiflung von Kotzebue. Ich kann nicht beschreiben, mit welcher Empfindung ich mich nach diesem Kunstgenuß niederlegte, während meine Gedanken zwischen der Akademie und der sogenannten Bühne hin und her gingen. Nach und nach fügte sich in den folgenden Jahren hier allerhand zusammen. Die dilettantischen Versuche, die bei Schadow angestellt, oder durch ihn herbeigeführt wurden, halfen in dem exklusiven Kreise den Sinn für das Dramatische erregen, der sich nun nur um so ekler von den Komödianten abwendete, da die Liebhaber dem Bedürfnis, wenn auch keine künstlerisch zubereitete Speise, doch etwas natürlich Geistreiches boten. Meine Vorlesungen kamen dazu. Diese neue Art, ein dramatisches Gedicht zu rezitieren, ist von Tieck erfunden und zu einer Kunst gemacht, Holtei und andere sind ihm gefolgt; ich schloß mich gleichfalls solcher Richtung an, und hin und wieder ist mir der charakteristische Vortrag eines Werkes gelungen. Es bleibt freilich immer eine Zwitterkunst, und der Geschmack daran kann sich nur in Zeiten finden, denen die Partitur entkommen ist. Die Darstellung nämlich ist die volle 82 Instrumentalmusik, ein gutes Spiel auf dem Flügel aber eine derartige Vorlesung – im allerglücklichsten Falle, der auch nur eintritt, wenn Organ und Individualität des Vorlesers gerade besonders zum Gedichte passen. Eine Klippe des Gelingens sind fast immer die weiblichen Rollen, bei deren Vortrag eine gewisse Affektation kaum zu vermeiden ist. Leicht wird auch die zarte Grenzlinie, welche dieses Genre von der Aktion scheidet, übersprungen. Mir begegnete es außerdem, daß ein fades oder versteinertes Gesicht gegenüber unter meinen Zuhörern mich ganz aus dem Konzept bringen konnte, weshalb mir's denn immer am besten gelang, wenn ich in engster Häuslichkeit, beim Scheine der traulichen Lampe, den Eindruck der Dichterworte von einem empfänglichen Antlitz wiederglänzen sah. Nun denn, hier waren die halböffentlichen Vorlesungen, die ich zwei Winter hindurch, wie ihr wißt, vor einem großen Kreise hielt, wenigstens der Theatersache förderlich. Iphigenie, Blaubart, Wallenstein, König Johann, Romeo, Leben ein Traum, Standhafter Prinz, Däumchen, Hamlet, Prinz von Homburg, Gestiefelter Kater, König Ödipus und Ödipus in Kolonos gingen an einigen hundert Menschen, die nach und nach meine Zuhörer waren, in lebhafter Hörbarkeit vorüber. Es war natürlich, daß der Wunsch rege wurde, einmal doch auch so etwas hier zu sehen. Manche liefen freilich nur so in diese Vorlesungen hinein, weil sie damals Mode waren, aber im ganzen denke ich an den Anteil, den jene Abende sich gewannen, mit dankbarem Vergnügen.«

»Das Lokal gab ihnen nebenbei auch noch einen hübschen akademischen Anstrich,« sagte der blaue Domino. »Die Maler hatten dir ein Atelier eingeräumt, und das mußte sich denn vor jeder Vorlesung kurzweg in den kerzenhellen Salon verwandeln, dessen graue Wände freilich mit allerhand Zeichnungen, Farbenskizzen, Kartons besteckt blieben. Einst half ich selbst die Staffeleien und Gewänder in aller Eile wegräumen, die noch umher standen und hingen, als die Equipagen schon unten im Hofe vorfuhren. Die arme Gliederpuppe wurde bei dieser Gelegenheit ziemlich unsanft in das dunkle Nebengelaß geschleudert, fast wie die hölzerne Schöne in dem Hoffmannschen Märchen, welche die Liebe des jungen Phantasten entzündet hat.«

83 »Es gehörte dieses und Ähnliches mit zu dem engen, behaglichen Familienzustande, in welchem sich alle unsere damaligen Bestrebungen verschlungen hielten,« erwiderte der schwarze Domino. – »Hin und wieder kam ich mit dem Theater in Berührung. Meinen Hofer studierte ich der Truppe ein, als sie das Stück geben wollte, ebenso nachher Clavigo zu Goethes Totenfeier. Darin ließ ich die Spielenden mit Zeichen der Trauer auftreten, auch schrieb ich einen Epilog, den Porth, der jetzt in Dresden ist, am Katafalk stehend sprach. Bald darauf hieß es in der Allgemeinen Zeitung, ich habe ungeschickterweise Goethe als Leiche auf dem Theater sehen lassen, noch ehe er im Grabe kalt geworden sei. Ich sandte der Redaktion eine berichtigende Erklärung ein, und wußte lange nicht, wem ich den guten Dienst zu danken habe.«

»Haben Sie es denn späterhin erfahren?«

»O ja, und auf die überraschendste Weise. Ich war einige Jahre nachher in Dresden auf einem diplomatischen Diner. Der alte Böttiger trat herein, und wir wurden einander vorgestellt. Darauf, nahe am Dessert, als eine Pause in der Unterhaltung entstand, hob der Gelehrte, der in einer antiquarischen Zerstreuung meinen Namen überhört hatte, mit gründlich bedeutendem Tone an: Seit einigen Tagen hält sich hier der bekannte * auf, und nannte mich. Die Dame des Hauses, welche jede weitere Personalnotiz aus diesem Munde über ihren Gast an ihrer Tafel unwünschenswert finden mochte, fiel rasch ein: Ja, und seit einigen Stunden sitzt er Ihnen gegenüber. Böttiger schlug die 84 Forscheraugen auf, und sagte: Ei, ei, ei, freut mich ja ungemein, daß u. s. w. – Und nach einigen Komplimenten: Wie leid thut es mir, daß wir in solche Differenzen geraten sind! – Auf meine verwunderte Frage in betreff dieser mir ganz unbekannten Wirren ergab sich nach einigen Reden die historische Ausbeute, daß der alte Schäker der Verfasser jener Leichennotiz gewesen war.

Eines Sommers nun« – fuhr der schwarze Domino fort – »zogen Maurer und Zimmerleute in die scheußliche Rumpelkammer ein, deren Gerüst auch hier die Welt bedeuten sollte. Sie warfen Balken, Sparren, Bretter, Bänke, Pfeiler hinaus, und ließen nichts als die vier nackten Wände stehen. Darauf mauerte der Maurer und der Zimmerer hieb zu. Ihnen folgte der Polierer, der Tüncher, der Meister in Schnitzwerk, der Maler, der Vergolder. Es sägte, raspelte, hämmerte und rumorte binnen jener Mauern. Man that hier, was man an vielen Orten letzthin gethan: man baute ein neues Theater. Die ganze Stadt interessierte sich, wie das immer in solchem Falle geschieht, auf das lebhafteste für das entstehende Werk; daran, was denn nun sich in den neuen Räumen zutragen sollte, dachte freilich niemand, wie das auch meistenteils in solchem Falle zu geschehen pflegt. Ich ging auch viel ab und zu, ohne zu denken, was mir alles da noch begegnen sollte. Eines Tages im Oktober war ich ganz allein im Gebäude. Schon stiegen die Säulen mit goldenen Knäufen am Proscenium empor, rings herum sah ich Vergoldung, an der Decke bunte Arabesken, auf der Scene standen die zierlichsten Dekorationen, die Gropius soeben gesendet hatte. Auf einmal und blitzartig that ich mir die Frage: Soll denn hier abermals nur das hübsche Gefäß gemacht worden sein, aus demselben aber der alte saure Krätzer immer und immer wieder ausgeschenkt werden? Es kam mir so albern vor, meine Seele geriet in eine große Bewegung. Ohne nachzudenken über Hindernisse und mögliche üble Folgen, faßte ich den Entschluß, etwas zu stiften, was so hübsch sei, wie die Säulen, die Dekorationen, die Vergoldungen und Arabesken. Wenn ich daran zurückdenke, so muß ich sagen: es war der abenteuerlichste Einfall. Denn ich war fremd am Rhein, dem großen Publikum so gut als unbekannt, bei der Bühne ohne Hebel und Handhabe, und manches, was ich andere lehren wollte, das sollte 85 ich selbst erst noch lernen. Indessen solche Entschlüsse kommen uns wie durch eine verborgene Notwendigkeit. Ich habe dergleichen mehrmals erlebt und es ist immer ein Resultat daraus hervorgegangen.

Noch an demselben Abende berief ich einige Freunde zusammen. Sie gingen mit Feuer auf meinen Vorschlag ein, sagten mir jeden Beistand zu, und wir stifteten einen Theaterverein. Der sollte das Organ der Gebildeten bei der Bühne sein, den Direktor und die Truppe in Schule und Regel nehmen. Aber als die Sache angefangen war, da zeigten sich erst die Schwierigkeiten. Die ehrsamen Väter der Stadt, mit denen denn doch die Sache als eine städtische verhandelt werden mußte, machten die erstauntesten Gesichter über diese von einem zum andern Tage hervorgetretene Oligarchie von zum Teil ganz einflußlosen Leuten. Im Demos erhob sich eine Opposition unter den Freunden des Alten. Wir selbst begingen in dem neuen Geschäfte Fehler, ich nicht die kleinsten. Alles das war aber noch nichts gegen die Hemmnisse, die sich aufstauten, als der Impressar mit seiner Truppe anlangte. Zwar in Worten mußte er sich willfährig bezeigen, denn wir bezweckten ja das Heil der Kunst, welches er auch im Munde zu führen hatte. Aber im Herzen hegte er den innigsten Abscheu gegen so aufdringliche Veredelungsversuche, und selten sind wohl die Musen jemandem so durchaus fatal geworden, als wie wir sie unserem ergrauten Schüler machten.

Wir ließen uns indessen durch nichts abschrecken. Gelder wurden gesammelt, um Prämien an die Willfährigen verteilen zu können, und ich setzte mich mit den Schauspielern in Verbindung. Mein Gedanke war, ein Experiment anzustellen. Die Rose bricht auf, wenn wir sie zu erziehen wissen, das Haus muß gebaut werden, damit es stehe, die Kunst kehrt zurück, wenn Kunstwerke nicht anbefohlen, sondern geliefert werden. Von dieser Praxis in meinen Gedanken ausgehend, entstand mir der Vorsatz, mit den Schauspielern eine Reihe von Aufgaben an bedeutenden Werken praktisch zu lösen, so vollkommen, als es möglich sei. Diese Versuche waren mir der Nerv der ganzen Sache. So entstanden in zwei Wintern die Vorstellungen, welche wir Subskriptionsvorstellungen nannten. Das Publikum nannte sie Mustervorstellungen, und die Schauspieler hießen sie Kunstvorstellungen, wodurch sie vielleicht andeuteten, daß in den anderen die liebe Natur walte. – 86 Es waren aber folgende: Emilia Galotti, Stille Wasser sind tief, Der standhafte Prinz, Der Prinz von Homburg, Don Juan, Egmont, Nathan, Der Wasserträger, Die Braut von Messina, Andreas Hofer. So folgten sie sich der Zeit nach, und in den Wintern von 1832 und 1833 wurden sie gegeben. Seydelmann nahm an Nathan teil, Weymar an der Braut und an Hofer. Uechtritz, der sich sehr warm für das Unternehmen interessierte, studierte: ›Stille Wasser sind tief‹ ein, und unterstützte mich sonst mit Rat und That. Felix Mendelssohn lieferte die beiden Opern. Mir fielen die übrigen Stücke zu.

Ich verfuhr nun so. Des Dichters Werk, dachte ich, entspringt aus einem Haupte, deshalb kann die Reproduktion desselben vernünftigerweise auch nur aus einem Haupte hervorgehen. Der Satz von der künstlerischen Freiheit der darstellenden Individuen ist zwar nicht ganz zu verneinen, darf aber nur eine sehr beschränkte Anwendung finden. Das Überwuchern jenes falschen Prinzips hat die Verwilderung und Verluderung der Bühne herbeigeführt. Ich war nun im Falle, der mir vorlag, durch Zufall und Vertrauen das Haupt geworden, und im Gefühle dieser Mission handelte ich daher –«

»Das war wohl möglich mit mittelmäßigen Subjekten, an eigentlichen Künstlern würde deine Mission gescheitert sein,« unterbrach ihn der blaue Domino.

»Gewiß. Nur ist denn hier klar geworden, daß mit mittelmäßigen Subjekten, die einem Haupte folgen, sich korrekte Darstellungen liefern lassen, die den wahren Kunstfreund zu erfreuen imstande sind, während wir anderer Orten das Gedicht durch große Talente zerfleischen sehen. – Ich las also zuerst das Stück, welches gegeben werden sollte, den Schauspielern vor. Dann hielt ich mit jedem einzelnen Spezial-Leseproben, aus denen sich die allgemeine Leseprobe aufbaute. Ertönten in dieser noch Disparitäten des Ausdrucks, so wurden die schadhaften Stellen so lange nachgebessert, und wo nichts anderes half, vorgesprochen, bis das Ganze in der Rezitation als fertig gelten konnte. Die Aktion stellte ich darauf zuerst in Zimmerproben fest, die oft nur einzelne Akte, zuweilen nicht mehr als ein paar Scenen umfaßten.«

87 »Warum das?«

»Damit der Darstellende in den nackten, nüchternen Wänden seine Phantasie um so mehr anspannen lernte, und die falschen Geister, die jetzt durch jeden deutschen Theaterraum flattern, die Dämonen des Gespreizten, Rhetorischen, oder der hohlen Handwerksmäßigkeit, nicht verwirrend auf ihn einwirkten. Stand das Gedicht so, ohne alle illusorische Notkrücke, fertig da, dann ging ich mit den Leuten erst auf das Theater. Gegeben wurde das Stück nicht eher, als bis jeder, bis zum anmeldenden Bedienten hinab, seine Sache wenigstens so gut machte, wie Naturell und Fleiß es ihm nur irgend verstatteten.

Auf diese Weise sind jene Vorstellungen entstanden, und aus dem Interesse an ihnen ging nachmals das Düsseldorfer Stadttheater hervor, welches ich drei Jahre lang geleitet habe. Denn es trat durch sie in dem Schönheitsgefühle einer großen Menge wenigstens ein glücklicher Moment ein, in dem sie nichts als das Gute, Feine, und Würdige zu schauen begehrte, was denn eben die Anstalt realisieren sollte. – Uechtritz verfuhr ebenso, und Mendelssohn in ähnlicher Art mit seinen Opern. Seinen Vorbereitungen, bei denen mich keine Besorgnisse störten, sah ich mit dem innigsten Behagen zu. Er lieferte einen Don Juan mit geringen Stimmen, wogegen freilich anderer Orten ganz andere Don Juans, Elviren und Annen hätten genannt werden können, der aber an harmonischer Abründung alles hinter sich ließ, was ich zum wenigsten sonst von dieser Oper kennen gelernt habe. Alle drei waren wir nicht im Besitz einer Geheimlehre, aber wir hatten alle drei Sinn und Begeisterung für das Ganze eines Werkes, und den festen Mut, unseren Sinn durchzusetzen. Und so habe ich mir von unseren damaligen Versuchen die Grille abstrahiert, daß die Palingenesie der deutschen Bühne, wenn sie noch einmal erfolgen soll, keineswegs von einer zu entdeckenden neuen Weisheit, sondern von Entschließungen moralischer Art abhängig sein möchte. Die Mittel sind ganz einfach, und Intendanzen und Schauspieler führen sie beständig im Munde. Aber die Ausführung ist schwer, denn sie widerspricht dem Leichtsinn, der Eitelkeit, dem Egoismus, der natürlichen Trägheit der Menschen, und darum unterbleibt sie.«

88 »Emilia Galotti, die erste deiner Vorstellungen, war ein Ereignis für die Stadt,« sagte der blaue Domino. »Alles war wochenlang darauf gespannt, man wußte nicht, was bei dem Dinge so eigentlich herauskommen sollte. Die ›gelehrte Bühne‹, dieses Spottwort, welches nachmals deine Widersacher zum stehenden Typus ihre Insinuationen machten, wurde da zuerst ausgesprochen. Nun rollte der Vorhang vor dem gedrückt vollen Auditorium auf. Anfangs saßen die Leute ganz erstaunt darüber, daß die da droben nicht so schrieen, predigten, durcheinander strudelten und stolperten, wie sonst, sondern wie Menschen sprachen und sich betrugen, und zwar wie Menschen, welche die Handlung, die sie vorstellten, etwas anging. Nichts regte und rührte sich im Publiko. Von dem Dispüt zwischen Appiani und Marinelli aber an entzündeten sich die Zuschauer und wurden gleichsam frei vom Zwange, der sie eingeschnürt gehalten hatte. Nun fiel Scene für Scene, ja Rede für Rede der Applaus, der endlich bis zu dem Jubel stieg, in dem alle hervorgerufen wurden. Sie traten heraus, und ihr Sprecher erkannte dir die Ehren des Abends zu.«

»Ich habe diese Vorstellungen nicht gesehen, denn ich kam erst am Lendemain von einer Reise zurück,« sagte der rote Domino. »Wo ich aber jemand sprach, da hörte ich von Emilia Galotti. Wenn zwei einander auf der Straße begegneten, so redeten sie so, als sei der Stadt ein Glück widerfahren. Das alte für den gewöhnlichen Sinn abgenützte Stück hatte eine außerordentliche Wirkung hervorgebracht. Der Kredit der Sache war gegründet. Es gehörte nachher zur Observanz, in jeder dieser Mustervorstellungen alle hervorzurufen, wenn die Speise auch nicht immer so munden mochte, wie jener Versuch, die moderne Virginia zu Falle zu bringen.«

»Nein, das weiß Gott!« rief der Papageigrüne. »Ihr Herren dachtet immer, wenn euch etwas hinnahm, und niemand euch aus Höflichkeit widersprach, das Publikum sei auch Feuer und Flamme, worin es doch oft sich kühl genug anließ. Ich weiß das, ich, der ich immer mehr mit dem Leben zusammengehangen habe, als ihr. Besonders verdarbt ihr es mit den 89 Leuten durch den Standhaften Prinzen. Glaubt nur, darin ist rechtschaffen gegähnt worden. Dergleichen Bigotterie passe nicht für die jetzigen Zeiten, hieß es da und dort. Als der fromme Prinz, schon halb tot, noch die lange Rede hielt, sagte mein Nachbar: der hat doch ein Leben, zäh wie eine Katze. Ich war recht besorgt als euer Freund über die Stimmung im Parterre. Hervorgerufen wurden freilich auch damals alle, aber ich hörte beim Hinausgehen einen den andern fragen, wie ihm das Stück gefallen? und der andere antwortete, es sei Schwulst von eurer gewöhnlichen Fabrik gewesen.«

Die jungen Leute verbissen ein Lachen. Der schwarze Domino versetzte: »Ich hatte überhaupt das ehrenvolle Unglück, bei manchen für den Autor sämtlicher aufgeführter Werke zu gelten. So sagte ein hiesiger frommer Litteraturkundiger nach der Darstellung des Nathan, durch dieses Stück habe sich endlich meine heimliche freigeisterische Gesinnung verraten.«

»Laß es gut sein,« sagte der blaue Domino. »Ich und noch mancher andere dankte dir für diesen Abend, vielleicht am meisten gerade für ihn. Ein eigner Zug charakterisierte ihn, den du vielleicht nie erfahren hast. Während allerdings unter den Honoratioren viel gelinde Langeweile eingerissen war, und sie schwer begreifen konnten, weshalb denn jemand um Ceuta sterben wollte, haben die Menschen auf der Galerie von Anfang bis Ende still und andächtig, wie bei einem Hochamte, sich verhalten. Hier empfand also das Volk richtig und tief. – Aber auch welch ein Werk! Man wird nicht müde, es zu betrachten und zu bewundern. Ihr kennt mein Gefühl für Shakespeare, ihr wißt, wie viel gründlicher er mich berührt, als der oft theatralische, ja opernhafte Calderon. Aber in diesem einzigen Werke hat sich der große katholische Dichter in eine Sphäre geschwungen, wohin der Brite mit seinen unermeßlichen Kräften doch nicht reicht. Denn nicht um das Geschick einer großen Natur durch Schuld und Leidenschaft handelt es sich darin, sondern um das Höchste, was es 90 überhaupt giebt, um die Läuterung eines reinen Menschen in das Reinste, in die Seligkeit. Da ist also ein Gebiet abgesteckt, welches anfängt, wo andere Dichter aufhören. Ein christlicher Märtyrer, nach unseren Begriffen der Gipfel alles Modern-Menschlichen, ist der Held dieses Gedichts, welches mir die Krone der neueren Tragödie zu sein scheint. In der Person des Dichters wird uns hier etwas Ähnliches sichtbar, wie bei den zwei größten Tragikern des Altertums. Äschylos und Sophokles lieferten zum Teil deshalb ewig mustergültige Schöpfungen, weil sie in vollkommener Einheit mit dem Volksglauben dichteten. Und so konnte nur der Katholik, der Spanier, den Standhaften Prinzen schaffen, in dem der christkatholische Volksglaube seine Verklärung feiert. Lessing sagt in der Dramaturgie, bis ein Genius erscheine, der durch die That beweise, daß ein christliches Trauerspiel möglich sei, solle man dergleichen nicht aufführen, denn der Christ als Christ sei undramatisch. Seine Tugenden, die stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, widerstritten dem Geschäft der Tragödie, welches darin bestehe, Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen. Lessing hatte recht, denn er kannte Calderons Werk nicht, oder nur oberflächlich. Auch ist die Aufgabe nur einmal gelungen, und weder vor noch nach Calderon hat sich auch nur von fern eine Produktion dieser Tragödie annähern können. Selbst Calderon hat es nicht mehr als einmal vermocht, denn der Wunderthätige Magus, der am höchsten unter seinen übrigen christlichen Dramen steht, läßt sich mit Fernando nicht vergleichen. Wie aber fing der Dichter es an, unsere Teilnahme für den Gegenstand zu erregen, der auf der Scene sonst stets langweilig wird? Wodurch hat er seinen Glaubenshelden interessant gemacht?«

Der papageigrüne Domino stand auf, und ging mit einem eigen listigen Blicke in den Saal. Er murmelte etwas, welches aber niemand verstand. Denn alle hörten dem blauen Domino zu, der so fortfuhr: »Ich will es mit kurzen Worten sagen: dadurch, daß der Dichter die Gesinnung, welche die Katastrophe hervorruft, 91 nicht als eine fertige, vom Beginn des Gedichtes an, uns zeigt, sondern die Standhaftigkeit im Glauben vor unseren Augen entstehen läßt, vor unseren Augen gleichsam die Märtyrerkrone zusammenfügt. An einem liebenswürdigen Manne wird dieser höchst merkwürdige und höchst schöne Einhergang uns schrittweise dargelegt. Im Anfang stehen wir mit Fernando noch auf gleichem Boden, wenigstens auf der Ebene, von wo nur ein sanfter Hügel zu ihm hinansteigt, mit kleinen Schritten entfernt er sich von uns, und dadurch zieht er uns so leise als unwiderstehlich nach sich.«

Die jungen Leute waren begierig, dies näher ausgeführt zu hören. Der schwarze Domino sagte: »Ich merke, man muß im geistigen Felde nur getrost säen, und unverzagt bleiben, wenn die Frucht nicht gleich aufgeht. Für die Absurda comica, die mir der Standhafte Prinz unmittelbar auf die Vorstellung nur eintragen zu wollen schien, giebt mir sechs Jahre später deine Bewegung Ersatz, die vielleicht nicht so tief wäre, wenn sich dir das Gedicht nicht körperlich gezeigt hätte. Setze uns nun auseinander, was wir alle wohl fühlen, nur nicht zu äußern vermögen.«

»Ein christlicher Heereszug, geführt von zwei portugiesischen Infanten, betritt die Küste von Afrika,« versetzte der blaue Domino. »Der Held ist ein junger siegesmutiger Mann, ein katholischer Prinz, wie jedoch, möchte man sagen, es noch andere geben könnte. Der einzige Zug, der ihn über die übrigen Personen der Tragödie erhebt, ist eine lichte Heiterkeit, hervorgehend aus Gottvertrauen zwar, doch auch aus Naturell. Alle anderen sind in ihrem Inneren getrübt. Den König haben wir aufschäumend vor Zorn, Phönix in einer unbestimmten Melancholie, Muley von Leidenschaft zerrissen, Enrique durch finstere Ahnungen bedrückt gesehen. Gegen diese Schatten kontrastiert lieblich und reizend das Licht in Fernandos Seele. Aber gelinde wird der Kontrast von der Weisheit des Dichters behandelt. Denn die anderen sind, ein jeder in seiner Art, edel und brav. Selbst dem König haben wir seinen Grimm nicht vorzuwerfen. Er ist die natürliche Aufwallung eines kräftigen Herrschers, dem ungerecht, wie er meinen darf, Tanger entrissen werden soll, nachdem schon Ceuta schimpflich dem Halbmond verloren gegangen war. Kein Verdienst 92 ist noch jene Heiterkeit Fernandos, sie ist nur die schwellende Knospe, welche die Blüte verspricht, aber freilich die reichste. Er nimmt Muley gefangen, und entläßt ihn galant, ritterlich, human, zu seiner Schönen. Kein devoter Accent entstellt die feinen Schattierungen der Rede, mit der er den edeln Feind losgiebt. Selbst tolerant ist der katholische Prinz. Muley wünscht ihm Allahs Schutz. Dir, wenn Allah Gott ist, helf' er! ruft er dem Freigelassenen nach.

Diese edelschöne, reine, echt menschliche Gestalt ergreift das Schicksal. Der König von Fez nimmt ihn gefangen und spricht schon das Wort aus, um welches sich von da an, wie um seine Angel, das Gedicht dreht. Nur Ceuta soll der Lösepreis des Infanten sein. In diesem plötzlichen Sturm hat die erschütterte Seele des Prinzen zwei feste Gedanken, den an sich und ihre unentreißbare Begabung:

›Mich soll'n die Strahlen meiner Sphäre leiten!‹

und den, daß Eduard wie ein Christ zu handeln habe. Wüßte er schon bei sich, daß er um Ceuta nicht befreit sein wolle, so würde er es aussprechen. Anzunehmen, er wolle nur die greifliche Gelegenheit abwarten, wie sie nachher kommt, um seinen Heldenmut glänzender zu zeigen, hieße ihn einer frommen Renommisterei bezichtigen, die tief unter den Intentionen des Charakters liegt. Nein. Er hat nur jene allgemeinen, fast gegenstandslosen Gedanken, die den Charakter nicht mit einem Sprunge emporwerfen, sondern höchst behutsam vor uns steigern.

Daß das Los des Menschen Unbeständigkeit des Glücks heiße, daß in dieser Unbeständigkeit der Infant unter den Knecht hinabsinken könne, daß aber, wer das recht erkenne, er sei, wer er wolle, er dulde, was er wolle, nur ein gemeines Leiden trage – solche Betrachtungen sind die ersten Früchte, welche Fernando von seiner Gefangenschaft zieht. Er spricht sie gegen die Sklaven und gegen Muley aus. Aber noch hegt er sanguinische Hoffnungen, er getröstet sich seiner Lösung. Es ist undenkbar, daß ihm nicht die Möglichkeit eingefallen sein sollte, sein Bruder Eduard werde Ceuta für ihn anbieten, und da er jene Hoffnungen der Befreiung hegt, so muß seiner Seele, wie ein Schatten wenigstens, der Gedanke vorüber geschwebt sein, er könne auch um den Preis der Stadt sich wohl allenfalls befreien lassen. – Aber nun tritt 93 der Fall wirklich vor ihn. Enrique kommt und trägt in seiner Hand die Vollmacht, die christliche Stadt für den Infanten in die Hände der Ungläubigen zu übergeben. Hier beginnt die äußere und innere Katastrophe. – Auch der geringe Charakter ist unter Umständen starker Entschlüsse fähig, aber sie sind bei ihm entweder Kinder des Zufalls, oder er hat sie in einer gewissen dumpfen Kälte, die man das Handeln nach Grundsätzen nennt, von vornherein fertig. Der große Mensch schwankt zwischen Wollen und Sollen, bis der Finger Gottes das Sollen zeigt. Fernando ist ausgezogen, Tanger der Christenheit zu erobern, und nun steht sein Bruder vor ihm, Ceuta um ihn der Christenheit verloren gehen zu lassen. Dieser ernste Kontrast entblößt das innerste Heiligtum seiner Natur. Sein Geschick, seinen Beruf in den letzten Gründen durchschauend, vollendet er sich zum christlichen Leidenshelden. Die große Rede, in welche er seine Seele ausgießt, voll des gewaltigsten Eifers, der erhabensten Antithesen, des würdigsten Pathos, ist darum so unvergleichlich schön, weil der heroische Entschluß, um Ceuta nicht sich befreien zu lassen, den ihr Anfang verkündet, sich doch erst in ihrem Verlaufe an der Betrachtung lusitanischer Heldengröße, katholischer Pflicht, entsetzlichen Unglücks, insofern eine dem Kreuz zugeeignete Stadt zum Abfall gebracht würde, und eigener Nichtsbedeutendheit gegen ein solches Unglück stufenweise zum vollen Leben hinauslebt. Der Infant empfängt und gebiert in sich die Tugend der Demut, den Grund aller christlichen Tugenden. Der Einzelne ist ein Nichts, ein Toter, ein Leichnam, wo es gilt, sich zwischen ihm und der Sache des Glaubens zu entscheiden; das ist der Schluß jener Rede. Aber wir haben seine Seele operieren sehen, dieses Resultat zu erzeugen. Und deshalb ergreift es uns so, darum macht jene Rede einen so überaus gründlichen Eindruck. –

Das Martyrium beginnt, schärft sich, geht zu Ende. Der König läßt Fernando zu den übrigen Sklaven werfen, ihn sogar härter behandeln als sie, ihm die Nahrungsmittel versagen, endlich ihn auf dem ekelhaftesten Lager sterben. Wie entfaltet sich nun in den Banden solcher Not der Märtyrer? Er übt die Demut praktisch, er will nicht erkannt sein von seinen Mitsklaven, damit keiner ihm seine Sklavendienste erleichtere. Und nun bricht aus 94 jener Knospe, von der ich redete, leicht und natürlich die herrlichste Blüte auf. Alle menschlichen Tugenden nämlich, die ihn im Stande des Glücks zierten, zeigen sich nun wieder, nur erhöht und vom neuen Glanze der Heiligkeit übergossen. Galant bringt er der Prinzessin Blumen, aber mit sehr ernster Deutung in dem schönen Sonette, welches von dem kurzen Blühen der Blumen eindringlich handelt. Ritterlich ehren- und vasallenhaft gesinnt, verwirft er den Rettungsplan seines mohrischen Freundes, wo solche Ehrenhaftigkeit einen ganz anderen Sinn hat, als früher, denn es handelt sich nun vom eigenen Leben auf der einen Seite und nur von der Ehre und Vasallentreue eines dritten auf der andern Seite. Endlich, im Abgrunde des Duldens, von unheilbarer Krankheit geplagt, auf dem Mist, leuchtet wieder die ursprüngliche Heiterkeit seiner Seele empor. Er freut sich in solcher entsetzlichen Pein jedes Sonnenstrahles. Aber himmlisch ist diese Heiterkeit geworden. Denn der Strahl der Sonne ist ihm nur eine Feuerzunge, Gott lobzupreisen geschickt. Er ist heiter in Gott.

Nicht indessen zur hohlfrommen Abstraktion verflüchtigt ihn der von göttlichem Geiste erfüllte Dichter. Durch alle Stadien des Märtyrertums hindurch bleibt dieser Held Mensch, menschlicher Empfindung, ja Schwäche zugänglich. Schon jene Rede des heroischen Entschlusses durchwebt die rührendste Klage um sein trauriges Los. Nachher wollte er sich gern von Muley retten lassen, ehe und bevor die Ehre des Freundes durch diese Rettung gefährdet schien. Zuletzt im äußersten Elend fleht er den König um Erbarmen an.

Lange ist mir die innere Notwendigkeit dieser zweiten Prachtrede, und warum sie von der Bitte überspringt zum Ausdruck des hohen Glaubensstolzes, dunkel geblieben. Endlich habe ich sie mir einfach aus der Situation erklärt. Fernando will wirklich, seine Schmerzen fühlend, den König nur um Erbarmen bitten. Aber auf dem Gipfel des Unglücks fühlt sich eine hohe Natur von der Poesie umweht, welche nichts Geringes, Individuelles mehr aufkommen läßt, sondern den eigenen einzelnen Fall zum Symbol des allgemein Menschlichen erweitert. Deshalb sieht er im Könige den König, den König an sich, in sich ebenso den Sklaven, entkleidet von allen Glaubensbeziehungen. Und deshalb strömen ihm aus allen Reichen der Schöpfung die glänzenden Gleichnisse zu, welche dem Könige sagen sollen, ein König müsse barmherzig sein. 95 Im schärfsten Gegensatze zeigt hier Calderon die himmlische Majestät des Geistes, welche unter Lumpen und Eiterbeulen nicht verloren geht, der irdischen Majestät gegenüber. Aber während der Rede erschöpft sich der Rest seiner Lebenskraft, schon fühlt er den Tod herannahen, und nun kehrt er in das christkatholische Bewußtsein zurück, welches denn durch den triumphierenden Ausgang der Rede das entsprechende Wort findet. Noch tönt dieses Wort in dem Rufe gegen Phönix, daß, so schön sie sei, sie doch nicht mehr wert sei als er, er vielleicht mehr als sie. Nun kostet er den Tod in dem tiefen Spruche gegen Don Juan, daß der Mensch in den irdischen Schranken an sich selbst erkranke, daß er seine größte Krankheit sei. Nur kurz aber ist diese Verfinsterung. Gleich erhebt er sich zu dem Genusse der anbrechenden Seligkeit; er befiehlt, daß nach dem Verscheiden ihm sein Ordenskleid angelegt werde, und endet in der getrosten Hoffnung auf die Ehren des Altars.

So stirbt er, und so ist er würdig geworden, als verklärter Geist das Heer zum Siege zu führen. Im Ajax des Sophokles wird nach dem Tode des Helden noch lange für dessen Bestattung gekämpft. Hier ist ein Ähnliches in christlicher Sphäre. Fernando starb, aber eine ganze Handlung bewegt sich noch um ihn. Der kalte, ekle Leichnam des Prinzen wird Preis für die prangende Schönheit der Phönix. Außer dem allgemein menschlichen Wunsche, die sterbliche Hülle einer geliebten Person zu besitzen, wirkt hier ein großes populär-katholisches Motiv. Nur die wirkliche Gruft eines Seligen macht die Weihestatt möglich, und daß eine solche entstehen könne, darum müssen die Portugiesen den Leichnam besitzen. Der Schluß ist von der Reinheit und Ruhe des Epos. Sie tragen die Leiche zu den Schiffen, und Alfonso eröffnet uns die Aussicht in den Tempel, der sich über den Resten des Märtyrers erheben wird. – Weil aber die Läuterung, welche das Gedicht darstellt, nicht bloß das Geschick eines Einzelnen ist, sondern an Fernandos Dulden und Glorie sich die Erhaltung eines christlichen Gebietes und der endliche Triumph der christlichen Waffen knüpft, so gewinnt die Handlung die Verleiblichung, die historische Größe und Weite, welche der Tragödie so wohl thut.

Welche aber ist die Schuld des Fernando? Denn ohne Schuld wird doch niemand zum tragischen Helden. Sie ist sehr leise 96 angedeutet, sie würde auf der gewöhnlichen moralischen Wage kaum die Schale drücken, aber da ist sie.

Der Mensch soll im Augenblick einer großen Unternehmung sich so klar, bescheiden und einfach halten, als möglich. Sehen wir dagegen, wie Fernando die afrikanische Küste betritt. Ja, es ist wahr, diese Reden, durch und durch gesättigt von unverwüstlicher Fröhlichkeit, sind herrlich, aber mischt sich dem Sinne, aus dem sie hervorgehen, nicht ein gewisser Rausch heroischen Leichtsinns bei? Soll ein christlicher Heerführer so keck Zeichen hin und her deuten, wie Fernando thut? Er spielt zugleich hier offenbar mit den Beziehungen. Enriques Fallen bei der Ausschiffung soll ein glückliches Zeichen sein, die trüben Erscheinungen, welche jenen besorgt gemacht haben, sind nur den Mohren sinister, und dann soll doch wieder diese ganze Welt des Ahnungsvollen ein Nichts sein. Das sind Widersprüche, die eben jenen Rausch bezeichnen, den ich meinte. Oder wird man mir einwerfen, Fernando treibe nur seinen Scherz in der Deutung der Zeichen, wolle sagen: dergleichen läßt sich so oder so auslegen, so erwidere ich, einem christlichen Heerführer soll eben bei so ernstem Anlaß nicht scherzhaft zu Mute sein.

. . . ›Soll uns nicht des Sieges Lohn erfreuen,
So werden wir beglückt zum Tode schreiten!‹

ruft Fernando. Darin liegt eine Herausforderung, die das Schicksal leicht anzunehmen pflegt. Der ganze Verlauf der Tragödie zeigt, daß das zum Tode Schreiten nicht so ganz beglückt sei, wie der überkühne Mut voraussagte. Überhaupt ist es mißlich, die letzten Dinge gewissermaßen sich voraus zu bestellen. Der Held denkt an den raschen Tod in der Schlacht, und Gott führt ihn zum Ende im schimpflichsten Elend.

Der heroische Leichtsinn Fernandos bethätigt sich in der Scene mit Muley. Vom Heere getrennt, denkt er nicht an seine erste und oberste Pflicht, dem Heere durch die schnellste Rückkehr seinen Feldherrn wiederzugeben, sondern verliert sich in das humane und großmütige Interesse an dem Privatschicksale seines Feindes. Hier ist eine gefährliche Sicherheit wahrzunehmen und zugleich ein leises Überschlagen und Abweichen von dem strengen Pflichtenkreise des 97 geistlichen Ordens, dessen Großmeister er ist, in die zarten Tugenden des weltlichen Rittertumes. Als Haupt jenes Ordens hat er das Gelübde über sich, mit den Ungläubigen Krieg zu führen, nicht aber sich um ihre Liebesschmerzen und Liebeshändel zu bekümmern.

In diesen Dingen also finde ich die Schuld des Infanten. Aber allerdings ist sie eine so schöne, daß ohne sie der Charakter nicht so liebenswürdig wäre, wie er ist. Sie ist die kleine Unregelmäßigkeit, welche einer sonst vollkommenen Gesichtsbildung erst den reizendsten Ausdruck giebt. Ich mag nicht in Calderon hineindeuten, möglich aber, ja sogar glaublich ist, daß, wenn Fernando besonnen früh zum Heere gekehrt sein würde, die Unruhe um ihn, das Suchen nach ihm vermieden, der Umschließung des Christenheeres durch Tarudante und den König von Fez ausgewichen, und die Gefangennehmung des Helden nicht erfolgt wäre. So könnte selbst die Katastrophe als äußere Folge jener Schuld erscheinen. Vielleicht ließ hier der Dichter mit Absicht alles in einem gewissen Dämmer. Habe ich aber recht, so ist sein Verdienst folgendermaßen zu fassen: Er weiß uns darzustellen, wie ein Minimum von Schuld ein Maximum von Leiden erzeuge, wobei wir an den Spruch erinnert werden, daß Gott züchtige, den er liebe. Er läßt den Charakter des Helden sich vollenden in einer ganz übersinnlichen Region, und zugleich an dem Undankbarsten, was es für die Poesie giebt, nämlich an einem fortgesetzten Leiden. Dennoch versteht er es, dem Charakter die populärste Deutlichkeit zu geben, und zugleich das Dulden in ein Handeln umzuschaffen, in das christliche Handeln, weil auf jeder Leidensstufe eine neue Gemütsthat von Fernando gethan wird. Endlich steht Fernando, wo niemand von uns zu stehen kommen wird. Weil aber der Dichter unsere Phantasie mit ihm wandern machte, so kommt er uns wie ein vertrautes Mitwesen vor, selbst als der Heiligenschein bereits sein Haupt umleuchtet.«



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