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Der Tausendmarkschein hatte Heinz Marquardt zu einem ganz anderen Menschen gemacht.

Er war imstande, sich anständig zu ernähren, und seine an sich kräftige Natur und der unbeugsame Wille, gesund zu sein und alle seine Kräfte gebrauchen zu können, ließ ihn rapide wohler werden.

Trotzdem blieb er sparsam, nur auf seinen Anzug verwandte er Geld und Sorgfalt.

Eines Abends ging er zu Hilde Boras.

Die schöne Demimondaine hatte ihren Empfangsabend; die luxuriös eingerichteten Räume der großen Wohnung waren voller Gäste. Heinz Marquardt fühlte sich anfänglich recht befangen. Aber er fand seine Sicherheit sofort wieder, als die »Baronesse«, wie sie allenthalben genannt wurde, auf ihn zukam, sich an seinen Arm hing und ihn mehreren Kavalieren als ihren Freund vorstellte.

Egon Graf v. Sarwald, der sich auch gerade in dieser Gruppe befand, lächelte bei dieser Vorstellung fein, dann aber trat er als erster hervor, streckte dem Ankömmling seine kräftige Rechte entgegen und gab so den anderen Herren das Zeichen, den neuen Gast als einen der ihrigen anzuerkennen.

Hilda war schon wieder davon, um andere Gäste zu bewillkommen. Eben empfing sie einen jungen blonden Herrn mit guter Taille und kleinem Schnurrbärtchen, in dem Heinz, trotzdem er nicht in Uniform war, den Polizeileutnant Runkel erkannte, der in jener schweren Nachtstunde der erste war, der seinem toten Weibe in das bleiche Antlitz gesehen hatte.

Hilda, die schon mit dem Leutnant darüber gesprochen zu haben schien, brachte ihn sofort zu Heinz.

»Ein guter Bekannter,« sagte sie, »der sich freut, Sie wiederzusehen, Herr Marquardt! ... Halten Sie sich den fest!« raunte sie ihm noch zu, ehe sie wieder von dannen eilte, »er kann Ihnen sehr nützlich sein!«

»Und das wird er auch gern tun!« lächelte der Polizeileutnant, dessen feines Ohr die Worte Hildas aufgefangen hatte, die heute in einem tief dekolletierten Kleide aus klarweißem Samt mit silbernen Knöpfen und einer wundervollen Kette von Türkisen und dem entblößten Nacken göttlich schön war.

»Aber was kann ich für Sie tun?« fragte der Leutnant etwas zerstreut, da sein Auge von der blendenden Erscheinung nicht loskam.

Er lispelte ein ganz klein wenig, was ihm übrigens bei seiner sehr vorsichtigen, gut erzogenen Art, sich zu geben, nicht übel anstand, und da er außerdem sehr gedämpft sprach, so hatte ihn Heinz Marquardt nicht sogleich begriffen.

Der neigte lauschend den Kopf und der Leutnant wiederholte die Frage. Aber in diesem Augenblick trat Graf Sarwald hinzu.

»Haben Sie denn nun Ihre nächtlichen Fahrten aufgegeben, lieber Freund?« fragte der Graf.

Heinz Marquardt schüttelte den Kopf.

»Nicht eher, Herr Graf, als bis ich den Mörder meiner Frau gefunden habe.«

»Sie meinen, die Polizei fängt 'n doch nicht! ... Pardon, lieber Herr Leutnant, aber Sie sind ja nicht Kriminalist!«

Der lachte.

»Trotzdem haben unsere Leute den Herrn hier neulich doch herausgehauen, nicht wahr?«

»O, da hab' ich auch geholfen!« versicherte der Graf, ebenfalls heiter, »ich glaube, ich würde einen ganz guten Kommissar abgeben! ... Aber ich will Sie beide nicht stören!«

Aber auch der Polizeileutnant verließ Marquardt gleich darauf, als bekannte Herren ihn anriefen, und Heinz begann sich recht einsam zu fühlen. Er sah auch nicht, wie er seinem Zweck hier nützen sollte. Und er, dem jede Stunde verloren schien, in der er nicht seinem Ziele dienen konnte, verlor allmählich jede Lust, unter diesen Menschen länger zu verweilen. Er versuchte, noch Hilda Adieu zu sagen, sah diese aber in so angelegentlichem Gespräch, daß er ihr lästig zu fallen fürchtete. Deshalb ging er still hinaus und ließ sich vom Diener Hut und Paletot geben. Er wollte eben gehen, als der Polizeileutnant ebenfalls auf die Diele hinaustrat.

»Sie gehen auch schon? Das is ja nett! Da könn' wir am Ende ein Stück Weges gemeinsam wandern! Ich habe keine Zeit mehr ... muß zum Dienst!«

Heinz verbeugte sich. Die beiden Männer traten auf die Straße.

Indem kam ein hochgewachsener Mensch an sie heran, der nicht besonders gut gekleidet war, und fragte:

»Ach Sie entschuldigen, wohnt hier in diesem Hause nicht ein Fräulein Boras?«

Er wandte sich mit dieser Frage an Marquardt, und da er so stand, daß das Licht der Straßenlaterne voll auf sein Gesicht fiel, konnte Marquardt ihn genau erkennen.

Sehr blaß war dieses Gesicht, und das schwarze Haar, das der Unbekannte ziemlich lang trug, schien sich in einem nicht sonderlich gepflegten Vollbart fortzusetzen. Die dunklen Augen hatten etwas glanzlos Totes.

Heinz Marquardt war es, als hätte er diesen Mann schon einmal gesehen ... oder ein Bild von ihm ... oder ... ja, ja, jetzt hatte er's, das war der Mensch, von dem ihm die schöne Frau dort oben gesprochen hatte – es war Hildas Bruder.

»Na, Sie wissen es wohl auch nicht?« fragte der Mann jetzt wieder.

»Doch,« sagte Marquardt, während der Leutnant abwartend still schwieg, »doch, Fräulein Boras wohnt hier! ...«

»Ob man da wohl noch reinkommt? ... Ich müßte die Dame möglichst heute noch sprechen ... sie scheint ja noch auf zu sein«, setzte er, nach den erleuchteten Fenstern hinaufsehend, hinzu.

»Vielleicht kommt ein Wächter«, meinte Marquardt und wandte sich zum Gehen.

»Komischer Kauz!« meinte der Leutnant, als sie ein Ende fort waren.

»Ja«, sagte Marquardt, aber von seiner Entdeckung verriet er nichts.

»Ich will Sie«, sagte der Leutnant, während die beiden jungen Männer weitergingen, »mal in eine Kneipe führen, die von der Polizei sozusagen nur von ferne observiert wird. Es liegt den Herren vom Alexanderplatz daran, gewisse Orte ganz freizulassen von Razzien und Streifen. Die Leute von der Zunft sollen aber denken, daß sie da ganz ungestört sind und daß die ›Polente‹ keine Ahnung hat vom Vorhandensein dieser Zufluchtsstätten.«

Er ging plötzlich dichter an Heinz Marquardt heran und sagte leise:

»Sehen Sie das Frauenzimmer, was uns da fortwährend verfolgt? ... Kennen Sie sie vielleicht?«

Marquardt der sich rasch umdrehte, ging dann sofort weiter und meinte ebenso leise:

»Ja, die kenn' ich! ... Sie hat da im Hause gewohnt und mir in der Nacht den Weg zum Arzt gezeigt.«

Er hielt inne, seine Seele trauerte wieder um den unersetzlichen Verlust, den er da erlitten hatte.

»Na, und was will sie jetzt von Ihnen?«

Marquardt zuckte die Achseln.

»Was weiß ich! ... Sie hat mich später immer wieder zu sprechen gesucht und mir eines Tages ganz unglaubliche Geschichten erzählt von einem Menschen, mit dem meine arme Trude vor unserer Ehe ein Verhältnis gehabt haben soll, und lauter solchen Blödsinn!«

»Wie?« fragte der Polizeileutnant, »Ihre Gattin? ... Mit wem denn?«

»Na, das is ja eben das Tollste! ... Mit einem notorischen Verbrecher, einem Zuhälter, der befreundet war mit dem Geliebten, den sie, die Augst, selbst früher gehabt hat ...«

»Ach, dann ist das wohl die, die auf dem Kirchhof die große Schauerszene gemimt hat?«

Marquardt nickte halblachend.

»Ja, die! ... Wenn das nicht voraufgegangen wäre, das mit meiner Frau und dem angeblichen Verhältnis, dann hätt' ich natürlich auch daran geglaubt ... aber so ... Das ist einfach 'ne hysterische Person.«

Indem hörte er raschere Schritte hinter sich, blickte sich um und sah, schon ganz in der Nähe, Ernestine Augst, die ihm zurief:

»Herr Marquardt! ... Ach bitte, ein'n Augenblick!«

Heinz Marquardt ging ruhig weiter.

Aber Leutnant Runkel redete ihm zu:

»Man soll in solchem Falle nichts ganz von der Hand weisen! ... Sie können ja gar nicht wissen, vielleicht hat sie Ihnen doch was zu sagen, was wichtig für Sie ist ... warten Sie doch mal, schaden kann es doch auf keinen Fall!«

»Ach!« machte Marquardt, aber er blieb stehen.

»Was denn?« fragte er nun das herantretende Mädchen.

Die sah auf den Polizeileutnant, aber Heinz meinte:

»Sie können ruhig sprechen, vor dem Herrn hab' ich keine Geheimnisse!«

»Nein?« ... Sie holte tief Atem. »Na meinswegen! ... Sie haben doch eben, wie Sie da drieben vor dies Haus jestanden haben, mit eenen gesprochen, wissen Sie, wer dis war?«

Marquardt antwortete nicht. Er lächelte nur verächtlich. Das kränkte die Augst.

»Na, mir kann's ja ejal sein! ... Aber wenn Se schon mal den Menschen nachloofen, der Ihre arme Frau dodjemacht hat, denn müßten Se doch allens tun, wat Se können, damit Se 'n kriegen! ... Un denn müssen Se ooch heeren, wenn Ihn' eena wat sagt!«

Ihre Stimme wurde ganz weinerlich.

»Das Fräulein hat gar nicht so unrecht!« unterbrach der Leutnant jetzt den Redestrom der Aufgeregten.

»Woll, woll.« Ernestine schien sehr erfreut, in dem Leutnant jemand gefunden zu haben, der, was sie sagte, ernst nahm.

Aber Marquardt schwieg still.

»Un wenn er's ooch zehnmal nich jlaubt, darum is et doch wa': Der, mit den Sie da eben jesprochen ham, det wa' der! ... Der frühere Bräut'jam von Frau Marquardt!«

Heinz tippte sich mit drei Fingern an die Stirn.

Der Leutnant aber nickte zustimmend. Dann redete er abermals leise mit Heinz Marquardt:

»Ich weiß nicht, warum Sie sich dagegen so sträuben, lieber Freund?! ... Das alles läßt doch nicht den geringsten Vorwurf für Ihre Frau zu! ... Was wollen Sie denn? ... Sie werden doch hoffentlich nicht zu den Dummköpfen von Männern gehören, die von ihren Frauen verlangen, daß diese armen Geschöpfe vor ihrer Ehe keinen Mann angesehen, geschweige denn gar irgendeinem mal 'n Kuß gegeben haben sollen! Die Hauptsache ist doch, daß eine Frau in ihrer Ehe treu ist, na, und daran zweifelt doch in Ihrem Falle kein Mensch!«

»Wie soll denn der Kerl dann zu ihr reingekommen sein?« fragte Marquardt mit dumpfer Stimme, in der Schmerz und Zorn klangen.

Der Leutnant zuckte die Achseln:

»Dafür gibt es tausend Erklärungen! ... Wissen Sie denn nicht, wie dieser Mensch heißt?« wandte er sich an das Mädchen, das, während die beiden Männer miteinander sprachen, kein Auge von Heinz Marquardt gelassen hatte.

»Nee,« das Mädchen starrte vor sich auf den Lichtschein der Laterne, »nich mal uff den Spitznamen kann ick mir besinnen, un den hab' ick doch so ofte jeheert! ... Mit 'n Vornamen hieß er Erwin, det weeß ick ... aba wie weiter? ... Hm, ick besinne mir immerzu ...«

Von den drei Menschen, die da im Schein einer Straßenlaterne in der schweigsamen Nacht auf der Straße standen, war der eine zusammengezuckt bei der Nennung dieses Namens, als habe er einen starken elektrischen Schlag erhalten. Aber er faßte sich sofort wieder: weder das Mädchen noch der Leutnant sollten merken, was jetzt in ihm vorging!

In seinem Geiste war plötzlich ein Lichtstrahl aufgeflammt, ein Lichtstrahl, den er den Worten dieses einfachen Geschöpfes verdankte, das ihn liebte, ohne es vielleicht zu wissen, und das, um ihm zu helfen, seine Existenz und vielleicht sein Leben aufs Spiel setzte.

Aber in Heinz Marquardts Herzen gab es nichts von Dankbarkeit. Der Egoismus seiner Rache kannte keine Grenzen! Er, er ganz allein wollte den Mörder finden! ...

So verabschiedete er das Mädchen mit den Worten:

»Ich hab's ja gleich gesagt, daß das alles Unsinn ist. Meiner Ansicht nach ist der Mörder an einer ganz anderen Stelle zu suchen! ... Und da wer' ich'n auch finden, ohne daß mir andere Leute fortwährend ihre Hilfe aufdrängen!«

Der Leutnant bezog den letzten Satz auch auf sich. Und mit einer rein menschlichen Höflichkeit, die ihm gut stand, wandte er sich an die Ausgestoßene und sagte:

»Ich glaube, mein Fräulein, Sie bemühen sich umsonst! Herr Marquardt hat offenbar andere Ideen und ist nicht zu überzeugen. Sie haben jedenfalls Ihre Pflicht und mehr als Ihre Pflicht getan ... adieu!«

Er reichte ihr die im weißen Lederhandschuh steckende Rechte und zauberte damit ein Lächeln der Freude auf das verschminkte Gesicht.

Alsdann wandte er sich an Marquardt:

»Sie erlauben wohl, daß ich mich jetzt nach Hause begebe ... Ich habe morgen früh Dienst und bin recht müde!«

Marquardt aber gab er nicht die Hand, er verbeugte sich nur leicht und ging mit schnellen Schritten davon.

Das hatte Heinz doch nicht gewollt! Einen Augenblick war er willens, dem Leutnant nachzugehen, ihn zurückzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen ... Aber dann hätte er ihm auch sagen müssen, was ihm selber jetzt auf einmal ganz klar geworden war ... nein, nein, allein, ganz ohne jede Beihilfe wollte er den Mörder fangen! ... Mochten sie von ihm denken, was sie wollten!

So ging er ganz langsam mit kleinen Schritten in derselben Richtung wie Leutnant Runkel, indes Ernestine Augst sich nach der anderen Seite entfernte.

An der nächsten Querstraße bog Heinz Marquardt um die Ecke, und nun rannte er, wie gesagt, auf Umwegen zurück nach der Maaßenstraße 87.

Aber die Fenster im Hochparterre waren alle dunkel ...

Und jetzt, wie er darüber nachdachte, ward es ihm auch klar, daß es gar keinen Zweck haben würde, da noch einmal hinaufzugehen ... Wenn wirklich alles stimmte, und wenn seine Vermutungen sich als zutreffend erwiesen, so würde er da oben am wenigsten ihre Bestätigung erhalten!

Er ging vor dem Hause auf und nieder, warten wollte er jedenfalls! Es konnte ja doch sein, daß dieser Mensch hinaufgegangen wäre und wieder herunterkäme. –

 

Alfred Maaß saß noch immer in seiner Zelle. Allmählich hatte sich seiner eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt. Und mehr und mehr erkannte er die Gefahr, in der er schwebte.

Er kam sich vor wie ein Schachspieler, der durch irgendeinen unglücklichen Zug, über den er sich noch nicht einmal klar werden kann, in eine so ungünstige Position gebracht wird, daß er nun Stein auf Stein einbüßt, ohne sich mit aller Klugheit und Schlagfertigkeit dagegen wehren zu können.

Den Brief, der da im Tischkasten der Ermordeten gefunden worden war, sollte er geschrieben haben. Oder vielmehr, es war gar kein richtiger Brief, ein Zettel nur, ein abgerissenes Stück Papier, auf dem etwa die Worte standen:

ch noch so viele Zeit darüber hingegan-
t, denke ich doch noch immer an Dich!
ch! kann auch nicht glauben, daß Du
mehr liebst! Schreibe doch eine Zeile
ser. Ich danke Dir auch für
Die

Die fehlenden Worte und Silben, sowie Schluß und Anfang waren abgerissen. Das Stück Papier war fettig und schmutzig, es war nicht einmal festzustellen, ob der Brief älteren oder neueren Datums war.

Das einzige, was festgestellt wurde, war, daß Maaß ihn geschrieben haben sollte. Zwei Schreibsachverständige, die ihre Theorien auf besondere und diametral entgegengesetzte Systeme aufbauten, bekundeten unter ihrem Eide, die Handschrift auf dem Brieffragment sei zweifellos mit der von Maaß identisch, niemand anders wie er habe den Brief geschrieben ...

Und dann waren die anderen Sachverständigen gekommen. Zuerst Herr Professor Wunderlich, der das Blut an den Manschetten, die Alfred Maaß damals getragen hatte, als Menschenblut diagnostizierte. Der arme Junge hatte es nie in Abrede gestellt, daß es Menschenblut, und zwar Blut aus seiner eigenen Nase sein könnte, das an den Manschettenrändern klebte. Aber das glaubte ihm niemand!

Ferner käme die Tinte, die zu dem Brieffragment benutzt worden wäre, in Betracht. Diese sei zwar nur eine einfache Eisengallustinte, wie sie in Hunderttausenden von Fällen gekauft und verbraucht würde; immerhin aber habe sich in Maaßens Wohnung ein solches Fläschchen Eisengallustinte vorgefunden.

Konnte man ihn daraufhin verurteilen? Maaß dachte hin und her und dabei schüttelte ihn ein fortwährendes Fieber, als der Aufseher eintrat, um ihn vorzuführen.

Auf dem Gange ergriff Maaß plötzlich ein solcher Lebensüberdruß, ein so fürchterlicher Widerwillen gegen dieses zwischen Furcht und zager Hoffnung hin und her schwankende Dasein, daß er zur Seite sprang und den Fuß über das eiserne Geländer der Galerie schwang, um sich hinabzustürzen in den Keller.

Aber sofort sprangen der Kalfaktor und der Aufseher hinzu, packten ihn und rissen ihn zurück. Dann führten sie ihn, unsanft seine Arme drückend, bis ans Untersuchungsgefängnis, wo der Aufseher dem Beamten, der Maaß dort in Empfang nahm, Rapport über den Selbstmordversuch des Angeschuldigten erstattete.

Das war ein neues Verdachtsmoment in den Augen des Richters! Alfred Maaß sah das an den Gesichtern der Beamten, und sobald der Untersuchungsrichter, dem er heute sofort vorgeführt wurde, davon hörte, sagte er, die Schnurrbartspitzen zwischen seine dürren Lippen nehmend:

»Sie werden ja wissen, weswegen Sie sich Ihrem irdischen Richter entziehen wollen, Maaß! Übrigens wird man Ihnen das für die Folge unmöglich machen! Jetzt stellen Sie sich einmal hierher! ... Nein hier!«

Dr. Birckner deutete auf einen Platz in der Mitte des Gemaches, der vom prallen Licht der Vormittagssonne getroffen wurde.

Alfred Maaß tat fast willenlos, was ihm geheißen wurde, aber er blinzelte.

»Verstellen Sie Ihre Gesichtszüge nicht!« herrschte ihn der Untersuchungsrichter grob an, »das nützt Ihnen doch nichts!«

Maaß wußte gar nicht, was der Mann von ihm wollte.

»Wenden Sie das Gesicht nach rechts! ... So!«

Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür, der Maaß sein Gesicht zukehrte und die – das bemerkte Maaß jetzt erst – in Mannshöhe ein kleines Guckloch hatte.

Ein älterer Mann trat ins Zimmer.

Wie Maaß diesen Menschen erblickte, faßte er mit den Händen in die leere Luft, als suche er nach einem Stützpunkt ... Wie Riesenschatten flog es plötzlich durchs Zimmer, die sich zu einer schwarzen Wolke verdichteten, und die Wolke sank über Maaß hin – er verlor das Bewußtsein.

Der Transporteur, der an der Tür Wache hielt, sprang schnell hinzu. Aber er kam zu spät, Maaß stürzte, dumpf aufschlagend, zu Boden.

Doch kam er, nachdem man ihm ein wenig Wasser zwischen die Lippen goß, bald wieder zum Bewußtsein.

Er stand von dem Stuhl, auf den man ihn gesetzt hatte, auf, ging schwankend einige Schritte vorwärts und brach in heftiges Weinen aus.

So bot er ganz das Bild eines von seinem Schuldbewußtsein zu Boden gedrückten Mannes.

Dem Richter entging sein Vorteil nicht:

»Also lassen Sie es jetzt genug sein, Maaß! Sie sehen, alles Leugnen hilft Ihnen nicht! ... Durch die Aussage dieses Herrn« – er zeigte auf den eben ins Zimmer Getretenen, der seiner Kleidung nach ein kleiner Handwerker zu sein schien – »sind Sie einfach überführt! ... Erleichtern Sie Ihr Gewissen, und legen Sie ein offenes Geständnis ab!«

»Ja,« sagte Maaß, der seine Nerven, wie durch ein Wunder, mit einem Schlage völlig wieder in der Gewalt hatte, »ja, Herr Untersuchungsrichter, das will ich tun:

Ich bekenne jetzt, daß ich an dem betreffenden Nachmittag wirklich in der Koloniestraße gewesen bin. Als ich aus unserem Bureau fortgerannt war, überkam mich die Sehnsucht nach der Trude so, daß ich nicht anders konnte, als hinzugehen. Ich bin dann wohl eine Stunde dort auf und ab patrouilliert, habe sie aber nicht zu seh'n jekriegt. – Dann bin ich wieder zurückgegangen und um fünf in unserer Stammkneipe in der Steglitzer Straße gewesen ... na, und das übrige, das wissen Sie ja schon, Herr Untersuchungsrichter! ...«

Auf Alfred Maaß' Gesicht war nichts als Ruhe und Klarheit.

Dr. Birckner dagegen sah förmlich grün aus vor Ärger:

»Also das ist Ihr Geständnis?! ... 'n schöner Held sind Sie! ... Weil es uns jetzt endlich gelungen ist, in Herrn Schuhmachermeister Hendler den Zeugen zu finden, der einwandsfrei bekundet, daß Sie in der fraglichen Zeit doch in der Koloniestraße gewesen sind, da schwenken Sie rasch um und geben zu, daß Sie wirklich dort waren! ... Das is ja sehr freundlich von Ihnen, sehr freundlich! ... Aber natürlich, nur auf der Straße sind Sie dort gewesen!! Ins Haus gegangen, beileibe nicht! Und gemordet – wer könnte Ihnen sowas wohl zutrauen, Sie Unschuldsengel, Sie! ... Ja, ja, mein Lieber, wenn Herr Hendler nicht zufällig mal Ihre Stiefel gemacht hätte und nachher dort hinaus nach Norden gezogen wäre, dann wär's Ihnen vielleicht auch geglückt, uns noch immer weiter ein X für ein U vorzumachen! ... Aber so ... na, nu machen Se sich man bereit! ... Jetzt helfen Ihnen auch die Geschworenen nicht mehr!«

Maaß sagte kein Wort.

Er sah den Untersuchungsrichter nur immerfort an.

Und das schien dem Herrn Dr. Birckner peinlich, er senkte den Blick auf seine Akten, suchte und suchte, und sagte endlich:

»Den Herrn Schuhmachermeister Hendler kenn Sie doch noch, oder stellen Sie das etwa in Abrede?«

Maaß verneinte ... Im Gegenteil, den Meister Hendler erkenne er sehr wohl, der habe ja lange genug, und zwar sehr gut und prompt für ihn gearbeitet! ... Und wenn es dem Herrn Untersuchungsrichter interessieren würde, so könne er ihm auch den Grund sagen, weswegen er bis jetzt geleugnet hätte, an dem Nachmittag dort gewesen zu sein.

»Nun, da bin ich wirklich begierig, was Sie uns jetzt wieder für ein Märchen auftischen werden!« höhnte der Richter.

»Märchen?« meinte Maaß, kühl lächelnd, »das Märchenerzählen überlasse ich anderen Leuten, zum Beispiel den Herren Sachverständigen, die dafür bezahlt werden ... Ich habe nur ein Interesse, mein Leben und meine Ehre zu retten ... und dafür ...«

Er überschrie den Richter, der ihm wütend ins Wort fallen wollte:

»Dafür ist mir nichts zu teuer und nichts zu hoch ... Wie? Was? Ehrfurcht? ... Ehrfurcht vor Ihnen? ... Ich pfeife auf Ihre Ehrfurcht! ...«

Er kreischte in den höchsten Fisteltönen:

»Um mich handelt es sich! Nicht um Sie! ... Oder daß Sie vielleicht 'ne Belohnung bekommen, wenn Sie mich als Sündenbock vorkriegen, weil Se den wirklichen Mörder nich finden! ... Jawohl, nich finden! Nich finden! Nich finden! Nich finden!!!«

Und dieses Wort schrie er noch immer, als schon der Transporteur und ein hereingeholter Schutzmann ihn gepackt hatten und den wie rasend um sich Schlagenden zurückbrachten ins Untersuchungsgefängnis.

 

Heinz Marquardts Nachforschungen führten zu keinem Resultat.

Noch die ganze Nacht hatte er vor der Haustür der »Baronesse« Wache gehalten, aber niemand war mehr heruntergekommen.

Und als er am nächsten Tage nach schwerem Morgenschlaf wieder dorthin gegangen war, hörte er, Fräulein Boras sei für einige Zeit verreist.

Auf das, was die Augst sagte, gab er überhaupt gar nichts! Schon daß sich alle ihre Angaben und Bezichtigungen auf der Behauptung aufbauten, jener Mensch, der Freund des Heiland, habe vor seiner Ehe ein Verhältnis mit Trude gehabt – schon das zeigte, für ihn wenigstens, die Redereien des Mädchens als leeres Geschwätz!

Er hatte in zärtlichen Stunden hundertmal die Frage an die Geliebte gerichtet, ob schon vor ihm jemand so glücklich wie er gewesen sei? ... Und immer wieder hatte sie mit einem so reinen und aufrichtigen Lächeln den Kopf geschüttelt, hatte so fest und bestimmt selbst den Kuß eines andern verneint, daß Marquardt ihr glauben mußte.

Sie sollte ihm alles, aber auch alles sollte sie ihm erzählen, hatte er sie gebeten.

Dann hatte sie mit ihrem lieben Lachen von Alfred Maaß angefangen, der sich zweimal erlaubt hatte, ihren Arm zu drücken, was sie ihm jedoch jedesmal sofort verwiesen hätte. Danach kam sie auf einen Posteleven zu sprechen, der sie einmal auf der Straße angeredet und sie so lange gebeten hatte, bis sie mit ihm in eine Konditorei gegangen war ... Hernach, das heißt zeitlich noch weiter zurückliegend, kamen ein paar Tanzstundenbekanntschaften, und von denen hatte allerdings der eine mal eine kleine Attacke versucht, aber natürlich war es bei dem Versuch geblieben. Sie hatte es sofort ihrer Mutter erzählt, und diese war zum Tanzlehrer gegangen, worauf der kußlüsterne Herr hinausflog ... Das war alles, alles! ... So viel sie sich besann, es war ihr nichts mehr eingefallen! ...

Und nun sollte sie auf einmal ein Verhältnis gar mit einem Zuhälter gehabt haben?

Verrückt war das, einfach wahnsinnig!

Denn wäre es wirklich so gewesen, daß Trude den Menschen kennengelernt, ihn für einen anständigen Menschen gehalten und nachdem sie ein paarmal mit ihm ausgegangen war, erfahren, wes Geistes Kind er war – dann hätte sie ihm, ihren Gatten, das später doch ganz gewiß erzählt ... Was hätte sie denn davon abhalten sollen, ihm das mitzuteilen?!

Und wenn es anders war, wenn ... ach Unsinn, daran war kein Gedanke! Er war überzeugt, er wußte, daß alles andere nicht wahr war!!

Deshalb schlug er sich die ganze Geschichte mit der Augst und ebenso auch die Baronesse mit ihrem Bruder aus dem Kopf ... Das alles konnte nur dazu beitragen, ihn zu verwirren, um ihn von der rechten Fährte abzubringen.

Aber wo war sie, wo war die richtige Spur?

Vor dieser Frage stand er wie vor einem gewaltigen eisernen Tor; seine Phantasie, sein Verstand und seine ganze Energie rannten dagegen an, aber die dunkle Starrheit wich nicht um Fingers breite.

Eines Tages las er in der Zeitung, daß die Hauptverhandlung gegen Maaß auf den 15. Mai anberaumt war.

Das war ihm, als sei er plötzlich mit hartem Stoß gegen jemand angerannt.

Er hatte Alfred Maaß nicht vergessen, keinen Augenblick! ... Hin und wieder dachte er sogar daran, wie er ihm helfen könnte. Denn er hielt ihn für unschuldig. Aber lange hielt er sich nicht auf bei diesen Gedanken, die ja unfruchtbar blieben, so lange der wirkliche Mörder nicht gefaßt war. Er hatte keine Zeit für den Rotkopf, und sein Gerechtigkeitsgefühl tröstete sich mit dem Gedanken, daß er, er selber, Alfred Maaß eines Tages befreien würde, indem er den Mörder seiner Frau in den Gerichtssaal schleppte!

Aber diese Nachricht, diese wenigen Zeilen, die die Entscheidung über Tod und Leben des kleinen Bureaugehilfen in so nahe Aussicht stellten – die machten Heinz Marquardt stutzig.

In der darauffolgenden Nacht ging er nicht aus. Er lag wach im Bett und dachte und dachte.

Mit der Deutlichkeit großer, lebender Photographien zogen die Bilder aus seinem und seiner Trude Leben an ihm vorüber, in denen Maaß eine Rolle spielte.

Er sah alles noch einmal vor sich: Sein erstes Bekanntwerden mit der Geliebten auf dem Ball – Maaßens wütenden Ärger! – Die Szene, in der sie sich für ihn, ihren späteren Gatten, entschied – Maaßens böse, rachsüchtige Augen, die doch so voller Trauer um den Verlust des geliebten Mädchens waren – sein wütender Angriff an jenem Tage im Bureau – und zuletzt sein haßerfülltes Gesicht in der kleinen Kneipe, wo er, Marquardt, die letzten Worte mit seiner Trude durchs Telephon sprach.

Und wie er an diese Erinnerung kam, strömten in der nächtlichen Einsamkeit seine Tränen von neuem, und er biß sich in die Knöchel, um nicht laut aufzubrüllen vor Schmerz und Weh.

Sollte es Maaß doch gewesen sein?

Diese Frage tauchte plötzlich, wie eine Gestalt, die blutbefleckt aus der Erde hervorschießt, vor ihm auf!

Und wie sie einmal da war, blieb sie auch da und ging nicht mehr fort.

Und tausend Verdachtsgründe kamen aus allen Ecken herbeigerannt und türmten sich auf zu einem Berg, der drohend herüberstarrte.

Gewiß! ... Warum war Maaß denn plötzlich weggelaufen aus dem Bureau?! ... Er war doch nachher in der Koloniestraße gewesen! ... Hatte es ja auch selbst zugegeben, so sehr er's vorher geleugnet! ... Weil er fürchtete, sich verdächtig zu machen – deswegen log er, hahah! ... Faule Ausrede! ... Er war da gewesen, raufgegangen ... und sie, sein armer Liebling, hatte ihn von sich gewiesen, zurückgestoßen und da, da ...

Heinz Marquardt deckte beide Hände vors Gesicht, um das Entsetzliche nicht sehen zu müssen, das in der Finsternis grell und blutig vor ihm aufstand.

Aber auf einmal kam der Verstand und leitete seine Hand nach der Streichholzschachtel, daß sie Licht machte, und in der Helligkeit der Kerze sah alles das auf einmal ganz anders aus.

Maaß war wieder ein kleiner, furchtsamer Mensch, bei all seiner Wut ein gutmütiges Kind, das die hineingefallene Fliege sorgsam aus der Milch hob, die er sich im Bureau immer in einer Flasche mitgebracht und zum Frühstück getrunken hatte.

Plötzlich richtete sich Heinz Marquardt im Bett auf und sitzend sagte er ganz laut:

»Aber ich brauche ja doch bloß hingeh'n und ihn fragen!«

Jetzt verlöschte er das Licht wieder und war ganz beruhigt ... Daß er darauf nicht schon längst gekommen war, das war doch das allereinfachste! ... Ihm würde Maaß die Wahrheit sagen! ... Er würde sie ihm einfach sagen müssen! ... Und er würde seh'n, wenn Maaß log! ... In dieser Sache konnte ihn keiner belügen!

Mit dem Gedanken schlief er ein.

* * *


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