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12

Landgerichtsdirektor Hallmann hatte sich gerade auf das Lederpolster seines hohen Armstuhles niedergelassen und wollte die Sitzung eröffnen, als der Blitz mit schweflig-gelbem Schein krachend den Himmel aufriß und den Schwurgerichtssaal blendend erleuchtete. In das Knattern und Krachen tönte leichter Schreckensschrei einer Frauenstimme, der irgendwo oben von der Galerie kam; die Schläge folgten aufeinander mit atemraubender Heftigkeit und Eile.

»Na, wenn das lange dauert«, sagte Hallmann mit guter Laune, »dann warten wir noch 'n bißchen. Sie werden eventuell Licht machen müssen, Braune.« Er neigte sich zu dem Justizwachtmeister, der eilfertig an den Schalter des großen Kandelabers lief.

Aber plötzlich war es, als klaffte das Firmament auseinander. Blaue Lichtströme schössen durch die hohen Fenster. Die Sonne war da, lachte und vergoldete alles, was sie erreichen konnte.

»Wir wollen zuerst einmal die Herren Sachverständigen aus dem Juweliergewerbe hören. Herr Moldenhauer und Herr Jarres, bitte treten Sie vor!«

Die Herren leisteten den Eid.

»Sie haben, wie ich glaube, der Verhandlung von Anfang an beigewohnt? Ich darf also die genaue Kenntnis der Tatumstände und der Zeugenaussagen, soweit wir sie bis jetzt gehört haben, voraussetzen?«

Die beiden gutgekleideten Herren nickten. Jeder von ihnen wurde nun befragt über diejenigen Stücke aus dem Besitz von Martha Streckaus, die aus seinem Geschäft stammten.

Es war nichts als eine trockene Bestätigung der schon früher von dem Vorsitzenden gegebenen geschäftlichen Daten. Ehe die Juweliere aber abtraten, hob der ältere von ihnen, Benno Moldenhauer, leicht die Hand.

»Darf ich noch etwas sagen, Herr Präsident, was mir in dieser Verhandlung aufgefallen ist?«

»Bitte, Herr Sachverständiger!«

Der Juwelier lächelte ein wenig, strich über sein gewelltes, schon ergrauendes Haar und nahm dann die goldene Brille ab, um sie mit seinem Tuch zu putzen.

Es schien, als hindere ihn eine leichte Verlegenheit, auszudrücken, was ihn innerlich beschäftigte.

Der Vorsitzende, wohl in der Erkenntnis dieser Befangenheit, ermunterte den Sachverständigen: er solle sich durch keinerlei Rücksicht gebunden fühlen. Was irgendwie dem Zweck der Wahrheitsfindung in diesem Prozeß nützen könne, das solle und müsse hier unweigerlich gesagt werden!

»Mit ist aufgefallen«, begann der Juwelier, »ja ich möchte sagen, es hat mich gewundert, daß hier nur von so wenig Pretiosen die Rede war... Ich glaube, Sie nannten vorher die Zahl dreizehn oder vierzehn, Herr Präsident?«

Der Vorsitzende nickte: »Das kann stimmen... jawohl.«

Der Juwelier schüttelte energisch den Kopf.

»Verzeihung, Herr Vorsitzender, aber das stimmt nicht! Solange Frau Streckaus ihr Geschäft hatte – ich glaube, sie hat sich im Jahre einundzwanzig etabliert...«

»Zweiundzwanzig«, warf van Geldern ein.

»Ja, das ist auch möglich. Also jedenfalls sind es zirka acht Jahre. Nicht während dieser ganzen Zeit, aber immerhin schon über fünf Jahre habe ich mit Frau Streckaus in geschäftlicher Verbindung gestanden. Es ließe sich aus meinen Büchern feststellen, wieviel Schmuck, zum Teil recht wertvolle Stücke, ich von der Getöteten übernommen und ihr je nach dem Wert bar bezahlt habe.«

Der Vorsitzende wurde aufmerksam: »Wie erklären Sie sich denn den häufigen Verkauf von Schmuck seitens der Getöteten, Herr Moldenhauer?«

»Ich konnte keine andere Erklärung dafür finden, als die, die sie mir selbst gegeben hat... wie wir sie ja, irre ich nicht, auch hier von Herrn van Geldern gehört haben...«

»Sie meinen«, warf Hallmann ein, »daß die Kundinnen der Frau Streckaus, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten, allerlei Schmuckstücke in Zahlung gegeben haben?«

Der Juwelier nickte und schwieg, aber es blieb der Eindruck, als hätte er noch nicht alles gesagt, was er wußte.

Der Vorsitzende fragte von neuem: »Sie haben keine Bedenken gehabt, die Schmucksachen anzukaufen?«

»Im allgemeinen nicht, Herr Vorsitzender, nur... in einem oder in zwei Fällen. Das waren sehr kostbare Stücke. Besonders eine Kette aus antiken Gemmen, in der schon die Steine einen bedeutenden Wert hatten, die Arbeit aber, ich meine der Schnitt der Gemmen, zu dem besten gehörte, was mir jemals vorgekommen ist.«

»Wie hoch bezifferte sich der Kaufpreis für diese Kette?«

»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich rund hunderttausend Mark bezahlt...ich habe die Kette später an einen französischen Sammler weiterverkauft.«

»Nun sagen Sie bitte, Herr Zeuge, die Bekundungen, die Sie jetzt hier in durchaus dankenswerter Weise freiwillig gemacht haben, welche Bedenken... ich meine, aus welchem Anlaß... warum sagen Sie uns das jetzt?«

Der Juwelier zögerte. Der Entschluß, sich ganz offen auszusprechen, fiel ihm nicht leicht.

»Weil mir nachträglich ... der Handel, den Frau Martha Streckaus, nicht allein mit mir, in Schmucksachen getrieben hat, etwas sehr umfangreich erscheint.«

Er schwieg. Der Vorsitzende sagte nichts. Vierklee wollte sich eben erheben. Da stand Doktor Malkenthin schon an seinem Fensterplatz, aufrecht hinter dem Pult.

»Herr Zeuge, wenn ich Sie recht verstanden habe, so wollen Sie mit dieser Ihrer letzten Bekundung sagen, daß die ermordete Frau Streckaus vielleicht auch noch andere Lieferanten als ihre Kundinnen« – er betonte die beiden letzten Silben – »gehabt haben könnte, und daß sie denen die vielen Kostbarkeiten verdankte, die hier in Rede stehen?... Die Staatsanwaltschaft hat sich diese Frage gleich zu Anfang der Erhebungen vorgelegt. Und nicht allein wir haben die daraus entstehenden Konsequenzen erwogen und in langen Besprechungen mit dem Herrn Untersuchungsrichter immer wieder erörtert, sondern es ist auch die Kriminalpolizei bemüht gewesen, alle diesbezüglichen Unklarheiten aufzuklären... Ob nun diese Schmuckstücke von ihren Verkäufern oder Verkäuferinnen reell erworben worden sind, das kann weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft wissen. Wir haben uns auch darum vielerlei Mühe gegeben, und es ist uns bei den hier bekanntgewordenen Stücken nicht in einem einzigen Fall gelungen, einen unrechtmäßigen Erwerb festzustellen oder sie gar als Diebsgut wiederzuerkennen. Um was es sich hier handeln kann, ist einzig und allein der Verdacht, daß irgendein Mensch, mit dem die Ermordete heimlich in unlauterem Verkehr oder sagen wir es deutlicher in einer verbrecherischen Geschäftsbeziehung gestanden hat – – ob der vielleicht auch der Mörder war. Alles, was geschehen konnte, um das festzustellen, ist getan worden – mit negativem Erfolg. Nie hat jemand bei Frau Streckaus einen Menschen gesehen, dem derartige Dinge zuzutrauen gewesen wären. Und ich frage an dieser Stelle – im vollen Bewußtsein, daß ich die von mir vertretene Anklage damit aufs schwerste erschüttern könnte – jetzt den Angeklagten selber: Haben Sie, Angeklagter, frage ich, jemals in der Zeit, in der Sie mit Ihrer späteren Frau verkehrten, und in dem Jahr, wo Sie miteinander verheiratet waren, eine derartige unlautere Geschäftsverbindung zwischen Ihrer Gattin und irgendwelchen verdächtigen Individuen beobachtet oder auch nur gemutmaßt?«

Paulus erhob sich von seinem Sitz. Groß, gerade, aber mit gesenktem Kopf stand er da, als denke er nach.

»Ich kann das nicht sagen, Herr Staatsanwalt. Zu meiner Frau kamen viele Menschen. Nicht nur in die Westender Wohnung, auch in das Stadtgeschäft in der Tiergartenstraße. Ich selbst war immer mit Arbeit überlastet. So war ich weder in der Lage noch willens, meine verstorbene Frau zu kontrollieren.«

»Aber bemerkt oder vermutet haben Sie solche Beziehungen auch nicht?« wiederholte der Vorsitzende Doktor Malkenthins Frage.

Paulus schüttelte den Kopf und setzte sich.

Doch während er sich niederließ, war es ihm, als husche schemenhaft eine Reihe verdächtiger Schatten vorüber, Männer und Frauen, die er bei seiner Frau gesehen hatte. Ein blondes Mädchen war da einmal gewesen, eine auffallende Erscheinung. Sehr groß, schön und ebenmäßig gewachsen, mit einem Kopf wie aus Wachs modelliert.

Paulus strengte sein Gedächtnis an. Und jetzt fiel ihm Tag und Stunde wieder ein, wo er dieses Mädchen bei Martha gesehen hatte. Sie standen beide auf dem Balkon in der Tiergartenstraße und lehnten an dem vergoldeten Gitter, als er in den Salon trat. Die Frau nannte sich Lula de la Rocca. Er hatte es behalten, weil er sich des altitalienischen Fayence-Bildners erinnerte. Sicherlich war das nur ein angenommener Name. Sie war sehr hübsch und verblüffend gemalt, und Paulus erinnerte sich kaum, ein bei all seinem Reiz so inhaltloses Gesicht gesehen zu haben ...

Später war sie noch einmal in seinen Gesichtskreis getreten. An einem Vormittag, als er seine Frau aus ihrem Atelier zu einer Matinee abholen wollte. Da hatte Martha mit dem blonden Mädchen in dem kleinen Extrazimmer gleich neben dem Korridor bei einer Flasche Chartreuse gesessen. Das Zimmer war voll von dem Qualm der schweren türkischen Zigaretten, die er nicht leiden mochte. Und in dem Augenblick, als er, offenbar unvermutet, hereinkam, hatte Martha ein blaues Foulardtuch über den kleinen Tisch geworfen – nicht schnell genug, als daß er nicht eine ganze Handvoll Schmucksachen auf dem Tisch hätte liegen gesehen. Er war mit einer Entschuldigung aus dem Zimmer gegangen, hatte drüben im Atelier mit der Direktrice gesprochen und nach kurzer Zeit die blonde Frau fortgehen sehen. Das alles lief jetzt in Sekundengeschwindigkeit durch sein Erinnern. Er wollte schon den Mund öffnen, um es vorzubringen, aber eine Schlaffheit, eine gefährliche Unlust, sich jetzt noch an seinen Dingen aktiv zu beteiligen, hielt ihn nieder. Er fühlte, daß er hätte sprechen müssen, aber er sprach nicht.

Und plötzlich aus dem Kampf zwischen Gleichgültigkeit und Lebenswillen wurde er aufgestört durch den Ruf: »Die Zeugin Minna Müller!«

Vorbei! stöhnte es in ihm, und eine kranke, selbstzerstörerische Befriedigung legte sich wie eine träge, ölige Schicht auf seinen Widerstand.

Eine nicht große, breitschultrige Frau trat mit unsicherem Gang vor den Richtertisch. Als sie den Mund öffnete, um den Eid zu leisten, klang ihre Stimme, als klopfe jemand mit hartem Holz auf Blech.

»Fräulein Müller, Sie wissen, um was es sich handelt. Es geht hier um ein Menschenleben. Sie sind jahrelang mit der getöteten Frau nicht nur bekannt, Sie sind, so darf man wohl sagen, ihre einzige und beste Freundin gewesen?«

»Ja«, sagte die Müller. Das Wort klang trocken und hart.

Der Vorsitzende, eindringlich, mit erhobenem Finger: »Aber gerade deshalb, Fräulein Zeugin, gerade weil Sie mit der Getöteten Jahre hindurch befreundet gewesen sind, weil Sie sie geliebt haben wie vielleicht kein anderer Mensch –«

Ein dumpfer Quallaut stöhnt durch den Saal. Die im Zuschauerraum reckten die Hälse. Kein Wort soll ihnen entgehen! Paulus van Geldern sitzt, die Hände auf den Knien, den Kopf ein wenig senkend, in stummer Erwartung.

»Gerade deshalb«, mahnte der Vorsitzende, »dürfen Sie sich in Ihrer Aussage in keiner Weise beirrenlassen, Fräulein Müller, müssen alles ausschalten, was vielleicht an Zorn, Verachtung oder Haß gegen den Angeklagten in Ihnen lebt ... denken Sie, Sie hätten ihn nie gekannt! Denken Sie, Sie sähen ihn hier zum erstenmal! Sie wüßten nicht, daß er es war, der Ihre Freundin ermordet –« (eine Sekundenpause) »ermordet haben soll! ... Und nun sagen Sie uns alles, was Sie wissen, sagen Sie die volle Wahrheit!«

Minna Müller holte tief Atem, bann erhob sie ihre kurzen, kräftigen Arme zu halber Höhe, wandte sich nach links, wo der Angeklagte saß, und rief, den Arm weit zu ihm hinüberreckend: »Er ist der Mörder!«

Kein Mensch bewegte sich, nur der Angeklagte hatte seinen Kopf erhoben und begegnete dem Blick dieser flackernden Augen, die von einem abgründigen, sinnlosen Haß erfüllt waren.

»Das dürfen Sie nicht sagen«, mahnte der Vorsitzende, »Sie sollen nur Ihre Beobachtungen mitteilen und alles angeben, was zur Erforschung der Wahrheit dienen kann.«

Da lachte Minna Müller. Es war ein gemeines, trotziges und freches Gelächter, daß es die Männer, die darum saßen, die Menschen vor und hinter der Schranke, kalt und schauerlich anwehte. Aber dann besann sich die Frau im grauen unmodernen langen Kleid, die ihre Kappe in der Hand trug, der das blondgraue Haar unordentlich um Kopf und Schläfen hing.

»Ich soll sagen, was ich weiß« – die Stimme blieb tonlos und blechern – »ich soll sagen, was ich weiß... ja, ich sage, was ich weiß«, und wieder die streckende, reckende Handbewegung ihrer kleinen eckigen Männerfaust: »Der da ist der Mörder!«

Hallmann schüttelte den Kopf.

»So geht's ja nicht, Fräulein Müller, Sie haben sich früher niemals mit einer solchen Bestimmtheit geäußert, daß der Angeschuldigte, Paulus van Geldern, die Tote ermordet hätte. Wollen Sie das, was Sie in der Voruntersuchung als möglich, als Vermutung ausgesagt haben, jetzt als feste, unumstößliche Tatsache hinstellen?«

Die Zeugin, als hätte sie die Worte des Richters überhört, antwortete nicht. Hallmann mußte seine Frage wiederholen.

Da hob sie den Kopf, daß ihre Augen die Decke trafen, und begann zu schreien und zu schluchzen. Unheimlich heulte sie ihre stumpfsinnige Anklage heraus: »Ja ... ja ... ja ... ja, er ist der Mörder!«

Keiner konnte sich diesem schrecklichen Eindruck entziehen. Auch der Vorsitzende nicht. Aber er mußte Ordnung in die Dinge bringen. Mit starker Stimme befahl er: »Erzählen Sie bitte genau, soweit Sie es wissen, was sich an dem Mordtage, am fünften Januar dieses Jahres, in der Villa Martha zugetragen hat.«

Minna Müller blickte ratlos um sich. Sie begriff offenbar nicht, was man von ihr wollte.

Noch einmal erläuterte ihr Hallmann seine Frage. Und nun fing sie zögernd, tastend, als sei alles lichtlos und finster um sie her, ihren Bericht an: Sie hatte vormittags geplättet. Und dann kam ihre Freundin ... kam Martha ... woher? ... wo die gewesen war ... nein, das wußte sie nicht mehr ... Martha hatte sich dann in dem Kissenzimmer hingelegt ...

»Aber van Geldern war doch inzwischen gekommen, Fräulein Müller? ... Und die Gatten hatten sich, wie wir hier gehört haben, ziemlich ausgiebig gestritten?«

Minna Müller schüttelte den Kopf und sagte: »Gestritten nicht, bloß so ... laut geredet ...«

Hallmann lächelte.

»Wie man es nennen will! ... Und dann hat sich Ihre Freundin hingelegt?«

»Ja ... und er ist weggegangen ...« und völlig abwesend, als blicke sie tief in sich selbst hinein: »... aber ist er denn wirklich ...?«

Sie wandte sich mit einer so plötzlichen Lebhaftigkeit an den Vorsitzenden, daß er ein wenig zusammenfuhr und sie nur kopfschüttelnd anblickte.

»Ist er denn wirklich weggegangen? ... Ich war in der Glasveranda, lag im Liegestuhl und habe gelesen. Ja ... geschlafen habe ich auch. Und als ich aufwache und will wieder das Buch vornehmen, da kriege ich mit einmal solchen furchtbaren Schreck, und mir ist, als wenn mich was ruft ... und renne rauf bis an die Tür von Marthas Zimmer und sehe sie liegen mit ... mit ...«

»Mit wem denn? Mit wem – – –?«

Und abermals, jetzt aber mit wütendem Kreischen ruft Minna Müller, die Faust gegen den Angeklagte vorstoßend: »Mit dem da! Mit dem!!«

Und ehe man sich's versieht, hat sie mit der Rechten in die Tasche ihres langen Rockes gegriffen, ein großes Schlüsselbund hervorgeholt und es ausheulend gegen van Gelderns Gesicht geschleudert.

Einen Augenblick schien es, als wollte sich der große Mann auf die Zeugin stürzen. Aber die beiden Schupos an seiner rechten und linken Seite hatten nicht nötig, sich zu erheben. Der Angeklagte zitterte nicht einmal mit der Hand, als er nun das Schlüsselbund aufnahm und es seinem Anwalt reichte.

Die im Weinkrampf Zuckende führte der Justizwachtmeister auf der einen und Doktor Meyer (der heute der Verhandlung beiwohnte) auf der anderen Seite zu einem Stuhl am Fenster. Aber sie hatte nur wenige Sekunden dort gesessen, da beruhigten sich ihre heftigen Atemstöße, sie trat wieder an das Eidespult. Sie sprach auch jetzt ruhiger.

In all den Krankheitsnächten, die sie durchlebt und durchlitten, hatte sich ihre Seele immer mehr hineingebohrt in die Erinnerung an jene entsetzlichen Stunden. Und wenn es ihr zuerst noch unklar gewesen wäre, wenn sie immer wieder daran gedacht hätte, daß ihre Aussage vielleicht einen Unschuldigen aufs Schafott bringen würde, jetzt, in ihrer letzten Krankheit, sei es ihr sonnenklar geworden, da hätte sie nicht bloß das Bild in dem dämmrigen Zimmer, nicht allein ihre Freundin deutlich erkannt – nein, auch den Mann, der bei ihr war, habe sie deutlich gesehen! Das war Paulus van Geldern!

Und alle Vorhaltungen des Landgerichtsdirektors, das beharrliche Zureden des Staatsanwalts, der jetzt ganz die Rolle des Anklägers aufgab und so sehr zum Verteidiger wurde, daß für Doktor Vierklee fast nichts zu tun übrig blieb – alle die ernsten und guten Ermahnungen brachten die Zeugin Minna Müller nicht davon ab, daß sie am 5. Januar mittags um vier Uhr in jenem Kissenzimmer ihre Freundin Martha Streckaus neben dem Angeklagten Paulus van Geldern habe liegen sehen.

»Bitte, setzen Sie sich!« sagte Hallmann. Aber er mußte seine Mahnung einige Male wiederholen, ehe die Zeugin seufzend ihren Platz verließ.

Der Vorsitzende wandte sich nach rechts und links, sprach leise mit den Beisitzern und Geschworenen und sagte dann, sich erhebend: »Ich halte es für richtig, wenn wir dieser Vernehmung sofort den Lokaltermin folgen lassen. Herr Justizwachtmeister, sorgen Sie für genügend Autos! Wir sind«, er blickte prüfend umher, »zehn oder zwölf Personen.«


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