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Und es entstand die Fabrik, nein, eine ganze Stadt. Aus dem Erdboden wurde sie gestampft. Man glaubt ja nicht, wie schnell so etwas geschehen kann, wenn ein klarer, leitender Wille darüber steht, wenn ein durchdachter Plan zugrunde liegt, wenn zugleich an hundert Stellen unabhängig voneinander begonnen werden kann. Es lag noch Schnee auf den Feldern, als die Scharen der Landmesser kamen. Als er schmolz, standen schon die Bauhütten und Baracken, auch die hohen Masten der elektrischen Leitung; Voll- und Feldbahngeleise zogen ein enges Maschennetz, Entladerampen gingen der Vollendung entgegen. Währenddem arbeiteten bereits mehrere Holzhausfabriken an der Herstellung der späteren Arbeiterhäuser. Es war ja unmöglich, die große Zahl der Arbeiter in den umliegenden Ortschaften wohnen zu lassen, auch sollte hier alles eine einzige große Familie bilden. Für jeden war ein Garten gedacht, für zwei Familien ein Doppelhaus. Harsen hatte sich für eine einheitliche Konstruktion in moderner doppelwandiger Holzbauweise entschieden. Das hatte den Vorteil, daß man sie verlegen konnte, wenn einmal die Erweiterung der Fabrik es notwendig machen sollte und den weiteren, daß sie in ihren Einzelteilen schon fertiggestellt werden konnten, während die Fundamente noch im Bau waren. Schließlich konnte man für dasselbe Geld mehr Raum für die Familie schaffen. Stand so ein Haus, dann war es auch schon trocken. Eintausend Doppelhäuser waren bestellt.

Die ganze Anlage hatte die Form einer Ellipse. In dem einen Brennpunkt lag die Fabrik, in dem anderen das Verwaltungsgebäude, die Läden und Schulen. Beide Zentren verband eine breite Straße mit den Wohngebäuden der Beamten und Ingenieure. Strahlenförmig liefen die Wohnstraßen auf die beiden Zentren zu. Etwas abseits bildeten Kirche, Krankenhaus, Anlagen und Friedhof eine Gruppe für sich. Alles war so berechnet, daß es sich beliebig erweitern ließ, ohne den Grundriß umzuwerfen. Das war die Planung des berühmten Städtebauers Prof. Fresenius, der die architektonische Bauleitung übernommen hatte. Er saß mit seinem ganzen Stabe in den Hotels und Pensionen des schmucken Bades Sachsa. Für den Bau der eigentlichen Fabrik unterstand ihm der Oberingenieur Schwartz, der erst in Berlin, im Zimmer neben Harsen, gearbeitet hatte, jetzt aber an Ort und Stelle übergesiedelt war.

Als die herrlichen Wälder des Südharzes ihr erstes goldiggrünes Blätterkleid bekamen, stand hier bereits ein anderer Wald, der Wald der Gerüste, Verschalungen und Masten. Tausende von fleißigen Händen regten sich allerorten und über dem Ganzen lag ständig das Summen von Hunderten von Betonmischmaschinen. Das Hohelied der Arbeit klang über einst stille grüne Fluren.

Oftmals war Heino Harsen hier draußen. Überallhin drang sein prüfender Blick. Aber fast niemals griff er ein. Das war Sache der anderen. Erst nach der Übergabe war er der eigentliche Herr. Von Berlin aus begann aber schon die Anwerbung der Arbeiter. Sollten doch diese unter Leitung von Bauführern der Hausfirmen ihre Heimstätten selber aufbauen. Nur verheiratete Arbeiter sollten es sein, Gießer, Former, Dreher, Schmiede, Schlosser und viele andere. Jeder einzelne mußte zuverlässig national sein. Die Heimatbehörden wurden über jeden um Auskunft gebeten. Galt es doch, eine Belegschaft zusammenzustellen, die ein großes Geheimnis zu hüten hatte. Anzeigen erschienen, Werber waren unterwegs. Daneben mußte man noch Ingenieure und ein Heer anderer Angestellter gewinnen, Gasthäuser verpachten, die Niederlassung der Behörden veranlassen und fördern, denn was sollte man beginnen, wenn es dort keine Post geben würde, und noch so vieles, vieles andere erledigen. Arbeit gab es also genug. Oft drohte sie, über dem Kopf zusammenzubrechen.

»Nerven sind dazu da, um trainiert zu werden«, sagte der Doktor. Seitdem nannte man das »Nervensport« und lachte, wenn es soweit war. Er selber blieb sich immer gleich und forderte das auch von den anderen. Als ein Angestellter einmal die Nerven verlieren wollte, sagte er: »Sich gehen lassen ist ein Vorrecht der Kinder!« Das wirkte bei allen. Aber dann ließ er sie auch alle mal eine Stunde früher nach Hause, wenn es irgend nur anging. Ja, sie hatten ihn alle gerne, trotz der vielen Arbeit.

Mitten in dieser Zeit hatte Linde ein kleines Erlebnis. Als sie nach Büroschluß den Heimweg antreten wollte, trat ein Herr auf sie zu:

»Fräulein v. Hefften, darf ich Sie mit meinem Wagen nach Hause bringen?« Er deutete auf die schmucke schwarze Limousine. Sie entsann sich: der Mann war vorige Woche hier bei uns. Als Vertreter einer Drahtzaunfabrik wollte er einen Auftrag haben, war aber an die Bauleitung in Bad Sachsa verwiesen worden. Er war wie aus dem Ei gepellt, ohne aber den Eindruck eines Gigerls zu machen, im Gegenteil, die ganze Erscheinung war durchaus sympathisch. So zögerte sie, ihm eine Absage zu geben und nahm nach weiterem Zureden sogar an. Sie unterhielten sich über gleichgültige Dinge, soweit ihm das beim Fahren im Berliner Verkehr möglich war. Nur zwischendurch, ganz beiläufig, stellte er die Frage, wann sie denn nun nach der Fabrik in Altenkirchen übersiedeln wolle.

»Wenn ich das wüßte!« log sie. Ein dunkles Gefühl warnte. Aber der andere ließ das Gespräch wieder auf harmlose Dinge gleiten. Schließlich sagte sie:

»Sie fragen mich ja gar nicht nach meiner Wohnung?«

»I, warum? Man braucht doch nicht zu fragen, was man weiß.«

»Nanu, woher denn?«

»Aber gnädiges Fräulein, glauben Sie nicht, daß sehr viele Menschen sich mit Ihnen beschäftigen, mit den Alumnitwerken und damit auch mit deren weiblichem Mittelpunkt? Das hört man doch, wenn man in Geschäftskreisen lebt.«

Das klang offen und natürlich und der Weg war ja auch richtig. Da kann man wohl beruhigt sein. Beinahe war man ja auch schon zu Haus.

»Gnädiges Fräulein, ich habe häufig diesen Weg, wenigstens macht es mir nie etwas aus, wenn ich ihn fahre. Wollen Sie einmal schnell nach Haus, so rufen Sie doch bitte an. Es wird mir immer eine Freude sein. – Übrigens habe ich hier in der Gegend oft zu tun, nicht mit Drahtzäunen, sondern – Sie werden's nicht raten – mit Konfekt. Jawohl. – Darf ich Ihnen, gnädiges Fräulein, aus lauter Reklame – anders dürfte ich's wohl nicht – eine Probepackung verehren?« Er langte oben ins Netz und holte ein Päckchen herunter.

»Wenn es Ihnen schmeckt, empfehlen Sie bitte die Marke als Gegenleistung. – So, nun wären wir angelangt!«

Sie dankte freundlich und ging zur Wohnung empor, ganz ohne jeden Verdacht. Als sie dann aber das Päckchen öffnete und die Konfektschachtel besah, fiel ihr auf, daß diese nicht den Aufdruck »Probepackung« trug. Das mußte doch sein, damit sie ein Vertreter nicht verkaufen kann. Es war wohl nur ein Zufall, daß sie auf diesen Gedanken kam. Nun der Verdacht einmal erregt war, fand sich auch die Stelle, an der der Preiszettel des Ladens geklebt hatte.

Was ist das? – Doch wohl nichts anderes, als ein Annäherungsversuch. – Aber was für einer, zu welchem Zweck? Ein rein menschlicher? – Sie lächelte. Im Grunde ihres Herzens ist wohl keine Frau böse darüber, wenn der andere nicht gerade plump zuwege geht, und das hatte er nun wirklich nicht getan. Andererseits aber kannte er sie doch gar nicht! In der Firma hatten sie sich nur ganz flüchtig gesehen. Und dann die Frage nach der Übersiedelung! – Ob nicht doch etwas anderes dahintersteckte? – Einen Augenblick lang schoß ihr der Gedanke durch ihren Kopf, ob sie es ihrem Vater sagen sollte. Aber das war nur ein kurzer Augenblick. Es gibt wohl keine Tochter, die das getan hätte. Und dem Doktor? – Merkwürdig, das würde ihr viel leichter fallen! Warum wohl eigentlich? – Aber nein, es könnte geschehen, daß der sich alles in seiner ruhigen Art anhört und dann – ja, dann einfach die Frage stellt: »Sieht er nett aus?« – Um Gotteswillen, nur das nicht! – Am besten ist es schon, wir lassen die Sache an uns herankommen. Übrigens hat er mir ja nicht einmal die Telefonnummer genannt. Ist wohl alles halb so schlimm! –

Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen oder es bedauern sollte.

Am nächsten Morgen suchte sie aber doch unter den Besuchskarten nach. Richtig, da war er! – »Hans Felderhoff, Thüringische Drahtzaunfabrik, Erfurt, Generalvertretung Berlin.« Gegen zehn Uhr rief er an, er hätte ganz vergessen, seine Telefonnummer zu nennen. Sie riefe ihn doch auch sicher einmal an?

Linde wollte »vielleicht« sagen, aber als das Wort heraus war, hieß es: »Gerne, Herr Felderhoff!«

So schätzte sie –, heute wird er wohl noch nicht kommen, aber übermorgen wird er vor der Tür halten. Bin doch mal neugierig!

Ihre Berechnung war ganz richtig. Wieder saß man nebeneinander im Wagen und wand sich durch das Gewühl der Großstadt hindurch, durch Autos, Bierwagen, Omnibusse und Elektrische. Wieder gab es ein argloses Plaudern, kleine harmlose Dinge aus dem Leben und dem Bürobetrieb. Es klang ganz unauffällig, als er fragte: »Wissen Sie, worüber man sich in Berlin den Kopf zerbricht?«

»Na?«

»Woher die Alumnitwerke das viele Geld haben. – Aktien, von denen man nicht weiß, wem sie gehören.«

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Zum Teil Dr. Harsen, zum Teil einigen Banken.« Sie wußte, daß sie das so sagen durfte.

»Dr. Harsen hat nur ein ganz kleines Vermögen.«

»Woher wissen Sie denn das so bestimmt?«

»Gott, gnädiges Fräulein, es gibt doch Interessenten, die das herausschnüffeln. Das hört man dann an allen möglichen Stammtischen.«

»Was sind denn das für Interessenten?«

»Nun, vielleicht Lieferanten, die wissen wollen, ob ihnen ihr Geld sicher ist. – Aber schließlich – was geht das mich an!« Und er lenkte das Gespräch wieder in den Alltag.

Einige Tage später dasselbe Bild.

»Ich war in Bad Sachsa, gnädiges Fräulein. Ein reizendes Nest. – Ist ja ganz voll von dem Bau. Von was anderem kann man da überhaupt nicht mehr reden.«

»Wo haben Sie denn da gewohnt?«

»Im – im Hotel Moltke.«

»Moltke? – Wo liegt das? Dorf oder Bad? Unterhalb oder oberhalb der Kurverwaltung?«

»Oberhalb.«

Linde wurde hellhörig. Sie wußte, daß es dort wohl eine Moltkestraße, nicht aber ein Hotel dieses Namens gab.

»Sie haben da ja riesige Drahtziehmaschinen aufgestellt. Aluminiumdraht ist aber doch nur ein ganz kleines Geschäft.«

»Sie haben ja merkwürdige Informationen!« Linde konnte es nicht verhindern, daß ihre Worte langsamer und schärfer kamen, als sie wollte. Sie wußte, daß diese Maschinen zwar in Essen bestellt, aber noch keineswegs geliefert waren. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien: »Für welches Aluminiumwerk arbeiten Sie?« Doch der Instinkt sagte ihr, es noch nicht zum Abbruch kommen zu lassen. Man mußte weiter hören. Aber das Gespräch wollte nicht mehr recht in Gang kommen. Es stand eine kühle Wand zwischen den beiden Menschen. Felderhoff fühlte, daß er ertappt war. –

Er war erstaunt, daß sie ihn am nächsten Tage trotzdem anrief und um Abholung bat. Mitten in der Fahrt fragte sie:

»Sie sind ja verlobt, Herr Felderhoff!« Er trug heute einen Ring.

»Schon lange, gnädiges Fräulein!«

»Ich habe Sie gestern abend mit Ihrer Braut gesehen!«

»Nicht möglich, gnädiges Fräulein!«

»Doch – aber sie trägt keinen Ring!«

Da fuhr er an die rechte Bordkante, bremste und hielt. Sein Gesicht war leichenblaß.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, daß ich hier halte, aber der Schreck ist mir in die Glieder gefahren!«

Das war wenigstens offen! Man konnte fast Mitleid haben. Aber schändlich war es doch! – Er hatte das Gesicht abseits gedreht und atmete schwer.

»Also, Herr Felderhoff, Sie haben gestern gemerkt, daß bei mir nichts zu machen ist, jetzt versuchen Sie es mit einem anderen Mädel der Firma und das, obwohl Sie verlobt sind! Gut, daß ich zufällig die Leipziger herunterkam. – Welche Aluminiumfirma vertreten Sie?«

Das war deutlich. Aber der Trotz begann sich in ihm zu regen. Man konnte sich doch nicht so einfach unterkriegen lassen! Wenn es nur nicht diese Linde Hefften wäre! Man bekommt es einfach nicht fertig, sie zu belügen.

»Herr Felderhoff! Da kommt ein Schutzmann, weil wir hier verbotenerweise halten. Ich lasse Sie sofort wegen Werkspionage festnehmen, wenn Sie mir nicht ehrliche Antwort geben. Ehrlich als Ehrenmann! Ich möchte Sie immer noch dafür halten.«

Das gab ihm einen Stich. Er konnte einfach nicht anders. Er konnte nicht vor sich selbst durch Lügen vollends zum Lumpen werden.

»Die Mitteldeutsche«, sagte er dumpf. Dann ließ er den Motor wieder anspringen.

Eine Weile war es stumm zwischen den beiden. Dann sagte er: »Sie haben mich in Ihrer Hand.«

»Ja.« Dann schwieg sie wieder. Trotz allem tat er ihr leid. Dann nach einer Weile:

»Herr Felderhoff, mit der Hedwig Fall ist es aus! – Verstehen Sie?«

»Ja.«

»Und mit jeder anderen, auch jedem Manne ebenfalls!«

»Ja.« – Wieder eine Weile Schweigen.

»Gnädiges Fräulein – damit Sie nicht gar zu schlecht von mir denken –, ich habe die Vertretung noch nicht. Ich sollte sie bekommen, wenn ich einige bestimmte Nachrichten über Alumnit erfahre. Ich hab' mir nicht viel dabei gedacht. Aber wenn ich die Vertretung dazu bekam, dann hätte ich meine Braut heiraten können. – Nun ist's vorbei!«

Sie schwieg, aber es fiel ihr schwer. Zum Abschied gab sie ihm doch die Hand.

*

Harsen ging mit großen Schritten auf und ab.

»Eigentlich tut er mir leid. Es gibt schlimmere Fälle. – Aber da ist noch etwas anderes. Die Aluminiumleute haben die Preise gesenkt – Kampfpreise. Sie bilden sich ein, wir wollten Aluminium herstellen und versuchen, uns im Entstehen zu erledigen. Die Preise sind unter Gestehungskosten. Da gehen sie selber dran kaputt.«

Er hielt mitten in seinem Zimmer an, die Hände in den Taschen vergraben.

»Uns kann das doch nichts schaden.«

»Uns? – Nein. Aber wir sind doch nicht für uns selbst da. Das ist doch auch ein Stück der deutschen Wirtschaft! – Was machen wir da?«

Linde hätte sich ohrfeigen mögen. Daß doch Frauen so leicht einen kleinen Horizont haben! Das macht wohl, weil das Heim ihr naturgegebener Gesichtskreis ist.

»Wissen Sie was? – Wir müssen irgendwie Ihrem Schützling da einen Wink geben. Aber wie? Die volle Wahrheit darf er nicht wissen.«

Sie berieten noch lange darüber. Als Linde dann einen Gang zur Registratur hatte, stand Hedwig Fall dort.

»Ach, Fräulein Fall, rufen Sie doch einmal 1700 an. Es meldet sich da ein Herr Felderhoff. Ich ließe fragen, ob Herr Felderhoff so liebenswürdig sein könnte, mich heute wieder abzuholen.«

Fräulein Fall hatte ein kreideweißes Gesicht und ihre Stimme zitterte, als sie das Gespräch erledigte. Herr Felderhoff würde kommen.

Als der Wagen an derselben Stelle fuhr, wie gestern, sagte Linde: »Sie werden sich natürlich wundern, Herr Felderhoff, daß ich Sie heute nochmals gebeten habe?«

»Allerdings, gnädiges Fräulein – aber ich bin Ihnen dankbar.«

»Ich habe einen Grund, daß ich das tat. Vielleicht, daß Sie doch noch zu Ihrer Vertretung kommen.«

Überrascht blickte er sie an: »Wie wollen Sie denn das machen?«

»Nun – einfach, indem ich Ihnen etwas Wichtiges mitteile.«

Felderhoff machte ein ganz erschrockenes Gesicht.

»Nein, gnädiges Fräulein, nein! – Sie sollen nicht auch noch schuldig werden. Nein, Ihr gutes Herz soll nicht mit Ihnen durchgehen. Erst recht nicht um meinetwillen!«

»Sie brauchen keine Sorge zu haben. Ich sage nichts, was ich nicht darf, wozu ich nicht die Erlaubnis habe. Also hören Sie mal zu! – – – Passen Sie auf!!! Der Autobus!!! – Na, ist gerade noch gut gegangen. – Also Sie wissen ja, daß die Aluminiumindustrie Kampfpreise gegen uns losgelassen hat. Das ist Unsinn, hören Sie?«

»Ach so?« – Der Kaufmann erwachte in ihm. »Alumnit hat Sorge?«

»Keineswegs! Die Preise gehen uns gar nichts an, wenigstens nicht uns als Firma und Fabrik.«

»Gehen Sie nichts an?«

»Nein. – Glauben Sie denn, wir würden eine solche Riesenfabrik bauen, wenn wir die Absicht hätten, uns auf Ihren vollgepfropften Markt von Teekesseln und so weiter zu werfen?«

Er staunte. Was war das für ein Mädchen!

»Mit anderen Worten: Die Fabrikation der Alumnitwerke wirft sich auf ein ganz neues Warengebiet. Haben Sie begriffen?«

»Ein ganz neues …? – Dann wollen Sie uns also gar keine Konkurrenz machen?«

»Nein.«

Er schüttelte den Kopf. Das war ja eine ganz neue Situation. Dann hatten die Kampfpreise ja gar keinen Sinn. Aber er konnte es kaum glauben. Ob das eine Irreführung sein sollte? Er fragte ganz offen.

»Wollen Sie meine Hand haben?«

»Aber, gnädiges Fräulein, darf ich denn davon Gebrauch machen, ohne Ihnen Unannehmlichkeiten zu machen?«

»Ja, aber unter einer Bedingung: Das Ausland darf nichts davon wissen. Sonst kommt der Staatsanwalt.«

»Sind Sie denn auch wirklich zutreffend orientiert?« Er zweifelte immer noch.

»Sie sind doch klug genug, um zu merken, daß aus mir ein anderer spricht. Wenigstens habe ich Sie bisher dafür gehalten.« – Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Da glaubte er es.

Einen dankbareren Menschen als diesen hat es wohl nicht oft gegeben.

*

Jetzt macht es dem Chronisten Spaß, dem Leser etwas zunächst recht Erstaunliches zu berichten. Ob der es schon ahnt, was dahinter steckt?

Es war ein heißer und drückender Augusttag, als Linde v. Hefften einen kleinen Papierladen in der Friedrichstadt betrat und sich Visitenkarten bestellte. »Erna Brösike« sollte darauf stehen. Am nächsten Tage holte sie die Karten ab und ging dann in ein Konfektionsgeschäft. Ohne allzulange zu wählen, kaufte sie ein neues Sommerkleid. Daß es ihr besonders stand, konnte sie nicht finden, aber es war elegant. Dazu einen neuen Hut mit dem gerade modernen kleinen Schleier. Sie behielt die neuen Sachen an und ließ die alten in ihre Wohnung schicken. Dann rief sie eine Taxe an: »Japanische Botschaft!«

Sie hatte mit Bedacht ein geschlossenes Auto gewählt, trotz der Hitze. Hier konnte sie bequem ihr Äußeres etwas verändern. Der Lippenstift, ein ganz neues, ihr bis dahin unbekanntes Möbel, trat in Wirksamkeit. Etwas Puder ins Gesicht! So, jetzt waren die Lippen natürlich wieder weiß! Also nochmals den Stift! Und jetzt die Augenbrauen etwas dunkler! Das Gesicht war ganz merkbar verändert. – – Brrr! – – Greulich ist das, so sein wahres Äußeres hinter Kleie und Farbe zu verstecken! Dann kann man ja gleich eine Maske aufsetzen! Aber sie hatte Angst, daß irgendeiner der tausend Bekannten sie zufällig auf ihrem Gange sehen könnte. Auch das Bezahlen mußte schnell gehen. Lieber etwas zuviel, als Aufenthalt.

Der Wagen hielt.

»Hier, drei Mark, Rest für Ihre Frau!«

»Danke schön!«

Schon war sie im Torweg und bei der Anmeldung. – –

*

Der Militärattaché wußte wirklich nicht, was er davon halten sollte. Da war das Attest des Materialprüfungsamtes. Einfach märchenhaft! Das mußte doch gefälscht sein! So etwas gab es ja gar nicht, konnte es ja gar nicht geben! Aber da lag nun das Probestück. Er haute die Faust mit dem spitzen Messer darauf. Die Klinge brach. Ob er mit dem Säbel draufschlagen dürfe?

»Bitte sehr, Herr Hauptmann.«

Der kleine sehnige Mann mit der gelben Haut und den schrägen Augen stand auf und zog seine Waffe aus der blanken Scheide. Wie die Schwertkämpfer seiner Heimat holte er aus. Die Schneide bekam eine große dreieckige Scharte, das Stück nur einen kaum sichtbaren Strich.

Der Japaner wischte sich die Stirn. Er hätte vor Aufregung gezittert, wenn die stoische Ruhe seines Volkes nicht in seinem Blute gewesen wäre. Der Stoff war einfach rätselhaft, rätselhafter aber noch die Umstände. Ausgerechnet eine junge Dame, wenn auch sicher und weltgewandt! – »Erna Brösike.« – – Er nahm die Karte und ließ sie wieder fallen.

Da sagte Linde v. Hefften: »Die Karte da ist nur für das Personal. Zwischen uns beiden gilt diese!« Und sie reichte ihre echte Besuchskarte auf den Tisch. Er las: Linde v. Hefften, Direktionssekretärin der Alumnitwerke.

»v. Hefften? – – Sind Sie verwandt mit dem Obersten gleichen Namens?«

»Ja, ich bin seine Tochter. – – Nun werden Sie natürlich gar nicht wissen, was los ist, Herr Hauptmann. Aber ist das nötig? Halten wir uns doch lieber an den Stoff, das Alumnit!«

*

Als Linde nach etwa einer Stunde die Botschaft verließ, war sie wiederum ängstlich bemüht, möglichst schnell und ungesehen nach Hause zu kommen. Hier hängte sie die neuen Sachen, vielleicht für immer, in den Schrank. Dann ging mit Wasser und Seife die große Reinigung los. Gottseidank! Das wäre geschafft, das und das andere!

»Thea, ich hab' heute frei. Woll'n wir nicht mal Kaffee trinken?«

*

Zwei Tage nach diesem Besuche brachten die Abendblätter die Meldung, daß der Marquis Yotama, Militärattaché der japanischen Botschaft, zu einem kurzen Urlaub in seine Heimat abgeflogen sei.

Drei Wochen darauf wurde in Hamburg die »Ostasien-Im- und Export-G.m.b.H.« im Handelsregister eingetragen. Geschäftszweck: An- und Verkäufe jeder Art. Zeichnungsberechtigt: E. Mitsu.

Mitte September kam dieser Herr Mitsu nach Berlin und hatte dort eine fast vierstündige Besprechung mit Dr. Heino Harsen und dessen technischem Direktor Ernst Schwartz. Etwas später kam noch ein weiterer Herr hinzu, dessen Name niemand erfuhr, weil er direkt in das Beratungszimmer ging. Heute wissen wir, daß es der Kapitänleutnant a. D. Sillisen war.

Schriftliche Unterlagen über die Besprechung gelangten nicht in den Geschäftsgang.

Am 30. September erhielt die Alumnit-A.G. von der »Ostasien-G.m.b.H.« den Auftrag auf Lieferung von zahlreichen Einzelteilen für vier moderne Eisbrecher. Genaue Zeichnungen waren beigefügt. Es sollte das eine Neukonstruktion sein, die das Eis nicht von oben, sondern im Auftauchen bricht. Dies geht leichter, weil dann der Widerstand des Wassers fehlt.

»Ihr Werk, Fräulein v. Hefften!« sagte der Doktor, als die große Rolle mit den Zeichnungen und dem Auftrag kam.

»Aber nein, Herr Doktor, doch nur Ihre Instruktion!«

»Na, jedenfalls haben Sie's gut gemacht. – Sagen Sie mal – ich fragte wohl schon einmal –, haben Sie den Eindruck, daß die Japaner von einer Werkspionage absehen werden oder nicht?«

»Das weiß ich nicht, man kann diesen Leuten nicht hinter die Haut sehen. Sie sind von der Natur anders organisiert als wir.«

»Das ist bei jeder anderen Rasse so. Ganz wird man sie nie verstehen können.«

»Aber ich glaube, bis zur Lieferung dieses Auftrages werden sie warten. Der Hauptmann hat mir sein Ehrenwort gegeben.«

»Dann hält er es auch. Die Leute werden wohl denken, den gelieferten Stoff analysieren und dann nachahmen zu können. Sie haben für diesen Zweck schon einige Ersatzstücke bestellt. Sollen sie haben.«

Dann ging er hinüber ins technische Büro und gab die Zeichnungen zum Kopieren.

»Hier, meine Herren, der erste Auftrag. Einzelteile für eine neue Art von Eisbrechern für eine fremde Regierung. Eine etwas sonderbare Konstruktion, aber das geht uns schließlich nichts an. Es fehlt der Schneidedorn für das Eis. Vermutlich wollen die den aus Stahl machen. Art und Umfang des Auftrages ist Geschäftsgeheimnis. Ich brauch' Sie wohl nicht erst auf die verschärften gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam zu machen, meine Herren! Die Pausen numerieren Sie bitte.«

Damit begann die Ausführung einer der weitreichendsten Kombinationen des Erfinders.

*

Am 1. Oktober, also am Tage nach Eingang des ersten Auftrages, war die Einweihung der neuen Fabrikstadt am Harz. Die Bezeichnung »Altenkirchen« paßte nicht mehr für diese neue Stätte der Arbeit. So fand man denn nach langem Hin und Her den Namen »Leichtstadt«. Darin kam wenigstens eine Eigenschaft des neuen Produktes zum Ausdruck.

Alles war bis auf das letzte Steinchen fertig. Harsen hatte absichtlich eine in moderner Zeit verhältnismäßig lange Baufrist gestellt. Ihm kam es nicht auf einen amerikanischen Baurekord an, sondern darauf, daß die Fabrik auch wirklich sofort den Betrieb aufnehmen konnte, wenn der Böllerschuß der Eröffnung verhallte.

Es war ein Tag, wie ihn nur diese farbigste aller Jahreszeiten hervorzuzaubern vermag. Von den Hängen des Gebirges grüßte das Rot und Gold des Waldes. Von dem klaren leuchtenden Blau des Himmels strahlte die Sonne herab auf das nicht minder bunte Bild, welches die Menschen zur Feier des Tages boten. Girlanden und Wimpel überall, festlich geschmückte Kleider.

Schon am frühen Morgen wogte die vieltausendköpfige Menge auf dem Marktplatz auf und ab oder lauschte stehend den Klängen der Bachkantate, die mit gewaltigen Lautsprechern aus der Thomaskirche zu Leipzig eigens hierfür übertragen wurde. Wer zum erstenmal hier war, konnte die Augen nicht fortreißen von dem herrlichen architektonischen Bild. Hier hatte Professor Fresenius sein Meisterstück geschaffen. Auf der einen Seite das gewaltige, um einen Hof gebaute achteckige Verwaltungsgebäude, auf den drei anderen Wohn- und Geschäftshäuser, das stattliche Rathaus und die Post.

Alles im gleichen Stil, eine große harmonische Einheit, überall die Laubengänge vor dem Erdgeschoß, wie in alten schlesischen Städten, nur in breiter norddeutscher Klinker-Gotik. Darüber in wirksamem Gegensatz die ruhigen hellen Putzwände der Obergeschosse mit den großen modernen Fenstern, wiederum mit Klinkern eingefaßt. Alle Bauten, der Einheitlichkeit wegen auch das Verwaltungsgebäude, trugen hohe Ziegeldächer. Fresenius liebte sie, nicht nur, um den Hausfrauen Raum zum Wäschetrocknen zu geben, sondern weil sie so traut, so heimelig wirken. »Wo der Schnee liegen bleibt, da baue ein Dach!« war seine häufig befehdete Regel.

So war also diese Stadt entstanden aus dem Formgefühl des deutschesten aller Stile, der Gotik.

Um neun Uhr riefen die Fanfaren zum Gottesdienst. Beethovens unvergängliches Lied »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre« brauste aus tausenden von Kehlen empor. Dann folgte die weltliche Feier.

Auf der großen Tribüne der Ehrengäste und der Mitglieder des Direktoriums saß Linde mit ihrem Vater und ihrer Freundin Thea. Davor sah man den Staatssekretär Wallershausen, den Oberpräsidenten, den Landrat, Direktor Schwartz und die anderen Direktoren und ihn, die Seele des Werkes, Dr. Heino Harsen.

Der herrlichste aller Armeemärsche, der Hohenfriedberger, klang auf.

»Menschenskind, sieh mal den kleinen Dicken da, neben dem Landrat. Wie eine Melone!« – Theas größtes Vergnügen war, sich über »ulkige« Leute zu mokieren. »Den Zylinder hat er wie ein Einhorn aufgesetzt. Na, wenn ich ein Spatz wäre …«

»Das würde dir ähnlich sehen, hier, öffentlich vor allen Leuten! – Das ist Degener, unser neuer kaufmännischer Leiter.«

»Und der kleine Schlanke eins weiter?«

»Das ist Adelt, Herr Adelt.«

»Nanu, du, den kenn ich doch! Den hab' ich doch schon mal im Kasino gesehen. Der ist doch Flieger, Kriegsflieger. Was will denn …«

»Mensch, schweig doch! – Verstehst du?«

Eine Bewegung ging durch die Massen. Dr. Harsen war ans Rednerpult getreten. Noch kannten ihn die meisten kaum. Alles blickte zu dem großen stattlichen Mann, dessen Auge ruhig und sicher die Menge überschaute. Das waren sie also, die Menschen, mit denen er jetzt arbeiten würde. Vor ihm stand – mitten in dem offenen Viereck – eine Kolonne von Arbeitern im Kittel, die Schaufeln in der Land. Dort blieb sein Blick einen Herzschlag lang hängen. Das also würden die ersten sein!

Jetzt war lautlose Stille eingetreten. Linde schlug das Herz zum Zerspringen. Sie hatte Lampenfieber. Es war ja ihr Chef. Es war ihr Werk wie seines, was jetzt begann. Was es bedeutete, wer wußte denn das außer ihm und ihr?

Und er begann. Er sprach ganz anders, als sie alle hier erwartet hatten. Er sprach nicht vom Werk, er sprach von Deutschland. Seine Stimme drang klar und deutlich in den letzten Winkel hinein. Ganz ruhig begann er und fern jeder Pose. Aber immer stärker, immer leidenschaftlicher riß es ihn fort. »Ob dieses Land uns Arbeit geben kann oder nicht, ob es frei ist oder geknechtet im Ring der Völker – es ist unser Land. In ihm zu leben, Blut seines Blutes zu sein, das allein ist schon Ehre und wert, Inhalt des Lebens zu sein.« Und er sprach von dem Waffenkrieg der Welt gegen Deutschland, von der Ungleichheit, in der es trotz mancher Änderungen heute noch gehalten wird. »Es ist das Schlachtfeld der Arbeit, auf dem der Kampf um Deutschland weitergeführt wird. Auf diesem Schlachtfeld Soldaten in Eid und Pflicht zu sein, aber auch in Kameradschaft miteinander, das ist der Sinn der Aufgabe, in der wir hier stehen. Unser Werk hier wird Eckstein des Anstoßes werden in aller Welt. Mit Bestechungen und einem Heer von Agenten wird man hier Werkspionage treiben, um Deutschland die Erfindung des Alumnits zu entwinden. Aber ich weiß, daß niemand zum Lumpen und Verräter werden will. Ich weiß, daß die Aufmerksamkeit und die Ehrenhaftigkeit von Ihnen allen diese Pläne zum Scheitern bringen wird.«

Er machte einige Sekunden Pause. Die Worte sollten sich auswirken. Es entstand eine Bewegung. Man hatte das nicht erwartet. Man hatte geglaubt, es sollte hier Aluminium oder eine Legierung davon hergestellt werden. So war es doch allgemeines Gespräch. Auch die Tonlager sprachen doch dafür. Um so größer die Überraschung, daß es sich um eine neue Erfindung handele, eine von Bedeutung für die ganze Welt. Es war doch noch nie von irgendeinem Patent gesprochen worden!

Harsen sprach dann weiter von dem gegenseitigen Zusammenleben in der gemeinsamen Arbeit, von der großen Familie, die hier immer fester sich zusammenschließen müsse, von der Nichtachtung des äußeren und der Hochachtung des inneren Menschen. Er schloß, daß es im Leben aller hier zwei Pole geben müsse: »Unser Herrgott und Deutschland!«

Er hatte sie alle im Innersten gepackt. Man merkte es daran, daß das Deutschlandlied erst allmählich seine volle Stärke erhielt. Es war die Macht der Persönlichkeit, die die Massen in Bann schlug.

Harsen war während des Singens auf dem Rednerpult stehen geblieben. Nachdem auch das Horst-Wessel-Lied verklungen war, erhob er nochmals die Stimme: »Das Werk ist eröffnet. Die Verwaltung der Stadt übergebe ich dem Herrn Oberpräsidenten als Vertreter des Staates.«

Es sprach dann dieser, der Landrat und schließlich der Bürgermeister. Ihre Reden klangen etwas matt. Sie waren zu sehr im Hintertreffen. Zum Schluß betrat Harsen nochmals das Pult. Er dankte.

»Und nun an die Arbeit!«

Die Sirenen heulten. Große Autobusse brachen sich Bahn. Die Arbeiterkolonne sprang hinein, mit ihnen Harsen. Es ging zum Tonlager. Hier tat Harsen den ersten Spatenstich in die zähe hellgraue Erde. Die Loren begannen sich zu füllen. Ein Auto entführte ihn zur Modelltischlerei. Das war der zweite Teilbetrieb, der die Arbeit bereits beginnen konnte. Bald flogen auch hier die Späne. Form ward aus dem formlosen Stoff – Gußmodelle für die Eisbrecher.

Dann ging es zurück zum Marktplatz, wo die Kapelle immer noch festliche Weisen der Menge vorspielte. Die Mitglieder der Verwaltung, jetzt ein stattlicher Stab, sammelten sich vor dem Haupttor des Verwaltungsgebäudes. Ein Schlossermeister mit seinen Gesellen und Lehrlingen überreichte den Schlüssel. Harsen schloß auf. Weit öffneten sich die beiden Flügel.

Die Musik spielte gerade den Fliegermarsch.

*

Dem Rundgang durch das Verwaltungsgebäude hatte sich eine große Schar Menschen angeschlossen, alle die Ehrengäste und Pressevertreter. Im Konferenzsaal gab es eine Unterbrechung. Hier standen Brötchen und Getränke für ein schnelles Steh-Frühstück. Nach dem Programm sollte dort eine Pressebesprechung stattfinden. Die Herren von der Feder waren in reichlicher Zahl vertreten, selbstverständlich die Ortspresse der näheren und weiteren Umgebung, dann aber auch die Vertreter einiger großer Blätter und diejenigen der Korrespondenzbüros. Es war weniger die Fabrikgründung, die sie hierher gelockt hatte. Für das breite Publikum hatte diese bisher wenig Interesse. Mein Gott – Aluminium! Was ist das schon groß! Aber die Aussicht, hier ein neues Werk des berühmten Professors Fresenius bewundern zu können, war eine starke Anziehungskraft gewesen. Dieser Dr. Harsen – eine ganz unbekannte Größe bisher – hatte ihnen ihre Aufgabe leicht gemacht. Er hatte den leitenden Gesichtspunkt ihrer Schilderungen gegeben, indem er in seiner Rede vorhin dem Professor nicht nur für den Bau an sich dankte, sondern dafür, daß er mit diesem einen so vollendeten und zwingenden Beitrag zur Entwickelung eines dem deutschen Formgefühl entsprechenden Baustils gegeben hätte. »Hier ist nichts erkünstelt, hier ist Kunst.« – Dies Thema konnte man für jede Zeilenzahl herrlich variieren!

Der weiteren Dinge gewärtig stand man nun in Gruppen beisammen und ließ es sich schmecken. Zeitungsleute haben immer Appetit. Leo Köppen, der Vertreter eines großen Frankfurter Blattes, hatte sich einen reichlichen Vorrat in seine Ecke gerettet. Wenn die Sache offiziell zu werden drohte, konnte er hier unbemerkt weiter futtern. Man hatte doch seine Praxis! Allem übrigen gegenüber war er skeptischer. Sein Blatt hatte starke Bindungen zur Aluminiumindustrie. So hatte er denn auf seinem Notizblock eine nicht ganz ungiftige Bemerkung über Harsens Rede stehen: »Sein Hinweis auf etwa kommende Werkspionage ist wohl in erster Linie reklametechnisch zu werten. Man soll das neue Werk wichtig nehmen, sogar im Ausland!« – Das Ausrufezeichen hatte er nachträglich noch hinzugesetzt.

Aber er mußte diesen Satz nachträglich wieder streichen. Dr. Harsen klopfte ans Glas:

»Darf ich mir erlauben, insbesondere den Herren von der Presse noch einige nähere Informationen zu geben! Zunächst bitte ich Sie, meinen Hinweis auf eine aus dem Ausland zu erwartende Werkspionage nicht zu veröffentlichen. Es kann mir natürlich nicht daran liegen, dieses Unheil noch durch einen öffentlichen Hinweis zu beschleunigen.

Meine Herren, das Alumnit ist ein neues Leichtmetall, eine Schwester des Aluminiums, aber mit vielen stark abweichenden Eigenschaften. Es hat eine selbst dem Kupfer noch überlegene elektrische Leitfähigkeit, ist aber wesentlich zugfester und leichter als dieses Metall, zersetzt sich auch nicht an der Luft. Was das für die Verlegung elektrischer Stark- und Schwachstromleitungen in der ganzen Welt bedeutet, wird Ihnen einleuchten. Da wir bisher für diese Zwecke Kupfer einführen mußten, jetzt aber stattdessen Alumnit ausführen werden, wird es Ihnen klar sein, weshalb ich vorhin die nationale Bedeutung des Unternehmens hervorhob.

Die Alumnitwerke werden also Drähte für alle Elektrozwecke herstellen. Über die Aufnahme eines zweiten Artikels im Gußverfahren sind die Erwägungen noch nicht völlig abgeschlossen. Seine Verwendung wird dem Landverkehrswesen der ganzen Welt zugute kommen. Aber dies letztere bitte ich Sie jedoch vorläufig noch nicht zu berichten. Alle hier anwesenden Blätter werden in kurzem darüber gleichzeitige und ausführliche Nachricht erhalten.

Sie sehen also, meine Herren, daß der Preissturz der Aluminium-Aktien in den vergangenen Tagen keine Berechtigung hat. Sie sehen das schon daran, wenn ich Ihnen verrate, daß wir die ›unbekannte Seite‹ gewesen sind, die den Markt durch Ankäufe wenigstens in etwas zu stützen suchte. – Und nun, meine Damen und Herren, lassen Sie es sich weiter gut schmecken!«

Diese letztere Aufforderung veranlaßte Herrn Köppen, sich schleunigst neuen Vorrat an Brötchen und Bier zu holen. Zum Schreiben braucht man ja gottlob nur eine Hand. Das waren ja Riesensensationen, die Marktstützung ausgerechnet von dieser Seite, dann aber vor allem der Leitungsdraht aus dem neuen Metall. – Fabelhaft! – –

Der Laufbote Max war in den Saal gekommen und sah sich suchend um. Die prunkhaften goldenen Tressen waren verschwunden. Aber die schlichte grüne Uniform stand ihm auch gut. Ja, man hatte ihn von den »Kolumbussen« fortengagiert. Leicht war das nicht gewesen. Diese Leute setzten sich auf die Hinterbeine, sprachen von Vertrag, Kündigungsfrist und dergleichen. Das heißt doch schließlich, sie wollten ihn nicht gerne los werden. Aber Lehmann, der Bürochef der Alumnit, hatte ganz trocken gesagt:

»Na, wo Sie doch sowieso bald pleite sind!«

Da waren die Kolumbusse aufgebraust:

»Wieso?«

»Na, wenn Sie so wenig geschäftstüchtig sind, daß Sie für unser neues Werk noch nicht einmal Ihre Feuertüten angeboten haben?«

Man wurde sehr schnell hellhörig. Kolumbus lieferte einen Boy und hundert Feuerlöscher. Alumnit zahlte die Löscher mit Barscheck.

»Ein teurer Junge«, meinte Lehmann. Aber schließlich war er doch nur eine Gratiszugabe! Jedenfalls freute er sich mächtig. Das war doch ein ganz anderer Betrieb drüben! Herrgott nochmal! Und dann sollte es noch dazu in eine ganz neue, eigens gebaute Stadt gehen. Das war ja ein Abenteuer, wie es in den Büchern steht!

So war es gekommen, daß Max von den Kolumbussen zu den Alumniten kam.

Also Max kam in den Saal und schlängelte sich zu Linde hindurch: »Ich soll den Damen ihre Zimmer zeigen.«

»Schön, Max – endlich! Such mal die anderen. Wir wollen uns vor der Tür treffen.« Dann verabschiedete sie sich von ihrem Vater. Der mußte noch den Rundgang durch Fabrik und Wohnstraßen mitmachen. Thea wollte natürlich bei ihrer Freundin bleiben.

Die ganze Kavalkade – zwölf Damen waren es jetzt – setzte sich in Bewegung, die Treppen hinauf ins vierte Geschoß. Der Paternosteraufzug war ihnen noch unbekannt. Lisbeth Peters sagte, keine zehn Pferde brächten sie da herauf. Oben ging es einen langen Flur hindurch und dann um eine halbe Ecke zu einer Flügeltür. Dahinter war ihr Reich: ein einfacher, blitzsauberer Flur mit rotem Linoleum, rechts die Fenster und links die spiegelblanken weißen Türen. Alles roch noch etwas nach Neubau. Hinter den sechzehn numerierten Zimmertüren schloß eine zweite Flügeltür das Reich der Damen ab.

»Die Namen stehen dran«, sagte Max. Richtig, man hatte ja in Berlin die Kärtchen geschrieben!

Gleich die erste Tür gehörte Linde. Natürlich – rechter Flügel – gleichsam Zugführer! Sie trat mit Thea ein.

Beide sagten natürlich: »Oh!«

Welche Dame sagt das nicht, wenn ihr etwas gefällt?

Nicht, daß das Zimmer prunkvoll war. Nein, das hätte hier wohl nicht hergehört, aber geräumig, hell und freundlich. Die Wände hellrot gestrichen, der Fußboden braunes Linoleum mit roten Läufern und ebensolchem Teppich. Die Vorhänge des breiten Fensters in farbigem Schwedenmuster, bequeme Rohrsessel, ein Sofa und eine Liege, alles in Farbe und Form raffiniert aufeinander abgestellt. Dazu Schränke, Bücherbrett, ein niedlicher Schreibtisch in Schleiflack und sogar – eine Schreibmaschine. Neben dem weißlackierten Bett gelangte man – »Thea, ist das nicht fabelhaft?« – durch einen Friesvorhang direkt in ein blitzendes kleines Badezimmer mit eingelassenem, großem Waschbecken.

»Du – warm Wasser!« – Thea drehte natürlich sofort den Hahn auf. – »Tatsächlich!«

Dann kam Max mit Olga und brachte die Koffer. Olga war das Stubenmädchen für den Damenflur. Sie war »von hier«, aus dem Harz, prall und rundlich. »Harzer Roller«, stellte Thea fest.

»Die Damen möchten nachher in die Kantine zum Essen kommen – ganz unten.«

Das Nötigste wurde ausgepackt und das Waschbecken eingeweiht. Ob das Licht schon funktioniert? Neben dem Schalter war ein Schild mit allerlei Verhaltungsmaßregeln: »Die Klingel läutet: 7 Uhr zum Aufstehen, 7.30 zum Frühstück, 7.55 zum Dienst, 13 Uhr Dienstschluß, 13.20 zum Mittagessen, 14.55 zum Dienst, 18 Uhr Dienstschluß. – Essen in der Kantine, Tisch 11.«

»Wie in der Kaserne«, meinte Linde.

»Oder Nonnenkloster!« sagte Thea. »Mensch, aber Spaß muß das doch machen.«

Es ist merkwürdig, mit welcher Schnelligkeit ein bezeichnendes Wort zum Allgemeingut wird. Schon vom folgenden Tage ab hatte es niemanden gegeben, der den Damenflur anders als »Nonnenkloster« genannt hätte. Selbst die hier Hausenden taten es. Es war eben Gewohnheit geworden.

In die Kantine war man wieder in großem Haufen gezogen. Unbekannte Verhältnisse fördern den Herdentrieb. Hier unten war es hell und trotz äußerster Einfachheit fast festlich. Das machten die großen Fenster und der hellgelbe, durch hellrote Streifen in Felder eingeteilte Anstrich der Wände. Jede Abteilung hatte hier ihren Tisch, bunt durcheinander: die Direktion, die Damen, die Ingenieure, die Pförtner, Wäscherinnen, Heizer, die kaufmännischen Angestellten usw. In den vielfachen Lese- und Spielzimmern wurde nicht angerichtet.

Heute fehlten natürlich noch viele. Teils waren sie noch bei dem offiziellen Besichtigungsgang, teils sahen sie sich auf eigene Faust die neue Welt an. Es gab natürlich viel zu schwabbeln. Lisbeth Peters und Inge Herder hatten zwischen ihren Zimmern noch ein Lesezimmer entdeckt, »fabelhaft gemütlich, mit Blumen und Sesseln und sogar zwei Schreibmaschinen«. Ja, die waren dazu da, damit die Damen ihre Privatbriefe nicht in der Dienstzeit schrieben. Zugleich ist so etwas ja auch für die Übung gut. – Ein Badezimmer? – Nein, extra hätten sie keines, nur zwei für den gemeinsamen Gebrauch. »Lisbeth wollte absolut gleich rein!« – »Ach Inge!« – Sie duzten sich beide.

So war man fröhlich hineingezogen in das neue Reich.

*

Der Alumnit-Draht hatte gewaltig eingeschlagen. Seinen ungeheuren Vorteilen beugte sich die Elektro-Industrie der ganzen Welt. Die bisher in Gebrauch genommenen sieben Schmelzöfen der Fabrik arbeiteten in Dauerbetrieb. Fünf Tage brauchte die Masse in zunächst aufsteigender, dann abfallender Hitze, bis die Atome sich so gelagert hatten, daß eben kein Aluminiumprodukt entstand. Die genaue Temperatur wurde an Schmelzkegeln erkannt, deren Zusammensetzung niemand kannte. Harsen hatte sie schon vor Monaten in seinem Breslauer Laboratorium hergestellt. Sie befanden sich unter Verschluß und Wasser im Panzerkeller des Verwaltungsgebäudes. Für jeden Brand wurde ein Kegel durch drei kurz zuvor bestimmte Personen verausgabt. Die Schmelzdauer sollte von allen Arbeitern geheimgehalten werden. Von Bedeutung für die Fachmänner wäre außerdem die genaue Form und Größe der Brennöfen gewesen. Sie war von außen nicht zu erkennen. Die Baupläne waren sämtlich eingezogen. Niemand wußte, wo sie sich befanden. Beim Bau selbst ahnte ja noch niemand diese Wichtigkeit. Außerdem war das Baupersonal, vom Leitenden bis zum letzten Arbeiter, mehrfach gewechselt worden, die jeweils verwendeten Pläne hatten Abweichungen voneinander.

Als die ersten großen Drahtrollen nach Übersee verladen waren, meldete die Alumnit-A.G. das Patent des Stoffes in allen Kulturstaaten an. Es hat wohl noch nie eine Patentschrift gegeben, die in so zahlreichen Exemplaren und in so vielen Sprachen gedruckt werden mußte, wie diese. Gleich beutegierigen Geiern stürzten sich die Interessenten darauf. Versuchslaboratorien wurden zu Dutzenden errichtet und hohe Summen dafür ausgesetzt. So begann man in aller Herren Länder fieberhaft mit Versuchen, das Alumnit nachzumachen.

Im Postamt zu Leichtstadt mußten neue Beamte eingestellt werden. Im Verwaltungsgebäude der Alumnit hätte jemand im Handumdrehen eine vollständige Sammlung aller gängigen Briefmarken der Welt anlegen können, ausgenommen vielleicht Liberia, Liechtenstein und andere mikroskopische Staaten, so hagelten die Gesuche um Ankauf einer Lizenz des neuen Stoffes.

Inzwischen wurden die fertigen Stücke der vier Eisbrecher an die Ostasien-G.m.b.H. geliefert. Die Lieferung erfolgte nach Hamburg, frei an Bord des Dampfers »Yokohama«. Dieser hatte gleichen Fahrtenplan mit dem in Kiel zu Besuch weilenden japanischen Kreuzer »Port Arthur«. Die Zeitungen brachten allerdings nichts darüber. Es wurde auch nicht bekannt, daß zwei weitere Eisbrecher nach Norwegen gingen. Diese hatten allerdings insofern eine Änderung aufzuweisen, als auch der über dem Vorschiff aufragende Dorn zum Schneiden des Eises ebenfalls aus Alumnit hergestellt war. Mit dieser Lieferung hatte aber die Fabrikation von Eisbrechern ihr Ende erreicht. Man goß jetzt etwas Neues.

Zwischen dem Bad Swinemünde und dem Ort Ostswine liegt die Mündung der Swine, zugleich die Einfahrt in den Swinemünder Hafen. Zwischen den beiden Orten herrscht ein lebhafter Fußgänger- und Wagenverkehr, der notgedrungen mit einer Dampffähre vorlieb nehmen mußte. Da das seitliche Ufergelände als Bootsanlegestelle dient, war der Bau einer Drehbrücke nicht möglich. Eine feste Brücke hätte die Seeschiffe nicht in den Hafen gelassen. Hier bauten die Alumnitwerke eine ganz eigenartige Brücke. Ihre beiden Teile waren nach Art der Feuerwehrleitern konstruiert. Beim Schließen streckten sich ihre Glieder wie eine ausgezogene Harmonika in lichtem Bogen nach der Strommitte. Dort trafen die Enden aufeinander, klinkten sich ineinander fest, und der Verkehr konnte beginnen. Der leichte Bogen stützte sich in sich selbst.

Diese Brücke wurde sehr schnell eine Art Weltwunder. Aus allen Erdteilen strömten die Sachverständigen herbei und bestaunten weniger die Konstruktion, als den Baustoff, der sie ermöglichte. Seine Leichtigkeit war das Geheimnis. Man konnte die Herren dort sehen, wie sie mehr oder weniger verstohlen Zollstock und Abtastzirkel aus der Tasche holten und sich Notizen machten. Was die Brücke hielt, wußte man ja. Das Polizeischild besagte, sie könne mit Lastkraftwagen bis zu drei Tonnen Gewicht befahren werden. Dazu mußte man noch anderen Verkehr zuschlagen. Mit wieviel Prozent Sicherheit die deutschen Baubehörden rechnen, war bekannt oder doch jederzeit zu erfahren. Hatte man die Abmessungen der Scherenglieder, so war es jedem Fachmann nicht allzu schwer, die Leistungsfähigkeit, die Eigenschaften des neuen Stoffes zu bestimmen. Das Gewicht kannte man ja vom Leitungsdraht her. Es waren erstaunliche Ziffern, die da zutage kamen. Selbst wenn man annahm, daß Alumnit teurer als der bisher verwandte Baustahl wäre, mehr als die Hälfte einer Stahlbrücke würde diese auf keinen Fall kosten können, denn man gebrauchte für sie ja verhältnismäßig sehr wenig Material. Man braucht sich ja nur einmal eine Stahlbrücke anzusehen! Die Frage, ob sie denn ihr eigenes Gewicht tragen kann, spielt ja eine viel größere Rolle als die Sorge um die Verkehrslasten. Die werden eigentlich nebenbei noch mitgetragen. Bei dem korkleichten Alumnit ist es gerade umgekehrt.

Man kann sich also denken, welchen Aufruhr die Swinemünder Brücke in der Schwerindustrie der ganzen Welt erregte.

Um diese Zeit – der Kalender stand noch auf Februar – ist das Bad sonst leer und ausgestorben, die Hotels und Pensionen haben bis auf wenige ihre Pforten geschlossen, jetzt war es aber, als wäre die Saison hereingebrochen, obwohl der scharfe Nordost den Strand peitschte, die Wellen bis zu den Dünen heraufrollten und der feine Sand über die Promenade wirbelte. Daran änderte sich auch nichts, als die Stettiner Baufirma Kollnow & Sohn sich aus der Sache eine eigenartige Verdienstmöglichkeit schuf. Sie war es, die im Auftrage der Alumnit die Brücke aufgestellt hatte. An ihrem Baubüro hing jetzt ein Schild, wonach Kopien der Bauzeichnung käuflich abgegeben würden. Alumnit hatte ihr Einverständnis gegeben. Die Selbstkosten einer Kopie betrugen etwa eine Mark, der Preis 22 Mark und 65 Pfennige. Man sagte sich später, hieran hätte die Baufirma noch mehr verdient, als an der Brücke selbst. Aber an dem Zustrom änderte das nichts. Jeder wollte sich doch auch persönlich überzeugen. Zu den Fachleuten kamen noch die Herren der Presse, die Fotografen der großen Bilderzeitschriften und das große Heer der sonstigen Schaulustigen. In dem nahen Stettin gab es wohl kaum einen Menschen, der dieses Wunder nicht angestarrt hätte. Von Berlin aus ließ die Reichsbahn jeden Mittwoch und Sonnabend Extrazüge laufen mit 33? Prozent Fahrpreisermäßigung. Jeder, der über die Brücke wollte, mußte zwei Groschen für die Winterhilfe zahlen. Die Ergebnisse waren beträchtlich. Sie wurden durch Rundfunk bekanntgegeben. Das war zugleich eine starke Reklame. Wo alle hinfahren, kann Müller ja nicht fernbleiben. Es mußte jetzt ein täglicher »Brückenzug« eingelegt werden. Die Brücke bot ja aber auch einen zauberhaften Anblick, namentlich, wenn einmal die Sonne schien und der blaue Himmelsbogen sich über ihr wölbte. Da Alumnit durchsichtig und farblos ist, wie reinstes Glas, glitzerte und funkelte sie im Sonnenlicht wie ein herrliches Spitzenwunder aus Bergkristall.

Etwas weiter südlich konnte man schon eine zweite Brücke im Bau sehen. Hier mußten bisher alle Züge, die vom Bahnhof Ostswine zum Hauptbahnhof Swinemünde wollten, auf Fähren über das Hafenbecken gesetzt werden. Der Eisenbahnfachmann weiß noch besser, als der Reisende, welchen Zeitverlust, welche Umstände und welche Kosten das bereitet. Dies sollte nun aufhören. Das leichte Alumnit erlaubte, hier eine Eisenbahnbrücke zu bauen, deren Öffnung für die Schiffahrt nicht nach dem Drehprinzip, sondern dem billigeren Klappenprinzip erfolgte. Das war ein zweites Wunder. Swinemünde wurde weltberühmt, soweit das nach Ansicht der Eingeborenen überhaupt noch möglich war. Allerdings hatte die Stadtverwaltung keine ganz reine Freude daran. Zum Ausgleich für den Fremdenstrom mußte sie in Leichtstadt ein wunderschönes Freibad bauen. Harsen war darin unerbittlich gewesen. »Geschenk der Stadt Swinemünde« stand in goldenen Lettern über dem Eingang. Man sagte nachher im Sommer nicht »ich gehe baden«, sondern »ich gehe nach Swinemünde«.

Es war also klar: Nicht die Aluminiumindustrie, sondern die des Stahls und Eisens wurde getroffen. Alles schien dort ins Wanken zu geraten. Es hätte einen riesigen Krach aller Aktienmärkte der Schwerindustrie gegeben, wenn Harsen nicht etwas beruhigt hätte. Es war ja auch in Leichtstadt gar nicht mehr auszuhalten. Manchmal stand der ganze Korridor voller Leute, die Auskunft haben und Verbindungen anknüpfen wollten; dazu ein Heer von Projektemachern.

»Schaffen Sie mir die Leute vom Halse!«

Ja, das war gut gesagt! – Schließlich verfiel man auf den Ausweg, eine Pressekonferenz zu veranstalten. Der Saal war »proppenvoll«. Harsen setzte auseinander, daß er »mit der Kirche im Dorf bleiben« wolle. Es wäre nicht richtig, Eisenbahnschienen, Lokomotiven und Wagen aus dem neuen Stoff zu bauen. Gerade wegen seiner Schwere wäre hier der Stahl nicht zu entbehren. Die Lokomotive muß schwer sein, sonst faßt sie nicht. Allzu leichte Wagen würden entgleisen. Für Hochbauten wäre Alumnit zu teuer. Allerdings – Brücken! – »Aber schließlich kann ich doch nicht alle Brücken der Welt bauen!«

Zu den Brücken führte er noch weiter aus, daß es ihm unmöglich sei, weiterhin Spezialausführungen, wie die erste zu bauen. »Das geht über unsere Arbeitskraft.« Es würden lediglich sechs Modelle gebaut, von denen die Gliedermodelle jeweils um ein oder mehrere Glieder verlängert oder verkürzt werden könnten. In den Fachzeitungen fänden sich die Daten.

Als dieser Aufsatz erschienen war und die Runde um die Welt gemacht hatte, regnete es Bestellungen. Aus Amerika, England, Frankreich, Italien und der Tschechei wurde fast postwendend je eine Brücke bestellt.

»Merken Sie was?« fragte Harsen den Direktor Schwartz. Der lachte: »Die wissen so schnell noch gar nicht, wohin sie die Brücke nun bauen sollen. Sie wollen das Material in die Hand bekommen.«

»Rüstungsindustrie«, meinte Harsen.

Die Besteller waren natürlich Deckfirmen. Midland & Co. in Philadelphia z. B. eine kleine Kohlen- und Stabeisenhandlung. Sie hatte telegrafisch bestellt, einen phantastischen Preis geboten, »Kasse bei Verladung Hamburg, überseeische Bank.«

»Sollen sie haben!« – Harsen war guter Laune. Die Sache lief richtig. Wenn nur diese Lizenzbriefe nicht wären! Damals waren es die Elektrofirmen, jetzt die Schwerindustrie.

»Lassen Sie mich mit den Lizenzbriefen in Ruhe, Fräulein v. Hefften!«

Linde nahm einen Wachsbogen und schrieb nach dem Muster von gestern:

 

Sehr geehrte Herren!

In Ihrem Ersuchen um Ankauf einer Lizenz zur Herstellung des Alumnits sehen wir einen neuen Beweis für den guten Ruf dieses Materials. Es ist unser Bestreben, diesen Ruf auch weiterhin zu erhalten. Das kann aber nur geschehen, wenn die Herstellung mit derjenigen peinlichen Sorgfalt geschieht, die zur Gewinnung einer guten Qualität bei keinem Metall so notwendig ist, wie bei diesem. Rückschläge, insbesondere die Rückbildung des Gusses zu Aluminium, lassen sich sonst nicht vermeiden. Wir haben daher im Interesse der Sache beschlossen, lieber auf einen augenblicklichen Verdienst zu verzichten, als die Zukunft unserer Erfindung in Frage zu stellen. Wir werden also Lizenzen gerne vergeben, aber nur an solche Firmen, die durch Einsendung eines selbstgefertigten Probestückes in Form einer Eisenbahnschiene von 15 Meter Länge uns den Beweis ihrer Leistungsfähigkeit und Sorgfalt geben können.

Indem wir hoffen, daß Ihnen dies in Bälde möglich sein wird, zeichnen wir

ganz ergebenst
Alumnit-Werke-A.G.

 

»So, Fräulein Peters, ziehen Sie das mal ab. Zweihundert Stück auf Direktionsbogen!«

Dann nahm sie den Namensstempel des Chefs und ließ die Briefe in die Welt flattern. Sie lächelte dabei:

»Damit werdet ihr schön was anfangen können!«

*

New York – Gigantic-Hotel – Stockwerk 43 – Sitzungssaal 21:

Oben quer am Tisch sitzt John Colt, »the old Colt«, ein beweglicher Zwerg, vom Alter eingeschrumpft, das Gesicht zerfurcht. Leidenschaften einer früheren Zeit haben hier ihre Runen hinterlassen. Daß dieser Mensch überhaupt noch lebt, ja, immer noch dem Vorstand der »Bethlehem« präsidiert! Nur die Augen, ja, die Augen sind das Geheimnis! Sie sprühen noch wie zu jener Zeit, als dieser Mann den Kanonentrust zusammenhämmerte.

Also »the old Colt« sitzt dort vor der Klingel. Er ist Mittelpunkt und Seele der anderen, die da den Tisch entlang ihre Plätze haben. Summendes Gespräch liegt darüber. Bis der Alte die Klingel rührt, schrill und hastig.

»Gentlemen! Zuerst wird Mister Burns Ihnen den Bericht geben, bitte!« – Er setzt sich wieder. Es ist kaum ein Unterschied.

Desto länger ist Burns. Sein Kopf ist oben breit, aber lang nach unten gezogen. Das machen die herunterhängenden starken Kinnbacken. Burns ist des Gewaltigen rechte Land, brutal, aber nicht so beweglich wie er.

»Gentlemen!« beginnt er. »Es war ein Fehler der Elektro-Industrie, daß sie uns nicht rechtzeitig auf die Bedeutung des Alumnits aufmerksam …«

»Selber merken!« – Eddy Missonne ist es, der den Zwischenruf machte. Er besitzt außer Stahl- auch Elektroaktien.

Burns sieht fast verächtlich über den schwarzen Wollkopf dieses Mannes sizilianischer Herkunft hinweg:

»… aufmerksam machte. Für uns ist die elektrische Leitfähigkeit Nebensache, Hauptsache ist Härte, Elastizität und Gewicht. Erst die Brückensache hat uns volle Klarheit gegeben …«

»Hatten wir schon eher!« – Das ist ganz unten der junge Mill, Erzgruben in Kansas.

»… Nur Mister Mill hat also schon vorher alles gewußt. Er allein steht heute gesichert da.«

Brausendes Gelächter lohnt die Abfuhr. Jeder weiß, daß es mit Mill auch ohne Alumnit zu Ende ist.

Burns fährt fort:

»Wir haben den Stoff untersucht und viele von Ihnen wohl auch. Wir haben ein Laboratorium gebaut und dann eine große Anlage. Wir haben geschmolzen und gegossen. Es wurde nichts. Wir haben die besten Kräfte des Landes angestellt. Sie haben uns nicht helfen können. Jetzt wissen wir nicht weiter. – Gentlemen, wenn der Mann in Deutschland weiter macht, sind wir fertig. – Er hat beruhigt – nonsense – Zeitgewinn! – Er wird Lokomotiven bauen und Schienen, Träger und Profile – alles! – Was wir mit zehn Kilogramm tragen, trägt er mit einem. – Gentlemen! Wenn nichts geschieht, ist es aus mit uns! Unsere Werke sind keinen Schuß Pulver wert. Unsere Aktien sind Altpapier. Wir …«

»Wir leben noch!« – Das ist Bill Bearing. Er hat außer Stahl- noch Baumwollaktien.

»Ruhig, Gentlemen!« – Der alte Colt schreit es hinein in die aufgeregte Versammlung. Seine Greisenstimme ist schrill und keifend. Die Glocke bimmelt hell in seiner hageren Hand. – Burns hebt nur etwas die Stimme:

»Wir, wollt ich sagen, können alle Viehhändler werden oder – Baumwollspekulanten.«

Da hat der Bearing sein Fett! Aber die Aufregung wird dadurch nicht geringer. Sie liegt in der verzweifelten Lage. Sonst sind diese Leute ruhiger.

Professor Millford hat das Wort, der große Chemiker und Metallurge. Ein Gelehrtenantlitz mit hoher, etwas fliehender Stirn und Haaren darüber, die man »die Letzten der Mohikaner« nennen könnte, drei oder auch vier. Millford muß man zuhören! Die Köpfe recken sich. Er führt aus, daß es keine große Mühe gekostet hätte, den Stoff zu analysieren. Chemisch sei es nichts anderes als Aluminium, mit geringen Zusätzen. Aber der Diamant sei schließlich auch nichts anderes als der Kohlenstoff, der Grafit, der Bleistift. Auf die Herstellung käme es an. Was man auch angestellt hätte, es wäre immer wieder Alumnium geworden. Die Patentschrift besage nichts. Sie sei, wie andere auch, ein Papier, auf dem mit vielen Worten der Kern verschleiert wird. – Und er erging sich in langen Auseinandersetzungen chemischer Art. Kein Mensch hörte mehr zu. Was man wissen wollte, wußte man ja nun: Der auch nicht! Alles redete durcheinander, kaum daß die gleichmäßig plätschernde Stimme des Gelehrten den Grundakkord des Gesummes abgab. Als er sich hinsetzte, nahm man an, daß er fertig sei.

»Was nun, Gentlemen?« – Wieder die schrille Stimme des Alten!

»Lizenzen!« ruft einer; vier, fünf andere lachen.

»Mister Casing! Hier!« – Colt schwingt erregt ein Stück Papier. Es ist das abgezogene Schreiben mit dem Stempel Harsens.

»Mister Casing! – Lizenzen gibt er erst, wenn wir wissen, was los ist! – Ein Bursche ist das!«

Der Alte kreischt direkt. Seine pergamentene Haut hat sich rot überzogen. Es ist die Wut des Abgeblitzten.

»Anderer Gelehrter!« – Das ist wieder Missonne. Es geht auf Millford. Der will etwas sagen und schnappt nach Luft. Aber niemand achtet auf ihn. Sie wissen alle, daß das nichts hilft. Sie haben ja auch ihre Gelehrten, genau wie Bethlehem.

»Kühles Blut!« – Wer das war, ist nicht genau zu sagen, vielleicht Bearing oder sein Nebenmann. Es ist ja so laut.

»Bethlehem kann das doch vertragen!« – Das ist jetzt wirklich Bearing. Die einen sind entrüstet. Sie wissen, hier hilft nur Solidarität. Die anderen lachen schadenfroh. Die Bethlehem Steel Corporation hat ja im Kriege genug verdient. Kanonen an alle Welt. Kanonen gegen Deutschland. Bethlehem und Kanonen! Kanonen und Munition. – Nun, Munition haben sie ja alle gedreht.

Alle gegen Deutschland! – Nun ist der Spieß umgedreht!

Für den »old man« ist der Zwischenruf Gift gewesen. Er schäumt. Bethlehem, das ist er, John Colt!

»Bethlehem vertragen?« kreischt er. »Kanonen aus Alumnit, die – trägt – man – auf dem – Buckel!«

Es klingt jetzt wie ein Notschrei.

Da wissen die anderen: Wenn es nachher ans Zahlen geht, wird der Alte wirklich tief in den Beutel greifen. Das hier ist etwas anderes, als ein Kirchenbau! Das hier greift ans Herz oder an die Brieftasche. Das ist ja wohl beides dasselbe. Aber diese Gedanken sind kurz und die Erregung ist groß. Stahl und Eisen ganz Amerikas sind bedroht. Amerika, das ist U.S.A.! Das andere gilt nicht. Amerika, das sind sie hier! Die Köpfe sind rot und die Stimmen gehen durcheinander. Nur die eine, die kreischende, die des alten Colt übertönt sie noch einmal. Sie klingt wie ein schneidendes Messer:

»Gentlemen! Keine Summe ist zu hoch!«

* * *

 


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