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Mit eigentümlichen Empfindungen folgte Heinz Marquardt dem Mädchen durch den dunklen Korridor und trat dann in das geräumige Vorderzimmer, das sie vor ihm öffnete. Hier waren die gelben Vorhänge noch zugezogen, und das Licht des Wintertages fiel schwach in den etwas dämmrigen Raum. Es war eines jener Zimmer, dessen Wände von schlechten Öldruckbildern, großen japanischen Fächern in schreiend bunten Farben und ein paar Makartbuketts bedeckt sind, deren billige Muschelmöbelgarnitur auf einem ordinären Teppich placiert ist und die fast immer dasselbe aufdringlich starke Parfüm haben. Neben dem großen noch ungemachten Bette befand sich ein Nachttischchen, auf dessen Platte eine Flasche Likör, gebrauchte Gläser, Keks und Zigaretten standen.

Heinz Marquardt streifte alles das kaum mit einem Blick. Die Gier, die ihn beseelte, verlangte nur nach Aufklärungen, nach Spuren des Verbrechers.

Die Augen des Mädchens glänzten, und ihre Wangen waren gerötet, als sie den jungen Mann bat, sich zu setzen.

»Was will sie bloß?« dachte Heinz Marquardt, »sie wird doch nicht etwa glauben, daß ich ihretwegen hierher gekommen bin?«

Und die Umgebung begann ihm peinlich zu werden. Er wünschte sich fort und wäre gewiß nicht so rücksichtsvoll gewesen, auch nur eine Minute zu bleiben, hätte er nicht gehofft, schließlich doch noch etwas Wissenswertes zu erfahren.

Sie mochte das dunkel ahnen, und wie er jetzt aufstand, nicht um fortzugehen, sondern nur, weil seine innere Unruhe ihn nicht sitzen bleiben ließ, da sagte sie, die Hände wie bittend erhebend:

»Ach nein! ... Bleiben Sie doch ... Ich habe Ihnen wirklich was zu sagen.«

»Ja, ja.« erwiderte er, nun auch ein bißchen vorlegen, »ich bleibe ja hier ... Was is es denn? ...«

Er sah sie forschend an, und sie merkte an seinem Blick den Schmerz und die Verzweifelung, die diesen Mann noch immer in ihren Krallen hielten.

»Es tut mir so leid,« sagte sie, und ihre sonst ein wenig harte Stimme bekam einen weichen, fast zärtlichen Ton, »ich habe Ihre Frau ja auch gekannt, Herr Nachbar ... Sie hat mir immer gegrüßt, wenn sie die Treppe runter kam ...«

»Ja, ja ...« Das war alles, was er sagen konnte. Das Weh kam wieder so über ihn, daß er sich nicht halten konnte und ein paarmal laut aufschluchzte.

Da trat diese arme kleine Dirne neben ihn und legte, ohne ein Wort zu sagen, den Arm um seine Schulter und hielt ihn so, bis er ruhiger wurde und mit erwachendem Eifer zu fragen begann, was sie wüßte.

Sie besann sich ein bißchen, und dann begann sie zögernd:

»Sie wissen doch, Herr Marquardt, wer ich bin ...« Ein verlegenes Lachen und dabei doch ein kokettes Wiegen in den Hüften. »Na ja! ... Das is nu mal so, daran läßt sich auch nix ändern. Ich hab's oft genug versucht, Arbeet zu kriegen, aber entweder sie wollen mich nich oder de Arbeet schmeckt mir nich ... Wenn man so lange nischt mehr getan hat, denn is es nämlich schwer ...«

Wieder dieses verlegene Lachen, dann ging Ernestine Augst an den Nachttisch, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihrem Besuch die Schachtel ebenfalls hin. Der lehnte ab.

»Na, nu sehn Se mal, Herr Marquardt, ich bin ja schließlich auch nichts Besseres wie die andern. Wo's so viele sind, da kommt's auf eine mehr' oder weniger ja auch nicht an. Wenn mein Vater leben geblieben wäre, ja denn ... Aber mit meine Mutter habe ich mich nich verstehen können. Da flog ich raus. Nachher als Dienstmädchen ...«

Sie hatte sich auf die Sofalehne gesetzt und ließ die Füße, von welchen die Pantoffel herabhingen, herunterbaumeln.

»... Na, mit einem Wort, es ist ja immer dieselbe Geschichte, und es wär' ja auch alles noch nicht so schlimm, aber das Schlimmste sind die Bräutigams ... Unsereine will doch auch mal das Gefühl haben, daß sie einer wirklich lieb hat ...«

Ihr Blick hatte sich ganz nach innen gerichtet. Heinz Marquardt, der ihr gespannt zuhörte, merkte, daß sie jetzt nicht mehr für ihn, sondern für sich selber sprach.

»... Natürlich, eigentlich ist es ja damit auch nichts! Denn die wollen doch auch weiter nichts wie unser Geld, aber sie tun doch wenigstens so, als wenn sie einen lieb hätten und eifersüchtig auf die Mächens wären. Und denn haben sie alle eenen, und darum hatte ich auch einen. Natürlich, jetzt habe ich keinen mehr ...!«

Weshalb das so natürlich war, das sagte sie nicht, aber Heinz Marquardt meinte eine Empfindung von dem zu haben, was sie dabei dachte, und unwillkürlich rückte er mit den Schultern, als sei ihm etwas sehr unangenehm.

Und sie empfand auch das wieder mit dem Instinkt des Weibes, das sich mit einer noch unerkannten und selbst unbewußten Neigung zu einem Manne hingezogen fühlt, deswegen setzte sie schnell hinzu:

»Ich will ooch keenen wieder! Überhaupt keenen, denn schließlich sind die Männer doch alle egal, und wenn sie zuerst noch so nett sind, nachher malträtieren sie einen und schlagen einen so lange, bis man nich mehr leben möchte ...«

Heinz Marquardt bettachtete sie wie ein Rätsel. Er hatte schon früher die eine oder die andere dieser Art kennengelernt, aber er hatte sich niemals Gedanken darüber gemacht, ob und was für Empfindungen diese Mädchen haben. Ein leises Interesse für sie ergriff ihn, und er gab dem schüchtern Ausdruck.

»'s ist doch eigentlich schade!« sagte er, »so'n nettes Mädchen wie Sie sind ...«

»Helf er sich, kleine Maus,« meinte sie mit einem leichtfertigen Lachen, »ich muß nun schon mal so verbraucht werden, wie ich bin ... Aber darum habe ich Ihnen ja nich reinjerufen ...«

»Nein, nein!« Er schnappte sofort wieder in seine Idee ein und fragte, dicht an sie herantretend:

»Wissen Sie denn wirklich etwas? ... Was denn?«

Sie wiegte den Kopf hin und her, daß ihre schwarzen, schweren, jetzt aufgelösten Haare in dicker Welle von einer Schulter zur anderen glitten und sagte:

»Ich weeß ja selber nichts, aber seh'n Se mal, was ich vorhin von die Kerls gesagt habe, das konnten Sie sich doch denken, daß es nich so ganz zufällig war.

Ich hatte doch einen und hab'n so lange gehabt, bis er mir derartig mit's Messer verarbeit't hat, daß ich vier Wochen in de Klinik liegen mußte ... Hier ...«

Sie zeigte auf die fürchterliche Narbe, die ihren üppigen, mattroten Mund zerteilte. »Das ist der Denkzettel, den er mir gelassen hat. Da war's aber auch Ebbe, da habe ich ihn vermasselt, angezeigt. daß er hochgegangen ist wien' Luftballon verhaftet worden ist. ... Bloß nachher uf die Fahrt von Moabit nach de Rummeline, Rummelsburger Arbeitshaus. da is er getürmt geflohen., und die ganze Polente Polizei. stand da wie Seebach mit de Klöße ...«

»Sie haben ihn also nich wiedergekriegt?« fragte Heinz Marquardt, ohne daß er vorläufig sah, was diese Erzählung mit seiner Sache zu tun haben sollte.

»Nee«, lachte das Mädchen, und aus ihrem Gelächter klang der Stolz, mit dem sie auch heute noch an den einst Geliebten dachte.

»Und dabei geht er ganz frech in die Cafés,« fuhr sie fort, »ich seh'n die Woche manchmal drei-, viermal, aber er hat sich'n Schnurrbart abnehmen lassen und das Haar schwarz gefärbt ...«

»Aber was hat der denn damit zu tun?« konnte sich Marquardt jetzt nicht enthalten zu fragen.

»Ne ganze Masse! Natürlich, er selbst is' nich gewesen, aber die blaue Lotte, mit der er neulich Abend mal ins Theater war, die hat mir was verdibbert verraten.« ... Da is noch so einer, der war früher auch Kaufmann oder Beamter oder so was und der ...«

Sie sah Marquardt eine ganze Weile starr an.

»Na, was denn?« fragte er ... »Was denn?«

»Ja, ich weiß nich, ob ich Ihnen das sagen soll? ...«

»Aber gewiß«, er ergriff ihre Hand und sprach ganz eindringlich. »Alles, jedes Wort will ich wissen, was die gesagt hat!«

»Nee, aber Sie werden denn böse sein mit mir?«

»Wahrhaftig nicht!« Er legte beteuernd die Hand aufs Herz, »ich bin Ihnen ewig dankbar und will wahrhaftig alles tun für Sie, was in meinen Kräften steht!«

Sie lachte kurz auf. »Was dis schon sein wird! ... Aber darum tue ich es ja auch gar nich. Wissen Sie, Herr Marquardt, Sie tun mir leid und eigentlich noch mehr Ihre arme Frau ...«

»Ja, ja,« ... sagte er und faltete unwillkürlich die Hände, »aber nu sagen Sie doch, was hat die denn gesagt, die ...«

»Die blaue Lotte, meenen Se? Na, wenn Sie's denn durchaus wissen wollen und sind mir auch nich böse ...«

Sie sah ihn noch einmal zweifelnd an, worauf er ihr mit energischem Kopfschütteln antwortete.

»... Denn will ich's Ihnen sagen: Der andere, was der Freund von meinen war, der hat Ihre Frau schon gekannt, wo Sie noch gar nichts von ihr wußten.«

Zum erstenmal, seitdem sein Weib auf eine so entsetzliche Weise ums Leben gekommen war, lachte Heinz Marquardt. Und er lachte hell auf und lachte immer wieder, so daß das Mädchen ordentlich böse auf ihn wurde.

»Sie glauben's wohl nicht?« fragte sie ihn.

»Nee,« sagte er, »wenn ich alles glaube, aber das glaube ich nicht. Ach, was heißt da überhaupt glauben! Das Leben meiner Trude hat immer wie ein aufgeschlagenes Buch vor mir gelegen, bis in ihre Kindheit zurück weiß ich alles, was sie erlebt und getrieben hat ... Und wenn sie schon wirklich mal irgendeine kleine Poussade gehabt hätte, von der ich nichts wußte, aber mit einem Menschen aus Ihren Kreisen – nee, wahrhaftig, das ist geradezu komisch ... Ist das alles, was Sie mir sagen wollen?«

Sie nickte. »Ja, und das ist 'ne ganze Menge, glaube ich. Aber natürlich, weil wir alles keine Menschen sind und weil Sie uns verachten, darum glauben Sie das nicht! Und darum werden Sie auch nichts rauskriegen, ebensowenig wie die Polizei was rauskriegt, denn die würde überhaupt keinen fassen, wenn nicht hin und wieder eine von die Mächens ihren Liebsten verpfeifen täte oder so'n Achtjroschenjunge, der seine Brüder verrät, weil er Maure hat vor die Jreifer.«

Heinz Marquardt ging im Zimmer auf und ab, was das Mädchen da zuletzt sagte, das leuchtete ihm vollkommen ein: um ein Verbrechen, und besonders eins von den großen, auszuspüren, dazu mußte man mit den Verbrechern leben, mußte mitten unter ihnen sein, unerkannt und scheinbar ganz zu ihnen gehörig. Aber daß seine Trude mit einem von diesen Strolchen bekannt gewesen sei oder gar in einem Verhältnis zu einem von diesen Menschen gestanden haben sollte, nein, das war zu lächerlich, das war töricht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Denselben Unsinn hatte die Polizei ja auch schon geglaubt. Und selbstverständlich, nur nicht er, jeder andere konnte daran glauben! Aus dem einfachen Grunde, weil sie alle die Trude nicht kannten! Weil keiner von ihnen wissen konnte, welch eine ehrliche, goldklare Seele diese Frau besessen hatte; wie in dem Herzen seiner armen Toten so wenig Falsch gewesen war, daß selbst ihr Blick nicht hatte lügen können und daß sie sogar in Dingen, auf die gar nichts ankam, ihm auch nicht das geringste hatte verheimlichen können.

»Und weiter wissen Sie nichts?« fragte er noch einmal.

»Nein«, erwiderte das Mädchen, deren schwarze Augen ihn nicht losließen.

Und der Mann fühlte, wohin ihre Gedanken sich wendeten und wie das Wohlgefallen schüchtern von ihr zu ihm hinübertastete.

Da ergriff ihn ein so heftiger Widerwille, der sich mit einer Art von Angst vor jeder Zärtlichkeit mischte, daß er nicht bleiben konnte. Er nahm seinen Hut, riß fast die Tür auf und ging schnell durch den dunklen Korridor, in dem er sich an einem Spinde stieß, hinaus.

Sie folgte ihm bescheiden, gedemütigt und murmelte Worte, die er nicht verstand.

Erst auf der Straße fühlte er sich erleichtert. Und da eist fiel ihm ein, daß er das, weswegen er dieses Haus noch einmal betreten, nicht gefunden, daß er auch das letzte Andenken mit dem kleinen Bilde, das gestohlen oder verlorengegangen war, eingebüßt hatte. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich, und in dieser schrecklichen Einsamkeit, die sich so plötzlich über sein Herz gebreitet hatte, verlor er für einen Augenblick all seine Kraft und Energie.

Dann aber biß er die Zähne aufeinander und ging, seine Schritte beschleunigend, immer schneller dahinstürmend, mit finsterem Gesicht seiner Rache nach.

 

Acht Tage später ging Heinz Marquardt zögernd wieder in sein Bureau. Er hatte gehofft, Direktor Weckerlin würde ihn auch noch weiterhin dispensieren, aber er irrte. Für das Bureau war die Tat geschehen und fast vergessen. Höchstens Maaß interessierte noch. Marquardts ernstes, karges Wesen begriff man wohl – er trug ja Trauerkleidung! –, aber welcher Grund ihn auch jetzt noch von der Arbeit hätte abhalten sollen, das sah niemand ein. Der Herr Betriebsdirektor schon gar nicht. Der sprach noch ein wenig von dem heilenden Einfluß der Zeit, die alle Wunden schließt, und von der Jugend Marquardts, der ja noch so viel erleben, so manchen Trost finden könne ... Es klang fast wie Neid aus diesen Worten des alten Herrn, Neid auf die Jugend, für die, wie er offenbar glaubte, jeder Schmerz erträglich und kein Verlust unersetzlich war.

Heinz Marquardt ging still auf seinen Platz und arbeitete wie früher. Nur nicht mehr mit der alten Liebe zu seinem Tagewerke. Auch seine Begeisterung für den Chef, Herrn Weckerlin, schwand dahin. Er war für den jungen Beamten nur noch ein Vorgesetzter wie jeder andere. Heinz hatte überhaupt für nichts mehr Interesse, für gar nichts! ... Ja doch, etwas gab's! ... Das war die fixe Idee! Er fühlte, daß es wirklich zur Marotte werde, daß er vielleicht verrückt werden würde, wenn's ihm nicht gelänge, den Mörder seiner Trude zu finden.

Heute abend war er der erste, der seine Schreibärmel abstreifte. Und kaum, daß er sich Zeit nahm, seine Hände ins Waschbecken zu tauchen, rannte er schon, ohne jemandem adieu zu sagen, davon.

Ah! Das war eine förmliche Erlösung, als er draußen auf der Straße stand. Wieder in dem Strom der Arbeiter, die nach Hause eilten. Wieder ging er langsam dahin, als trüge dieser Strom ihn nur so mit sich, und blickte, in seinen warmen Mantel gehüllt, hinein in den Lärm des verblassenden Tages. Aber die Zufriedenheit, die damals sein Herz erfüllte, die ihn so getrost, so seelensruhig ins Leben hineinsehen ließ, die war fort und kam nie wieder.

Und zu seinem Schmerz gesellten sich heute die Sorgen. Denn das fühlte er, seine Stellung im Bureau würde er auf die Dauer nicht mehr ausfüllen können! Nicht, daß er durchaus fortgewollt hätte, nein, aber er war klug genug einzusehen, er würde früher oder später eines Morgens etwas so Wichtiges zu tun haben, daß er einfach nicht ins Bureau kommen könnte! ... Auch würde nach den vielen Nächten, die er von jetzt an außerhalb des Bettes zubringen mußte, seine Spannkraft am nächsten Morgen nicht ausreichen, um der Arbeit, die man von ihm verlange, gerecht zu werden.

Aber gleichviel, vorläufig hatte er Geld, das bei seiner Sparsamkeit eine ganze Weile reichen mußte ... und dann ... und dann ... er lächelte still vor sich hin ... Dieses Bild: er selbst den Mörder seines armen Weibes mit starker Faust vor sich herstoßend, in den Schlund einer blutigen, unaussprechlich furchtbaren Rache hinein. Dieses Bild verließ ihn nicht und gab ihm die Zuversicht und den dumpfen Tatendrang des Fatalisten.

Er hatte sich ein Zimmer in der Gollnowstraße gemietet. Dort im Scheunenviertel, mit seinen zum Teil noch erhaltenen Winkelgassen und Schlupfwinkeln für die Raubtiere der Großstadt, behagte es ihm am meisten.

Wenn das Licht der Gaslaternen die niederen, schlecht gebauten Häuser hell und dunkel schattierte, wenn aus den Fenstern die verräterisch rote Gardine schimmerte und die Kneipen beim Öffnen der Glastüren weiße Streifen über das Trottoir zeichneten, dann begann seine Zeit, dann schlich er die Straße auf und ab, wie ein Wolf, der mit brennenden Blicken auf Beute ausgeht!

Aber nach zwei Wochen sah er ein, daß er so nichts finden würde. Es mußte noch andere Orte geben: rauchgeschwärzte, düstere und stinkende Höhlen, wie sie in den Romanen geschildert wurden, die er früher gelesen hatte.

Kaschemmen!

Irgendwo hatte er das Wort gehört. Und seine Phantasie, die keine andere Aufgabe mehr hatte, arbeitete wie im Fieber an einem Gemälde, das eine Brutstätte des Lasters darstellte, wie sie wahrscheinlich nie und nirgend existiert hatte.

Die starken weißen Oberzähne über die Unterlippe beißend, betrat er ein kleines Parterrelokal, in dem hinter dem Schanktisch eine Frau stand, deren Gesicht man ihren früheren Beruf deutlich ansah.

In dem kleinen schmutzigen und sehr schmalen Raum saßen nur wenige Leute. An einem jammervollen Klavier saß ein junger Mensch, der Heinz Marquardt sofort interessierte. Er trug eine schwarze Kellnerjacke, die an den Nähten rot schimmerte, seine hellgrauen Beinkleider waren bespritzt, und aus der tief ausgeschnittenen schwarzen Weste kam ein zerknitterter, arg beschmutzter Serviteur heraus. Sein junges Gesicht hatte die fahle, fettige Blässe der Nachtschwärmer, und eine gewisse elegante Flinkheit der Bewegungen, die jetzt noch gutsitzende Scheitelfrisur ließen unschwer den herabgekommenen Kellner in ihm erkennen.

Er sang das Lied von der »Mutter Nudelbecken« und erzielte durch seinen, allerdings sehr freien Vortrag, mehr noch aber durch die nichtswürdige Begleitung dieses in den letzten Zügen liegenden Klaviers eine so komische Wirkung, daß sogar Heinz Marquardt lächeln mußte.

Und ohne sich recht klar zu werden über den Grund seines Zutrauens, sprach Marquardt den jungen Menschen an:

»Macht Ihnen wohl Spaß, was?«

Der andere ließ die Hände auf den Tasten ruhen, hob sein blondes, verschwiemeltes Gesicht und öffnete mit einer komischen Grimasse den Mund weit, ohne zu sprechen.

»Na, spielen Se doch mal ordentlich«, meinte Heinz Marquardt.

»Erst 'n Jroschen!« sagte der andere lakonisch.

Marquardt, dem die Groschen sonst nicht so lose saßen, gab ihm zehn Pfennig mit den Worten:

»Nu, sagen Se mal, wie kann 'n anständiger Mensch, wie Sie, sich in so 'ner Kaschemme aufhalten?!«

»Kaschemme Diebeskneipe.!« Der andere zog den Mund ganz auf die Seite und die rechte Augenbraue hoch hinauf. »Sie Männeken, lassen Se det nich Mutta Streicherten heeren, sonst klackt Ihn' die 'n Weißbierjlas uff Ihren Resedatopp, det de Blieten wackeln, vastehen Se! ... Det is doch hier keene Kaschemme nich! Hier vakehrt det dufteste Publikum aus de janze Knallbockstraße Koblanckstraße.

Heinz Marquardt klopfte ihm leicht auf die Schulter: »Na, lassen Sie man, so war's ja auch nicht gemeint ... man sagt doch so! ...«

»Ich sage, du sagst, er sagt, wir sagen, ihr sagt, sie sagen! Sie! – Sie! Sie haben überhaupt nischt zu sagen, vastehn Se, Sie olle Modderpflaume! Ja, wenn Sie noch Lokalkenntnisse besitzen dhäten! ... Soll ick Ihn' mal in't »Kabarett zum vabubanzten Theodor« rinjeleiten? Ja? ... Da kenn' Se seh'n, wat 'ne Kaschemme is! ... Damit Se davon mitreden kenn'! Wenn Ihn' mal 'n anständijer Mensch nach fragen sollte ...«

Heinz Marquardt lachte absichtlich laut, damit der andere Zutrauen fassen sollte. Und von einem instinktiven Entschluß bewegt, sich selbst auf die Stufe derer zu stellen, die er suchte, setzte er leise hinzu:

»Wo man nu doch schon mal gesessen hat, das is ja alles ejal! ...«

Der andere betrachtete ihn rasch mit seinen etwas glasigen Augen, dann sagte er:

»Sie wer'n doch woll nischt dajejen ham', wenn ick Sie hier zu mein' Wohltäter ernenne. Indem ick nemlich vajessen habe, mir die netige Pinke in de Tasche zu stoppen. Frau Streicherten!«

Die Wirtin, die einen Augenblick nach hinten gegangen war, erschien sofort.

»Zahlen!« Der junge Mensch deutete auf Heinz Marquardt, »der Herr da hat ma 'n Konto eröffnet! Daraus kenn' Se sehn, Mutta Streicherten, det es noch Menschen jibbt uff de Welt, und zweetens, det ick erst noch eenen trudeln Trinken. were! ... Aniskuchen mit kleene Kinder Drolliger Name für eine Art Schnaps.! ... so! ... bravo! ... Na, wie is't, Herr Nachbar, wollen Se nich och eenen zwitschern Trinken.

Heinz Marquardt hatte inzwischen hin und her überlegt: sollte er diesem Menschen, der ihn jetzt schon anwiderte, hier die Zeche zahlen ... wieviel verlangte die Frau? ... Eine Mark fünfundzwanzig Pfennig? ... Davon lebte er selber den ganzen Tag! Und schließlich erfuhr er gar nichts? Der wußte am Ende überhaupt nicht mal die Adresse einer Kaschemme! ... Und schon wollte er sich weigern, die Getränke des Klavierspielers zu berichtigen, als die Wirtin offenbar ganz zufällig sagte:

»Wenn de Thedorn heute noch siehst, denn sag'n man, er sollte mal morgen vormittag zu mich rankommen, ick hab'n wat zu sagen!«

»Det is nämlich det Fräulein Frau von dem vabubanzten Theodor!« sagte Alex und machte eine groteske Handbewegung.

»Also ick bestell' es, vaehrte Frau Wirtin! Ick kennte sojar jleich hinloofen, denn bis der Herr da« – er zeigte auf Heinz – »seine Minzensammlung rausjesucht hat, bis zu dem jroßen Momang bin ick wieder da! ... Ihre Olle hat Ihn' woll die Knöppe Geld. festjenäht, wat?«

Marquardt nickte.

Dann gingen sie beide.

Draußen fror es, trotzdem schon der Februar zu Ende ging, ziemlich stark.

Der Klavierspieler hatte die Fäuste in die Taschen seiner Kellnerjacke gebohrt und sagte:

»Nächste Woche reis' ick nach Italien, woll'n Se mit?«

Heinz Marquardt, der diese in trockenem Tone gemachte Bemerkung zuerst ernst nahm, schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Ich habe hier zu tun.«

Nun lachte der andere:

»Ick ooch! ... bloß ick weeß noch nich wat! Schließlich kommt et noch uff arbeeten raus! Neulich sollte ick doch schon mal Schnee schippen! Aber nee, wissen Se, det mach ick nich, darunter leid't meine Klaviertechnik ... bitte, hier jeht's weiter, immer jrade aus! Sie fürchten sich doch nichetwa, weil et da so einsam wird! ... Nee, nee, haben Se man keene Angst, ick dhu Ihnen nischt! ... Ick bin 'n janz anständijer Mensch!«

Marquardt antwortete kaum. Und der andere hörte das, was er brummelnd sagte, auch nicht. Er schwatzte fortwährend selber, bis sie beide vor einem kleinen Hause standen, zu dessen Tür zwei Steinstufen hinauf führten.

Indem sie eintraten, sagte Alex etwas ernster:

»Halten Se sich aber an mir! ... Et verkehrt nemlich 'ne Menge Jesindel in det Haus. Un wenn nachher de Plattmolle Portemonnaie. wech is, denn soll ick se Ihn' womöglich noch asetzen ... also rin!«

»Ei du mein Pusselken! ... Pusselken! ... Du Feines! Dusselken! ... Du Kleines! ...«

»Heeren Se?« sagte Alex, »die sind schon widder mechtig in Stimmung dadrinne! Ja, ja, der Theodor, wenn der mal seinen Affen losläßt, da bleibt keen Ooge drocken!«

Heinz Marquardt dachte für einen Moment gar nicht an den Zweck seines Hierseins.

Nachdem sein Begleiter die Tür aufgestoßen hatte, befanden sie sich beide in einer Art Vorraum, wo an der Seite ein verlassener Schanktisch mit schmutzigem Geschirr und zum Teil zerbrochenen Gläsern beladen stand. Hier war es dunkel, aber die Tür zu einem Gange war offen, und dieser mündete in das Lokal selber.

Von dort her drang der Lärm der Gäste. Eben fing ein automatisches Klavier mit seinen harten hölzernen Takten zu spielen an, und dazwischen knarrte und quakte ein schlechter Phonograph. Die Dielen dröhnten vom Gestampf tanzender Füße, und ein johlender Gesang schwang sich über all das Brimborium.

Viel zu sehen war selbst jetzt noch nicht, als Heinz Marquardt mit seinem Begleiter an den Stufen der hölzernen Treppe stand, die in den ziemlich großen, niedrigen Raum hinabführte, der von einer einzigen, kolossalen Dampfwolke erfüllt war, in der unter der Decke mehrere Petroleumlampen wie im Nebel schimmerten.

»Seh'n Se, det is det Kabarett zum vabubanzten Theodor,« sagte Alex, »denn warum nich? Wenn de feinen Leite sich sowat leisten, denn könn' wir't schon lange! ... Na, komm' Se man! Ihn' beißt hier keener!«

Damit stieg er die vom verschütteten Bier nassen Stufen hinab, und Heinz, dessen Augen sich allmählich an den beizenden Zigarren- und Zigarettenqualm gewöhnten, folgte ihm.

Er wäre aber beinahe lang hingeschlagen, so wurde er von zwei tanzenden Mädchen angerannt, die gleich stehen blieben und hell auflachten über das verdutzte Gesicht des Bureauschreibers.

»Na Kleener, wat willst du denn hier?« sagte die eine, »wie kommst du denn hierher?«

»Ich hab'n mitjebracht,« mischte sich Alex ein, »aber det is nischt vor dir, Aprikosenjuste, der Herr is wat bessert jewöhnt und will bloß ma' seh'n, wie 'ne Kaschemme aussieht! ...«

»So,« lachte die Angeredete, ohne dem Alex viel Beachtung zu schenken, »na, da haben Se sich ja 'n netten Vormund ausjesucht, Sie ...« Das Mädchen stemmte die prallen Arme, die ihre blaue Bluse mit den weitfaltigen Ärmeln ganz frei ließ, in die runden Hüften. Ihre merkwürdig hellen Augen, in denen das Leben leidenschaftlich funkelte, machten den jungen Beamten verwirrt, daß er die Worte nicht fand für das, was er so gern sagen wollte.

Er wollte sagen, daß er ganz und gar nicht fremd diesem Treiben sei, daß er keineswegs nur als ein müßiger Zuschauer hierherkomme, sondern, daß es sein Wunsch, sein heißer Wunsch wäre, mit all' den anderen hier zu toben, zu schreien und ihr Leben ganz mitzuerleben.

»Na, tanzen kann er wohl auch nich?« fragte das Mädchen, von dem ein verwirrender Hauch, etwas, das den Mann in Heinz Marquardt gegen seinen Willen anzog und verlockte, ausging.

Sie sagte noch etwas, aber der infernalische Lärm verschlang jedes Wort, und plötzlich hielt Heinz ihre blühende Gestalt umfaßt und schwang sich mit ihr im Reigen.

Er war früher vor seiner Ehe ein leidenschaftlicher Tänzer und auf den Vereinskränzchen und Bällen vor allen anderen begehrt gewesen. Aber so zu tanzen hatte er doch nicht gelernt. Ihm war, als sei er hier die Tänzerin. Mit einer Geschicklichkeit und Kraft ohnegleichen führte ihn das Mädchen. Die anderen Paare wechselten, sie aber tanzten immer weiter, rastlos, atemlos, ganz der berauschenden Raserei dieses tollen Wirbelns hingegeben.

Als sie endlich stille standen, hielt sie ihn noch immer umfaßt, lachte ihn schmeichelnd an und sagte:

»Na, so tanzte woll sonst nich, was, du?«

Er lachte auch und sagte ein paar dumme, nichtsbedeutende Worte.

Da scholl eine Riesenstimme aus dem Dampf:

»Setzen, setzen ... Jetzt kommt Herkules, der stärkste Mann der Welt! ... Hebt drei Zentner mit 'n Bauch und bezwingt sojar seine Schwiegermutter!«

»Paß mal uff!« meinte Aprikosenjuste, »wat der vor Kräfte hat! ... Dis is was anders, wie die Fiolenschieber in' Zirkus!«

Inzwischen war in der Mitte ein freier Platz geschaffen und eine alte Seegrasmatratze auf den Boden gelegt worden, dessen aufsteigender Staub sich mit dem Qualm mischte.

Heinz Marquardt sah, obschon er hinten an der Wand saß, alles recht gut und wandte sich unwillig zur Seite, als jetzt dicht neben ihm jemand sagte:

»Wat willst du denn hier? ... Du markierst doch nich etwa 'n Achtjroschenjungen?«

Heinz Marquardt verstand den Ausdruck kaum und wurde sich so auch der Gefahr nicht bewußt, die für ihn in dem Verdacht des andern lag. Aber ehe er noch etwas erwidern konnte, nahm sich Aprikosenjuste seiner an und sagte patzig:

»Bist du hier als Uffpasser anjestellt, Husarenwilhelm? Du siehst doch, det ick mit den Mann hier sitze!«

Aprikosenjuste nahm zärtlich über den Tisch hinweg die Hand ihres neuen Freundes, und Husarenwilhelm verlor sich zwischen den übrigen.

Währenddessen gab Herkules seine in der Tat von großer Kraft und Gewandtheit zeugenden Produktionen zum besten.

Und er wollte eben mit einem Konkurrenten zum ersten »Gang« antreten, als sich ein furchtbarer Tumult erhob und alles nach dem ganz hinten am Ende des niederen Saales befindlichen Schanktisch zudrängte ...

Auch Marquardt wollte sich neugierig erheben, aber das Mädchen hielt ihn zurück.

»Laß doch! Da haben sich zwee jefaßt, was is 'n da weiter bei! Sowas passiert hier alle paa' Minuten! ...«

Wirklich legte sich gleich darauf der Tumult, eine Seitentür ging auf, irgend jemand flog 'raus, und gleich darauf schrien alle Anwesenden laut und freudig erregt:

»Theodor! ... Theodor! ... Theodor soll singen!«

Der Wirt hatte das »Kabarett« betreten.

Es war ein kleiner, stark gebauter Mann, dem das rechte Ohr fast ganz und zwei Finger der rechten Hand zur Hälfte fehlten. Außerdem lahmte er sehr, und durch das ziemlich kurzgehaltene, schwarze Haupthaar zog sich ein weißer Hautstreif, sichtlich von einer Narbe herrührend, die ein fürchterlicher Hieb dort zurückgelassen hatte. Der solchermaßen »vabubanzte« Theodor trug über einer schwarz-weiß karierten Hose eine blutrote Samtweste und über dieser ein schwarzes Samtjackett mit großen Silberknöpfen.

Er schüttelte einige Dutzend Hände, die sich ihm entgegenstreckten, lächelte geschmeichelt auf die immer wiederholte Bitte, er möchte singen, und sprang dann mit einem Satz auf einen Tisch ganz in Marquardts Nähe.

Sofort trat absolute Ruhe ein.

Er begann;

»Das Lied von meine Leiden.«

Und dann sang er:

»Ick stamme wie wir alle aus de Renne,
Mein Vater war ein Herr von Irjendwo,
Und meine Mutter hieß in ihre Penne
Nicht anders wie der Floh! Der kleene Floh! ...«

Sofort fiel der ganze Chorus unter Johlen und Lachen ein:

»Der Floh! der Floh! der janze kleene Floh! ...«

Dann fuhr der vabubanzte Theodor, der in vollster Ruhe, höchstens mit einer Handbewegung oder mit einer Grimasse diesen Vortrag begleitete, fort:

»Ick war noch kleen, da jing se schon machulle machulle gehn – sterben.,
Det Schicksal ist mit unsereenen roh!
Se hintaließ ma' eene Jilkapulle
Un eenen Floh! Un eenen Floh! ...«

Sofort fielen alle wieder ein:

»Un eenen Floh! 'n janzen kleenen Floh! ...«

Eben wollte der Sänger, der seine hübsche Stimme im Refrain zu hohen Kopftönen preßte, von neuem anfangen, als in dem Türrahmen oben auf dem Gange einige Gestalten erschienen, die allgemeine Aufmerksamkeit erregten.

Der erste, der die Treppen hinabstieg, war ein großgewachsener, bürgerlich gekleideter Mann, und die der kleinen Treppe am nächsten Sitzenden sagten respektvoll »Juten Abend, Herr Kommissar!« zu ihm. Er ging ruhigen Schrittes ins Lokal hinein, während die beiden anderen Herren auf der Treppe zögerten.

Dem einen von den beiden sah man den Aristokraten ohne weiteres an, der gewiß, blasiert von jeglichem Lebensgenuß, sein Amüsement einmal bei den Antipoden seines Standes, den Ausgestoßenen und Verfemten, suchen wollte.

Er war schlank und sehnig und trug sich, wie viele der Gardekavallerieoffiziere, ein klein wenig vornüber. Im übrigen sah man unter seinem kurzen Demi-Saison den Frack und das weißpaspelierte Gilet mit der schmalen, goldenen Kette. Um das Handgelenk der Rechten, die soeben leicht an den glänzenden Zylinder griff, spannte sich auch feines Gold, das ein großer Diamant verschloß.

Husarenwilhelm, an dem er dicht vorbeistreifte, sah das wohl oder vielmehr er witterte es, wie Raubtiere die Beute.

Der dritte, der oben gestanden hatte, war für einen Moment zurückgegangen. Aber schon tauchte er in der Öffnung des schmalen Ganges wieder auf, eine Dame am Arm.

Von weitem sah diese Frau aus wie eine ganz junge Schönheit. Sie war groß und sehr gut gewachsen, in der Figur jedenfalls tadellos, obwohl der dicke Pelzmantel das nur halb erkennen ließ. Ihr Haar war ausgesprochen rot und zu einer wundervollen, mit Goldpuder bestreuten Frisur aufgebaut, in der Edelsteine funkelten. Der vorn offene Mantel ließ den schlanken Hals sehen, und die Farbe der Haut war weiß wie Frühlingsblumen.

Aber auch ihr Gesicht war blendend ... ja so blendend, daß nur der Kenner, und auch dieser erst bei genauerem Hinsehen, die hier in raffinierter Weise aufgewendeten Toilettenkünste merkte.

Und dazu die Stimme!

Einem blühend rosigen Samt glich dieses sanfte, wie aus einer reinen Kinderseele aufquellende Organ.

Was sie sagte, war nichts weiter als:

»Wir sind doch auch hier ganz sicher, Egon, ja?«

Als sie ein wenig ins Lokal hineingegangen war, da sah sie sich um nach einer Stelle, wo sie Platz nehmen könnte. Und ihre großen Augen, deren graue Iris etwas vom Schimmer des Topases hatte, richteten sich auf Heinz Marquardt, der unwillkürlich ein wenig von seiner Nachbarin fortrückte.

»Die macht dir woll Laune, was?« fragte Aprikosenjuste lauernd, »natierlich! Da kann unsaeene nich mit, wenn det da drieben ooch man allens unecht un ufflackiert is! ...« setzte sie, deren weiblichem Scharfblick das Künstliche in der Rivalin nicht entging, rasch hinzu.

Heinz Marquardt wollte etwas erwidern, da aber war die Schönheit schon am Tisch und fragte, mit ihrer kleinen, weißbehandschuhten Hand auf einen leeren Stuhl deutend:

»Gestatten Sie?«

Das einfache Wort klang Heinz Marquardt so sinnverwirrend, daß er über und über rot wurde.

Aber Aprikosenjuste stand hastig und mit einem schrillen Lachen auf, nahm den mit hungrigen Augen lungernden Husarenwilhelm, der jetzt gar nicht mit ihr mitwollte, unter den Arm und zog ihn nach hinten.

Marquardt, der seiner Verwirrung gar nicht Herr werden konnte, betrachtete jetzt den Begleiter der Dame.

Einen jungen Mann von höchstens zwei-, dreiundzwanzig Jahren, mit leeren, nichtssagenden Zügen und breiten, weichen Händen, die besser nicht mit so wertvollen Ringen geschmückt gewesen wären. Er trug einen kostbaren Gehpelz und im Knopfloch des darunter hervorsehenden schwarzen Gehrockes eine Tuberose.

Als er Marquardts Blick bemerkte, der ihn übrigens gar nicht sah, weil ihn selbst diese entzückende Frau zu sehr beschäftigte, nahm sein dummes Gesicht den Ausdruck der Kälte und des Hochmuts an, was bei seiner Begleiterin eine Heiterkeit hervorrief, die sie noch viel anziehender machte.

»Warum lachen Sie?« fragte der junge Mann leise, gekränkt.

»Sie stellen Ihre Fragen nicht richtig«, erwiderte die Dame ebenfalls im Flüsterton. »Sie müssen fragen: über wen lachen Sie?«

»So ... na, und über wen, wenn man fragen darf?«

»Sie dürfen!« Ihr Gesicht wurde immer heiterer, »Sie dürfen fragen, Herr Schindler! ... Ich lache über Sie!«

Heinz Marquardt, dessen scharfem Gehör keine Silbe entging, wandte das Gesicht, um seine ebenfalls nicht zu unterdrückende Heiterkeit zu verbergen, und sah in den Saal hinein, da der Wirt, der inzwischen mit dem Kriminalbeamten gesprochen hatte, wieder auf den Tisch sprang.

»Passen Sie auf,« meinte die Schöne, »das da interessiert mich viel mehr wie Ihr Geschwätz!«

Und während dieser Worte, die, von ihrer süßen Stimme gesprochen, nicht einmal verletzend klangen, trafen ihre Augen Heinz Marquardt, der der Versuchung, sich ihr wieder zuzuwenden, nicht hatte widerstehen können, und der sich nun abermals ganz verwirrt abwandte.

»Ick singe jetz': Det Fallbeil!« kündigte dar vabubanzte Theodor an.

Und wiederum wurde es ganz still, selbst die Gegenwart dieser schönen und seltenen Erscheinung konnte die Aufmerksamkeit der Hörer nicht mehr ablenken.

»Der Text un ooch de Musik sind beede von mir« sagte der Wirt. Dann sang er:

»Friemorjens hält vor Pletzensee
Een schwerbepackter Wagen,
Un een Jerüst aus Balken wird
Da schleinigst uffjeschlagen.
Bum! bum! bum!
Das sind die Hammerschläge.
Knarr! knarr! knarr!
Das ist die scharfe Säge! ...

Un pletzlich kommt 'n Herr im Frack,
Trägt een Etui aus Leder,
Un freindlich jrinsend hängt er denn
Det Fallbeil in die Feder! ...
Flirr! flirr! flirr!
Er läßt es runtersausen!
Brrr! brrr! brrr!
Det is een Ton zum Jrausen ...

Un uff 'n Hof versammeln sich
Der Staatsanwalt, die Richter.
De Zeijen kommen janz in Schwarz.
Der Kreis wird immer dichter.
Bimm! bimm! bimm!
Et schneet in feine Flöckchen ...
Bimm! bimm! bimm!
Det Armesinderjlöckchen! ...

Da hinten jeht 'ne Tiere uff,
Zwee halten eenen Dritten! ...
Die Beene schleppen fermlich nach,
Jetz' kommt der Pfaff jeschritten.
Trapp! trapp! trapp!
So hallt et uff de Steene!
Klapp! klapp! klapp!
Des sind den seine Beene!

Nu liest der Staatsanwalt wat vor
Mit salbungsvollem Maule.
Der schwarze Rudolf is janz Ohr –
Bei Jott, er legt 'ne Aule! Er spuckt aus.
Klapp! klapp! klapp!
Det is Herrn Reindels Schere!
Schnurr! schnurr! schnurr!
Durch Hemd und Rock jeht's schwere!

Mit eenmal kommt de Sonne raus,
Will Rudolf noch wat sagen?
Er brüllt. Da fassen se 'n. »Er wird
Rasch uff's Schafott jetragen!
Pip! pip! pip!
Een Sperling sitzt da oben!
Pfuiiiiiiiit!
Das Fallbeil kommt von oben! ...

'n schwarzer Kasten wird jebracht,
'n Korb voll Sägespäne,
Und drüben, wo die Kreuze steh'n,
Is Rudolf janz alleene ...
Huh! huh! huh!
Um Rudolf is et schade!
Hih! hih! hih!
Uns is et janz pomade! ...«

Als Theodor mit einer sehr ausdrucksvollen Gebärde unter tosendem Beifall geendet hatte, sah Heinz Marquardt seine Nachbarin an, die unter der Schminke erblaßt war.

»Das ist ja fürchterlich!« sagte sie leise und wandte sich dabei ganz unverkennbar an Heinz.

»Ja, ich versteh' auch nicht, wie man eine Dame hierher führen kann!« sagte dieser.

Sofort sagte der Jüngling mit der Tuberose spitzig:

»Ob Sie das verstehen oder nicht, das ist doch ganz gleichgültig!«

»Oh, bitte, doch wohl nicht so ganz!« entgegnete die Dame, »denn da ich den Herrn ansprach, ist es nur natürlich, daß er meine Frage beantwortet! ... Aber,« sie wandte sich wieder an Marquardt, »ich selbst war es, die hierhergeführt zu werden wünschte!« Sie lächelte. »Übrigens Ihnen scheint es hier auch nicht zu gefallen, und Sie sind doch auch hier!«

Heinz zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann kam es über ihn, als könnte er dieser Frau wenigstens einen Teil seines Unglücks anvertrauen, und mit kurzen Worten sagte er ihr, was ihn hierher und überhaupt in die Schlupfwinkel des Elends und des Lasters hineintrieb.

Sie schien ergriffen. Und leise, wohl mehr für sich selber, sagte sie:

»Also gibt es wirklich noch solche Treue?«

Und einen Moment nachsinnend setzte sie hinzu:

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen! Besuchen Sie mich einmal! Ich wohne in der Maaßenstraße 87, parterre ... hier meine Kartei«

Und ihm das glänzende Kartonblatt, das sie einem goldeingelegten Perlmuttertäschchen entnahm, überreichend, befahl sie ihrem Begleiter, der mit einem bitterbösen Gesicht dabeistand:

»Holen Sie Egon!«

Der Kavalier saß hinten, mit dem Kriminalbeamten zur Seite, in der Nähe des Wirtes, der, sich für den Applaus bedankend, vom Tisch gestiegen war und eben die Geschichte seiner Narben zum besten gab.

»Drei Blaue waren et,« hörte Herr Schindler noch, »aber det kann ick sagen, Ha Jraf, wenn se ma ooch 'n derbet Stück rausjehackt haben aus de Kohlrübe Kohlrübe – Kopf., so janz umsonst haben se det Vajniejen ooch nich gehabt! Der eene looft heite noch mit ohne Neese rum, un die beeden anderen haben ooch jeda ihre vier, fünf Wochen Charité jeschoben! Charité schieben – im Krankenhaus liegen. Wo ick zufasse, da quietscht et!« ...

»Madame läßt Sie bitten, Herr Graf!« kam der Jüngling im Pelz dazwischen.

»Was is 'n det for 'ne Eule?« fragte Theodor, »ach so, pardong, Herr Jraf, det is 'n Bekannter von Ihn'! ... na, denn will ick nischt jesagt haben! ... Uff Wiedasehn! Uff Wiedasehn! Adjeh! ...«

Damit gingen die drei Eleganten, der Kommissar folgte ihnen, und Heinz Marquardt saß wieder allein.

* * *


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