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Tegel, den 30. September 1829.

Ich habe vor ein paar Tagen, liebe Charlotte, Ihren am 25. September beendigten Brief empfangen und sage Ihnen meinen herzlichsten Dank dafür. Es hat mich sehr gefreut zu sehen, daß es mit Ihren Augen bedeutend besser geht, und daß Sie einfache Mittel gefunden haben, die Ihnen wohltätig sind. Meinetwegen bitte ich Sie recht sehr, nicht besorgt zu sein. Ich selbst bin es nicht. Was in der Natur der Dinge liegt und das Schicksal herbeiführt, darüber wäre es töricht und unmännlich zugleich, seine Ruhe und sein inneres Gleichgewicht zu verlieren. So lange ich meine natürlichen Seelenkräfte behalte, wird mir das nicht begegnen. Ich werde einsehen, daß körperliche Organe durch den Gebrauch schwächer werden und anderen Zufällen unterworfen sind, und es wird mir nicht einkommen zu erwarten, daß die Vorsehung diesen natürlichen Lauf der Dinge für mich hemmen sollte. Wäre es einmal anders in mir, so wäre das ein trauriges Zeichen, daß mir nicht die Kraft mehr beiwohnte, die jeder vernünftige Mann besitzen muß.

Sie bemerken sehr richtig, daß man viele Fälle hat, wo ein anfangender grauer Star auf einem gewissen Punkt stehen bleibt, ohne je zu eigentlicher Blindheit zu führen, und das ist schon eine große Wohltat. Denn man muß in diesen immer sehr traurigen Zuständen doch noch immer unterscheiden, was es mehr und was es weniger ist, und die eigentliche Blindheit enthält eigentlich ein doppeltes Leiden, erstlich, daß man unfähig wird, eine Menge von Dingen zu tun, zu denen das Gesicht unentbehrlich ist, und dann, daß man, des Lichtes beraubt, in Finsternis versetzt ist. Dies Letzte halte ich bei weitem für das Schlimmste. Denn die bloße Empfindung des Lichts, auch von dem Wahrnehmen aller Gegenstände gänzlich abstrahiert, hat etwas unendlich Wohltätiges und Erfreuliches und gehört in vieler Beziehung auch zu dem heiteren und fruchtbringenden inneren geistigen Leben. Das Licht ist wenigstens unter allen uns bekannten Materien die am wenigsten körperliche. Es hängt, ohne daß man selbst sagen kann, wie das zugeht, mit dem Leben selbst zusammen, und Leben, Licht und Lust sind wie verwandte, immer zusammengedachte, das irdische Dasein erst recht möglich machende Dinge. Wunderbar ist es auch, daß die Finsternis selbst den Reiz, den sie offenbar hat, verlieren muß, wenn sie zur beständigen Begleiterin des Lebens wird. Jedoch ist es nicht zu leugnen, daß die Finsternis der Nacht eine süße Ruhe gegen das Licht des Tages gewährt. Allein die angenehme Empfindung beruht nur daraus, daß der Tag vorangegangen ist, und daß man sicher ist, daß er nachfolgen wird. Nur der Wechsel ist wohltätig. Unaufhörliches Tageslicht ermüdet. Das fühlt man schon, wenn man im Sommer nördliche Länder bereist, wo die Dämmerung die ganze Nacht hindurch währt. Ich wenigstens habe das nie angenehm gefunden. Allein die ewige Finsternis muß etwas viel Traurigeres haben, als daß man den Begriff durch bloße Ermüdung erschöpfend ausdrücken könnte. Es ist wohl eine Stille, aber auch eine zurückstoßende Öde. Man wird durch den Mangel äußerer Zerstreuung in sich zurückgedrängt und kann doch viel weniger durch sich selbst handeln und tätig sein. Weit das Unangenehmste würde für mich das Aufhören der Mitteilung durch Briefe sein, die nicht bloß und lediglich Geschäfte beträfen. Denn wer könnte es aushalten, anderen vertrauliche Briefe zu diktieren oder sich vorlesen zu lassen? Der Briefwechsel beruht seinem Wesen nach ganz und gar auf gänzlich unmittelbarer Mitteilung, und ich würde jeden gleich abschneiden, wenn ich, was ich nicht hoffe, jemals das Unglück hätte, wirklich zu erblinden. Überhaupt ist es wunderbar, daß, meinem jetzigen Gefühl nach, ein solcher Zustand mich mehr von der Gesellschaft anderer abziehen als ihr zuführen würde. Ich kann es mir selbst nicht ganz erklären, da es natürlich scheint, die Zeit alsdann doppelt gern mit Gespräch auszufüllen. Es kommt vielleicht daher, daß ich, ohne selbst sagen zu können, warum, sehr ungern mit Blinden zusammen bin. Da ich fühle, daß dies eine gewissermaßen ungerechte Empfindung ist, so überwinde ich mich da, wo die Gelegenheit vorkommt, aber der Zwang, den ich mir antue, hebt die Widrigkeit des Gefühls nicht auf. Der Anblick kranker, auch nur glanzlos starrer, selbst verbundener Augen wirkt körperlich auf mich. Ich kann machen, daß ich der Empfindung nicht Raum gebe, aber ich kann nicht hindern, daß sie nicht entstehe und fortdauere. Schon ein Schirm vor den Augen anderer, besonders bei Frauen, ist mir unangenehm. Auch die Gewohnheit ändert darin nichts. Ich bin jahrelang wöchentlich mit Blinden zusammen gewesen, der Eindruck blieb aber immer derselbe. Daß ich nun, selbst blind, nicht mit andern sein möchte, ist nur eine Rückwirkung desselben Gefühls, wenn sie auch nicht dasselbe empfinden als ich, so kann ich doch nicht hindern, daß ich mich nicht außer mich selbst versetze und mich, andern gegenüber, mir selbst vorstelle. Leben Sie herzlich wohl. Ich wünsche sehr, daß es mit Ihren Augen besser gehen möge. Mit unwandelbaren Gesinnungen der Ihrige.

H.


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Tegel, den 24. Dezember 1829.

So spät im Jahre, liebe Charlotte, habe ich Ihnen noch nie von hier aus geschrieben. Ich war seit langen Jahren immer in der Stadt um diese Zeit. Nur in früheren, glücklicheren Epochen meines Lebens brachte ich auch den Winter auf dem Lande zu. Was ich damals im heiteren Zusammensein tat, wiederhole ich jetzt allein. Das ist der Gang des menschlichen Schicksals. Es ist heute hier, und da so kleine Entfernungen keinen Unterschied machen, gewiß auch bei Ihnen ein äußerst kalter Tag. Doch war ich aus. Ich gehe alle Tage gerade so spazieren, daß ich die Sonne untergehen sehe. Ich versäume den Moment nicht gern, und die halbe Stunde vor- und nachher sind mir im Sommer und Winter die liebsten des Tages. Der Mond wartet dann oft schon, wenn die Sonne ihn nicht mehr überstrahlt, seinen Glanz wieder zu gewinnen. Heute ging die Sonne so in Nebel gehüllt unter, daß man statt ihrer Scheibe nur einen mattgelben Dust sah. Wenn ich immer betrachtende Ruhe liebte und mich ihr auch oft da hingab, wo ich mich im Gedränge von Menschen und Gewühl von Geschäften befand, so versenkt mich meine jetzige Einsamkeit noch mehr darin. Ich habe zu nichts anderem Neigung. Meine wissenschaftlichen Beschäftigungen sind damit verwandt, und ich fühle mit jedem Tage mehr, wie das reine und besonnene Nachdenken über sich selbst das Innere zusammenschließt und den Frieden gibt, der gewiß immer das Werk Gottes ist, den aber doch, gerade nach Gottes deutlich zu erkennen gegebenem Willen, der Mensch nicht wie eine äußere Gabe von ihm erwarten, sondern durch die eigene Anstrengung seines Willens aus sich selbst schöpfen soll. Ich bin in jeder Epoche meines Lebens sehr gefaßt auf den Augenblick gewesen, der uns wieder daraus abruft. Ich bin es jetzt mehr wie je, wo ich dessen beraubt, was mir in jedem Augenblicke Genuß und die heiterste Freude gab, nun auf den kalten Ernst des Lebens zurückgewiesen bin. Ich glaube auch mit ziemlicher Gewißheit vorauszusehen, daß ich die mir vielleicht noch bestimmten Jahre wie die jetzt verflossenen Monate zubringen werde. Nur sehr bedeutende Dinge könnten mich zu einer Umänderung bringen. Bei kleineren würde ich's schon zu machen wissen, daß die Umänderung nur scheinbar wäre. Ich sehe daher mein Leben jetzt von der Seite an, daß es ein Vollenden, ein Abschließen der Vergangenheit ist. Es ist aber in meiner Art zu empfinden gegründet, daß mich dies nicht zur Beschäftigung mit dem Tode und dem Jenseits, sondern gerade zu den Gedanken, die auf das Leben gerichtet sind, bringt. Ich halte das auch nicht für eine Eigenheit in mir, sondern ich glaube, es müßte überhaupt so sein. Wenn man an den Tod zu denken empfiehlt, so ist das eigentlich nur gegen den Leichtsinn gerichtet, der das Leben wie eine immer dauernde Gabe ansieht. Davon ist ein in sich gesammeltes Gemüt schon von selbst frei. Übrigens aber weiß ich nicht, ob anhaltende Beschäftigung mit dem Tode und dem, was ihm folgen wird, der Seele heilsam sei. Zwar möchte ich nicht darüber absprechen, da es mehr Sache des Gefühls als der Untersuchung durch bloße Vernunftgründe ist. Ich glaube es aber nicht. Die aus dem Vertrauen auf eine Allgüte und Allgerechtigkeit entspringende Zuversicht, daß der Tod nur die Auflösung eines unvollkommenen, seinen Zweck nicht in sich tragenden Zustandes und der Übergang zu einem besseren und höheren ist, muß dem Menschen so gegenwärtig sein, daß nichts sie auch nur einen Augenblick verdunkeln kann. Sie ist die Grundlage der inneren Ruhe und der höchsten Bestrebungen und eine unversiegbare Quelle des Trostes im Unglück. Aber das Ausmalen des möglichen Zustandes, das Leben mit der Phantasie darin, zieht nur vom Leben ab und setzt nur scheinbar etwas Besseres an die Stelle, da allerdings die Gegenstände erhabener sind, nach denen man trachtet, man sie aber doch so, wie man es da versucht, nicht zu fassen vermag. Gott hat auch deutlich gezeigt, daß er eine solche Beschäftigung nicht wohlgefällig ansieht, denn er hat den künftigen Zustand in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt und jeden einzelnen in gänzlicher Unwissenheit gelassen, wann der Augenblick ihn ereilen wird, – ein sicheres Zeichen, daß das Lebende dem Leben angehören und darauf gerichtet sein soll. Wozu mich also die Gewißheit, sich in dem letzten Lebensabschnitt zu befinden, mahnt, ist ein auf das Leben gerichtetes Bestreben, das Bestreben, das Leben abzurunden, ein inneres Ganzes daraus zu machen. In den Stand gesetzt zu sein, dies zu tun dadurch, daß man nicht mitten aus dem Treiben des Lebens hinweggerissen wird, sondern einen Zeitraum der Muße und Ruhe behält, ist eine Wohltat der Vorsehung, die man nicht ungenützt vorübergehen lassen muß. Ich meine damit nicht, daß man noch etwas tun, etwas vollenden solle. Was ich im Sinne habe, kann jeder in jeder Lage. Ich meine, an seinem Inneren arbeiten, seine Empfindungen in vollkommene Harmonie bringen, sich selbständiger und unabhängiger von äußeren Einflüssen zu machen, sich so zu gestalten, wie man sich in den ruhigsten und klarsten Geistesmomenten gestaltet sehen möchte. Dazu geht jedem, wieviel er auch an sich getan haben möge, viel ab, daran ist längere Dauer, als vielleicht die Dauer des Lebens verstatten wird. Dies aber nenne ich den eigentlichen Lebenszweck, dieser aber gibt auch dem Leben immer noch Wert, und wenn mich irgendein Unglück, wie es jeden, wie glücklich er scheine, betreffen kann, dahin bringen sollte, das Leben nicht mehr zu diesem Zwecke zu schätzen, so würde ich mich selbst mißbilligen und die Gesinnung in mir ausrotten. Allein auch über einen solchen Lebenszweck kann man nicht unfruchtbar mit seinen Gedanken brüten. Er muß nur die der Seele gegebene Richtung sein, nur das, wie sich die Gelegenheit darbietet, urteilende, billigende, zurechtweisende Prinzip. Das Leben ist zugleich eine äußere Beschäftigung, eine wirkliche Arbeit in allen Ständen und allen Lagen. Es ist nicht gerade diese Beschäftigung, diese Arbeit selbst, die einen großen Wert besitzt, aber es ist ein Faden, an den sich das Bessere, die Gedanken und Empfindungen anknüpfen, oder das, woneben sie hinlaufen. Es ist der Ballast, ohne den das Schiff auf den Wellen des Lebens keine sichere Haltung hat. So sehe ich auch im Grunde hauptsächlich nur meine wissenschaftlichen Beschäftigungen an. Sie sind vorzugsweise dazu gemacht, weil sie an sich mit Ideen in Verbindung stehen. Ich bin hierüber ausführlich gewesen, um Ihnen einen Begriff zu geben, was ich meine Einsamkeit und meine Freude daran nenne. Sie ist ursprünglich keine freiwillige, sondern eine durch das Schicksal herbeigeführte. Der von zweien Zurückgebliebene ist allein, und es ist dann eine natürliche und zu billigende Empfindung, daß man auch fortwährend allein bleiben will. Dann aber begünstigt auch die Einsamkeit jenes Nachdenken über sich selbst, jene Arbeit an sich, jenes Abrunden und Schließen des Lebens, von dem ich eben sprach. Endlich kommen die Studien hinzu, denen man auch ihre Stelle gönnen muß. Darum gehe ich nur sehr selten zu meinen Kindern in die Stadt und freue mich, wenn sie hierher kommen. Die Leute bedauern erst meine Abwesenheit, das ist die Höflichkeit; dann finden sie dies Zurückziehen in meinem Alter und in meiner Lage natürlich, das ist die Wahrheit. Überdruß am Leben, Stumpfheit an seinen Freuden, Wunsch, daß es enden möge, haben an meiner Einsamkeit keinen Teil.

Ich habe Ihnen, liebe Charlotte, zwei Briefe geschrieben, die bei Abgang des Ihrigen noch nicht angekommen waren. Ich hoffe eine Antwort auf diese zu erhalten. Ich bitte Sie, wenn Sie können, mir noch in diesem Jahre zu schreiben. Zu dem, welches wir neu beginnen, nehmen Sie meine herzlichsten Wünsche. Möge der Himmel Ihnen wieder Heiterkeit und Ruhe verleihen! Was ich dazu beitragen kann, will ich mit herzlicher Freude tun, wo und wie es mir möglich ist. Leben Sie nun recht wohl! Gedenken Sie meiner mit freundschaftlicher Liebe und rechnen Sie mit Zuversicht auf meine aufrichtige, unveränderliche Teilnahme an allem, was Sie betrifft. Ihr

H.


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Tegel, den 26. Januar 1830.

Sie müssen, liebe Charlotte, zwei Briefe von mir bekommen haben, die noch unbeantwortet sind, einen vom 9. und einen vom 21. Januar. Ihr letzter war nicht auf meine Bitte, sondern aus eigener Bewegung geschrieben, und meinen Brief vom 9. werden Sie vermutlich zu spät empfangen haben, um ihn an dem darin genannten Tage zu beantworten. Da ich aber weiß, daß Ihnen meine Briefe Freude machen, und ich gerade einige Zeit frei habe, so will ich Ihnen schreiben, ohne erst eine Antwort abzuwarten. Vielleicht bekomme ich dieselbe auch noch, ehe ich den Brief schließe, da heute noch eine Gelegenheit aus der Stadt herkommt. Es liegt mir sehr daran, zu wissen, wie es Ihnen geht, und ob Sie die Ruhe und Heiterkeit wiedergewinnen, die ich Ihnen so sehr wünsche. Noch erfreulicher sollte es mir sein, wenn mein Anteil und meine Ratschläge in der Tat wirksam dazu beitrügen. Das Wahre und Eigentliche müssen Sie zwar selbst dazu tun. Denn es bleibt immer ein sehr wahrer Ausspruch, daß das Glück im Menschen selbst liegt. Das Freudige, was ihm der Himmel verleiht, beglückt nur, wenn es auf die rechte Art aufgenommen wird, und das Bittere und Herbe, das das Schicksal ihn erfahren läßt, steht es in seiner Gewalt sehr zu mildern. Wo es auch gar keinen Trost zuläßt, wie es denn allerdings solche Unglücksfälle gibt, hat Gott noch die Wehmut zu einer Art Vermittlerin zwischen dem Glück und dem Unglück, der Süßigkeit und dem Schmerz geschaffen. Sie macht den Schmerz zu einem Gefühl, das man nicht verlassen mag, an dem man hängt, dem man sich überläßt mit dem Bewußtsein, daß er nicht zerstörend, sondern läuternd, veredelnd in jeder Art und auf jede Weise erhebend wirkt. Es ist ein Großes, wenn der Mensch die Stimmung gewinnt, alles, was ihn betrifft, bloß weil es menschlich ist, weil es einmal im irdischen Geschick liegt, dagegen anzukämpfen, aber zugleich so aufzunehmen, wie es sich in der Bestimmung des Menschen, sich immer reifer und mannigfaltiger zu entwickeln, am besten vereint. Je früher man zu dieser Stimmung gelangt, desto glücklicher ist es. Man kann dann erst sagen, daß man das Leben wirklich erfahren hat. Und um des Lebens willen ist man doch auf der Welt, und nur was man in seinem Gemüt durch das Leben errungen hat, nimmt man mit hinweg. Es ist ein sehr großes Glück, wenn man all sein Denken und Empfinden an einen Gegenstand setzt. Man ist dann auf immer geborgen, man begehrt nichts mehr vom Geschick, nichts mehr von den Menschen, man ist sogar außerstande, etwas anderes von ihnen zu empfangen als die Freude an ihrem Glück. Man fürchtet auch nichts von der Zukunft. Man kann nicht ändern, was nicht zu ändern ist; aber das eine, das Hängen an einem Gedanken, einem Gefühl, wenn es auch durch den grausamsten Schlag, der einen Menschen betreffen kann, nur zu dem Hängen an einer Erinnerung würde, das bleibt immer. Wer das stille Hängen an einem Gedanken erreicht hat, besitzt alles, weil er nichts anderes bedarf und verlangt. Noch beruhigender und beglückender ist natürlich ein solches Hängen an einem, wenn das eine nichts Irdisches, sondern das Göttliche selbst ist. Aber auch im Irdischen ist solch ein treues, die ganze Seele einnehmendes Hängen an einem Gefühl immer von selbst auf das gerichtet, was im Irdischen selbst nicht irdisch ist. Denn das bloß Irdische ist nicht fähig, die Seele so auf sich zu heften. Der Probierstein der Echtheit des Gefühls ist nur, daß es von aller Unruhe frei, mit keiner Art des Begehrens gemischt sei, daß es nichts verlange, nichts fordere, keine andere Sehnsucht kenne, als in der Art, wie es ist, fortzudauern. Darum ist das Gefühl für Verstorbene ein so süßes, so reines, so der Sehnsucht hingegebenes Gefühl, das bis ins Unendliche fortwährt, ohne sich je zu zerstören, in deren Wachstum selbst die Seele ohne Unterlaß Kraft gewinnt, sich ihr in einer süßen Wehmut zu überlassen. Sobald das Gefühle für das Göttliche sind, sind es unstreitig die reinsten und von aller irdischen Beimischung am meisten geläuterten. Sie haben zugleich das Eigentümliche, daß sie der Erde nicht entfremden und doch allem Drohenden und Schmerzlichen, was die Erde auch oft hat, den Stachel und den Wermut benehmen. Da der Gedanke an die Verstorbenen mit allem dem zusammenhängt, was sie im Leben umgab, so sind sie, statt vom Leben abzuführen, vielmehr immerfort Verknüpfungsmittel mit demselben; es gibt in jeder Lage noch immer Gegenstände, an welchen man sich die Verstorbenen als teilnehmend und noch mit dem Leben verknüpft denkt. Diese knüpfen auch den Zurückbleibenden noch an das Leben, aber es ist eine Verknüpfung, die dem Leben das Schwere benimmt, da man sich doch nicht mehr ganz als ihm angehörend betrachtet. Wenn die liebsten Gedanken alle jenseits des Lebens sind, wenn das Leben keinen hat, der diesen die Wage halten könnte, so kann, was man sonst im Leben zu fürchten pflegt, einem irgend gegen irdische Schicksale Gewaffneten nicht sonderlich furchtbar erscheinen. Zeit und Ewigkeit verknüpfen sich im Gemüte zu einer Ruhe, die nichts mehr stört. Ich habe mir immer, ehe ich noch die Erfahrung selbst gemacht hatte, gedacht, daß es so sein müßte. Ich habe es nie für möglich gehalten, daß es für einen wahren Verlust auch nur einen scheinbaren Ersatz geben könnte. Jetzt empfinde ich das wirklich, da das Los mich getroffen hat. Ja, ich werde mit großer Freude gewahr, daß sich die wahre und richtige Einwirkung, die solcher Verlust haben muß, mit der Zeit immer vollkommener und richtiger entfaltet, wie die irdische Nacht tiefer wird, je länger sie währt. Die Freude, die man am nächtlichen Dunkel hat, und für die ich immer sehr empfänglich gewesen bin, ist dieser Empfindung ähnlich. Man ist allein und will allein sein, man gewahrt äußerlich nichts, und innerlich regt sich ein doppeltes Leben. Der Tag ist gewesen und der Tag wird wiederkehren. Es ist ein schrecklicher Winter in diesem Jahr, und noch durchaus keine Aussicht, daß er sich bald milder lösen will. Wenn man die viele Not bedenkt, die er mit sich führt, so ist das sehr beklagenswert. Allein sonst ist mir keiner so leicht geworden. Dies liegt in der Ruhe und Unabhängigkeit der Einsamkeit, worin ich lebe. Ich gehe alle Tage spazieren, allein außerdem verlasse ich die aneinander stoßenden drei Zimmer, die ich allein bewohne, nie, und der Anblick der unberührten Schneeflächen und des unendlichen Glanzes, den die Sonne, deren Auf- und Untergang ich von meinen Fenstern aus sehe, und abends Mond und Venus und die anderen Sterne über die Schneefläche und den gefrorenen See ausstrahlen, ist unbeschreiblich. – Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 2 .Februar oder, wenn das nicht möglich ist, doch noch in der ersten Woche des Februar abgehen zu lassen. – Leben Sie recht herzlich wohl und bleiben Sie meiner aufrichtigen und innigen Teilnahme versichert. Ganz der Ihrige.

H.



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