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Maaß ging mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen in seiner Zelle schnell auf und ab.

Wie so Tag und Nacht verging, ohne daß man ihn freiließ, war seine anfängliche Zuversicht schwankend geworden: sollte es am Ende doch möglich sein, daß ein ganz Unschuldiger wegen Mordes verurteilt wurde?

Seine Seele erbebte unter der Wucht dieser Befürchtung, und seine Phantasie fing an, sich mit blutigem Pinsel das Schreckgemälde der eigenen Hinrichtung auszumalen ... Denn wenn sie ihn schon einmal verurteilten, dann –

Nervös blieb er stehen an der weißgetünchten Wand, die über seinem Kopfe das Fenster hatte. Und er ließ die schwere Klappe am Eisenhalter herabgleiten, um Luft in den engen Raum hineinzulassen ... Dann lockerte er das blauweiß karrierte Halstuch; ihm war, als müßte er ersticken.

Ein nervöses Schluchzen erschütterte seinen Körper und es begann sich seiner jenes schreckliche Gefühl zu bemächtigen: die Zellenangst, die den Befallenen laut aufschreien und toben und mit dem Schädel gegen die Mauer rennen läßt, bis er gänzlich ermattet zusammensinkt.

Der Schlüssel rasselte im Schloß und der hereintretende Aufseher kommandierte:

»Fertigmachen zur Vorführung!«

Ein Zittern befiel den jungen Beamten, und er folgte dem Aufseher schnell, glücklich, daß er nicht mehr allein in dieser fürchterlichen Zelle bleiben brauchte, daß er vielleicht etwas tun könne zu seiner Befreiung.

Nun ging es die Galerie des zweiten Stockwerkes entlang, dann die eiserne Wendeltreppe hinab in den ersten Stock und weiter ins Parterre nach dem Zentral hin, in das alle Gänge und Korridore des weitläufigen Gebäudes zusammenlaufen.

Maaß ging vor dem Aufseher her durch einen glasgedeckten Gang, der hinüber ins Kriminalgebäude führte. Und seine Schritte hatten wieder die Elastizität der Jugend, er hoffte ja, freizukommen. Einmal mußten diese Menschen doch einsehen, daß er unschuldig war!

Aber nun, nachdem er mit seinem Führer zwei schmale Steintreppen hinaufgestiegen war und den breiten Korridor betreten hatte, kam er doch noch nicht ins Zimmer des Untersuchungsrichters.

Man brachte ihn in das »Zimmer der Angeschuldigten«, einen großen Raum, dessen Luft von der Ausdünstung der vielen und nicht immer reinlichen Gefangenen, die man da hineintrieb, verpestet war.

Maaß blieb eine Weile in der Nähe der Tür stehen, bis einer von den Dreien, die am Fenster standen, sagte:

»Na, man immer rin in de jute Stube ... du scheinst den Rummel hier noch nich zu kennen! Nebenbei sagt man juten Tach!«

»Guten Tag!« sagte Maaß leise und zaghaft.

»Also, wo wa ick doch stehn jebliem?« meinte ein kleiner Dicker mit einer schlimmen Nase.

»Na, wo du dir die Staude Hemd. ebent rieberjezogen hattest un die junge Frau kam un fragte, ob det dein Hemd were«, half ein älterer Mann im schwarzen, fuchsigen Anzug, der eine Stahlbrille trug und von den anderen »Apothekerjustav« genannt wurde.

»Ach so, ja richtig! Also ick stand da, so unschuldig wie 'n Lämmeken, un die Staude, die ick eben ausjezogen hatte, die rannte daweile alleene weg, vonwejen die villen Bienen Läuse.. Ick vabeuje mir also vor ihr un sage: ›Jnädije Frau,‹ sag' ick, ›et is zwar nich meine, aber 't wird meine! Un jetzt is et ooch meine – oder is et nich meine?‹ – Und damit trat ick janz dichte an se ran un hob de Hand uff – hier seht eich den Platong jefälligst mal an!«

Der Dicke erhob seine Rechte, die wirklich zweimal so groß war, als man es nach seinen sonstigen Körpermaßen hätte erwarten dürfen.

»Un da fing se an zu plärren, det ick ihr rasch 'n Mund zuhalten mußte, det Frauenzimmer! ... Aber drieben in 't Haus hatten se 't doch schon jeheert, mir blieb also weita janischt übrich, als zu teilachen fortlaufen.. Imma haste nich jesehn, los, rüber über die Wiese, und dabei in de eene Hand meine Kluft Anzug. und in de andere de Trittchen Stiefel., 'n Obermann Hut. hatte ick Jott sei Dank damals nich, un so braucht' ick 'n ooch nich festezuhalten! ... Mit eenmal komm ick an' Jraben – so breet war er! Aber ich 'n Anlauf jenommen un rieber, det jing man so! Wie ick drüben bin, dreh ick ma um un lächle, weil ick dachte: ›Na, Franze, nu biste scheene raus mit siebzig un 'n Freilos!‹ ... Jawoll, Scheibe! ... Ick denke, mir laust der Affe! Denn wat sehen meine Oogen, da hinten macht eener 'n Hund los ... Na, wat soll ick eich da lange azehlen: bis an 'n Wald bin ick noch jekommen, denn war 't Essig! ... Die Tele wie son Varickta hinter mich her, un pletzlich hatte se mir und det neue Hemde, wodruff ick so stolz war, un war jleich in Fetzen! ... Wißt Ihr wat 'n Bauernverhör is? ... Ne? ... Na, ick kann eich sagen, det hab' ick an den Tach kenn' jelernt! Un zwar jar nich, wie 't Mode is! Mit alle Schikanen! Wenn ich dadran denke, denn juckt et mir heite noch!«

»Na, un wie kommst 'n hierher, Dicker?« fragte ein sehr Großer, der eine wahre Fechtergestalt und ein paar Dolchaugen in dem wie aus braunrotem Stein geschnittenen Gesicht hatte.

Der Dicke schüttelte wehleidig den Kopf:

»Ach, Menschenskind, det wa' ja die jrößte Demlichkeet! Da waren nemlich 'n paa' Holzarbeeter, die in de Nähe tetig waren. Die fanden mir, wo ick lag, denn mit det Uffsteh'n und Jehen, det jing de ersten paa' Stunden man sehr mies ... Na, un die beeden Leite, die fragen mir natierlich, warum det ick denn da liejen dhäte? Ick meente, ick hätte mir da drieben ausjezogen und dabei hätte mir 'ne Frau ieberrascht, weil ick jrade mein Hemde jewechselt hätte – det ick et aber mit eens von ihre vawechselt hatte, davon hab' ick zu die Leite nischt jesagt. Die waren nu janz kolossal entrüstet dadrieber, und red'ten ma zu, ick sollte ma doch um Jotteswillen dabei nich beruhigen, un se wollten ma helfen, det ick mein Recht kriegte. Un denn luden se mir uff un brachten mir bei'n Amtsvorsteher. Der nahm 'n Protokoll uff, denn allens, wat recht is, ick sah aus wie 'n Tartarbiefstick mit Zwiebeln, und ick wurde soja uff Kosten von die Leite, die mir vahaun hatten, 'n paar Tage in der Heimat Herberge zur Heimat. verpflegt. Aber denn drehten die den Spieß um un vamasselten mir bei'n Staatsanwalt. Na un da gaben se det denn richtig so rausjedreht, det ick hochjing, wejen Raub! Jawoll, ausjerechnet! Weil ick se bei'n Schlung jefaßt hatte, die Olle!«

Der Schlüssel klapperte, alles war still.

»Behnke!«

»Jawoll, hier!«

Der Dicke verließ, affektiert gleichgültig mit den Armen schlenkernd, das Zimmer.

»Da kriecht a seine drei Jahre, det knallt man so!« sagte Aptekerjustav, mit einer Kopfbewegung hinter dem eben Gegangenen herdeutend.

»Wat jloben Sie denn, vaehrter Herr, det Se kriejen werden?« wandte er sich mit einer ironisch tiefen Verbeugung an Maaß.

Der wich unwillkürlich zurück, wobei er voll heimlicher Furcht sagte:

»Ich ... ich ... ich weiß nicht ... ich bin unschuldig!«

»Dat sind wa alle!« rief der andere laut auflachend und sämtliche Insassen des Zimmers stimmten in diese Heiterkeit ein.

»Oder jloben Se etwa ...«

Aber da rasselte wieder der Schlüssel und aus der eintretenden Stille heraus verließ wieder einer das Zimmer.

»Das wa 'n Erpresser,« meinte der alte Herr mit der Brille, »is schon dreimal verknaxt – macht fünf Jemmchen minimum!«

Maaß sah den Alten erstaunt an; woher wußte der alles das so genau? War es am Ende ein Beamter, der hier zwischen die Verbrecher gesteckt wurde, um aufzupassen?

Der Alte aber nahm das Anstarren des Jüngeren als eine Aufforderung, sich mit ihm zu unterhalten, näherte sich Maaß und sagte gedämpft:

»Na und Sie? ... woll wejen Schiebung, was? ... ich meine wegen Betrug?!« setzte er hinzu, da Maaß ihn so fremd ansah.

Alfred Maaß seufzte tief auf.

Sollte er sich diesem Menschen anvertrauen? Unter anderen Umständen hätte er es sicher nicht getan, aber hier, heute, in der schrecklichen Gemütsbewegung, die ihn ganz krank machte, in der Aufregung und qualvollen Erwartung dessen, was die nächste Stunde ihm bringen würde, konnte er sein Mitteilungsbedürfnis nicht zurückhalten.

»Wegen Mord«, sagte er leise.

»Das heißt, ich hab' es nicht getan,« sprudelte er, als er das Zurückweichen des Alten sah, sofort hervor, »ich bin absolut unschuldig! Die sind ja hier alle verrückt! Wie sollte ich denn dazu kommen?! ... Die Frau meines Kollegen! ... Weil ich sie früher mal gekannt hatte!«

Er brach in lautes Jammern aus und schlug die Hände vors Gesicht.

»Wejen Mord?« Der Alte wiegte den Kopf hin und her. »Det is woll der Fall in de Koloniestraße, wovon se jestern abend bei uns in Schlafsaal jeredet ham' ... na, heren Se mal, 'ne Frau, 'ne janz junge Frau!«

Der Sprecher zog sich zurück, und während Maaß weinend stehen blieb, sammelten sich die sämtlichen anderen in der Ecke beim Fenster und berieten miteinander. Offenbar waren ihre Meinungen geteilt, denn hin und wieder fielen lautere Worte, die wie Streit klangen.

Endlich sagte der Alte vortretend:

»Det vasteh ick nich, det se Ihn' iebahaupt hier rinjebracht ham ... sone janz schweren Sachen kommen doch for jewehnlich hier nich her ... det heest, es is ja mechlich, det Sie't nich waren, aber for jewehnlich ... na mit een Wort, wir beschweeren uns dadrieba! ... Mit 'n Raubmörder in eene Zelle, det brauchen wa uns nich zu jefallen lassen!«

Damit kehrte er sich ostentativ von Maaß ab, ging wieder zu den anderen, die die Unterhaltung, jetzt lauter und ohne auf den selbst hier Ausgestoßenen Rücksicht zu nehmen, fortsetzten.

Alfred Maaß hatte die Hände vom Gesicht genommen und eine Weile mit offenem Munde dem sich abwendenden Alten nachgestarrt.

Jetzt setzte er sich auf die nunmehr gänzlich freie Bank. Auf seinem Gesicht erschien allmählich wieder das Lächeln, mit dem er an jenem Nachmittag die von der wütenden Menge umlagerte Morgue verlassen hatte. Er hörte auf nichts mehr, was jene redeten. Seine Seele war blind und taub für alles, was um ihn her vorging, nur den Racheschrei seines Herzens vernahm er noch über die blöde Ungerechtigkeit des Schicksals und der Menschen, die sich alle, aber auch alle verschworen zu haben schienen, um ihn zu peinigen.

Als bald der Aufseher wieder hereintrat, umringten die anderen Gefangenen ihn sofort und forderten, alle durcheinanderschreiend, Maaßens Entfernung.

»Denn det haben wa doch nich vadient«, faßte der Alte ihr Lamento zusammen:

»Mit 'n Raubmörder in eene Zelle, nee, dazu hat det Jericht keen Recht! Dafor jibbt et besondre Zellen! Det wer ja noch scheener!«

Der Aufseher war offenbar selber bestürzt. Es lag ein Versehen vor; der Maaß hierher gebracht, hatte vergessen, ihm die nötigen Mitteilungen zu machen. Übrigens hatte er Maaß gerade eben holen wollen.

 

Auf dem Korridor, während der Angeschuldigte neben ihm herschritt, sagte der Aufseher stockend:

»'s is nich nötig, daß Se da was von sagen, vastehn Se! Se tun überhaupt gut, hier nich zuviel zu reden.«

Maaß sah den Mann ganz verständnislos an; was wollte denn der? Worüber sollte er nicht reden? Und eh' er sich noch klar wurde, was jener von ihm verlangte, stand er vor dem Zimmer des Untersuchungsrichters.

Der Beamte klopfte.

»Herein!«

Maaß sah, noch ehe die Tür sich öffnete, den Richter, dem er ja schon mehrfach gegenübergestanden hatte, deutlich vor sich, einen hageren, blassen Herrn, der die nervöse Angewohnheit hatte, beim Verhör mit den Oberzähnen an der Unterlippe zu kauen, oder die Enden seines dünnen blonden Schnurrbartes zusammenzunehmen und in den Mund zu stecken. Er hatte blutlose, knochige Hände, die er für gewöhnlich auf dem Rücken verschränkt hielt, wenn nicht bei einer besonders scharfen Frage die Linke plötzlich hervorschoß, um sich mit ausgestrecktem Zeigefinger dem Angeklagten gleichsam ins Gewissen zu bohren.

Außer dem Juristen befand sich in dem Zimmer der Protokollführer und der Kommissar Hartmuth.

Über dessen Vogelgesicht glitt ein interessierter Zug, wie er des kleinen rothaarigen Menschen ansichtig wurde.

»Sie sind also an dem bewußten Nachmittag kneipen gegangen?« fragte der Untersuchungsrichter, der selbst dem Fenster den Rücken zukehrte, während auf des Rothaarigen Angesicht das helle Tageslicht fiel.

Maaß nickte.

»Dann sind Sie nach Hause gegangen und haben sich schlafen gelegt?« fragte der Amtsgerichtsrat weiter.

»Ja.«

»Darf ich mal dem Angeklagten eine Frage vorlegen, Herr Amtsgerichtsrat?« warf der Kommissar ein.

Doktor Birckner machte nur ein zustimmendes Zeichen, im allgemeinen hielt er seine Autorität für ausreichend.

»Maaß«, sagte der Kommissar und seine Stimme bekam jenen eindringlichen, beinahe beschwörenden Ton, der den armen kleinen Kerl ganz rot werden ließ vor Ärger.

»Sagen Sie mal, besinnen Sie sich doch mal ganz genau darauf, wann sind Sie an dem Abend nach Hause gekommen?«

»Das weiß ich nicht!« erwiderte der Angeklagte trotzig.

»So, na anfänglich haben Sie doch aber gesagt, es wäre spätestens um zehn Uhr gewesen.«

Maaß zuckte die Achseln, innerlich erbost, daß er nicht sagen konnte, warum er damals gerade »zehn Uhr« angegeben hatte.

»Sie sind, wie Sie jetzt sagen, betrunken gewesen – es wäre also tatsächlich nicht gut möglich, sich noch heut so genau zu erinnern! – Und dabei wollen Sie sich die Nase gestoßen haben, davon soll das Blut an Ihren Manschetten herrühren ... ist es nicht so?«

Maaß sagte gar nichts.

»Dann ist es aber doch sehr auffällig, daß gerade nur die eine Manschette, wahrscheinlich die an der rechten Hand, die Blutflecke aufweist?«

Maaß hob wieder nur die Schultern. Und nach zwei Minuten, als es ihm einfiel, daß dies ja ganz natürlich wäre, da er sicher mit der rechten Hand nach der blutenden Nase gegriffen hatte – als ihm das einfiel, fragte Hartmuth schon wieder so knifflich, daß Maaß sich zusammennehmen mußte, um ja nichts zu sagen, woraus man ihm wieder ein Glied zur Kette hätte schmieden können.

»Sagen Sie mal, Maaß,« meinte der Kommissar, rasch weitersprechend, denn es lag ihm daran, dem Angeschuldigten keine Zeit zu »Ausreden« zu lassen, »wenn jemand Nasenbluten hat, dann ist doch nicht bloß vorne gerade an der Manschette ein blutiger Rand, denn dann müßte ja das Nasenbluten sofort wieder aufgehört haben, das wäre sozusagen ein Nasenbluten auf Bestellung! Sondern man nimmt ein Taschentuch, irgendeinen Lappen, der natürlich auch blutig wird! Aber davon ist bei Ihnen nicht das geringste gefunden worden! – Wie erklären Sie das?«

»Sehr einfach,« sagte Maaß, dessen Mut und Schlagfertigkeit sich an dem allzu selbstsicheren Wesen des Kommissars scharf schliffen, »die Nase hat mir, da ich wahrscheinlich in meiner Bezechtheit irgendwo angerannt bin, eben nur ein paar Sekunden geblutet. Ich habe halb unbewußt danach hingefaßt und mir dabei die Manschetten rot gemacht ...«

»Nein, nur die eine, bitte, nur die eine!«

»Na ja, nur die eine! ... Wenn ich bloß mit einer Hand hinfasse, so kann ich sie mir doch nicht alle beide schmutzig gemacht haben!«

»Ich wünsche einen etwas bescheideneren Ton, Angeschuldigter!« mischte sich Doktor Birckner jetzt scharf in die Unterredung.

Aber Maaß war wieder einmal zu Ende mit seiner Selbstbeherrschung.

»Mir is das janz ejal, Herr Untersuchungsrichter! Meinetwegen machen Se, was Se wollen! Wenn das noch lange so weiter geht, dann antwort' ich überhaupt nicht mehr!«

Der Untersuchungsrichter warf einen Blick zu Hartmuth hinüber, als wollte er sagen: »Siehst du, was du mit deinen Fragen erreichst?« – Zu Maaß gewendet sagte er mit etwas milderer Strenge:

»Jedenfalls dürfen Sie keinen Augenblick vergessen, wo Sie sich hier befinden ... hm ... hm. Nu sagen Sie mir doch mal aufrichtig Ihre Meinung. Wer hat Ihrer Ansicht nach den Mord vollbracht?«

»Wie soll ich denn das wissen, Herr Untersuchungsrichter! Ich jedenfalls nicht!«

»Das würden wir Ihnen ja auch sehr gerne glauben, wenn wir nur irgendeine plausible Erklärung dafür fänden oder von Ihnen bekämen, wo Sie sich an dem fraglichen Tage zwischen zwei und fünf Uhr aufgehalten haben. Um diese Zeit ist der Mord geschehen, das hat der Sektions- resp. der Befund des Mageninhalts der Toten evident erwiesen ... Aber Sie behaupten, Sie wissen nicht, wo Sie währenddem gewesen sind?«

»Doch, doch, Herr Untersuchungsrichter! ... Das weiß ich! Ganz genau weiß ich das! Ich bin umhergelaufen! Wir hatten uns vormittags im Bureau gezankt, Marquardt und ich. Und da könnt' ich den Menschen nicht mehr seh'n ... Ich wäre verrückt geworden, wenn ich 'n an dem Tage nochmal hätte sehen müssen!«

»Also daß Sie wütend waren auf Ihren Kollegen, das geben Sie jetzt zu?«

Über Maaß kam eine große Verwirrung ... Ja, hatte er denn das schon geleugnet, er erinnerte sich doch gar nicht!

Aber der Untersuchungsrichter, der diese Taktik gern befolgte, um verstockte Angeklagte aus ihrer Gedankenbeherrschung herauszubringen, fragte schnell weiter:

»Sie sind also so voller Wut gegen Marquardt umhergelaufen, daß Sie schließlich, wie von einem Magnet angezogen, in die Nähe seiner Wohnung gekommen sind, nicht wahr?«

Maaß schüttelte den Kopf.

»Sie sind nicht dort gewesen? ... So? ... Wenn wir Ihnen nun Leute gegenüberstellen, einwandsfreie Zeugen, die bekunden werden, daß Sie an dem fraglichen Tage, zu der inkriminierten Zeit, dort gesehen wurden?«

Der Untersuchungsrichter hatte trotz aller Anstrengungen solche Leute bisher nicht ausfindig machen können. Aber es schien ihm, als ob Maaß diese schon mehrfach gestellte Frage sehr nahe ginge. Deshalb tat Doktor Birckner so, als hätte er diese Zeugen in Wirklichkeit zur Verfügung.

»Ich war nicht da.«

Aber des Untersuchungsrichters feines Ohr, das leider nur den Ton der Schuld so sicher, niemals aber den der Unschuld aus der Stimme eines Angeklagten vernahm, hatte recht gehört.

Maaß war dort gewesen. Die Sehnsucht nach der entrissenen Geliebten hatte ihn wirklich dort hinausgetrieben nach dem Norden ... In dem törichten Glauben, sie vielleicht zu sprechen, vielleicht auch nur ihr Angesicht für einen Augenblick hinter einem Fenster aufleuchten zu sehen, hatte er sich da hinausbegeben, unglücklich, elend, mit der Welt und sich zerfallen ... Sie hatte er nicht gesehen, aber auch keinen Bekannten, der ihn hätte verraten können, hatte er dort getroffen, trotzdem er wohl eine Stunde vor ihrem Hause auf und ab patrouilliert war ... Im tiefsten Herzen zitterte er, daß doch vielleicht jemand ihn beobachtet haben und jetzt mit seiner Wissenschaft vortreten könnte, aber er glaubte es nicht ... »Wenn wirklich so ein Zeuge vorhanden wäre,« rechnete er, »so würden sie sich hier wahrlich nicht genieren und ihn mir gegenüberstellen.«

Der Untersuchungsrichter beobachtete seinen Mann, wie eine Schlange das Kaninchen belauert, das sie gleich umstricken wird.

»Kommen Sie mal her, Maaß! ... Hier an den Tisch ran!«

Der Bureaubeamte gehorchte.

»Ist das hier Ihre Handschrift?«

»Ja,« Maaß war sehr bestürzt, »das ist 'n Brief an meine Mutter! ... Warum is 'n der nicht abgeschickt?«

»Nur ruhig,« sagte Doktor Birckner, »seien Sie froh, daß ich Ihnen hierauf nicht noch 'n Prozeß an 'n Hals hänge, mein Lieber! Dieser Brief strotzt von Beleidigungen gegen Gefängnis- und Gerichtsbeamte, so was wird natürlich nicht abgeschickt! ... Wenn Sie einen anständigen, bescheidenen Brief an Ihre Mutter schreiben wollen, so ist dagegen natürlich nichts einzuwenden! Nebenbei wäre das auch die passendste Gelegenheit, ein reumütiges Geständnis abzulegen ... ich meine, in so 'n altes, treues Mutterherz schüttet man seine Schuld und Sünde am besten hinein!«

Der Herr Amtsgerichtsrat sagte diese an sich vielleicht rührenden Worte mit einer so unleidlichen Trockenheit im Ton, so uninteressiert und darum so wirkungslos, daß Maaß, dem bereits das Weinen in der Brust hervorquoll, auf einmal wieder ganz gefaßt und beinah gleichmütig wurde.

»Na, wenn man meine Briefe schon unterschlägt! ...« Der kleine Rothaarige wurde absichtlich impertinent – aber weiter ließ ihn der Untersuchungsrichter nicht kommen.

»Was erlauben Sie sich« schnauzte er ihn an, »ich lasse Sie krumm schließen, bei Wasser und Brot, unten im Keller! ... Sie unverschämter Halunke!«

Maaß verbeugte sich, hochrot im Gesicht: »Danke, gleichfalls!«

»Wa... was, Sie! ... Sie! ...« Dr. Birckner schnappte nach Luft. »Herr Kommissar!«

»Jawohl, Herr Amtsgerichtsrat! ...« Der Kommissar Hartmuth, äußerlich todernst, innerlich aber voll Schadenfreude, gönnte diesem »aufgeblasenen Juristen« den Denkzettel.

»Sie sind Zeuge!« schnaubte der Richter, »Sie haben gehört, was sich dieser Mensch da eben zu sagen erfrecht hat!«

»Jawohl, Herr Untersuchungsrichter.«

»So, na dann setzen wir vorläufig das Verhör fort! ... Das übrige wird sich dann ja schon finden! ... Ist das hier Ihre Handschrift, Angeschuldigter? ... Ja. oder nein?!«

Maaß starrte lange auf das Briefblatt, ehe er »Ja« sagte. Jetzt war er doch voller Angst, was man nun mit ihm machen würde, und hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn er dem Untersuchungsrichter diese patzige Antwort nicht gegeben hätte ... Trotzdem gab er sich die größte Mühe, diese neue Angst zu verbergen. Besonders ein Gedanke peinigte ihn: er hatte gehört, daß manchmal die Gefangenen noch in den Bock gespannt und halbtot geschlagen würden ... wenn sie das nun mit ihm auch so machten?

Ein nervöses Zittern befiel den kleinen Menschen, dessen Gesicht die kurze Gefängniszeit hatte erschreckend abmagern und grau werden lassen ... Aber dann wollte er sich lieber aufhängen! ... Schlagen, nein, schlagen ließ er sich nicht!!

Und dieser Entschluß gab ihm seinen Mut wieder. Er trat von dem grünüberzogenen Tisch, der voller Aktenstücke lag, mit festem Schritt zurück und sagte: »Mir ist der ganze Quatsch schon über! ... Ich antworte überhaupt nicht mehr!«

Kommissar und Untersuchungsrichter sahen sich bedeutsam an; wenn ein Angeklagter erst einmal die Furcht vor dem Gericht und den Gerichtspersonen ganz überwunden hatte, dann war es sehr schwer, noch etwas aus ihm herauszubringen, das wußten sie aus Erfahrung.

Da gab es nur zwei Wege, um das nicht eintreten zu lassen: entweder man zog die Zügel noch straffer an, oder man ließ ein wenig nach in der Strenge und versuchte es zwischendurch mal wieder mit guten Worten und freundlichem Zureden.

Und weil Herr Dr. Birckner nicht genug Menschenkenntnis besaß und nicht sah, daß Alfred Maaß im Grunde seines Herzens zitterte, wählte er den Weg der Güte und ließ sich dadurch den Angeklagten ganz und gar entschlüpfen.

»Na, daß Sie den Brief geschrieben haben an Ihre Mutter, das werden Sie doch nicht in Abrede stellen wollen?«

Maaß antwortete nicht.

Dr. Birckner nahm aus einem blauen Aktendeckel einen anderen Brief: »Vielleicht kennen Sie das hier auch?«

Maaß sah erst gar nicht hin.

»Das hier!!« Der Untersuchungsrichter hielt ihm den Brief direkt unter die Nase. »Das ist ein Stück von einem Brief an Frau Marquardt. Der ist nachträglich zufällig im Tischkasten zwischen altem Papier gefunden worden ... hören Sie, Maaß?« Maaß schien nicht zu hören.

»Der Brief kann alt oder neu sein, das läßt sich, da das Datum fehlt, schwer feststellen ... sehen Sie sich den Brief doch mal an, Maaß! ... Es wäre ja möglich, daß irgend jemand den Brief geschrieben hätte, dessen Handschrift Sie kennen?!«

Aber der Rothaarige ging dem Richter nicht in die allerdings recht plump gestellte Falle. Sein Gesicht hatte etwas unbeweglich Ehernes bekommen, und die ein wenig rissigen Lippen bleiben fest geschlossen.

»Also schön, dann muß ich Ihnen sagen: Die Schreibsachverständigen begutachten, daß Ihre Handschrift, die hier,« Dr. Birckner tippte auf den Brief an die alte Frau Maaß, »und die in dem Brief an die Ermordete absolut identisch sind! ... Was sagen Sie dazu?«

Maaß hob die Hand an den Mund und gähnte. Es war tatsächlich nur ein Symptom seiner nervösen Erschlaffung, aber es sah so aus, als sei ihm alles das, was der Untersuchungsrichter vorbrachte, bloß langweilig.

Da erfaßte den Juristen ein heiliger Zorn:

»Aufseher! Führen Sie ihn hinaus, diesen unverschämten Flegel!« donnerte er, »wer'n ihn schon kriegen! ... Jawohl! Den kriegen wir schon! Er wird gefesselt!«

Aber Maaß wurde nicht gefesselt. Der Herr Untersuchungsrichter hatte sich diese durch nichts zu rechtfertigende Maßregel doch noch einmal überlegt und den Befehl zurückgenommen.

Als der Amtsgerichtsrat mit dem Kommissar Hartmuth allein war, ging Dr. Birckner noch ein paarmal im Zimmer auf und nieder, dann blieb er plötzlich vor dem Kriminalisten stehen und sagte, noch immer sehr erregt:

»Na, was sagen Sie nun zu diesem Menschen? ... Was?«

Der Kommissar lächelte, er war innerlich von Schadenfreude erfüllt über das Abblitzen des Amtsgerichtsrats. Aber er beeilte sich doch, seine stille Heiterkeit zu erklären. Dr. Birckner schien ihm zu gefährlich, als daß er ihn das Geringste von seinen Absichten hätte merken lassen mögen.

»Man kommt zu keinem rechten Abschluß,« meinte er, »zuerst war ich im Gegensatz zu meinem Kollegen Bendemann fest von Maaßens Schuld überzeugt, und jetzt, jetzt ...«

»Na, Sie zweifeln doch nicht etwa daran, daß Maaß der Täter ist?« fiel Dr. Birckner ihm schnell ins Wort.

Hartmuth zuckte leicht die Achseln.

»Wie? ... Sie zweifeln in der Tat? ... Aber ich bitte Sie, wer soll es denn sonst gewesen sein?! ... Sie denken doch nicht etwa an die Kirchhofszene mit dem hysterischen Frauenzimmer? Ich sollte doch meinen, wir haben wahrhaftig alles getan, was in unseren Kräften stand! ... Nicht allein, daß ich diese Frauensperson – Notabene eine Prostituierte übelster Sorte, und mithin das Gegenteil von einer klassischen Zeugin! –, daß ich sie wiederholt vernommen habe, nein, ich habe mir sogar den Geistlichen kommen lassen! ... Na, und Sie haben ja jedenfalls das Protokoll gelesen, Herr Hartmuth! ... Sie hat einen Mann gesehen in Gesellschaft ihres sogenannten Bräutigams ...«

»... gewesenen Bräutigams!« warf der Kommissar ein.

»Ganz recht! ... Dieser Mensch hat früher schon mit dem Heiland, einem der berüchtigsten Zuhälter, verkehrt ... behauptet sie ... Da spitzte ich natürlich sofort beide Ohren! Aber was stellt sich heraus, wie wir den Heiland vorladen, gegen den zurzeit übrigens nicht das Geringste vorliegt: Der Mann hat keine Ahnung! Und ich sage Ihnen, lieber Kommissar, ich versteh' mich auf so was! ... Was wahre und gemachte Verwunderung ist, das weiß ich wohl zu unterscheiden ... Da verlassen Sie sich darauf!«

Der Kommissar nickte zustimmend mit dem Kopf.

Bei sich aber dachte er: »Das glaub' ich noch lange nicht, daß du das weißt! ... Wie ich denn überhaupt nicht allzuviel von deinen Fähigkeiten halte! ... Du bist ein Streber, mein Junge, und weiter gar nichts!«

Der Untersuchungsrichter fuhr fort:

»Daß er bei der Beerdigung auf dem Kirchhof war, gibt Heiland ja ohne weiteres zu ... Er hält es auch für möglich, daß zufällig ein Mann neben ihm gestanden haben kann, der, ebenso wie er, einen hellbraunen Filzhut getragen hätte. Aber im übrigen sei er absolut für sich allein gewesen ... er hat mir dann auch den Freund, von dem die Augst sprach, vorgestellt. Der Mann war aber nachweislich zur Zeit des Mordes in Breslau. Und daß die Augst sagt, das wäre gar nicht der Freund von Heiland, den sie gemeint hätte, das will bei dieser absolut unzurechnungsfähigen Person, die nebenbei einen großen Haß auf ihren ehemaligen Bräutigam zu haben scheint, doch auch nicht viel bedeuten! ... Nee, wahrhaftig! Da bieten sich keinerlei Anhaltspunkte, die Sache ist für mich wenigstens glatt erledigt!«

Der Kommissar sagte gar nichts. In dienstlicher Haltung wartete er, ob der Jurist ihm noch etwas mitzuteilen habe.

Dr. Birckner aber, der seiner Sache innerlich doch wohl noch nicht so recht sicher sein mochte, betrachtete den andern, scheinbar zum Fenster hinaussehend, lauernd von der Seite. Dann entließ er ihn mit einer halbvertraulichen Handbewegung.

Doch als Hartmuth schon an der Tür war, bat er ihn noch einmal zurück:

»Es ist immer schwierig,« sagte er, jedes Wort abwägend, mit scharfer Akzentuierung, »in einer solchen ernsten Sache ein abschließendes Urteil zu fällen. Aber das tun wir ja auch gar nicht, das ist ja durchaus nicht unseres Amtes! ... Was wir zu tun haben, ist weiter nichts, als alles erreichbare Material zur Anklage zur Stelle schaffen, es sichten und das unserer Ansicht nach Falsche vom Wahren sondern.«

Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er wie in Gedanken fort:

»Genau dasselbe, dessen erinnere ich mich jetzt, habe ich vor einiger Zeit auch dem Herrn Staatsanwalt v. Marzahn gesagt ... aber dieser Kollege war, wenn ich nicht irre, ganz der entgegengesetzten Ansicht ... sowie er denn auch von der Unschuld dieses Maaß fest überzeugt zu sein schien ...«

Er pausierte wieder, um dann ganz gleichgültig und nebensächlich die Worte hinzuwerfen:

»Der Herr Staatsanwalt hat, wie Sie inzwischen vielleicht auch schon erfahren haben, seinen Abschied genommen ...«

Der Kommissar begriff. Er nickte sehr ernst, wiederholt mit dem Kopfe. Dann sagte er, voller Überzeugung:

»Wir von der Kriminalpolizei, Herr Amtsgerichtsrat, wir sind eben in vielen Fällen zu gewissenhaft! Und selbst wenn wir den Mörder schon gefunden haben, sehen wir uns doch noch nach allen Seiten um und verfolgen jede Spur ... denn wir haben ja auch die größte Verantwortung! ... Aber hier in diesem Fall ... man kann die Sache drehen, wie man sie will, schließlich fällt der Verdacht doch immer wieder auf Maaß, und es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht schließlich doch noch 'n Geständnis aus ihm rauskriegten! ... Denn er ist's gewesen, daran ist gar kein Zweifel!«

»Na seh'n Siel« meinte der Untersuchungsrichter sehr zufrieden, »die Hauptsache ist, ruhig und ohne Jefühlsduselei an so 'ne Sache rangeh'n, dann kommt man auch zum Ziel!«

Damit reichte er dem Kriminalbeamten kordial die Hand, und dieser zog sich mit einer Verbeugung zurück.

* * *


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