Karl Immermann
Düsseldorfer Anfänge
Karl Immermann

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2.

»Eine historische Chorstrophe?« fragten die beiden andern. »Nun,« versetzte der schwarze Domino, »wir treiben hier allerhand Mummenschanz, oder sehen dem Mummenschanz zu, und aller Sinne sind, wie es scheint, in dieses Larvenspiel versenkt und gleichsam trunken davon. Mein Verhängnis aber hat es gewollt, daß ich noch den ganzen Abend über weniger an diese Masken habe denken können, als an den Boden, auf dem sie umherhuschen, und an die Zeiten, in welchen die Masken meist noch nicht geboren waren. Mehr, als die Gegenwart, ist, wie ihr wißt, die Vergangenheit meine Göttin. Wer dieser ernsten Alten treu und fest in das Antlitz zu blicken wagt, dem zeigt sie treue und feste Züge. Die Mienen der jungen, flatterhaften Schönen sind zweideutig und nicht selten verbuhlt. Man kann eine Leidenschaft für sie empfinden, aber bedenklich ist es, sie zur Freundin zu wählen.«

»Du bist demnach heute ein umgekehrter Grazioso,« sagte der blaue Domino. »Sonst parodiert der Lustigmacher den Ernst der Haupt- und Staatsaktion, du aber willst die Faschingstollheit gleichsam in deinem Ernste zur Vernunft bringen.«

»Es muß auch solche Käuze geben,« versetzte der schwarze Domino.

»Aber Ihre Lektüre?« fragte der Rote.

»Görres.«

»Wie? Athanasius?«

»Nein. Den habe ich früher gelesen. Er hat mich auch keineswegs bewegt, oder eigentlich nur nachhaltig beschäftigt. Ein Falsum verdient die Aufmerksamkeit dessen nicht, der nach Unterricht und Belehrung strebt, wenn er liest.«

24 »Ein Falsum« rief der blaue Domino. »Sollte der Inhalt des Athanasius so hart zu bezeichnen sein?«

»Ich wüßte mich wenigstens nicht milder auszudrücken,« erwiderte der schwarze Domino. »Athanasius besorgt die Unterdrückung der katholischen Kirche am Rhein, und giebt zugleich zu verstehen, daß das Heil des Geistes auf dem Katholizismus beruhe. Nun aber weiß der kluge Mann recht wohl, daß die Regierung keineswegs auf so starken tyrannischen Füßen steht, und als Geschichtskundiger muß er wissen, daß unsere große Litteratur, Philosophie, die Richtung der neuern deutschen Gelehrsamkeit und klassischen Bildung nur aus dem Schoße der Reformation geboren ist. Wer ein so offenkundiges Faktum unterschlägt oder beiseite schiebt, begeht ein Falsum.«

»Ich kann in dein Verdammungsurteil über Görres nicht einstimmen,« sagte der blaue Domino. »Ich wüßte keinen außer ihm in Deutschland, ja, ich wiederhole es, keinen, in welchem das parlamentarische Genie, was bei uns selten gedeiht, so mächtig wäre. Er ist gleichsam durchsogen vom politischen Elemente, er hat nicht die Zeit ergriffen, sondern er ist selbst die personifizierte Zeit. Oft hat man neuerdings die Worte: dämonisch, dämonische Natur – gar freigebig verwendet, auf Görres aber passen sie. Er ist ein Dämon, nicht Gott, nicht Mensch, sondern mitten inne. Wie die Zeit die geheimnisvollsten und wechselndsten Akkorde anschlägt, so ist freilich auch Görres nicht selten dunkel und wechselt die Töne. Aber ihm darum Zweideutigkeit vorzuwerfen, oder ihm Inkonsequenz vorzurücken, wie zu geschehen pflegt, ist ungerecht. Solche Windharfen der Geschichte sind gewaltige Stimmen des Moments, die Wolke der blitzschwangern Gegenwart findet in ihrer Rede die heftige und wohlthätige Entladung. Der Athanasius hat der Regierung mehr geholfen, als alle Schutzschriften. Die Wetter und Schwaden, welche versperrt in unterirdischen Stollen umherzogen, explodierten in ihm, manche Verdrießlichkeit fand in dieser harten und herben Allokution ihre Verpuffung«

»Verdrießlichkeit!« rief der rote Domino. »Ja, da hast du ein Wort gebraucht, welches für die Gegenwart paßt. Die Menschen haben nicht die rechte Kraft, zu hassen und zu zürnen; sie sind verdrießlich. – Aber das verdrießliche Wesen ist es eben, welches mich von Görres verdrießt. Ich teile sonst deinen Respekt vor ihm. Sein Vermögen ist groß, sein Eifermut nachhaltig. Es 25 ist gar schön, wenn ein Land ein Individuum hervorbringt, welches gewissermaßen das Land selbst ist, persönlich mit Fleisch und Blut, mit allen Tugenden und Lastern, mit seinen Gedanken und Schrullen. So zwingt mir O'Connell, den Irland bewegt, und der Irland wieder mit dem Winke seiner Hand bewegt, Ehrfurcht ab, so begeistre ich mich an Uhland, von dem sie in Schwaben sagen, er habe nie etwas anderes geredet, als was ihnen gerecht gewesen. Görres war nun das Rheinland, mit seiner Berührigkeit und Lebhaftigkeit, mit seinem schnellen Witz, seiner glänzenden Einbildungskraft, mit seinem schlagenden Verstand und – seiner Advokatensuade. Er war der Agitator des Rheins, er hätte der Regierung wie in einer Abbreviatur immer die Physiognomie des Landes gezeigt, welches ihr hin und wieder unverständlich ist. Und deshalb ist es ein Verlust, daß er seinem heimischen Boden entzogen ward. Die repräsentative Regierung bedarf der Opposition, die absolute Monarchie der Fronde, um ein Gegengewicht zu haben und dadurch sich im Gleichgewicht zu halten. Nun ist er verdrießlich geworden, und seine schlechte Laune hat die Früchte getragen, davon die spätere immer saurer war, als die frühere: Deutschland und die Revolution, Europa und die Revolution, endlich die christliche Mystik. In dieser wird die Verstimmung positiv, und will zu Gunsten des frommen Kinderglaubens eine neue Karfunkelphysik stiften.«

Ein ältlicher, heiterer Herr, im papageigrünen Domino, welcher an einem benachbarten Tische Whist spielte, war im Begriff gewesen einem Bekannten seine Karten zu überlassen und sich zu den Redenden zu gesellen. Als er aber die letzten Worte hörte, murmelte er halb spöttisch: »Nichts als tiefsinnig gelehrte Konversation!« und setzte vorderhand sein Spiel fort.

»Wie groß und tapfer steht dagegen der alte, herzhafte Agitator im Rheinischen Merkur da,« fuhr der rote Domino fort. »Diese Blätter, zu ihrer Zeit von den hungrigen Lesern 26 verschlungen, welche dem Redakteur den Ehrennamen der fünften alliierten Macht zuwege brachten, gehören zu den wichtigsten Dokumenten unsrer großen Sturm- und Drangperiode. Der Befreiungskrieg war in Sachsen, Böhmen und Schlesien ein wilder Jüngling gewesen, der heftig sich getummelt und um sich gehauen hatte; erst am Rhein wurde er zum Mann, schlug die Augen auf, besann sich und fragte: Was willst du? – Schlachten sind wohl gut, aber der Sieger verlangt doch endlich zu wissen, wohin er gelange. Da stellte sich nun der schlaue Götterbote auf den Markt zu Koblenz, und wies die Wege und die Stege, maß mit richtig geeichtem Maße die Könige und die Völker, und sah nach, ob die zirkulierende Münze ihr Schrot und Korn habe, setzte den Kurs der vollwichtigen fest, und märzte die Stücke der Kipper und Wipper aus. Der Rheinische Merkur war das Gewissen jener Zeit.«

»Was mir den scharfen Warner, den einschneidenden Strafredner, den unerschrockenen Propheten von damals besonders ehrwürdig macht, ist sein versöhnlicher Sinn, sein konservativer Charakter inmitten alles Zornigen und Dräuenden, was der gewaltige Mund ausströmt,« sagte der blaue Domino. »War etwas Thatsache geworden, so redete der Merkur zum Frieden, wie sehr er sich auch früher dagegen gestemmt haben mochte. So z. B. ist er der entschiedenste Widersacher von Sachsens Zerstücklung, als denn nun aber das verhängnisvolle Werk geschehen, da weiß er die edelsten und herzlichsten Worte zur Beschwichtigung der tiefverwundeten Gemüter zu finden. Weise sind seine Betrachtungen über den Aufstand der sächsischen Garden zu Lüttich, meisterhaft ist die Auseinandersetzung der sich kreuzenden Prätensionen in der Wiener Kongreßperiode, welche er verschiedenen Interlokutoren auf dem Kongreß in den Mund legt. Nur von etwas ist er ein unversöhnlicher Feind, selbst wenn es Thatsache geworden zu sein scheint: von der organisierten Anarchie, einer Erfindung, auf welche die neuern Zeiten ein Patent bekommen haben. – Aber ich sehe – mit diesen Worten wandte sich der blaue Domino gegen den schwarzen – du hast es gemacht, wie manche Emissäre der Propaganda und bösartige Demagogen; sie verleiten die Völker in den politischen Schwindel hinein, und ziehen sich dann klug zurück. 27 So hast du uns vermocht, allerhand Bedenkliches und Verfängliches auszusprechen, selbst aber ein schlaues Schweigen beobachtet.«

»Nun,« versetzte der schwarze Domino lächelnd, »ihr habt mich ja des Sprechens überhoben, indem ihr laut werden ließet, was ich im stillen dachte. Eben der Rheinische Merkur war es nämlich, der mich in diesen letzten Tagen so gewaltig aufregte. Ich hatte ihn noch nie gelesen, nun erweckten die Zeitverhältnisse einen Trieb in mir, die versäumte Bekanntschaft nachzuholen, und da trafen mich denn die beiden starken Foliobände mit der intensiven Gewalt eines Kernschusses. Was Wilhelm Meister sagt, als er in Shakespeare zum erstenmale hinein blickte: ›Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust, und sie mit Gewalt rasch hin- und wiederblättert‹ – etwas Ähnliches erlebte ich, nicht durch ein Gedicht, sondern durch jene Urkunde der Wirklichkeit: wir haben keinen Shakespeare, und werden schwerlich einen bekommen, denn alle Bedingungen zur Erzeugung eines solchen Geistes fehlen bei uns, aber – und ich bitte euch, lacht mich nicht aus über das, was ich jetzt sage – in anderer Form und Art beweist der deutsche Geist von Zeit zu Zeit, daß auch er den geschickeumfassenden Blick sich erwerben kann, vor dem die Herzen der Gewaltigen und Schwachen sich aufthun, die Verhängnisse durchsichtig klar werden, den Blick, der Shakespeare zu Shakespeare machte. Wie traurig nun, wenn ein solcher Geist von sich abfällt, und, weil ihm der Stoff, darin er wirken kann, entzogen wird, seine Kraft an Ersonnenes, an Launen und Bizarrerieen hat verschwenden müssen! Des Mannes, von dem wir reden, Unglück ist, daß ihm das Organ, in dem er sich als eine Notwendigkeit fühlte, zerstört wurde, und von da an ging es mit ihm abwärts. Unsere Pflicht aber ist es, in ihm, als in einer durchaus geschichtlichen Natur, der Geschichte treu zu bleiben, ihn zu verwerfen im Verwerflichen, im Rühmens- und Dankenswerten aber ihn zu rühmen und ihm zu danken.« –

Da die letzten Reden mit ziemlich lauter Stimme geführt wurden, so hatte sich ein Kreis neugieriger Zuhörer gebildet, von denen einige nach und nach Mitredende wurden. Man gab zu, bestritt, schränkte ein, und unter diesem Hin und Her nahm das 28 Gespräch einen unpersönlicheren Charakter an. »Ja,« rief einer, »wenn wir bedenken, wie nahe wir hier dem Geschrei der Franzosen nach ihrer sogenannten natürlichen Rheingrenze sind, wie von der andern Seite her die belgisch-katholischen Sympathieen das Land netzartig überziehen, wenn wir uns erinnern, aus wie vielen Dutzenden von geistlichen Stiftern, Herzogtümern, Grafschaften, Herrschaften und Unterherrschaften dieses burgundisch-fränkisch-sassische Reich vor fünfundzwanzig Jahren zusammengebacken worden ist, so fühlt man wohl, daß man auf zitterndem Boden, daß man auf einem Erdreich, ähnlich dem alten kauchischen Bebelande, steht.

Das größte Unglück für den Rhein ist, daß zwei historische Anlässe, ein großes, selbständiges Reich zwischen Maas und Weser zu gründen, widrig für eine solche Pflanzung ausschlugen. Bei dem einen hätte man nicht sollen auf den lutherischen Lehrbegriff hinhören, bei dem andern wäre das sechste Gebot der Staatsraison unterzuordnen gewesen.«

»Welche Anlässe meinen Sie?« fragten mehrere.

»O,« versetzte der Gefragte, »der erste war, als Gebhard Truchseß von Waldburg, Kurfürst von Köln und Herzog von Westfalen, Ausgangs des sechzehnten Jahrhunderts, seiner romantischen Neigung für die schöne Konventualin von Gerresheim, Agnes von Mansfeld, folgte. Er heiratete sie, kündigte der Kurie den Gehorsam auf, und wollte Kurfürstentum samt Herzogtum säkularisieren. Es hätte einen tüchtigen Länderkern gegeben, der mit der Zeit sich schon arrondiert haben würde, denn die Reformation hatte von der Pfalz und von Holland her weit um sich gegriffen. Die protestantischen Stände des Reichs hätten alle Kraft aufbieten sollen, dem natürlichen Bundesgenossen zu helfen, aber es geschah nicht, denn der verliebte Truchseß war leider gut kalvinisch, und die Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg, Pfalz stocklutherisch. Rom aber war Rom, d. h. fest und schlau, der Kaiser auch klüger, als die Fürsten. Was half's, daß der überkühne Schenk, dessen Namen noch die Schenkenschanze zwischen 29 Kleve und Nimwegen bewahrt, sich für den abtrünnigen Priester herumkatzbalgte? Er wurde besiegt, niedergestochen, der Truchseß aber entfloh mit seiner Agnes gen Straßburg, und in Köln und Westfalen blieb der Krummstab stehen. Unter dem läßt sich zwar nach altem Spruch gut wohnen, Patriotismus aber, militärische Kraft, historischer Stolz im größern Maßstabe, über den Pfahl und das Weichbild der Stadt hinaus, kurz alles, was das politische Leben eines Landes zeugt und nährt, kann nimmer darunter gedeihen.«

»Und der zweite Anlaß?«

»War, als wenige Zeit später Jakobe von Baden vom guten, albernen Herzog Johann Wilhelm keine Kinder bekommen konnte. Die Tugend dieser etwas ausgelassenen Dame würde wohl kein Hindernis eines gewissen Kunststücks gewesen sein, wenn anders nur die Hälfte der im Prozesse ihr gemachten Beschuldigungen wahr ist. Der Erbe wäre da gewesen, Johann Wilhelm hätte an ihn geglaubt, und die schöne Gebietsmasse, die von der Maas bis an die Ruhr reichte, wäre zusammengeblieben. Man hat sich anderer Orten, wo Not an Mann war, zu helfen gewußt, aber dann müssen sich freilich die Interessenten verstehen. Hier zogen die häkelichten Stände von Jülich, Kleve, Berg, die vermutlich in der allgemeinen Zerrüttung auch nebenbei im Trüben fischen wollten, benebst der klugen, bösen Schwägerin Sibylle es vor, Jakoben zu verderben. Peinlich auf Ehebruch wurde sie angeklagt, Johann Wilhelmen ließen sie durch einen sonderlichen Meister aus Holland, wie Beer von Lahr in seiner Chronik schreibt, etwas gegen des Herrn Phantasieen und Schwachheiten eingeben, und Gott war demnächst so gefällig, die Markgräfin plötzlich in der Nacht vom 3. September 1597 aus diesem Jammerthal abzurufen, wie derselbe Lahr berichtet. Dessen Chronik muß man lesen, um eine Anschauung von dem Zustand eines deutschen Landes zu gewinnen, in welchem niemand weiß, wer Koch und wer Kellner sei. Die Ritterschaft intriguiert, Sibylle intriguiert, 30 die Prätendenten Brandenburg und Neuburg hatten die Hand im Spiel, der Kaiser schickt Kommissarien zur Schlichtung des Handels, die aber kein Ende finden können, wahrscheinlich geheimer Instruktionen wegen, um durch Hinzögern einen Sequester herbeizuführen, der regierende Herr mediziniert gegen Zauberei, die Gemahlin sitzt im Kerker. Das tollste Durcheinander kleiner Menschen, unterirdischer Schliche und Wege! Eine wunderliche Volkssage hat sich in Düsseldorf erhalten, daß die Angeklagte nicht, wie man natürlich vermutet, durch ihre Widersacher beiseite geschafft worden sei, sondern daß die Anverwandten, erzürnt und bekümmert über den Skandal, der ihr Haus traf, demselben heimlich ein Ziel zu setzen gewußt haben. – Nun, dem sei wie ihm wolle, die Gelegenheit war verpaßt, man läßt nachmals zwar Johann Wilhelmen die lothringische Prinzessin heiraten, aber auch dieser Bund bleibt ungesegnet, und nach dem Tode des letzten Fürsten zerschlagen die Prätendenten das Land im Jülichischen Erbfolgekrieg. Brandenburg bekommt zu wenig, um recht Fuß am Rhein fassen zu können; Pfalz, Köln, Trier, Mainz sind in den nachherigen Kriegen französisch, österreichisch, wie es fällt, nie aber selbständig, und so treibt sich alles hier in Ohnmacht und Zersplitterung bis zu den letzten großen Welthändeln hinab.«

»Man hat immer, besonders in den ersten Friedensjahren, von der undeutschen, ja französisch gebliebenen Gesinnung der Rheinländer geredet,« so nahm der rote Domino wieder das Wort. »Bedenke man jedoch! Woher sollte eine vaterländische Gesinnung kommen? Diese segentriefenden Gauen trugen die Kornähre und die Rebe; aber es mähte und herbstete in ihnen ein ohne seine Schuld abgestumpftes Geschlecht. In den geistlichen Kurfürstentümern ein gewisser Seelenschlaf, hie und da die Üppigkeit, welche der Mitra auch die letzte Bedeutung nahm, in den weltlichen Herrschaften der langweiligste Schlendrian. Dazu fast überall das Gemenge von Nepotismus, Nebenrücksichten, Fraubaserei, was wir hier mit einem Provinzialismus »Klüngel« nennen. Die Ämter nicht selten käuflich. Und mit dieser nullen oder verdorbenen Atmosphäre die Länder seit dem spanischen Successionskriege immerdar das Kriegstheater ohne eignen Helden! Wahrlich, ich wüßte nicht, wie da ein anderer, als ein 31 gleichgültiger Sinn entstehen konnte, und wenn dieser auch bei vielen ein enger und kleinlicher wurde, so dürfen wir deshalb immer noch nicht die menschliche Natur anklagen. Nun kam die Revolution, wie ein Gewitter, über die Lande. Sie zerschlug vieles, sie hatte in den meisten Beziehungen das Ansehen einer wütenden, herzlosen Naturgewalt, aber – sie befreite die Scholle, und gab die Frucht in die Hände derer, welche die Frucht gebaut hatten. Was aber mehr: ihre Elektrizität weckte eine elektrische Spannung auf in den Geistern der Menschen, zum erstenmal nach Jahrhunderten; die Spannung, in welcher Gedanken und Charaktere reifen. Trotz allen Druckes, trotz aller tiefschmerzenden Verletzungen lernten doch die Rheinländer sich zuerst wieder in dem französischen Wesen fühlen, denn eine Nation, welche den Begriff verstand, begrüßte sie als Nation. Napoleon war das Glück, die Macht, der Sieg der Revolution, er half den Anfang einer politischen Stimmung hier vollenden. Was Wunder, daß sie ihren Ursprung nicht so leicht vergessen konnte? Napoleon haßte diese Länder nicht; als ein unblutiges Erbe waren sie ihm schon zugefallen. Er schonte sie, soviel er konnte, er half ihnen selbst hie und da, er schmeichelte der Eitelkeit mehr, als er schonen und helfen konnte. – Wenn man diese vergangenen Dinge so mit einem ruhigen Blick betrachtet, so muß man sich vielmehr des Unzerstörlichen im deutschen Wesen innig erfreuen, welches dennoch viele Herzen, als die große Wandelung eintrat, der vaterländischen Sache sympathetisch entgegenbewegte. Freudig wurden die siegreichen Scharen empfangen, die Wunden und Kranken fanden Pflege von den Händen der Barmherzigkeit, das begeistert-hassende Wort des Merkur war Tausenden aus der Seele gesprochen; endlich fochten Rheinländer nicht ohne Ehre in den niederländischen Schlachten.«

»Andere rissen aber auch tüchtig aus, siehe die sogenannte Feuer- und Pfuhlproklamation!« murmelte der papageigrüne Domino halblaut. Er hörte trotz seines Robbers aufmerksam dem Gespräche zu.

»Du regst mir da Gedanken an, die ich noch nie in solcher Klarheit gedacht habe!« rief der blaue Domino. »Die Rheinlande, französiert, waren, als das Interesse an der vaterländischen Sache die Gemüter auch in ihnen bewegte, wie ein Seefahrer, der mit einem Schiffe Gewinn machen will, scheitert, gerettet wird, und 32 im Bergehafen hört, er habe in der Lotterie gewonnen. Sie waren mit Napoleon in sein Glücksschiff gestiegen, hofften von der Fahrt guten Vorteil, das Schiff brach, und gerettet hörten sie, sie seien Deutsche und frei. Nicht in Schweiß und Blut, nicht aus dem Zustand der äußersten Verarmung, Schmach und Erniedrigung heraus hatten sie das Gefühl, welches nun auflebte, sich geboren, kein Schmerzenskind aus furchtbaren Geburtswehen war es ihnen, wie Millionen ihrer östlichen und nördlichen Brüder. Es kam ihnen wie ein Glück, wie ein glänzendes, wie ein ohne sonderliche Mühe aufgeschürfter Schatz zu. Wie es nun aber immer zu geschehen pflegt, wenn der Mensch an ein großes, praktisches Gut nicht die arbeitsvollste Praxis setzt, so geschah es auch hier. Man empfindet dann mehr ein ästhetisches Vergnügen an dem Errungenen, als daß man sich mit demselben sogleich in ein eigentlich tiefes Verhältnis, welches immer eine stille Bescheidenheit hat, zu setzen wüßte. Die Rheinlande empfanden an der Befreiung Deutschlands und an ihrer Dividende in dieser Ausbeute mehr ein ästhetisches Interesse und Vergnügen.« –

Diese Äußerung fand großen Widerspruch, und man erinnerte in den verschiedensten Ausdrucksweisen an die unzähligen Mühsale, Beschwerden und Kriegslasten, welche auch der Rhein getragen habe. Als der Sturm sich etwas gelegt hatte, fuhr der blaue Domino fort:

»Bedenkt doch, Freunde, daß wir in unsern Gesprächen, wenn sie sich nicht in ein endloses Detail zersplittern sollen, nur die allergemeinsten Umrisse zeichnen dürfen. Es handelt sich bei dem, was ich sagte, nur von einem großen Mehr und Minder. Der Rhein war belastet, gedrückt, gezinset um der gemeinen Sache wegen, ja! aber die geöffneten Adern seiner Söhne hatten seine Wellen nicht rot gefärbt, die Triften, welche er bespült, waren von Roß und Mensch nicht zerstampft worden, die Ehre vor der Welt hatte ihm der Eroberer gelassen. Fragt nur die Elbe, die Oder, die Weichsel, ob sie euch dieselbe Geschichte erzählen können? Ich wiederhole also, man empfand die Wiedergeburt der deutschen Dinge in hiesigen Landen mehr wie ein Schönes in einer ästhetischen Stimmung, und übrigens mag euch der Ausdruck so viel gelten, als er wert ist. Gewiß aber ist es, daß aus diesem Verhältnisse die wichtigsten Konsequenzen entsprangen. Denn 33 während man östlich schon zufrieden war, nur dem grimmigsten Elend entgangen zu sein, und während dort die Bewegung der Zeit vor der Hand lediglich in der Jugend und bei den Intellektuellen rumorte, die Praktiker aber, den Bürger und Bauer wenig ergriff, hatte ein Verlangen, den neuen Zustand vom Schönen in das Schönste zu steigern, am Rhein mächtig alle Stände durchdrungen. Die verschiedensten Ansprüche wollten sich geltend machen. Die Städte petitionierten im Sinne des Bürgertums; dagegen rührte sich der alte Adel in der Denkschrift, die er 1818 dem Staatskanzler übergab. Er führt darin aus, ein Vertrag habe bestanden zwischen den Provinzen und dem Landesherrn, der Vertrag sei durch die Revolution wohl beiseite geschoben, aber nicht zerstört. Diese Dinge fanden nun wieder die heftigste Entgegnung vom Bürgertum aus, welches sonderbarerweise die Nützlichkeit jenes Anführens, auch für sich, nicht begriff, sondern nur seinem Adelshaß folgte. Man ging so weit, den Bittstellern zu sagen, daß, wenn sie in den Uniformen, die sie noch vor wenigen Jahren getragen, erschienen wären, der Kanzler sie leicht für eine Deputation von St. Helena hätte halten können. So steigerte sich das Fordern, das Hetzen und Verhetzen bis zur Koblenzer Adresse, in der nun alles vorgetragen ward, was man wollte, meinte, wähnte. Sie ist das merkwürdigste Symptom des damaligen rheinischen Geistes. Solange man noch um Erhaltung der Geschworenengerichte, um Entfernung aller Feudalität, um Entfeßlung des Handels und um andere Güter, die man teils hatte, teils mit gesunden Augen nahebei sehen konnte, bat, kann man sagen: die Bittenden hielten sich in den Schranken, die ihnen gegebene Umstände setzten. Aber jene Adresse fordert eine Verfassung, und zwar nicht in Ständen für die Provinz, sondern für das Reich, ja, nicht für das Reich allein, sondern sie erheischt sogar die Interzession des Königs für diese Sache zu Gunsten von ganz Deutschland bei dem Bundestage. Der kundigste Interpret jener politischen Handlung sagt an einem andern Orte: es sei wohl schicklich gewesen, für das Geschenk, welches die östlichen Stammverwandten dem Westen mit der Befreiung vom 34 französischen Joche gemacht hätten, ihnen ein Gegengeschenk vorzubereiten: die bürgerliche Emanzipation. Als wenn dergleichen sich schenken ließe! Als wenn Verfassungen, nämlich die echten, lebendigen, lebensfähigen, nicht immer die Früchte großer Krisen im Hauptorganismus des Staats wären! Die große Krise in Preußen war nun, daß, weil Friedrichs herbe Kraft, sein genialer Verstand und sein gewaltiges Bewußtsein sich, soweit diese Tugenden Eigentum einer Masse werden können, dem Volke infiltriert hatten, das Volk fähig und tüchtig geworden war, den Staat zu retten. Popularisierter Fridericianismus war das neuste Entwicklungsstadium des Staates. Naturgemäß hätte daher die Frage der Zeit nur von den ältern Söhnen des Hauses angeregt werden können, die allein jenes Stadium ganz durchmessen hatten. Sie thaten es aber nicht, gewiß zum Teil aus frommer Scheu vor der ungeheuren Schwierigkeit und Verwickeltheit der Frage, auf welche auch der Staatskanzler in der Antwort auf die Adresse, leise und schonend, wie seine Art war, hindeutete. Daß die jüngsten Kinder sich dessen unterwanden, zeigte, daß sie die Gestalt der Dinge, wie sie geworden, leicht, und zum drittenmal sei es gesagt, ästhetisch nahmen.«

»Klage nicht an,« sagte der schwarze Domino. »Laß die Eris ruhn, wecke sie am wenigsten über Vergangenheiten gewisser Art.«

»Meine Rede soll ihre Schlangen nicht rühren,« versetzte der Blaue. »Ich klage nicht an. Ich finde gerade in dem Leichten, Wagenden, Übermütigen jener Adresse einen Sinn, der rein ist von den schweren Erinnerungen des Staats, in dieser Unschuld aber ahne ich die glücklichste Zuthat zu dessen Gesamtleben. Die Rheinlande sind das heitere Blut, die Phantasie, der fröhliche Sinn Preußens. Ein rühriges, anstelliges, gewitzigtes Volk bewohnt sie. Auch Gemüt hat es, Talent zur Liebe, Anlage zur Treue. Aller patriarchalischen und nebenbei vigilanten Behandlung ist es freilich von Grund der Seele abhold, aber es vermag der verständige Freund des aufrichtig Meinenden zu sein. Wollt ihr es bevormunden, so wird es sich bald seinen eigenen Familienrat ernennen. Befehlt ihm kurz und ohne Umschweif, wo euch 35 Gott das Recht zum Befehl anvertraute; es wird gehorchen, die gute Gabe, die ihr ohne hinterhaltige Gedanken ihm bietet, wird es mit Dank annehmen. Das germanische ›Auf seine eigene Hand sein‹ ist höchst rege in diesem Volke. Die Städte sind eifersüchtig aufeinander. Stiften sie in Düsseldorf einen Kunstverein, Köln wird bald auch einen haben wollen. Will diese Stadt ein Centralfest feiern, gleich treten andere mit Spezialfesten hervor. Es ist eben deutsches Leben, pulsierend, quellend, an hundert Orten hervorbrechend. Von dem strömt nun eine Ader über in die uniformere östliche Hälfte, anfrischend, auflockernd, vom Osten aber hält der knappere, gemessenere Geist die hiesige Ungebundenheit zusammen, sie vor der Zersplitterung bewahrend. Und so trägt eines das andere, ergänzt und ründet einander; die lustige Fülle den schmaleren Ernst, der bewußte Ernst die überwuchernde Fülle.«

»Auf diesem Punkt sehe ich dich gerne angelangt,« sagte der schwarze Domino. »Laßt uns als Deutsche in deutschen Sachen immer das Positive erblicken, und an der Hoffnung festhalten! Scheuen wir uns nicht, wie Männer in jede Verderbnis einzuschauen, aber kein Schwindel ergreife uns, und vom Abgrund her leuchte uns noch ein Licht, hell, wie Odins Auge im Brunnen Mimers! – Die Vereinigung dieser weiten Lande mit Preußen ist das größte und glücklichste Ereignis, welches sich seit Jahrhunderten in der deutschen Geschichte zutrug, denn dadurch wurde, wie sehr das auch die Oberflächlichkeit leugnen mag, eine mächtige historische Wahlverwandtschaft gestiftet, die nur fruchtbar sein kann. Welche Früchte sie trägt und tragen wird, das ist freilich ein Staatsgeheimnis, und ein wahres, denn kein Staatsweiser kann es aussprechen.«

Hier legte der papageigrüne Domino seine Karten nieder, ja man kann sagen, er warf sie hin. Schnell sich erhebend trat er zu den Sprechenden, gestikulierte mit den Händen, sah rot aus, und rief: »Habt ihr euch nun satt gesprochen von Tendenzen, Anlässen, ästhetischem Interesse, Ideen, Personifikationen, Wahlverwandtschaften, Mimers Brunnen und sonstigem erhabenen und spitzfindigen Rokoko? Mich wundert nur, daß heutzutage noch irgend ein Tisch auf seinen Füßen steht, und nicht alle Wände einstürzen, so wird alles durchsubtilisiert und abbegriffelt! Kinder, 36 man merkt es euch doch an, daß ihr insgesamt keine Praktiker seid, und nichts erfahren habt. Wer so bei allem gewesen ist, wie ich, der sieht in der Vergangenheit nichts, als –«

». . . . Konfusion,« fiel einer ein.

»Dem ist die Geschichte nichts als eine große –«

». . . . Konfusion,« sagte ein anderer.

»Der hält die Welt für das, was sie ist, nämlich für –«

». . . . Konfusion,« rief ein dritter.

Alle lachten. – Der Papageigrüne lachte mit. »Und ist es denn nicht wahr,« sagte er, »daß von Anbeginn der Welt noch niemand gewußt hat, was er wollte? Kein Held kam an sein Ziel, sondern unter den Füßen verlor sich ihm der Weg. Alexander der Große lief durch Asien nach Indien, nur weil er gar nicht wußte, wohin er noch laufen sollte, nachdem er einmal so heftig von Macedonien ausgelaufen war. Und so kann man diesen Satz verfolgen durch jedes –«

». . . . historische Ereignis hindurch,« fiel ihm der schwarze Domino in die Rede. »Eure kolossalen Geschichtsansichten sind bekannt, alter Herr, sie sind aber zu trübe für diesen heitern Abend. Erzählt uns lieber etwas von Spezialhistorien, die Ihr so gründlich inne habt, erzählt von der rheinischen Konfusion, wie Ihr gern mögt. Denn wir wissen es, Ihr habt die Hände in allem gehabt. Ihr waret nassauischer Accessist, kurkölnischer Vogt, kurtrierscher Rat, französischer Souspräfekt. Eure Augen haben in alle Winkel geblickt.«

»Ja, das haben sie,« versetzte der papageigrüne Domino mit Selbstbewußtsein. »Ich habe alle die großen Herren und Staatsmänner und Generale gesehen, und viele haben mit mir gesprochen und bedeutend war der Inhalt unserer Unterredungen, und ich weiß ungefähr Bescheid. Eine elektrische Spannung soll die Revolution gegeben haben? Ei, Gott bewahre! Die Franzosen kamen hereinmarschiert, und wollten Geld haben und Menschen und Pferde, und was Amtskellner geheißen, hieß nun Receveur, und die Leute sollten französisch können, verthaten sich aber noch zuweilen. Napoleon ließ sich einmal zwei Maires vorstellen, davon sagte der eine zum Kaiser: ›Je suis la mère.‹ ›Et vous?‹ fragte Napoleon den andern. ›Je suis le faiseur des filles,37 antwortete dieser, denn er wollte sagen, er sei ein Zwirnfabrikant. ›Eh bien, allez coucher ensemble,‹ erwiderte der Kaiser und lachte. – Schlechte Advokaten hießen deutsche Prokuratoren, und zwischen all' dem Wesen versteckten die Geistlichen und Stifter ihre Ländereien und Kapitalien unter Scheingeschäften, damit der Präfekt sie nicht auswittere und in den großen Schlund der Staatskasse werfe. Seht, das war das Ganze. – Interesse an der deutschen Sache, ästhetisches Interesse? Wir hörten eines Tages, die Franzosen seien in Rußland erfroren, und da rottete sich ein Haufen Konskribierter zusammen, die nicht dienen wollten, und zogen mit einer Fahne und Stecken und Mistgabeln durch die Berge und Wälder; das waren die sogenannten Knüppelrussen. Weiber und Gesindel schlug sich dazu mit großen Schnappsäcken, in die sie die Beute, auf die es abgesehen war, einthun wollten, auf dem Markte von Elberfeld aber wurde der ganze Haufe entwaffnet, und mehrere wurden erschossen, die dazu gekommen waren, sie wußten selbst nicht wie. Dann rückten die Alliierten ein, die wollten wieder nichts als Menschen und Pferde und Geld. Die Prokonsuln kamen, die Gouverneure und Generalgouverneure; Österreich, Bayern, Preußen und Rußland regierte, und wir waren provisorisch. Wenn einer den andern damals fragte: Wie geht's dir? und der andere wollte sagen: schlecht, so antwortete er: provisorisch. Denkt ihr, daß in solchen tumultuarischen Zeiten sich die ordentlichen Leute zu den Gewalthabern finden? Gott bewahre! Die sitzen still und verdrießlich zu Hause. Die Glücksjäger, die Plusmacher, die Schwadroneure kommen herangesummt und erzählen denen am Ruder süße milesische Märchen. So war es auch hier. Einige von den sogenannten Gutgesinnten trugen sich halb militärisch, die nannte das Volk mit einem Spitznamen die Civilkosaken. Die Dichter kamen an. Arndt saß in Köln und sang: Was ist des Deutschen Vaterland? Schenkendorf auf der Frankenburg bei Aachen quängelte vom deutschen Kaiser und vom lieben heiligen römischen Reich, welches uns so ein erbärmlicher Schutz und Schirm gewesen war. Daneben horchten Freunde und Vettern auf die Erzählungen der von Moskau Zurückgekehrten, und wie brav sich die Armee in dem entsetzlichsten Unglück 38 geschlagen. Der Zuruf des Königs klang gnädig, ein General aber erließ von Wiesbaden die Feuer- und Pfuhlproklamation, wie sie genannt wurde, die mit den Worten anfing: Die bergische Infanterie führt sich schändlich auf. – Von den Prokonsuln war der eine so, der andere so. Sack in Aachen, ein kreuzbraver Mann, rechnete und sparte, und machte sich aus blühenden Phrasen nichts; über den klagten die Soldaten. Justus Gruner in Koblenz hielt uns eine Rede nach der andern, sagte, die Schmach der Erniedrigung sei nun vorbei, und wir seien nun wieder glorreiche Deutsche, die französischen Abgaben aber müßten wir fortbezahlen, und einige neue deutsche dazu mache der Drang der Zeitumstände notwendig. Das wollte nun wieder den Bürgern nicht in den Kopf. Keiner wußte, wie ihm war, und aus einem Munde ging kalt und warm, ja und nein. So war's, und das war das Ganze. Hernach könnt ihr jungen Leute wohl in einen solchen kunterbunten Zustand die Einheit hineinphantasieren, wer aber mit dabei war, sagt: Es war nichts als Mischmasch und –«.

»Konfusion,« riefen alle Zuhörer. – »Ihr habt, alter Herr, die vollkommenste Darstellung geliefert,« sagte der schwarze Domino, »denn das Mittel, dessen Ihr Euch bedientet, ist genau so, wie der Gegenstand, den Ihr schildern wolltet.«

»Ach, geht mir,« versetzte der Papageigrüne etwas empfindlich, »ihr seid alle neologisches Volk und versteht von der Wirklichkeit nichts.« – Er begab sich wieder zu seinem Spieltische.

»In seinen Reden, wie übertrieben und karikiert sie sind, ist doch ein Zug der Wahrheit,« fuhr der schwarze Domino fort. »Er hat das Chaos der widerstreitenden Gedanken und Empfindungen, welches quirlte und brodelte, als die ältesten deutschen Länder wieder deutsch wurden, anschaulich gemacht, wenn gleich, wie es unserem Konfusionspropheten zu begegnen pflegt, einige Anachronismen mit untergelaufen sind. Denn Arndt hat freilich: Was ist des Deutschen Vaterland? nicht in Köln gesungen. – Als ich vor dreizehn Jahren an den Rhein kam, hatte sich alles abgedämpft, und die neue Vegetation fing an, die alten Risse und Narben zu begrünen. 39 Zwei Dinge regten damals noch das politische Blut der Rheinländer. Das erste war das französische Recht mit dem öffentlichen Verfahren. Die Erhaltung dieses Besitzes war der eigentlich populäre Wunsch und ist es geblieben. Das zweite waren die Versuche der Oligarchie, sich als Kaste für sich, gesondert vom Volke, aufzustellen.«

»Was verstehen Sie denn darunter?« frug eine junge Charaktermaske von vornehmer Haltung, die sich eben dem Kreise der Sprechenden genähert hatte, etwas spitz.

»Ich verstehe darunter den Komplex der Stimmungen, Ansichten und Sehnsuchten in den rheinischen Fürsten, Grafen und Herren, welche zuletzt ihre Erfüllung im Autonomiestatut erhalten haben,« antwortete der schwarze Domino.

»Wenn Sie davon reden, so weiß ich den Ausdruck Oligarchie nicht zu rechtfertigen,« sagte die Charaktermaske. »Darin liegt gar nichts Politisches. Es ist eine reine Privatsache, wie wir unter einander erben wollen.«

»Das Erbrecht gehört an und für sich schon halb zum öffentlichen Rechte,« versetzte der schwarze Domino. »Seine Satzungen helfen die materielle Physiognomie der Familie bestimmen, soweit erstere von der Privatwillkür unabhängig ist. Daß ich weiß: mein Vater kann mich nicht enterben, wenn ich kein Verbrechen begehe – das wendet mein Antlitz von dem gnädigen oder zornigen Blicke seiner Augen gegen das Unwandelbare der Gesetze, die mich schirmen – macht mich zugleich frei und unwandelbar. Aus dem Unwandelbaren der Familie setzt sich aber das Unwandelbare des Staats zusammen, wenigstens des germanischen. So steht die Sache, selbst wenn man an dem Buchstaben Ihres Statuts haftet, der freilich von politischen Tendenzen schweigt. Blicken wir aber tiefer ein! Die Häupter Ihrer Familien sollen das unbegrenzte Recht haben, ihr Gut zu hinterlassen, welchem unter ihren Kindern sie wollen, sei es das älteste oder das jüngste, sei es Sohn oder Tochter. Die Gerichte des Staats dürfen von den Benachteiligten nicht angerufen werden, sondern ein Ausschuß, der abermals aus Ihren Familienhäuptern hervorgeht, soll in allen Fällen richten und entscheiden. Dies sind die Ritterräte der rheinischen ritterbürtigen Ritterschaft«

»Das sollte man den Schauspielern, die das R nicht aussprechen können, zur Übung des Organs aufgeben,« murmelte der Papageigrüne an seinem Spieltisch.

»Nun, und?« sagte die Charaktermaske.

40 »Ich weiß nicht, wie ein kompakterer Kern gefunden werden möchte zur Bildung einer politischen Aristokratie. Die Söhne und Töchter, unbeschützt durch irgend eine Institution, – denn daß der Ausschuß immer im Sinne der Familienhäupter urteilen wird, leuchtet ein – müssen sich in einer völligen Abhängigkeit von den Häuptern fühlen, da denn doch der Trieb, zu besitzen, zu den mächtigsten im Menschen gehört. Die Stifter haben ihre Absicht klar ausgesprochen. Sie wollen den Flor ihrer Familien für alle Zeit sichern. Ein reicher Adel aber strebt nach Macht, denn wonach sollte er sonst noch streben? Nehmen Sie dazu, daß durch eine Stiftung für die Töchter gesorgt werden soll, daß man damit umgeht, für die Söhne eine Ritterakademie zu gründen. Hierdurch ist für die Absonderung des heranwachsenden Geschlechts von allem, was nicht zur Kaste gehört, und für seine Hineinbildung in den statutarischen Standes- und Korporationsgeist in der That trefflich gesorgt.«

»Tendenzen lassen sich freilich leicht insinuieren.«

»Ich insinuiere nicht, ich sage, was vor aller Augen liegt. Sie haben sich vor den Augen aller Welt manifestiert; Sie müssen doch auch mithin gestatten, daß alle Welt darüber rede. Nicht einmal glaube ich, daß den Stiftern die Absicht klar vorgeschwebt hat, etwas Ähnliches zu werden, wie die hohe Aristokratie Englands oder die Magnaten Ungarns. Aber was kommen muß, wenn die Dinge ihre Entwicklung finden, das wird auch kommen. Übrigens würden Sie mich mit Unrecht für Ihren Gegner halten. Sie berufen sich auf alte Befugnisse in Ihren Familien, die das Statut nur erneuert habe; wir andern kennen sie nicht, aber es kann ja dennoch existieren, was wir andern nicht kennen. Man befürchtet Erbschleicherei und jede Art der Willkür in so schrankenlosen Verhältnissen; diese Besorgnis teile ich nicht. Die patriarchalische Gewalt der Häupter wird es ihrem Interesse gemäß finden, möglichst unbescholten zu bleiben, mit einer gewissen Billigkeit zu walten. Man hat sich stark darüber formalisiert, daß Sie in einer schwungvoll abgefaßten Vorrede Frömmigkeit, Rechtschaffenheit, Treue von Ihren Nachkommen fordern. Ich finde es dagegen unwürdig, Ehrenmännern Heuchelei und Affektation unterzulegen, ich bin überzeugt von dem Ernste und der Aufrichtigkeit 41 jener vielfach bespotteten Vorrede, und nun frage ich: Was kann bescheidener sein, als Tugenden einzuschärfen, die sich von selbst verstehen? – Das Korporative ist mir der Lebenstrieb der neuen Zeit. Soll der Adel nicht auch das Recht haben, sich korporativ zu regenerieren? Welcher gemeinsame Gedanke soll nun aber die neue Korporation zusammenhalten? Der Himmel ist der gemeinsame Gedanke des Klerus; Bildung, Kunst, Poesie, Wissen sind die Domäne der Intellektuellen; Handel und Gewerbe das Verbindende unter den Bürgern; die Scholle ist das, was den Bauer trägt. Von neuem ist die Welt weggegeben – was bleibt für den Adel, wenn er sich nicht verlieren soll unter den Klerus, unter die Intellektuellen, unter Bürger und Bauern? Nichts, als das Stammes- und Blutsgefühl, der Glaube, von Natur anders zu sein, als alle andern Menschen, und deshalb auch befreit sein zu müssen von den Regeln, welche die andern binden. Diese Rede klingt hart, können Sie dieselbe aber Lügen schelten? Hier ist nun auf die klügste Weise angefangen worden, das Blutsgefühl zu verkörpern. Der rheinische Adel spricht durch das Statut keine Vorrechte nach außen an, die nur tausendfachen und wahrscheinlich zur Zeit noch siegreichen Widerstand finden würden. Was thut er? Er faßt sich zuvörderst in sich zusammen und baut sich auf binnen seiner Hecken und Pfähle. Man konnte nicht richtiger verfahren. Ich bin Ihr Gegner nicht, nur müssen Sie mir erlauben, die Sache gerade anzusehen. Ihr Statut ist ein politischer Gedanke.«



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