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London – Konferenzsaal des Hotels »Balmorel«, ein Raum, dessen dunkle Täfelung Würde und Ernst ausstrahlt, die Tradition Alt-Englands.

»Gentlemen, England hat noch nie eine verzweifelte Lage durch Aufregung gemeistert! – Ich bitte Sie dringend, die Ruhe zu bewahren!«

Lord Northern hat diese Worte ganz langsam gesprochen. Jetzt lehnt er sich weit nach hinten an die Lehne des Sessels. Er hat ihn vom Tisch fortgerückt, um die Beine übereinanderzuschlagen. Vor ihm steht der Zylinder.

»Please!«

Sir Ernest Bassem nimmt die unterbrochene Rede wieder auf:

»… Zu dieser Lage unserer Schwerindustrie kommt die des Schiffbaus. Es kann nur eine Frage der Zeit sein und dieser Mister Harsen beginnt, Schiffe zu bauen. Wer hindert ihn daran? – Die Regierung? – So leicht ist mit Deutschland nicht mehr umzuspringen! – Alumnit ist leichter als Wasser; Stahl ist schwerer. Das ist eine völlige Umwälzung. Mit Alumnitschiffen kann ein Stahlschiff nicht mehr konkurrieren. Entweder, wir bauen Alumnitschiffe – oder England hat keine Schiffahrt mehr!«

Er muß eine Pause machen. Die Erregung von vorhin kommt wieder. Aber Lord Northern hebt die lange, wohlgepflegte Land: »Please, Gentlemen!«

Sir Ernest kann fortfahren:

»Ich sagte: England muß Alumnitschiffe bauen. – Wird er das erlauben? – Wird er uns die Stücke liefern oder die ganzen Schiffe in Deutschland bauen wollen? – Ja, meine Herren, das kann er halten, wie er will!«

Wieder muß der Lord die Hand heben. Die Herren, Söhne des stolzen Englands, des freien, seegewaltigen, rücken nervös auf ihren Stühlen.

»… Ich sage, das kann er halten, wie er will. Er kann die Schiffe der ganzen Welt in Deutschland bauen, wenn es ihm so paßt – und es wird ihm so passen! – Und er kann, wenn die Werften nicht ausreichen, erst die der anderen Staaten, dann erst die Englands bauen. – Er ist – – er ist der mächtigste Mann der Welt!« – –

Sir Ernest trank erst einen Schluck. Dies letzte Wort mußte verdaut werden. Es war wie ein Messerstich. »Damned German!«, »verfluchter Deutscher«, murmelte jemand. Ja, wenn dieser Mann ein Brite wäre! – Aber ein Deutscher? –

Unten an der Tafel zeigte jemand die »Daily Expreß«. Die Zeitung brachte ein auffallend großes Bild Harsens. Auf diesem zeigte der Doktor ein freundliches, fast gutmütiges Gesicht. Gerade das reizte in dieser Situation. Sir Ernest ließ sich Zeit. Er warf ebenfalls einen Blick auf das Bild: Merkwürdig, mit diesem Mann muß sich doch reden lassen! – Dann fuhr er fort:

»Gentlemen, der Angelpunkt der ganzen Frage ist natürlich die Sache mit den Lizenzen. Er will sie nicht geben, wenn wir die Fabrikation nicht heraushaben. Aber die Vergeblichkeit unserer Versuche, also Vickers, ebenso wie über die von anderen Firmen, haben die Herren vorhin berichtet. Er wird die Lizenzen geben, einfach, weil er sie geben muß. Er muß sie aber erst geben, wenn jemand das Geheimnis gefunden hat, denn in dieser Lage hält sich wohl kein Volk an die Patentgesetze …

»Richtig!« riefen mehrere. Es klang fast erleichtert.

»… fragt sich nur, wer?! – Sind wir es, die das Geheimnis finden, – gut! – Ist es ein anderer – wehe uns! Dann sind wir von zwei Seiten her in der Zange.

Gentlemen, es ist also ein Zwang für uns, daß wir, ich sage wir und kein anderer an das Fabrikationsgeheimnis herankommen. Und da uns das in unseren Versuchslaboratorien nicht gelingt …«

Er setzte sich, ohne den Satz zu vollenden. Ein verblüffender Schluß!

»Bravo!« rief die ganze Runde.

*

Paris – Hotel »Splendide« – »Intimer Festsaal«.

An den Wänden granitne Säulenbänder, davon ausstrahlend Stuck und wieder Stuck in Silber und in Gold. Betonter, gewollter Prunk. Ohne Einheitlichkeit und Reinheit des Stils, aber festlich im Schimmer der kristallenen Lüster.

Man hatte eine Pause in der Sitzung gemacht. In einzelnen Gruppen standen die Herren auf dem spiegelblanken Parkett. Seltsam, der größere Teil von ihnen war äußerst elegant angezogen, knapp auf Taille und mit messerscharfen Bügelfalten, andere wieder völlig salopp, sich richtig gehen lassend. Das solide Mittelmaß, wie es in Deutschland bei solchen Gelegenheiten vorherrscht, fehlte hier fast ganz. Aber den Äußerlichkeiten stehend, sie doch nicht vernachlässigen, ist eine Kunst, die in romanischen Ländern wohl wenig verbreitet ist.

Die Kellner waren hereingekommen und servierten Liköre und Zigaretten. Namentlich die älteren Herren genehmigten sich ein Magenschnäpschen. Ein feiner Duft edlen Macedonentabaks lag über dem Ganzen.

In einer Gruppe zirkulierte, lebhaft besprochen, ein Abendblatt. Es war der eben erschienene »Soir«. Auch sonst hätte ein guter Beobachter eine Erregung feststellen können, die über das Maß romanischer Lebhaftigkeit hinausging. Es waren die Herren des Eisens und des Stahls, der Kanonen und des Hochbaus. Es waren die eigentlichen Herren Frankreichs, Schaffende und Stürzende der Minister, Spieler an den Marionettenfäden der Parteien.

Monsieur Schneider, Kanonen, Dividende 25 Prozent, hatte sich sein goldenes Zigarettenetui wieder gefüllt und blickte nach der Armbanduhr. Es war Zeit. Man mußte weitermachen. Er löste sich von der Gruppe und ging auf seinen Sessel zu. Ja, die Firma Schneider & Co., Creusot, präsidierte. Sie hatte eingeladen.

»Messieurs, darf ich bitten!«

Die Herren nahmen Platz.

»Wir fahren fort! – Monsieur de Landois hat ums Wort gebeten.«

Auch Landois war Kanonenmann. Er gehörte zu Schneider-Creusot. Aber nur die ganz Eingeweihten wußten das, ahnten etwas von den Vorzugsaktien. Nach außen hin war er unabhängig, um seine Rolle spielen zu können, die des vornehmen Intriganten in den Kulissen der amtlichen Politik.

Also Landois erhob sich gemessen. Er fühlte sich, wenn er eine seiner eleganten Reden vom Stapel lassen konnte:

»Messieurs! – – Wir haben im ersten Teil unserer Sitzung mit heftiger Bestürzung Klarheit gewonnen über den Schaden, der uns allen, ja, der ganzen Wirtschaft unseres geliebten Vaterlandes droht. Frankreich, das große, ruhmreiche, ist in Gefahr! – –

Jetzt bringt uns der Zufall in Gestalt des ›Soir‹ eine Bestätigung unserer Sorgen von einem ganz anderen Gesichtspunkt her. Wenn es erlaubt ist, meine Herren, möchte ich die Meldung vorlesen.«

Er ließ das letzte Wort langsam ausklingen, um die Erwartung zu steigern, setzte das Monokel ein und las:

»Berlin, 6. Mai. – Neues vom Alumnit. – – Die Tatsache, daß die Alumnitwerke kürzlich von einem Flugzeug ausländischer Nationalität überflogen wurden …«

Herr de Landois machte eine Pause. Das Monokel fiel herab. Die seidene Schnur zitterte. Sein Kopf drehte sich schweigend die Tafel herunter. Das schmunzelnde Lächeln der Augen übertrug sich auf die anderen. Ein keckes Lachen wurde von irgendwo hörbar. Dann klemmte er das Glas wieder ein:

»… überflogen wurde, hat den Alumnitwerken Veranlassung gegeben, umfangreiche Maßnahmen für den Luftschutz zu treffen. Alle wichtigen Teile der Fabrik und der Verwaltung wurden mit einem starken Alumnit-Panzer …«

Er sah wieder vom Blatte auf und den Herren ins Auge:

»… Panzer, meine Herren, Alumnitpanzer! – – – überdacht. Außerdem wurden zum Schutz der Belegschaft in allen Wohn- und Verkehrsstraßen Panzerschutzhallen« – – er wiederholte – – »Panzerschutzhallen errichtet. Diese überspannen die Straßen und bieten somit auch Fahrzeugen und deren Gespannen Schutz gegen plötzliche Überfälle aus der Luft. Der Tierschutzverein – – – jawohl ›Tierschutzvererein‹ steht dort, meine Herren …«

Ein wieherndes Gelächter schlug aus.

»… also der Tierschutzverein hat Herrn Dr. Heino Harsen« – – – er sprach es französisch: Eno Arsang – – – telegrafisch seinen Glückwunsch übermittelt …«

»Bravo!« klang ein zynischer Zuruf.

»… Dr. Harsen erklärte dem Vertreter eines Korrespondenzbüros, daß nach menschlichem Ermessen die Fabrik und die Bewohner von Leichtstadt auch gegen Angriffe schwerster Bomben geschützt seien.«

De Landois ließ Blatt und Einglas fallen. Er machte eine Kunstpause. So etwas erhöht die Spannung. Dann steckte er beide Hände in die Hosentaschen, nahm ruckartig den Kopf hoch und sprach, die Augen zur Decke:

»Was heißt das?«

Der Satz klang kurz und abgerissen, fast wie eine Fanfare. Aller Augen hingen an seinem Munde. Ganz langsam und tropfenweise kamen jetzt die Worte:

»Das heißt, daß Frankreich wehrlos ist!«

Am Ende dieses ungeheuerlichen Satzes waren seine Augen wieder unten, schreckhaft in denen der anderen, seine Gestalt zusammengesunken. – Jetzt kam der Beweis, leise und langsam erst, dann schneller und betonter:

»In Panzern und mit Schilden, unverwundbar, können sie heranstürmen mit dem Furor teutonicus, den Frankreichs Geschichte aus Jahrhunderten kennt. Wie die Scharen Attilas werden sie kommen über das Europa der Zivilisation, und unsere neuen Befestigungen werden sie nicht aufhalten können. Die …« – – und jetzt hebt er die Stimme zu schneidender Schärfe – – »… Mauer Lothringens ist ein Dreck!«

Wie ein Peitschenhieb knallt das in den Raum und bleibt dort stehen. – Stille. – Er wischt sich die Stirn. Sein Atem geht schwer. Erstarrung, Schreck liegt über den anderen. Dann kommt die Erlösung:

»Das ruhmreiche Frankreich kann und darf diese Bedrohung nicht dulden. Die Nation ist in Gefahr. Man rette sie!«

Das ist der richtige Ton! Ein Orkan des Beifalls braust auf. Ein Teil hat sich erhoben. Die Leidenschaft der Rasse bricht durch. De Landois selbst setzt sich. Es ist ein kurzes Zögern in dieser Bewegung. Eigentlich wollte er noch viel mehr sagen, wollte Vorschläge machen. Aber er findet, daß dies ein ganz vorzüglicher Schluß sei. Man soll sich nicht selber abschwächen!

Schneider beglückwünscht ihn. Es ist ein langer, gemacht ernster Händedruck. Schließlich hat Landois es ja auch wieder mal fabelhaft gemacht. Der Patriotismus ist jetzt das beste Geleis für das Geschäft! Schade, daß alles, was jetzt kommen muß, nur eine Abschwächung sein kann. Er zögert etwas, dem Deputierten Cerf das Wort zu geben. Der salbadert immer zu sehr. Aber es hilft nichts!

Der kleine kraushaarige Cerf – seine Ahnenreihe geht über Frankfurt, wo sie noch Hirsch hießen, dann über Kattowitz und Lodz ins nebelhafte graue Altertum hinein bis etwa in die Gegend des Nils – also Maurice Cerf hat gute Verbindungen mit dem Außenminister und berichtet, daß dieser leider die Lage etwas sehr zögernd betrachte. Der Minister sei der Meinung, daß es sich doch zunächst um nichts anderes handele, als um eine private Handelskonkurrenz, so lange die Verträge nicht gebrochen wären.

Spöttisches Lachen unterbricht ihn. »Und die Panzer?« ruft jemand.

Cerf berichtet weiter, daß nach seinen Informationen die Regierung eine Änderung des Patentgesetzes für die Sicherheit Frankreichs berührende Erfindungen plane, daß diese Änderung allerdings erst dann in Frage käme, wenn die Herstellung des Alumnits in Frankreich möglich wäre.

»Unerhört!« ruft es von allen Seiten. »Infamie!« – »Feigheit!«

Cerf schließt mit dem Bedauern, daß er leider keine anderen Mitteilungen als diese machen könne.

Die Entrüstung ist groß und einheitlich. Schneider gibt ihr den richtigen Ausdruck:

»Messieurs, nach alledem ist es doch wohl sehr fraglich, ob der Herr Minister des Äußern noch unser Vertrauen verdient.«

Da wissen sie alle, daß die Tage jenes Mannes gezählt sind. Wenn Schneider so etwas sagt!

Nur dem Baron Lunette ist das nicht recht. Baron de la Lunette hat zahlreiche Erzgruben in Lothringen. Der Minister Maillot ist maßgebend daran beteiligt. Gerade jetzt sollten dort neue Straßen gebaut werden. Für die Befestigungslinie natürlich. Aber doch gerade an den Gruben vorbei. Es kommt da sehr auf die Linienführung an! – Nur jetzt keinen Kabinettswechsel!

Baron de la Lunette entschließt sich also zu einer Ehrenrettung:

»Messieurs, ich glaube, die Sache etwas anders zu kennen. Wir dürfen das bekannte kalte Blut des Ministers Maillot nicht falsch einschätzen. Er hat geäußert, die Tapferkeit der französischen Nation könne durch keine Erfindung irgendeines Deutschen degradiert werden!«

»Bravo!« riefen einige.

»Und die Panzer?« – Das war Landois, also Schneider-Creusot, Stahlpanzer und Kanonen.

»Der Minister Maillot hat diese Frage genau so ernst im Auge, wie wir.«

Das war schwach! – »Oho!« rief es von allen Seiten. Ja, es half nichts. Schneider hatte ja das Stichwort gegeben. Man war bei der beliebtesten Tätigkeit dieses und mancher anderer Kreise Frankreichs, der Ministerstürzerei. Zurufe, Namen, schwirrten von allen Enden. Jeder hatte ja seinen Schützling oder Schützer, einen Mann seiner Interessen, Aktien und Dividenden. Da hieß es, einen gegen den anderen ausstechen, im Anfang Namen nennen, um sie von den anderen abkämpfen zu lassen, damit zum Schluß der wirklich Gewollte übrig bleibt. – Wie sie sich erhitzen! Wie die Gesichter glühen im Gefecht, die Worte sich kreuzen wie Klingen im Kampf! Es ist eine Lust, da zuzuschauen, wenn man selber nicht beteiligt ist.

Maurice Cerf ist nicht beteiligt. Heute noch nicht. Er schätzt, daß es noch ein zu frühes Stadium ist. Er überlegt. Er wird morgen noch einige Kanonenaktien abstoßen. Fünfundzwanzig Prozent werden die doch nicht mehr geben. Man muß sich für alle Fälle in eine andere Ware legen. – Vielleicht Baumwolle? – Baumwolle ist gut. Baumwolle oder Orienttaback! – Wie lange das hier wohl noch dauert? – Eine Stunde gewiß! – Dann kann man ja erst ein wenig essen!

Maurice Cerf geht eiligst heraus, als hätte er etwas im Paletot vergessen. Unten bestellt er sich ein Schnitzel à la Lyonnaise: »Aber vom Kalb, garçon!« Dann rechnet er, rechnet und ißt abwechselnd. Lange Zahlenreihen wandern aufs Papier. Der Kurszettel liegt daneben.

So – ob die da oben jetzt fertig sind mit der Ministerstürzerei? – Nun, schließlich hat man sie ja selber angerührt. Regierungskrise ist bester, als Krise in Kanonenaktien. Eine schiebt die andere auf. So hat man Zeit zum Verkaufen!

Ja, sie sind fertig – vorläufig! Sie sind sogar schon wieder beim Thema! Alle Achtung!

Als Maurice Cerf in den Saal tritt, hört er gerade, wie Schneider sagt: »Um an das Fabrikgeheimnis heranzukommen, darf uns kein Preis zu hoch sein!«

Geht alles von der Dividende ab, denkt Cerf und geht wieder hinaus. Laß doch die anderen zahlen!

*

New York – London – Paris! Ebenso Rom und Prag. In Moskau und Tokio sind die Formen anders, dort ist Asien. Aber der Gedanke ist der gleiche, überall, wo Eisen und Stahl zuhause ist. Er heißt: Angst vor Alumnit! – Ran an Alumnit!

Alumnit ist Macht geworden.

*

Jetzt hatte die Fabrik zwölftausend Arbeiter.

Sechstausend der schmucken Doppelhäuser standen in den grünen Gärten. Aber immer noch verlängerten sich die Straßen.

Eintausend Angestellte fanden in und um die Fabrik Arbeit und Brot. Sie wohnten meist um das Verwaltungsgebäude herum.

Dazu kamen die Kaufleute und freien Handwerker, die Beamten des Staates aus Post, Reichsbahn, Polizei und anderem, dazu Frauen und Kinder aller.

Leichtstadt zählte mehr als dreißigtausend Menschen, alle um einen einzigen Mann, um eine Erfindung herum.

Längst gab es Kinos, Hotels, mehrere Gaststätten, ein Kaffee, einen Tennisplatz und anderes mehr. Man konnte leben, wie in anderen Städten auch. Nur eines war anders: An allen Ecken und Enden spürte man den Pulsschlag der Arbeit. Alle Gedanken kreisten immer wieder zu dem einen Mittelpunkt zurück. Zum Werk. Jetzt vielleicht mehr noch als je, nachdem Alumnit in der Welt zum Stein des Anstoßes zu werden begann. Das merkten sie alle, eigentlich bevor es noch offenbar wurde. Ihrer aller Dasein hing ja ab vom Werk. Das gibt einen klaren Instinkt.

Und ihrer aller Liebe hing an dem einen Mann, dem Schöpfer aller Dinge um sie her. Sie grüßten ihn alle, die Dreißigtausend, die Frauen und die Kinder auch, wenn er barhäuptig mit sicherem Schritt durch die Straßen ging. Es war ihnen, als ob Kraft aus seiner Ruhe strömte. Ja, der Mensch braucht einen Mittelpunkt, einen Führer. Ohne Führer sinkt er ins Tierische hinab.

*

Als Linde eines Morgens in das Zimmer ihres Chefs trat, lagen dort seltsame Dinge auf dem Tisch. Unter anderem drei Pistolen verschiedener Größe. Sie waren in einer Thüringer Waffenfabrik aus Alumnit gefertigt. Harsen wollte sie zunächst in Belgien auf den Markt werfen, da von dort aus die ganze Welt mit Selbstladewaffen überschwemmt wird.

»Heben Sie einmal!«

Linde nahm die kleinste der Waffen in die Land. Sie wog ja fast gar nichts! Nein, die wird niemand als lästig in der Tasche spüren. Und dabei durchsichtig wie Glas! Man kann sehen, ob eine Patrone im Lauf ist.

»Nun, gefällt Sie Ihnen?«

Linde hätte nicht Soldatentochter sein müssen:

»Ganz reizend, wie ein Spielzeug, Herr Doktor.«

»Dann darf ich Sie Ihnen wohl verehren. Sie müssen doch auch etwas aus Alumnit besitzen, wenn es auch gerade nichts Damenhaftes ist.«

»Danke schön, Herr Doktor! Ich nehme sie herzlich gerne.«

Dann lag da noch das Modell eines Infanteriegewehrs aus dem leichten Stoff. Doch damit war der Doktor nicht zufrieden:

»Gerade weil es so leicht ist, ist der Rückstoß zu stark. Wir müssen infolgedessen das Gewehr in ein Selbstladegewehr umkonstruieren. Dann wird der Rückstoß zum Laden benutzt und aufgezehrt. Ein Maschinengewehr ist auch in Arbeit. Es braucht kein Kühlwasser. Wir machen eben den Lauf entsprechend dick. Es wird leichter sein, als das heutige Infanteriegewehr.«

Linde staunte, obwohl sie wußte, daß ihr Vater mit Harsen solche Dinge besprochen hatte. Dann legte sie die Post vor. Bei dem ersten Brief mußte sie gegen ihren Willen lachen. Er lautete.

 

U.S.S.R.
Zentral-Komitee

Moskau,
Datum des Poststempels.

Sehr geehrter Herr Dr. Harsen!

Nachdem Sie ein Lizenzgesuch unsererseits leider abgelehnt haben, machen wir Ihnen den Vorschlag, uns Ihre gesamte Erfindung unter Geheimhaltung derselben gegenüber jedem Dritten zu verkaufen. Wir würden Ihnen dagegen den erblichen Besitz der Halbinsel Krim übereignen. Sie werden dort den Schutz unseres Staates genießen, aber keinerlei Einschränkungen Ihrer Hoheitsrechte unterliegen. Die Wahl eines Titels in dieser Stellung steht Ihnen völlig frei, auch wenn dieser gegen die in unserem Staate geltenden Prinzipien verstoßen sollte. Die Sowjet-Republiken würden Sie in diesem Fall als exterritorial betrachten und als Verbündeten achten. Zur Unterhaltung eines dementsprechenden Lebenshaltes würde Ihnen ein monatlicher Ehrensold von einer Million Rubel bis zu Ihrem Lebensende ausgesetzt werden.

Wir würden uns glücklich schätzen, wenn Sie, sehr verehrter Herr Doktor, mit unserer Berliner Botschaft die Verhandlungen hierüber aufnehmen würden.

Der Präsident des Zentral-Komitees.

 

Linde dachte, der Doktor würde schallend auflachen. Aber sie hatte sich getäuscht. Er betrachtete immer wieder das Schreiben und schien zu überlegen. Er wird doch nicht etwa? – Aber nein, wie kann man so etwas denken!

Als er dann doch mit einem Male fröhlich wurde, war es nur ein Zwischenspiel:

»König von der Krim! – wie wär' es, Fräulein v. Hefften? – und erblich! Sehen Sie, hier steht's: erblich. Ich, der Junggeselle, erblicher König! Da müßt' ich mir ja direkt eine Königin dazu suchen. – Aber Scherz beiseite! Die Sache ist ernster, als sie aussieht. Aber sie ist wenigstens offen und ehrlich, wenn auch vielleicht nur der Schnelligkeit wegen. – Fräulein v. Hefften, Sie können mir mal eine Polizeisitzung zusammentrommeln, sagen wir morgen nachmittag 3 Uhr: Den Polizeiverwalter der Stadt, den Leiter der Werkpolizei, Direktor Schwarz, den Fabrikinspektor – ja, – wir müssen wohl noch einen Herren der Geheimpolizei aus Berlin heranziehen. Der Polizeiverwalter möchte doch so gut sein, das telefonisch zu veranlassen. Der Herr müßte vom Flugplatz Halle mit dem Auto abgeholt werden. Ich glaube, um 10 Uhr muß er ankommen. Sie haben ja den Fahrplan.«

»Wegen der Krönungsfeierlichkeiten?« Linde konnte sich schon einen Scherz erlauben.

»Ja, so ungefähr! – Sehen Sie, das hier zeigt, wie viel die Erfindung den Russen wert ist: Milliarden und sogar einen Bruch ihrer Grundsätze. Nun, bei den anderen Staaten wird das nicht anders sein. Die Sache ist kaum mehr mit Geld zu bezahlen. Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß die Russen gar nicht um Geheimhaltung bitten. Sie hätten diese z. B. mit einem großen Brückenauftrag erkaufen können. Aber daran liegt ihnen gar nichts. Im Gegenteil! Wenn ich nicht will, dann hoffen sie sogar auf Bekanntwerden, selbst auf die Gefahr der Lächerlichkeit hin. Das würde nämlich den Preis für andere Staaten in die Höhe treiben, in vielleicht unerreichbare Höhen. Nicht jeder hat so ein gesegnetes Land wie die Krim zu verschenken. Also die Erfindung soll damit unverkäuflich werden. Was man nicht kaufen kann, stiehlt man gerne, verstehen Sie?«

»Ganz genau, Herr Doktor! Also der Kampf geht jetzt unterirdisch los.«

»Ja, auf jede Art – zunächst unterirdisch.«

Harsen war aufgestanden und reckte die Brust. Es war wohl das Vorgefühl des Kampfes.

»Was haben Sie als Nächstes?« Er setzte sich wieder.

»Das Schreiben eines Herrn Cerf, Maurice Cerf, Deputierter aus Paris. Er fragt an, ob er nicht Alumnit-Aktien kaufen könne.«

Harsen lachte hell auf: »Komischer Kauz!«

»Er will auf jedes Stimmrecht verzichten und es Ihnen für die Dauer von drei Jahren übertragen.«

»So ein Schlaukopf! – Deputierter ist er, Kammermitglied? – Da müssen wir doch mal mit Wallershausen sprechen. Vorläufig geben Sie ihm eine hinhaltende Antwort: Wir hofften, in absehbarer Zeit seinen Wunsch erfüllen zu können. – Was noch?«

»Der vertrauliche Bericht eines ungenannten Deutsch-Böhmen aus Prag über eine Sitzung der dortigen Industriellen – Stahl, insbesondere Waffen, Skodawerke! – Man will uns anscheinend Spione ins Werk schicken.«

»Sehen Sie! – – Das ist die Bestätigung dessen, was ich vorhin sagte. Es geht los. – Drei Wochen später, als ich dachte.«

»Drei Wochen später?«

»Ja! – – Sehen Sie, ich habe mir natürlich, bevor ich hier baute, alle einzelnen Phasen des Kampfes, so gut es geht, vorausgerechnet, auch diese natürlich. Das muß man doch tun, wenn man eine Schlacht gewinnen will.«

Er sagte das so ganz einfach hin. Aber gerade darin spürte Linde die Größe dieses Mannes, der sein Ziel unverrückbar im Auge hielt, der die ganze Welt mit seinem Blick umspannte. Sie fühlt, dieser Mann macht nicht eine Fabrik, das ist zu klein für ihn! Er macht ein Stück Weltgeschichte. Und sie darf ihm dabei helfen! Ein Glücksgefühl überrieselt sie. Sie sieht ihn von rückwärts an, wie er so dasitzt und den Bericht aus Prag liest. Genau so frisch und spannkräftig wird er noch um Mitternacht hier sitzen. Sie wird vielleicht dann auch noch da sein. Sie kommt eben einfach wieder, wenn das Abendessen vorüber ist, ohne daß er etwas sagt oder fragt. Es ist ganz selbstverständlich. Die Augen wollen wohl oft zufallen, aber das darf er nicht sehen. Sie sind eins, das Werk nämlich, er und sie. Manchmal sagt er wohl: »Jetzt gehen Sie mal endlich in die Falle. Ich habe nichts mehr für Sie.« Dann sagt sie ihm Gute Nacht und geht. Einmal hat sie gemerkt, daß er dann doch auf ihrer Maschine geschrieben hat. Der Durchschlag lag dort. Da hat sie ihm gesagt, daß das doch wohl ihre Arbeit sei. »Ich will's auch nicht wieder tun«, war die lachende Antwort. Ja, man kann ihm nichts sagen, er entwaffnet alle, er hat es natürlich doch wieder getan.

Jetzt ist er fertig mit dem Bericht, und die Postbesprechung nimmt ihren Fortgang. Oft sind es nur ein, zwei Worte, die er sagt. Aber sie sind ja aufeinander eingespielt. – –

Lindes Leben ist jetzt nicht mehr so kasernenmäßig wie im Anfang. Man zieht bisweilen in das neue Kaffee. Da sitzt dann oft ein großer Tisch der Damen und plaudert lustig drauf los. Sie haben sich eng aneinander geschloffen, das »Nonnenkloster« ist eine feste Einheit geworden. Der gemeinsame Dienst und das gemeinsame Wohnen gleicht alle Interessenunterschiede und alle Verschiedenheit der Herkunft aus. Es sind lustige »Nonnen«, wie die Leichtstädter sagen. Im »Kloster« ist oft ein Heidenradau. Max fragte einmal, ob sie den Brockenritt gespielt hätten. Na, er ist ja noch ein Junge!

Jeden Sonntag ist Linde bei Harsen und seiner Mutter zu Mittag, zum Kaffee oder zum Abendbrot, wie sie gerade will. Er fragt am Sonnabend nur, wann sie kommt und wen sie mitbringt. Jedesmal ist es eine andere, damit niemand vorgezogen wird. Harsen wohnt in einem eigenen Haus, nicht weit von der Fabrik. Seine Mutter ist ganz sein Ebenbild. Als Linde sie zum erstenmal sah, wurde ihr ganz feierlich zumute. Das ist also seine Mutter! Eine große schlanke Gestalt mit schneeweißen Haaren und klaren, gütigen Augen. Es strahlt so etwas wie Hoheit und doch Menschlichkeit von ihr aus. Damals hatte sie die Land auf Lindes Kopf gelegt und gesagt: »Mein Sohn hat mir schon viel von Ihnen berichtet.« Da hatte Linde die Hand der Mutter genommen und einen Kuß darauf gegeben. Sie hat das nie vergessen können.

*

Eines Tages brachte die Post einen Brief mit dem Vermerk »Privat«. Harsen öffnete ihn erst, als alles andere erledigt war. Aus dem langen Umschlag kam ein Zeitungsblatt zum Vorschein. Rot angekreuzt war ein Aufsatz darin »Leichtstädter Bilderbogen«, eine sprühende, lebhafte, gutgesehene Schilderung der Stadt. Dabei lag ein Kärtchen mit einer eigenwilligen Damenhandschrift:

Doktor!

nächstens überfalle ich Sie.

Ihre vorerst unbekannte
Anneliese Traut.

Kein Datum, keine Ortsangabe! Poststempel und Zeitung waren aus München. Schnurrige Heilige! – – Ja, der Aufsatz war von ihr.

Er hielt die Karte immer noch in der Land. Ein ganz feiner Duft ging davon aus. Merkwürdig, das war etwas ganz Neues, etwas Unerwartetes, etwas, von dem man fühlte, in den Fingerspitzen fühlte, daß es mit allem Bisherigen, mit Werk und Dienst kaum etwas zu tun hatte. Es war das Leben von einer anderen Seite, einer frohen und unbekümmerten. Es war – – Privatsache!

Er schloß den Brief sorgfältig ein. Aber damit war er nicht fort. Er nagte weiter, drei Tage lang.

Nach drei Tagen erzählte Linde ihm, es sei eine Schriftstellerin im Hotel abgestiegen, die einen Roman über das Werk schreiben wolle.

»Ja, sie will mich besuchen«, sagte Harsen. Und nun zeigte er ihr doch den Brief. Er hatte sich immerfort gefragt, ob er das tun sollte. Er hatte ja bisher keine Geheimnisse mit seiner Sekretärin und der Aufsatz war ja über die Stadt. Aber andererseits – es war ja doch privat! Nein, er wollte es nicht sagen! Aber nun war die Gelegenheit gerade so – und die Sache mit dem Roman! – Also zeigte er ihn doch.

»Was sagen Sie dazu?«

Was sollte Linde sagen? Es ging sie ja schließlich nichts an. Aber erfreut war sie keineswegs. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr: Da kommt etwas Neues heran, etwas, was nicht hierher gehört, keineswegs!

»Schrullig!« sagte sie nur. Aber es war ein Unterton in ihrer Stimme.

Harsen verstand sich nicht auf Untertöne. Das war ein fremdes Gebiet.

Am späten Nachmittag rief »Sie« an. Es lag Leben in dieser Stimme. Sie wollte ihn nicht während des Dienstes stören, ob sie abends zu ihm kommen könne? – Ja, er wäre um halb neun im Büro.

Max brachte sie an. Er machte ein ganz verschüchtertes Gesicht. Auch für ihn war das etwas völlig Neues. Außer mit denen aus dem »Nonnenkloster« hatte er hier noch mit keiner Dame zu tun gehabt, und die, na, die gehörten doch dazu! Er war froh, als er damit fertig war.

Anneliese Traut und Harsen waren allein.

»Tag, Herr Doktor! Nun schimpfen Sie mal ordentlich!« Sie stand noch an der Tür, ein Bild sprühenden Lebens, berückender Schönheit. Das sommerlich leichte Kleid leuchtete in den Raum, aber es versteckte ihre Formen nicht.

Harsen hatte die Visitenkarte noch in der Hand. Er fühlte, wie er steif und verlegen, fast unbeholfen war. War ihm nicht schon einmal so zumute gewesen, so unterlegen? – Ja, richtig! Es war, als er Linde Hefften kennen lernte. Aber das war damals wie klare Luft nach dem Gewitter, dies hier wie vor einem solchen. Doch er kam gar nicht zum überlegen. Sie reichte ihm die Hand, fast wie einem alten Bekannten. Es ging alles so selbstverständlich und schnell. Er brauchte sich gar nicht einzustellen. Sie überhob ihn jeder zögernden Pause. Er hatte ihr längst den Besuchersessel hingeschoben, und jetzt saßen sie einander gegenüber.

»Ich will viel von Ihnen wissen, lieber Doktor, sehr viel. Ich will einen Roman über Sie schreiben, einen ganz dicken. Oh, es wird ein herrlicher Roman!«

»Über mich, gnädiges Fräulein? – Über mich?« Er war ganz erschrocken.

»Über wen denn sonst, lieber Doktor? Wozu bin ich denn hergekommen?«

Aber er wehrte sich mit allen Kräften. Alles, nur das nicht! Das widersprach seiner ganzen Natur. Doch sie redete auf ihn ein mit allen Kniffen weiblicher Überredungskunst. Ob er denn noch ein Bub sei, ein großer, lieber, guter Bub, der sich zieren täte? Er müsse doch die Frauen kennen! Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hätten, dann helfe gar nichts mehr. Da könnten sich die Männer drehen und wenden, wie sie wollten, es bliebe ihnen doch nichts übrig, als Ja und Amen zu sagen und schließlich noch Vergelts-Gott und Dankeschön. And als er immer noch nicht nachgab, beugte sie sich weit über den Schreibtisch herüber. Ihr Gesicht stand vor dem seinen. Er spürte ihre Nähe und sah ihre großen Augen. Sonderbare Augen! Waren sie tief wie ein Bergsee, oder lag ein weicher Schleier über ihnen? Er hatte noch niemals Frauenaugen so nahe gesehen. Und ihre Sprache klang jetzt ganz weich. Sie war Bitten und Schmeicheln zugleich.

»Doktor! Es ist Ihnen doch lieber, ich schreibe Ihren wahren Lebensweg, als daß ich Phantasien über Sie erfinde.«

Da sagte er gar nichts mehr, nicht ja, aber auch nicht nein. Gerade das Ernsthafte dieser Worte hatte ihm wohl getan. Sie jubelte, als sie keinen Widerstand mehr merkte. Nein, wenn er nicht wolle, solle es auch kein Roman werden, »wissen Sie, mit Liebe kreuz und quer und zum Schluß wieder gerade aus, sondern eine ganz richtige Biographie. Doktor, Sie werden mit mir zufrieden sein. Ich tu ja auch alles, was Sie wollen, bin ja ein ganz gehorsames Kind. A bissel a großes zwar.« Und sie sprang auf und riß den Notizblock aus der Tasche, den kleinen silbernen Bleistift dazu, und schon saß sie wieder. Jetzt wurden Notizen gemacht, Lebensdaten und anderes. Zuerst aber wollte sie durchaus sein Gesicht beschreiben. »Ja, da hilft Ihnen nichts, Doktor, ich muß Sie ganz gründlich anschauen. Blau sind die Augen, meine sind nur braun.« Und wieder spielten die Augen ineinander. Aber dann kamen Fragen über die Kindheit, Schule und Studium, dazwischen ein munteres Plaudern.

Wie diese Stimme fröhlich ist und fröhlich machen kann! Und dann wieder diese Augen, fast ein Gegensatz dazu, tief, als sprächen sie von Leidenschaft. Eine rätselhafte Frau! Ihre Nähe nimmt einem die Ruhe. Da sitzt sie ganz schräg, den Arm auf der Tischplatte. Der Arm ist unbekleidet. Er ist nahe vor einem. Er ist zart und doch durchblutet. Er ist Leben und Wärme und anderes mehr. Er hat Formen, die man nie gesehen oder nie beachtet hat. Es ist wohl, weil das Licht der Lampe gerade darauf fällt. – Und die Linie des Halses, im Nacken und vorne, das Gesicht dazu, der weiche Mund! – Sie schreibt jetzt eine ganze Weile still, so daß man alles sehen muß, ob man will oder nicht.

Jetzt spricht sie wieder, will dies und jenes wissen, von seiner Erfindung und seinem Werk: »Aber nur, was Sie mir sagen können, es ist ja öffentlich, das Buch.«

Und er gibt ihr Auskunft in einem Zuge. Sie hört aufmerksam zu. Der Kopf steht ganz ruhig, nur die feinen Nasenflügel scheinen leise zu zittern. Und die Augen wieder, diese Augen suchen, finden und halten schließlich die seinen. Es ist schwer, dabei die Gedanken zu ordnen. Es kommen immer andere mit hinein – daß niemand nebenan ist – daß sein Blut heiß ist – daß er doch schließlich auch nur ein Mann ist, ein freier Mann. Wem ist er denn Rechenschaft schuldig? – Niemandem! – Ja, es ist das Neue, was da in sein Leben treten will, das Leben in anderer Gestalt, das Weib, die Natur, das ist beides dasselbe. Er sieht es kaum, aber er fühlt es, daß ihr Kopf dem seinen so nahe ist, daß ihre Lippen sich wölben. Der Duft ihres Haares berauscht die wirbelnden Sinne.

Aber es ist nur ein kurzer Augenblick der Schwäche. Er, Dr. Heino Harsen, weiß nicht, ob er in diesem Augenblick ein Dummkopf ist, oder ob er einer besseren Eingebung folgt. Genug, seine Stimme verliert wieder ihr Schwanken. Er lehnt sich langsam zurück.

Ob er sich getäuscht hat? Sie schreibt jetzt wieder genau wie zuvor, nur daß eine Zeitlang Schweigen zwischen ihnen steht. Dann kommen wieder Fragen und Plaudern, nur etwas ernster als vorhin. Schon ist über eine Stunde vergangen.

»Jetzt wird mir aber der Arm lahm. Das kommt, wenn man so fleißig ist.« Sie sagt es und steht auf.

»Oh, das lange Sitzen!« Sie reckt die Glieder. Die Lampe scheint gerade darauf. Nun will sie das Zimmer sehen. Er muß aufstehen und ihr alles zeigen. Sie stehen ganz dicht nebeneinander. Es ist schwül schon den ganzen Tag. Aber als sie fragt, wer das Bild gezeichnet hat, vor dem sie gerade stehen, und er antwortet, daß es von Abbelohde sei, ist auch der zweite Augenblick der Schwäche vorbei. Er ist jetzt nicht mehr so ganz allein. Das Bild ist ja von Linde Hefften.

Nun wird sie ganz sachlich, setzt auseinander, wie sie sich den Aufbau des Buches denkt. An einer Stelle gehen ihre Meinungen auseinander. Den richtigen Weg finden sie beide nicht. Sie setzt sich auf die Liege und grübelt. Aber die Lösung will nicht kommen. Da schaltet sie die Ecklampe ein und legt sich hin.

»Entschuldigen Sie, Doktor, wenn ich ruhiger werde, kommt mir eher ein Einfall.«

»Aber bitte schön, gnädiges Fräulein!«

»Gnädig? – Ich bin ja gar nicht gnädig. Wissen Sie, das steht mir nun mal nicht. Die Menschen sind da wohl alle verschieden. Ich heiße Anneliese und wenn es offiziell wird, noch Traut dahinter.«

Es war wieder das fröhliche Lachen dabei. Ja, es ist richtig. So, wie sie da liegt, würde man besser »Fräulein Traut« sagen. Sie trug nur Söckchen, es war ja heiß. Sie hat es wohl nicht gemerkt, daß das Kleid etwas hochgerutscht ist. Man kann die Knie sehen. Verschwenderisch hat die Natur sie beschenkt. Harsen weiß nicht, ob er jemals solch Ebenmaß gesehen hat. Es ist ihm wieder ganz heiß im Rücken, die Gedanken jagen. Wenn ich ein Maler wäre oder ein Bildhauer und sie mein Modell, ich könnte etwas Herrliches gestalten. Er hat noch nie so etwas mit bewußtem Auge gesehen.

»Was denken Sie, Doktor?«

Da ist wieder das Lockende, Schmeichelnde in der Stimme. Ob er es ihr sagen soll? – Ob – zwei Schritte sind es nur! – Die Antwort zögert. – – Aber sie lautet, ganz ruhig und sicher wieder:

»Ich denke, daß es zu heiß hier ist.«

Ebenso ruhig geht er zum Fenster und öffnet es. Kühle Nachtluft strömt herein. Er atmet in tiefen, vollen Zügen, hinten liegt der Marktplatz einsam im Mondlicht. Nur der Wächter quert ihn schleppenden Ganges.

»Doktor, mir fällt nichts ein. Ich bin richtig müde geworden. Es ist Zeit, daß ich Ihnen Gute Nacht sage.« Er wendet sich. Sie steht und klopft ihr Kleid zurecht. Wie sie es aufgenommen hat, sieht er nicht. Auch ihre Stimme ist ruhig. Was sie noch sagt, ist freundlich und herzlich, nichts anderes. Morgen nachmittag führe sie nach Goslar, für etwa vierzehn Tage. Die alte Kaiserstadt mit ihren Bauten habe es ihr angetan. »Herr Doktor, Sie müssen am Sonntag mal rüberkommen, ja? Da trinken wir eine Tasse Kaffee miteinander.« Als er nicht gleich antwortet, bittet sie weiter, ganz unbefangen und kameradschaftlich. Sie ist wieder Herrin der Situation. Was kann es schaden, mal hinüber zu fahren? Er will höflich sein und sagt zu. Dann klingelt er nach Max.

Auf dem Flur bewundert sie den Bau des Hauses.

»Kann ich morgen mal das Gebäude ansehen?«

»Aber bitte sehr, Fräulein Traut! Sie brauchen nur zu kommen. Max wird Sie führen. Verstehst du, Max?«

»Jawohl, Herr Doktor!«

*

Sonnenlicht, leuchtendes, frohes Sonnenlicht flutete durch die Scheiben. Was gestern abend noch im Halbdunkel schirmverhangener Lampen lag, strahlte jetzt im Silber und Gold des Tages.

Wie anders sieht die Welt dann aus! – Das ist nicht nur äußerlich!

Linde trat ein. Harsen sah, daß sie sich über irgend etwas geärgert haben mußte und fragte. Man sieht ihr so etwas sonst nicht an.

»Ach, ich hab' mich über den Max geärgert.«

»Nanu, weswegen denn?«

»Herr Doktor, wozu wollen Sie sich denn auch damit noch den Kopf beschweren?«

»Vielleicht, weil es von Interesse für mich ist.«

»Nun, der Max ist so schwatzhaft – wie ein kleines Mädchen. Da hab ich ihn ins Gebet genommen.«

»Was hat er denn geschwatzt?«

»Daß die Schriftstellerin gestern zwei Stunden bei Ihnen war.«

»Zwei Stunden und zehn Minuten, Fräulein von Hefften.«

Sie schwieg und wollte die Post vorlegen. Merkwürdig, seit dem Erlebnis von gestern ist er ganz hellhörig für das Denken einer Frau. Er wußte sofort, weshalb das Schweigen kam.

»Haben Sie sie gesehen?«

»Jawohl, wir – wir waren gestern im Hotel.«

»Sieh einer mal an! So etwas ist interessant in der Kleinstadt!«

Linde stand rotübergossen da. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, genau wie vorhin den Max, daß sie dem Drängen der anderen gestern nachgegeben hatte.

»Und was sagen Sie zu dieser Dame?«

Linde schwieg zunächst. Was sollte man da sagen? Aber irgend etwas mußte man doch antworten:

»Sie ist sehr schön«, kam es zögernd.

»Betörend«, fügte er hinzu.

Dies Wort war eine Erlösung. Wenn er so etwas sagte, mußte er ja frei von ihr sein. Ja, sie hatte Sorge um ihn gehabt. Männer fallen ja gar zu leicht herein. Und nun erst diese! Nicht einmal der Name paßte zu ihrem Wesen.

»Wir wollen gleich einen Brief an diese Dame schreiben.«

»Jawohl! – Herr – Herr Doktor – ich bitte noch um Entschuldigung, daß ich so neugierig war.«

So! Jetzt war es heraus. Es hatte sehr gedrückt.

»Aber Fräulein v. Hefften, ich mache Ihnen ja gar keine Vorwürfe. Ich kann das doch verstehen.«

So war er immer. Eigentlich viel zu gutmütig!

Er diktierte:

 

»Sehr verehrtes gnädiges Fräulein!

Leider kann ich meine Zusage betreffend Sonntag nicht innehalten. Es würde Sie langweilen, wenn ich die dienstlichen Gründe auseinandersetzen wollte. Ich möchte jedoch noch die Bitte aussprechen, daß Sie mir das Manuskript der gestern durchgesprochenen Arbeit vor der Drucklegung zur Einsicht überlassen, damit ich der Reichsschrifttumskammer mein Einverständnis mit der Veröffentlichung übermitteln kann.

Indem ich hoffe, daß Sie in der schönen Stadt Goslar glücklich eingetroffen sein werden,

verbleibe ich usw.

 

Das geht nach Goslar, Kaiserhof. Schicken Sie den Brief erst morgen ab.«

Er hätte ihn ja ebensogut heute nachmittag im Hotel abgeben lassen können, aber er sollte langsam und regelrecht durch den Geschäftsgang laufen. Es galt, Gerüchte zu ersticken.

Linde las noch einmal das Stenogramm vor.

»Dienstliche Gründe – ist eigentlich gelogen«, meinte er.

»Was sollen wir sonst schreiben?« sagte sie.

Da mußte er innerlich lachen. »Wir« hatte sie gesagt. Hier waren sie beide richtig im Kompagniegeschäft!

Sie saß rechtwinklig zu ihm an dem kleinen Diktiertisch. Auch sie trug nur Söckchen, wie immer in den heißen Tagen und wie die anderen Damen auch. Merkwürdig, er hatte es nie gesehen. Er wagte auch kaum hinzublicken. Irgend etwas war da ganz anders als gestern abend. And das einfache Sportkleid stand ihr doch ganz famos. Wiederum merkwürdig, er hatte noch nie ein Auge dafür gehabt. Jetzt erst, nach gestern! – Hatte sie irgendeinen Vergleich zu scheuen? – Sicherlich nicht! And doch mußte da irgendein Unterschied sein. – Richtig! Auffallender war die andere! – Er erinnerte sich einer kunstgeschichtlichen Vorlesung seines ehemaligen Kollegen in Breslau: »Es ist das Wesen des Kitsches, daß er auffällig wirkt.« – Kann man denn aber den Ausdruck Kitsch von der anderen gebrauchen? – Das ist eine sehr schwere Frage! Kann Kitsch auch im Innern des Menschen sein? – Hier muß die Fährte richtig laufen. Irgendwie im Wesen liegt der Unterschied und so ganz falsch wird es wohl nicht sein, das mit dem Kitsch!

Da ertönte der Fernsprecher. Die Polizei rief an. In Berlin war etwas passiert.

*

Am Schiffbauerdamm fließt das Wasser der Spree. Ein Fräulein trippelt daran entlang. Vielleicht denkt sie an die letzte Ruderpartie und will die Kähne sehen. Sie ist fröhlich, denn die Handtasche birgt das Monatsgehalt.

Wie das nun so kommt, man rutscht aus oder stolpert, vielleicht über die eigenen allzu fröhlich schlenkernden Beinchen, genug, man liegt der Länge nach auf der Nase und die Tasche in der Spree. Plumps!

Alle Hoffnungen liegen da unten in dem schmutzigen trüben Wasser.

Es ist zum Weinen!

Erst kommt einer, sieht ins Wasser hinunter und tröstet, dann der zweite. Es sind also jetzt drei, die an der Steinkante stehen und die Hälse nach unten recken.

Wenn in Berlin drei Menschen auf dieselbe Stelle sehen, gibt es einen Auflauf. Das ist gute alte Sitte. Die Gruppe verzehnfacht sich also. Alle stehen sie, beugen den Rücken nach vorn und stieren in das Wasser. Das Wasser kümmert sich nicht darum. Es bleibt undurchsichtig wie es war. Aber einer nach dem anderen stellt dem Nachbarn gegenüber fest: »Det liegt ins Wasser!« Es vereinigt sich das zu einem lauten Gemurmel.

Immer, wenn in Berlin ein Auflauf ist, kommt ein Schupo. Ihn treibt nicht private, sondern dienstliche Neugier. Man sieht das an dem würdigen Gang. Der Staat kommt an!

Alles macht dem Staat Platz. Das weinende Fräulein klagt ihr Leid.

Jetzt steht auch der Schupo an der Uferkante. Auch er beugt den Oberkörper. Auch er reckt den Kopf, nur nicht ganz so tief. Der Helm könnte fallen.

Jetzt sehen sie alle noch einmal runter. Man muß doch den amtlichen, den sozusagen offiziellen Blick mitgenießen! Sie stehen dazu in einer langen Reihe. Es ist wie eine Kompanie Reiher an einem Kanalufer.

Der Schupo ist jetzt fertig. »Sie liegt drin.« Das ist das Ergebnis, der Tatbestand also. Er richtet sich auf, und die anderen tun es ihm nach. Aber ihre Augen wandern zu ihm. Er ist der Staat, der Staat muß helfen. Der Staat muß immer helfen.

Der Schupo krault sich am Hinterkopf. Das machen die anderen aber nicht mit. Sich am Kopf zu kraulen ist gleichsam das Vorrecht des Staates. Er denkt für sie alle. Da brauchen sie es nicht. Nur neugierig sind sie, was dabei herauskommt. Der Staat hat die Verpflichtung, klüger zu sein als die Untertanen.

Er ist es auch. Dem Schupo kommt ein Gedanke, ein fabelhafter Gedanke. Er will das Polizeiboot heranbeordern. Ehrfurchtsvoll machen sie ihm Platz. Ein Polizeiboot will er holen, ein Erlebnis! Und sie blicken ihm nach, wie er dahinschreitet in Würde und Kraft. Die Achtung ist hundertprozentig.

Die Menge schwillt an. Nach einer Weile kommt der Schupo wieder, und schließlich kommt auch das Boot angetöfft. Man muß schon sagen: ein schnittiges Motorboot, besser, als dem Aalhändler seine Asthmamolle.

Die Wasser- und der Landschupo grüßen sich. Dann beginnt die Aufklärung über den Tatbestand, und das Suchnetz wird herabgelassen. Die Spannung der Masse ist aufs höchste gestiegen. Sie wird belohnt.

Es gibt eine riesige Überraschung. Was heraufkommt, ist ein anscheinend funkelnagelneuer Feuerlöscher. Die Handtasche kommt erst beim zweitenmal. Die Handtasche ist vergessen, außer bei dem glücklichen Fräuleinchen. Die Masse hat einen anderen Mittelpunkt, den Feuerlöscher. Es sind noch Reste der Verpackung daran, braune Papierlappen und ein Bindfaden.

Ein Feuerlöscher!

Wie kommt der Feuerlöscher ins Wasser?

Es ist ein unerhörtes Erlebnis. – –

Der Schupo krault sich wieder den Kopf. Das Resultat davon lautet: Es handelt sich um eine Fundsache. Damit ist der Tatbestand geklärt. Das weitere besagen die Dienstvorschriften. Er nimmt den noch etwas triefenden Gegenstand in die linke Land, also das amtlich vorgeschriebene Tragegliedmaß, und wandert, nein schreitet zur Wache. Die Menge debattiert noch weiter, nur das Fräuleinchen setzt seinen Weg fort, natürlich auf dem Bürgersteig, fernab von dem schändlichen Wasser.

Mit dem Entschluß des Schupos sind aber die Schwierigkeiten noch nicht aus dem Wege geräumt. Nicht nur, daß ein Protokoll über den Fund ausgenommen werden muß, nein, es läßt sich nicht bestreiten, daß die ganze Sache nicht in Ordnung ist. Es ist eben nicht eine einfache, sondern eine komplizierte Fundsache. Ein Feuerlöscher gehört nicht in die Spree. Nein!

Wie kommt der Feuerlöscher in die Spree?

Was draußen nichtamtlich, wird hier amtlich debattiert. Der oberste unter den Wachtmeistern, der also die maßgebende Meinung zu haben verpflichtet ist, äußert diese dahin, daß ein gewöhnlicher Mensch, der sich einen Feuerlöscher kauft, ihn nicht in die Spree werfen würde. Daß ihn jemand so ohne weiteres verliert, ist auch nicht wahrscheinlich. Wenn er von einem Wagen herabgefallen wäre, könnte er nicht bis dahin gerollt sein. Die Dinger haben die Form einer Tüte, sie rollen nur im Kreise. Also die Sache war geheimnisvoll. Alles Geheimnisvolle muß aufgeklärt werden. Geheimnisvolles ist verboten! – Jawoll!

Der Feuerlöscher trug den stolzen Namen »Kolumbus«, vermutlich, weil er zum Gebrauch mit der Spitze aufgehauen werden muß, wie es jener Herr mit den hoffentlich hartgekochten Eiern getan haben soll. Wenigstens ist es ihm angedichtet worden. Er – nicht Kolumbus jetzt, sondern der Feuerlöscher – war, wie bereits gesagt, funkelnagelneu und konnte dem Befund nach nur kurze Zeit im Wasser gelegen haben. Es lag daher nahe, bei der Firma »Kolumbus« nähere Ermittlungen anzustellen. –

Wachtmeister Semmler begibt sich also zu »Kolumbus« am Alexanderplatz. Dort wohnen diese Leute noch – unverständlich von dem Hauswirt!

Als der Staat mit dem Feuerlöscher ins Büro tritt, machen die Herren verblüffte Gesichter, sie sehen nicht aus, als ob sie mit der Entdeckung Amerikas irgend etwas zu tun hätten, im Gegenteil. Erst als sie hören, um was es sich handele, erhellen sich die Gesichter.

Die Kolumbusse pflegen nun ihre Löschtüten mit Nummern zu versehen, von 100 000 an aufwärts. Diese trägt die Nummer 101 166. Ob es auch ungerade Nummern gibt, ist Geschäftsgeheimnis, gehört auch nicht hierher. Jedenfalls muß diese Nummer nach den Büchern vorgestern hier in der »Zentrale« verkauft worden sein, direkt aus dem Büro. Der Verkäufer wird herbeigeholt. Er entsinnt sich. Es ist ein junger Mann gewesen. Auch den Anzug und das Gesicht kann er leidlich beschreiben, den Namen weiß er nicht, nein, auch nicht die Wohnung.

Aber das genügt dem Wachtmeister Semmler nicht. Er ist genau. Er will alles wissen, alles, was der Mann hier geredet und gefragt hat. Da kommt es denn heraus, daß er immer wieder nach der Alumnit gefragt hat, nach allen Einzelheiten und Personen. Die Alumnit hat ja früher hier nebenan gewohnt. Aber allzuviel wisse man von denen auch nicht. Genauer kenne man eigentlich nur den Büroleiter, den Herrn Lehmann. Der hat ja damals den Max, das war der Laufjunge der Kolumbusse, hier ausgehandelt. Nein, mehr könne man nicht sagen.

Ob alle diese Dinge wichtig sind oder nicht, weiß der Oberwachtmeister Semmler nicht. Aber wenn man den Detektivschriftstellern glauben soll, sind ja schon Mörder durch einen Mückenstich entlarvt worden. Dies ist für den Beamten zwar nicht maßgebend, desto mehr aber das bei der Schupo so fest verwurzelte Pflichtbewußtsein. So schreibt er denn nachher in seinen peinlich sauberen Bericht jede Einzelheit hinein. Der Bericht wandert dann zur Kriminalpolizei. Die Sache sieht sehr harmlos aus, aber wegen Alumnit hat man Weisung von oben, telefoniert also nach Leichtstadt.

Das alles war sehr rasch, aber der Mann war noch rascher. Er hatte schon am Vormittag vor dem Telefongespräch bei Herrn Lehmann seine Aufwartung gemacht, – als Papierreisender. Schreibpapier, Kohlepapier, Durchschlagpapier, Farbbänder, Wachsbogen, alles führte er. Vieles war fabelhaft billig, erstaunlich billig. Es sollte aus einer Konkursmasse stammen. Nun, das ging Herrn Lehmann schließlich nichts an. Es wäre sündhaft gewesen, so vorteilhafte Preise nicht wahrzunehmen. Lehmann kaufte also. Man hatte ja immer starken Bedarf.

Der Kauf war so gut, daß der erfreute Reisende den Büroleiter einlud, doch am Abend mit ihm einen Schoppen zu trinken, – im Gasthaus »Harzkrone«. Warum nicht? – Bestechung war es nicht, die Einladung kam ja erst hinterher, das Lokal war gemütlich, Herr Lehmann einsam und dieser Herr Ullmitz ein Landsmann aus Berlin, da konnte man ja wieder von alten Dingen plaudern! – –

Die »Harzkrone« gehörte dem Werk, wie alles hier, mit Ausnahme der an die staatlichen Behörden verkauften Baulichkeiten. Sie war also auch ein Werk des Professors Fresenius, mithin etwas Vollendetes in ihrer Art. Der Zuschnitt sollte »gut bürgerlich« sein und damit etwa die Mitte halten zwischen dem Hotel mit seiner ruhigen Eleganz und den einfacheren Gaststätten. Dieser Absicht entsprach die Inneneinrichtung, die mit vielen Ecken und Nischen in altdeutschem Stile gehalten war. Man hätte das Haus auch ebensogut »Zur Gemütlichkeit« nennen können. Es war einladend; wer es kannte, brauchte Selbstüberwindung, um vorbeizugehen, und es hielt seine Gäste fest, oft bis in den aschgrauen Morgen hinein. Die Fama erzählt, daß von hier schon so mancher Kater in die Dämmerung hinausgeschlichen sei.

Über einer der Nischen stand in gotischen Schnörkelbuchstaben der Spruch:

»Es trinket die Taube vom Himmel das Naß.
Arme Taube! – Ich trinke vom Faß!
Ich trinke das feurige Rebenblut
Und bin meinem Mädel von Herzen so gut …«

Unter diesem Spruch erwartete Herr Ullmitz seinen Gast. Sie handelten auch danach. Sie tranken vom Faß. Sie tranken vom feurigen Rebenblut. Nur die letzte Zeile mußte ausfallen. »Tugend ist Mangel an Gelegenheit.«

Die Zeit rann, und mit der Zeit rann auch der »Stoff«, und mit der Zeit wurde man denn ja auch ganz niedlich voll. Es summiert sich eben so an! Das heißt, eigentlich war es nur Lehmann, bei dem sich Schwierigkeiten im freien Gebrauch der Zunge und der Gehwerkzeuge bemerkbar machten. Ullmitz hatte wohl vorsichtiger getrunken. Vielleicht konnte Lehmann auch weniger vertragen oder war nicht so in Übung oder – aber wozu soll man alle Varianten der Relativitätstheorie aufzählen, die auf diesem Gebiete zuhause sind? Genug, es war nicht ganz einfach mehr, den Henkel des Glases zu finden. Am liebsten würde Lehmann in seinem Bette liegen und schnarchen. Wenn nur der beschwerliche Weg nicht wäre! Man muß da schräg über den Marktplatz. Es ist nicht so einfach, wenn man das richtig machen will. Deshalb war Lehmann auch mit dem Vorschlag einverstanden, erst noch einen zum Abgewöhnen herunterzukippen. War ja auch ein riesig netter Kerl, der Ullmitz. Schade nur, daß er so neugierig war. Man muß immer so nachdenken, wenn man das alles beantworten will. Und Nachdenken – na – macht keine Freude mehr. – Besser ist es, wir singen noch einen! –

Was hat er da wieder gefragt? – Wie lange der Schmelzprozeß dauert? – Wie lange – der – der – Schmelzprozeß? – Schmelzprozeß? –

Lehmann stiert in sein Glas. Irgend was wirbelt da in seinem Kopf herum – so ein Gefühl, als ob er einen Schreck bekäme. – Was ist denn das bloß? – Der hat ja lauter solche Sachen gefragt? – Das – das ist doch nicht in Ordnung?

Lehmann zieht die Stirn in Falten und überlegt, was los ist und was er jetzt tun soll. Er ist voll – jawohl, sternhagelvoll. Kein Mensch wird ihm was glauben. Aber da kommt ja noch einer! Da kommt Knebel an den Tisch heran. Hat der nicht vorhin in der anderen Ecke gesessen?

»Knebel«, sagt er, »Mensch – K–K–Knebel! M–M–Mein Freund hier will wissen – will wissen, wie lange der – der Schmelzprozeß dauert.«

So, jetzt mag der sehen, wie er damit fertig wird!

Und Knebel unterhält sich schon mit Ullmitz. Er läßt auffahren. Es bleibt nicht bei einem. Da ist denn auch der Berliner sehr bald in den Gefilden der Seligkeit. Knebel fragt ihn nach allem Möglichen. Da stellt sich heraus, daß der andere ja gar kein Urberliner ist. Er stammt aus Leitmeritz. Das liegt in Böhmen. Und nachher hat er bei Skoda gearbeitet. Das sind die großen Waffenfabriken. Aber jetzt ist er fein raus. Wenn er das viele Geld erst hat –!

»Was für Geld?« forscht Knebel. Aber es geht nicht mehr mit dem Ullmitz. Er ist total weg und streckt sich lang. Nun, Knebel ist auch so zufrieden. Er geht einen Augenblick heraus und kommt dann mit zwei Männern wieder. Der eine nimmt die Bierleiche unter den Kopf, der andere an den Füßen. So tragen sie ihn ins Quartier, wenn auch nicht in sein eigenes im Hotel.

Es ist ein eigenartiges Quartier. Die Fenster und Türen sind so solide! Die Tür hat den Riegel draußen, statt drinnen. Einer von den Männern schiebt ihn zu.

»Na, den hätten wir«, sagt der Kommissar Knebel, »so ein Rindvieh!«

* * *

 


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