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6

Die Gerichtsuhr schlug neun hohe, klingende Schläge, als Landgerichtsdirektor Hallmann die Verhandlung wieder eröffnete.

»Die Zeugin Minna Müller!«

Der Beamte im grüngrauen Rock kam nach vorn, an den Richtertisch:

»Fräulein Müller hat diesen Zettel geschickt!«

Er gab dem Vorsitzenden ein offenes Kuvert, aus dem Herr Hallmann ein mit wenigen Zeilen beschriebenes Briefblatt zog:

»Bin totkrank, kann nicht kommen. Minna Müller.«

»'ne lapidare Ausdrucksweise hat die Frau«, nickte Hallmann grimmig, »das Gericht wird beschließen ...«

Und nachdem es beschlossen hatte:

»Herr Justizwachtmeister! ... Es werden sofort zwei Beamte in die Wohnung der Müller geschickt! Sie ist unentschuldigt an Gerichtsstelle nicht erschienen, obwohl ihr die Wichtigkeit ihrer Zeugenaussage durchaus bekannt sein muß. Sie wird daher, falls nicht eine sichtbare Krankheit vorhanden ist, zwangsweise vorgeführt ... und das sofort!«

Er wandte sich zu dem Landrichter Schnellpfeffer, sprach leise mit ihm und rief dann:

»Ja, richtig: die beiden Kinder Mutmann und Berber ... Sie müssen sie oben aus dem Pflegschaftsbüro holen von Fräulein Doktor Rosalia ...«, und erklärend fügte er hinzu: »Es schien uns richtiger, die Kinder nicht in den Zeugenraum zu lassen. Bei Fräulein Rosalia sind sie jedenfalls besser aufgehoben!«

Doktor Vierklee sprach leise mit Paulus van Geldern:

»Die beiden Kinder werden Sie mit Bestimmtheit agnoszieren! Die kleine Alla Berber schildert den Mann, den sie und die Freundin in Ihr Haus haben treten sehen, mit einer so eindringlichen Deutlichkeit, daß gar kein Zweifel ist: sie muß entweder Sie selbst – entweder, sage ich, muß das Kind Sie selbst gesehen haben, oder man hat den Kleinen auf der Polizei Ihr Bild gezeigt ... und das nehm' ich an! ... denn die Rose Mutmann sagt genau ebenso aus ... da kommen sie schon!«

Vierklee trat beiseite, und Paulus blieb ohne das geringste Anzeichen innerer Erregung auf seinem Stuhl sitzen.

Er sah sich die beiden kleinen Mädchen an, als sie bei ihm vorübergingen und ihn, ängstliche Neugierde auf den zarten Gesichtern, rasch anguckten.

Der Vorsitzende rief zuerst die kleine Berber an den Richtertisch, Rose Mutmann verließ mit der Pflegerin während Allas Vernehmung den Gerichtssaal.

»Also, mein liebes Kind«, es fiel ihm nicht schwer, wie ein Vater zu sprechen, »kannst du dich an den Tag im Januar erinnern, wo der Mord an der Frau Martha van Geldern passierte?«

Die Blonde nickte eifrig.

»Wie kommt denn das? Du bist doch erst elf Jahre alt, nicht wahr? Kannst du dich denn so lange zurückerinnern?«

Die Kleine, offenbar sehr intelligent, nickte wieder lebhaft: »Doch, Herr Vorsitzender. Am fünften Januar ist ja der Geburtstag von meinem Bruder. Und außerdem war es ein Sonnabend. Wir hatten Kälteferien und waren zu Hause. Das heißt, meine Freundin Rose und ich, wir fuhren mit dem Rodelschlitten die Philanderstraße rauf, um die Ecke in die Quintenallee hinein. Da ist gleich das zweite Haus Nummer siebzehn. Und wie wir da vorbeifahren, hält ein Auto, und da stieg ein Herr aus ...«

»Ein junger Herr?«

»Ja!«

»Und groß?«

»Ja, ziemlich groß!«

»War er blond?«

»Nein ... er hatte schwarzes Haar ... sehr dunkles ...«

»Das sahst du? Das hast du selber genau gesehen? Oder hat man es dir nur erzählt? ... Hat dich vielleicht jemand gefragt? ... Zum Beispiel so: ›Hast du gesehen, Alla, ob am Nachmittag um vier eine Droschke vor dem Hause Quintenallee siebzehn vorgefahren und ein Mann ausgestiegen ist, der so und so aussah?‹«

»Nein, Herr Vorsitzender, so war es nicht. Der Herr Reinert, der bei uns im Hause wohnt, der hat mich gefragt, und dem habe ich es erzählt. Und der hat es denn angezeigt.«

»Was denn? Was denn? Was hat er angezeigt?«

»Na, daß ich den Herrn gesehen habe um vier Uhr!«

Ein kleines Lächeln erschien auf dem Gesicht des Vorsitzenden. Zu seinen Beisitzern und den Geschworenen gewendet, sprach er, ohne den Unterton von Triumph in seiner Stimme verbergen zu können:

»Hier ist nun ein bißchen so was wie der Finger Gottes im Spiel gewesen! Der Herr Reinert, der in demselben Hause mit der kleinen Alla Berber wohnt, ist nämlich Detektiv. Wir werden ihn nachher wohl auch noch vernehmen. Und in dieser Eigenschaft hat Herr Reinert gearbeitet oder arbeitet noch für – den Angeklagten ...! Nun, liebe Alla, du wirst dich vielleicht auch entsinnen können, ob es an dem Sonnabend damals im Januar noch hell oder schon dunkel war?«

»Es war noch hell, Herr Vorsitzender, man konnte die Menschen gut erkennen. Und ich habe außerdem vorzügliche Augen.«

Herr Hallmann lächelte:

»Bist du auch so vorzüglich in der Schule?«

Die Kleine senkte ihren schönen Kopf und wurde rot: »Nein, Herr Vorsitzender. Mir fällt es schwer, aufmerksam zu sein.«

»Du bist es doch aber sonst ... zum Beispiel hier in diesem Fall, auf der Straße, da mußt du doch sehr aufgepaßt haben!«

»Ja, das interessierte mich!«

»Wieso? Wußtest du, wer in dem Hause Quintenallee siebzehn wohnt?«

»Ja, Herr Vorsitzender!«

»Habt Ihr vielleicht über die Familie van Geldern gesprochen?«

»Ich kannte Herrn Rechtsanwalt van Geldern!«

»Näher?«

»Nein ... mein Vater hat mal durch einen Prozeß mit ihm zu tun gehabt, und da grüßten sich meine Eltern mit ihm.«

»Mit Frau van Geldern auch?«

Die Blonde zögerte. Endlich schüttelte sie den Kopf.

»Hm ... hm... über die Tote, die, wie du weißt, ermordet worden ist, ist in eurem Elternhaus gesprochen worden?«

Alla nickte.

»Aber nicht in sehr günstiger Weise?«

Zaghaft leise kam ein »Nein« von den Lippen des Kindes.

»Wie bist du nun mit dem Detektiv Reinert bekannt geworden?«

»Herr Reinert kennt meinen Papa auch. Ich weiß nicht, woher. Und eines Tages, da kam er zu uns und fragte, grade wie Sie, ob ich mich nicht daran erinnerte.«

»An den fünften Januar?«

»Ja!«

»Schön, mein Kind. Die Zeugin Rose Mutmann!«

»Einen Augenblick noch, Herr Vorsitzender«, bat Vierklee. »Darf ich ein paar Fragen stellen?«

»Bitte sehr, Herr Rechtsanwalt!«

Der Anwalt wandte sich an die kleine Zeugin:

»Du sagtest doch, Alla, daß du den Herrn Rechtsanwalt nur wenige Male gesehen hast?«

»Gesehen habe ich ihn öfter!«

»Aber gesprochen hast du ihn gar nicht? ... Sage mal, wie, von welcher Seite, kam denn das Auto, in dem der angebliche Herr van Geldern gesessen hat?«

»Wir kamen aus der Philanderstraße, aber das Auto kam von der anderen Seite.«

»Hm ... und es fuhr, wie gewöhnlich, rechts? ... Aber das Haus, wo es vorfuhr, also Quintenallee siebzehn, das liegt doch auch rechts, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Rechtsanwalt!«

»Und wo standest du und deine Freundin?«

»Drüben auf der anderen Seite!«

»Also gegenüber von dem Hause Nummer siebzehn, wo Herr van Geldern wohnt?«

»Ja ...«

»Du hast aber eben gesagt, das Auto fuhr direkt vorm Haus vor. Also standet ihr beiden kleinen Mädchen doch sozusagen hinter dem Auto! Wie konntest du nun sehen, daß der Herr auf der anderen Seite die Tür öffnete und dann doch offenbar mit dem Gesicht nach dem Hause zu die wenigen Schritte bis zum Gittertor ging?«

Ein spitzbübisches Lächeln flog um den Mund der Kleinen:

»Der Herr ist nicht nach der Seite der Villa ausgestiegen, er hat auf unserer Seite die Tür aufgemacht und sah uns an ... besonders mich! So daß ich schon dachte, er wollte etwas von mir. Und dann ging er vorn um das Auto herum in die Villa rein.«

»Und es war noch so hell, daß du ihn gut erkennen konntest?«

»Die Laternen brannten ja noch nicht. Und die werden bei uns immer sehr früh angesteckt ... Es war überhaupt ein heller Tag ... kalt, aber fortwährend Sonne.«

Kopfschüttelnd fragte Vierklee:

»Und so genau weißt du das alles noch? ... Ich muß gestehen, ich könnte mich nach so langer Zeit auf solche Einzelheiten nie besinnen. Aber nicht wahr, das ist ja alles nachher auf der Polizei und vielleicht auch bei euch zu Hause durchgesprochen worden?«

Das Mädelchen, für sein Alter schon recht entwickelt, nickte altklug.

»Auf der Polizei auch?« fragte der Anwalt nochmal.

»Ja. Die Frau Kriminalrätin, die uns vernommen hat, die sagte: sie müßte das doch ganz genau feststellen!«

»So. Ich danke dir. Ich habe keine Frage mehr an die Zeugin, Herr Vorsitzender.«

Während Alla Berber zurückging und sich auf der Zeugenbank neben Fräulein Doktor Rosalia niederließ, öffnete sich die Tür des Schwurgerichtssaals, und die beiden Schupowachtmeister, die Hallmann zu der erkrankten Minna Müller gesandt hatte, traten militärisch grüßend herein. Der eine baute sich an der Tür auf, während sein Kamerad festen Schritts vor den Richtertisch trat:

»Meldung. Mein Kamerad und ich haben das Fräulein Müller aufgesucht und sie im Bett angetroffen. Sie hat sich vergiftet. Der Arzt war da. Aber sie war ohne Bewußtsein. Der Doktor will gleich herkommen und Herrn Vorsitzenden Meldung abstatten.«

Hallmann winkte dem Schupo, der grüßend zurücktrat. Dann sagte er, vor sich niedersehend, leise, aber doch hörbar:

»Das ist das zweite Opfer!«

Doktor Vierklee stand auf, schien auf diese Bemerkung heftig erwidern zu wollen, überlegte es sich dann aber und sagte nur:

»Die Verteidigung bedauert außerordentlich, daß grade diese Hauptzeugin der Staatsanwaltschaft vorläufig nicht vernommen werden kann.«

»Nun, es steht zu hoffen, daß ... wir die Zeugin doch noch hören werden ... derartige Vergiftungen brauchen ja nicht immer tödlich zu sein!«


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