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Den 10. September 1823.

Ich habe nun das empfangene Heft Ihrer Lebensbeschreibung mit großer Sammlung und sehr großem Vergnügen gelesen und wiederhole Ihnen meinen wirklich recht herzlichen und aufrichtigen Dank dafür. Ich habe die Zeiten gewählt, wo ich am freiesten war, mich in die geschilderten Lagen zu versetzen, und habe also langsam und mit großem Bedacht jedes Einzelne erwogen. Einige der Schilderungen sind mir ungemein anziehend und reizend vorgekommen. Es muß Sie das nicht wundern. Wenn man den Inhalt dieser Bogen in seinen Resultaten erzählt, so kann das Leben eines Kindes nur höchst unbedeutend scheinende geben. Aber wenn man eine sehr ausführliche Schilderung vor sich hat, ist es durchaus anders. Es ist dann nicht mehr die Sache, das Resultat, es ist die Veränderung, die dabei in der Seele vorgeht, die innere Entwicklung der Ideen und Empfindungen, und die ist bei einem Kinde nicht bloß ebenso anziehend als bei Erwachsenen, sondern im Grunde mehr, da das Kind zu mehr Vergleichen Stoff darbietet. Wie Sie zum Beispiel sich als Kind zeigten, vergleicht man gern mit der Natur Ihrer beiden Eltern, und mit Ihrem eigenen späteren Wesen. Diese drei Punkte haben mir beim Lesen immer gleich deutlich vor Augen gestanden. Es ist vollkommen offenbar, daß, was Sie als Kind charakterisiert hat und was sich überall in Ihrem künftigen Leben wieder finden wird, wenn Sie in Ihren Schilderungen fortrücken werden, eine gewisse Innerlichkeit Ihres Wesens ist. Sie scheinen zwar auch in jenen Jahren der früheren Kindheit sehr aufmerksam auf dasjenige gewesen zu sein, was um Sie herum vorging, allein doch nicht sowohl, um darin nun wirklich zu leben, als um sich daraus eine eigene, innere Welt zu bilden. Es ist ebenso unverkennbar, daß Sie diese, mehr innerliche Natur Ihrem Vater verdanken, in dem sie nur auf eine andere Weise vordanken und aus anderen Quellen entsprungen war. Über Ihre Eltern und ihre gegenseitigen Vorzüge zu urteilen, ist nicht leicht. Wie beide da in der Welt standen, ist man sehr geneigt, sich doch mehr für Ihre Mutter zu erklären. Sie ist praktisch tätig, mutig, besonnen, verständig und doch nicht von tändelnder, aber doch von sehr wahrer Liebe und Wohltätigkeit. Der größere Charakter unter beiden ist sie gewiß. Bei dem Vater vermißt man das recht ins Leben Eingreifende, das einem Manne noch mehr als einem Weibe geziemt. Allein man hütet sich mit Recht abzuurteilen. Es ist sichtbar, daß man in sein eigentliches, inneres Wesen nicht gehörig eindringt. Es ist auch höchst wahrscheinlich, daß er nie Gelegenheit fand, dies ganz und ohne Rückhalt aufzuschließen. Mit seiner Frau konnte er in einem solchen Verhältnis nicht stehen. Er hätte es späterhin mit Ihnen gekonnt, und vielleicht ist es auch in der Folge bis auf einen gewissen Punkt geschehen? Das werden in der Folge Ihre Blätter zeigen. Allein es ist selten und schwer, daß ein Vater sich über sich selbst erwachsenen Töchtern vollkommen öffnen kann. Dann war auch die innerliche Natur Ihres Vaters (ich meine darunter nämlich die Neigung, vorzugsweise vor allem andern, sich mit sich selbst zu beschäftigen) mit etwas, das, wenn man es auch nicht körperlich allein nennen mag, doch vom Willen und selbst vom Bewußtsein unabhängig und getrennt ist, vermischt. Diese Träume, dieser gewissermaßen natürliche Magnetismus, haben in sich etwas Geheimnisvolles, von dem sich weder Ursachen noch Folgen berechnen lassen, und das immer wie eine unbekannte Größe dasteht, und etwas, das das Urteil über den ganzen Menschen, in dem es sich befindet, ungewiß macht.

[Fußnote] Diese Träume, dieser gewissermaßen natürliche Magnetismus: Dazu gibt Charlotte folgenden Zusatz:

»Die Hindeutung auf gewissermaßen natürlich-magnetische Träume, deren hier gedacht wird, möchte noch einige, wenn auch nicht erklärende, doch deutlicher machende Worte erfordern, über eine seltsame und gewiß seltene physiologische Stimmung, wie solche mir durch oft wiederholte, immer gleiche Erzählung bekanntgeworden ist, ohne Aufschluß erhalten zu haben oder geben zu können. Mein Vater erkrankte: schwer und langwierig in meiner frühesten Kindheit. Gegen alle Erwartung der Ärzte wurde er erhalten und gerettet durch eine schwere Operation, die ein sehr geschickter Wundarzt, der hinzugezogen wurde, verrichtete. Derselbe wurde nach erfolgter gänzlicher Genesung des Vaters von der Familie wie ein teurer Wohltäter geliebt und verehrt, und beide Häuser kamen in innige Verhältnisse, um so mehr, da groß und klein von gleichem Alter waren. Im nächsten Frühjahr wurde der erste Besuch in die benachbarte Stadt, zum Doktor und Regimentsarzt M., gemacht. Dieser kleine, fröhliche Ausflug war für uns alle ein wahres Fest. Schon beim Stillhalten des Wagens, bei dem Aussteigen, bei dem Eintritt in den Hausflur wurde mein Vater still und bestürzt, mehr noch beim Eintritt in die Wohnstube. Das M-sche Haus war alt und winkelig, man fand sich nicht gleich darin zurecht, und ein versteckter Gang führte in einen kleinen Garten, von den Kindern der Irrgarten genannt. Nach dem ersten Empfange sollten nun erst den Gästen ihre Zimmer angewiesen werden. Jetzt nahm der Gast den Hausherrn an den Arm, mit den Worten: »Nun will ich Sie führen.« Schweigend brachte er ihn erst in die Gastzimmer, dann durch alle Räumlichkeiten durch, vor dem Eintritt in jede Stube und Kammer die Bestimmung derselben bemerkend, und zuletzt auch kannte er den versteckten Gartenweg. Fast genauer als im eigenen Hause kennt er hier jedes Möbel und gibt der erstaunten Gesellschaft folgenden Aufschluß: während seiner dreimonatigen schweren Krankheit habe ihn jeder matte Krankenschlummer in dies Haus gebracht; er habe in allen diesen Räumen so oft und so lange verweilt, daß er alles aufs genaueste kenne. Da er aber den Schauplatz seiner Träume nie gesehen habe, es also keine Erinnerungen sein konnten, welche in der kranken Einbildung wieder aufstiegen, so habe er es ganz natürlich für phantastische, kranke Traumbilder gehalten, ohne weiter darauf zu achten. Man möge nun sein Erstaunen nachempfinden, wie er schon beim Stillhalten des Wagens, schon beim äußeren Anblick des Hauses, und immer mehr und mehr, seine Traumbilder verwirklicht sehe!

Er mochte gern bei dieser sonderbaren Erscheinung seines inneren Sehvermögens verweilen und erzählte diese Erfahrung gern, und immer getreu dasselbe, so daß ich es ebenfalls getreu wiedergeben kann. Nie ist uns über die sonderbare Sache, die für Wilhelm von Humboldt lebhaftes Interesse hatte, und die er natürlichen Magnetismus nannte, ein näherer Aufschluß geworden. Wer möchte sich ein ähnliches inneres Vermögen wünschen!« – Zschokke gedenkt in seiner Selbstschau eines ähnlichen inneren Sehvermögens, doch auch sehr verschieden, da es fremde Begebenheiten, und selbst Heimlichkeiten anderer, vorüberführt. [Ende Fußnote]

Ich gestehe, daß ich keine Vorliebe für diese innere Gemütsstimmung habe. Ich bedarf Klarheit der Gedanken und des Bewußtseins, daß nichts in mir ohne meinen bestimmten und wohlgeordneten Willen vorgeht. Ich besitze, teils von Natur, teils durch die sehr früh begonnene Übung eines langen Lebens, eine große Gewalt und Stärke über mich selbst, und mir würde daher schon in der Idee ein Zustand peinlich sein, wie der war, wo in dem Traum, den Sie von Ihrem Vater erzählen, er von einem fremden Geiste in seiner unmittelbaren Existenz scheint beherrscht zu werden. Ich bin daher noch viel behutsamer, über Ihren Vater mir das mindeste Urteil zu erlauben, als ich es immer bei jemanden sein würde, der Ihnen so nahe steht. Sie fragen mich, ob ich die Umgegend von Preußisch-Minden und die Porta Westphalica kenne. Nein, ich bin in jener Provinz immer im schnellen Durchreisen gewesen, und in diese Gegenden auch nicht einmal gekommen. Ich halte sie aber für sehr anziehend, außerdem, daß sie geschichtliche Wichtigkeit haben. Nun werde ich indes schwerlich mehr reisen und mich anders als in dem Kreise bewegen, in dem ich mich herumdrehe, und werde ich sie also auch wohl nie sehen. Auch sehe ich eben, daß Sie meinen Rat über etwas wünschen. Schreiben Sie mir nur ohne Rückhalt, wenn ich Ihnen raten kann, tue ich es gewiß mit Freuden. Es ist aber wahr, daß ich nichts davon halte, Rat zu fragen, noch zu erteilen. Gewöhnlich wissen die Fragenden schon, was sie tun wollen, und bleiben auch dabei. Man kann sich von einem andern über mancherlei, auch über Konvenienz, Pflicht aufklären lassen, aber entschließen muß man doch sich selbst. Leben Sie herzlich wohl! Unwandelbar der Ihrige.

H.


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Berlin, den 18. Oktober 1825.

Den für den Augenblick nötigsten Teil Ihres letzten Briefes, liebe Charlotte, habe ich schon neulich beantwortet, und bin begierig, aus Ihrem nächsten zu sehen, ob Sie meinen Rat befolgt haben werden. Der Ausgang bleibt allerdings immer zweifelhaft, indes kann der Schritt nicht schaden, und man weiß doch nicht, was geschieht. Ich halte immer sehr viel davon im Leben, die Anlässe, die sich zu etwas darbieten, was dem gewohnten Gange eine veränderte Richtung geben kann, nicht zu versäumen, sie vielmehr zu benutzen, und was sich daraus irgend entspinnt, in das übrige Leben zu verweben. Vorzüglich ist aber dies der Fall bei Dingen, die schon zu einer gewissen Reife gediehen sind, und das war doch Ihre Bekanntschaft mit dem verstorbenen Herzog. Er hatte Ihnen einmal so günstige Äußerungen gemacht, daß es schade wäre, auf diesem Wege nicht weiter fortzugehen. Es ist immer auch zugleich eine Prüfung der Menschen, und neben dem, was man etwa handelnd und redend ausrichten kann, ist doch im Leben das Anschauen, Versuchen und Sammeln von Erfahrungen das Nützlichste und wenigstens bei weitem das Unterhaltendste. Es kann zwar sein, daß das nicht so in jeder Natur ist, aber der meinigen ist es, sogar mehr als billig ist, eigen, das Leben wie ein Schauspiel anzusehen, und selbst wenn ich in Lagen war, wo ich ernsthaft selbst mithandeln mußte, hat mich diese Freude am bloßen Zusehen der Entwickelungen der Menschen und Ereignisse nie verlassen. Ich habe darin zugleich eine große Zugabe zu meinem innern Glück und eine nicht geringe Hilfe bei jeder Arbeit selbst gefunden. Das Erste ist leicht begreiflich und entsteht auf doppelte Weise. Zuerst hat man die positive Freude am Anblick der wirkenden Kräfte, am Weiterrücken der sich in uns unbekannten Ursachen verflochtenen Dinge und Ereignisse, und dann wird man gleichgültiger gegen den Ausgang, insofern dieser nämlich uns selbst betrifft. Denn der Anteil an andern kann dadurch auf keine Weise geschwächt werden. Im Handeln selbst aber gewinnt man dadurch Ruhe, Kälte und Besonnenheit. Besonders bei großen Angelegenheiten gibt diese Ansicht gerade die Überzeugung, daß sie, wenn sie auch gegen unsere Neigungen ausschlagen, einen Gang gehen, der tief in den einmal feststehenden Plänen des Schicksals liegt, und auch nur das Mindeste dieses Plans zu ahnen, ist schon an sich ein über jedes andere gehendes geistiges Vergnügen. Bei eigenen Lebensbegebenheiten ist es, wenigstens bei mir, anders. Es würde mir immer nur Eitelkeit und Selbstsucht scheinen, die ich mir nie erlauben würde, wenn ich, was sich mit mir und meiner Persönlichkeit ereignet, gewissermaßen tiefen Plänen im Weltlaufe zuschieben wollte. Es gehört freilich auch zum Ganzen, aber wie ein Atom, es interessiert mich geistig dabei nur, wie ich mich selbst betrage, wie ich die Ereignisse aufnehme, ob mit Festigkeit im Widrigen, mit Bescheidenheit im Günstigen, ob ich tue, was ein Mann seiner Pflicht und seinen Gefühlen schuldig ist, das Übrige mag auf- und abstürmen, ich suche mich darein zu finden, so gut es nun einmal gehen will. Aber auch bei den, von höherem Gesichtspunkte aus betrachtet, unbedeutenden Ereignissen meiner selbst und meiner Familie bleibt doch jenes Vergnügen der Beschauung der ins Spiel kommenden Personen, der Umstände u.s.f., was oft für so vieles auch wirklich Widrige entschädigt. Es versteht sich jedoch von selbst, daß diese Beschauungslust des Lebens nie aus bloßer Neugierde entstehen muß, daß sie nicht sein darf, wie vergnügungssüchtige Leute in die Komödie gehen. Sie muß entstehen aus dem lebhaften Interesse, was man an der Menschheit, nicht bloß an ihrem Glück, denn das Glück ist bei weitem nicht das Höchste, sondern an ihrem innern Wert, ihrem Wesen und ihrer Natur nimmt, aus dem immer unermüdlichen Streben, eben diese menschliche Natur tiefer in ihrem Innern zu erkennen, und so viel es möglich ist, die Räder zu erahnen, welche die Schicksale der Menschen, oft unauflöslich scheinend, ineinander treiben, und sie dann doch wieder so schonend auseinander rollen, daß wahre, nur nicht gleich eingesehene Harmonie daraus hervorgeht. So wie alles im Menschen nur auf die Höhe des Gesichtspunkts ankommt, auf den man sich stellt, so ist es auch hier. Ist der Gesichtspunkt der rechte, edel und gut, so kann nichts als wieder Gutes und Edles daraus hervorgehen. – Ich bitte Sie, mir die Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung sobald zuschicken, als Sie den Abschnitt erreicht haben, zu dem Sie kommen wollten. Leben Sie herzlich wohl; mit dem innigsten Anteil der Ihrige.

H.


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Burgörner, den 29. November 1823.

Ich befinde mich hier sehr wohl. Es ist nicht bloß für diese Jahreszeit und den sonst oft so schlimmen Monat, sondern wirklich an sich immer leidliches und oft sehr gutes Wetter. Heute war es wirklich schön, und die Sonne kam sehr freundlich heran. Zwar erhob sie sich nur wenig über eine dichte und finstere Wolke, die den Abendhimmel bedeckte, aber der übrige Teil des Himmels war vollkommen blau. Da ich teils viele Geschäfte hier habe, teils die Zeit zu eigenen Arbeiten benutzen will, so ist es mir sehr lieb, ganz allein hier zu sein, ich bin so gar keiner Störung ausgesetzt und liebe an sich die Einsamkeit. Die Freude, mit den Meinigen zu sein, ist mir nur immer eine unendlich glückliche Zugabe zu meinem schon glücklichen Leben. Ich habe mir aber nie denken können, wie dasjenige eigentlich ein Glück zu heißen verdient, was eine Lücke ausfüllt, die einem Unglück nahe kommt, und es hat mir immer geschienen, als ginge der wahrhaft edle und hohe Glücksgenuß erst an, wenn man, sich selbst genügend in Gleichgewicht, seine Neigungen und Empfindungen mit sich verknüpft, die diesen, schon in sich befriedigenden Zustand dergestalt erhöhen, daß er, damit verglichen, wirklich mangelhaft erscheint. Heftige Begierden und leidenschaftliche Äußerungen sind mir daher immer fremd geblieben. Indes will ich das nicht eben loben noch in Schutz nehmen. Es könnte leicht auch in einem Mangel an Feuer liegen, dessen der Mann zu vielen der wichtigsten und ernsthaftesten Dinge bedarf, es ist auch nicht jene Fremdheit immer in gleichem Grade in mir gewesen. Jetzt ist sie meinen Jahren freilich natürlich. Die Jugend muß im Manne immer zuerst in der wirklich nur jugendlichen Lebendigkeit des Empfindens und dem, was leidenschaftlich ist, erlöschen; zum Entschluß und zur Anstrengung kann dann ihre Kraft noch lange ausdauern. – Nun komme ich zu dem letzten Heft Ihrer Lebenserzählung zurück. Es hat mir wieder ungemein viel Freude gemacht, und ich habe es gestern abend ohne Unterbrechung hintereinander gelesen. Es schadet garnicht, wenn auch einiges, was Sie darin erzählen, in eine andere Periode gehört, wie Sie besorgen. Es ist unmöglich, in der Erinnerung so genau in der Zeitfolge zu bleiben, ich würde sehr verlegen sein, sollte ich von einem meiner Kinderjahre so ausführlich erzählen. Es ist merkwürdig, daß Ihnen so viel in der Erinnerung geblieben ist. Da in diesem Hefte gerade so viel vom Schreiben die Rede ist, so kann ich Ihnen mit Wahrheit sagen, daß diese Erzählung wieder ganz diesen Vorzug hat. Alles darin ist trefflich gedacht und empfunden, das ist das erste darin, und wie Sie selbst richtig bemerken, das unerläßliche Erfordernis jedes guten Schreibens; allein auch das letzte ist bei Ihnen damit verbunden. Die Art Ihrer Entwickelung hat mich ungemein interessiert. Sie bemerken sehr richtig, daß das, was Ihnen mehr durch Sie selbst, und zufällig durch Umgang mit Erwachsenen, an Unterricht zukam, gerade darum so stark und so dauernd wirkte, weil es wenig war, und in ein auf besseren und reichhaltigeren Unterricht begieriges Gemüt fiel, so möchte ich auch im übrigen weiter schließen. Es sollte mich aber nicht wundern, wenn doch gerade diese Erziehung mehr oder kräftiger beigetragen hätte, Sie so, wie Sie geworden sind, zu bilden, als wenn alles fein systematisch dabei ausgedacht worden wäre. Man muß sich die Erziehung ja nicht bloß und immer als eine direkte Leitung zu verständiger Haltung, gutem Charakter und hinlänglichem Reichtum von Kenntnissen denken. Sie wirkt oft weit mehr als ein Zusammenfluß von Umständen, deren beabsichtigte Wirkung ganz vereitelt wird, die aber durch den Streit gegen die Individualität des zu Erziehenden in ihm bewirkt, was die direkte Einwirkung nie vermocht hätte. Denn das Resultat der Erziehung hängt ganz und gar von der Kraft ab, mit der der Mensch sich auf Veranlassung oder durch den Einfluß derselben selbst bearbeitet. Mit großem Vergnügen habe ich auch bestätigt gefunden, daß dasjenige, was Ihr Gemüt und Ihren Verstand noch jetzt auszeichnet, Ihnen auch in der Kindheit schon beiwohnte. Es ist immer meine Meinung gewesen, daß sich der Mensch, wenn man das Wesentliche seines Charakters nimmt, nicht eigentlich ändert. Er legt Fehler ab, vertauscht auch wohl Tugenden und gute Gewohnheiten gegen schlechte, allein seine Art zu sein, ob mehr nach der Außenwelt, oder mehr nach innen gekehrt, ob heftig oder sanft, ob in die Tiefe der Ideen eingehend, oder auf der Oberfläche verweilend, ob mit kühnerem und festem Entschluß ins Leben eingreifend, oder Schwäche verratend, bleibt gewiß von der Kindheit bis in den Tod die nämliche. Das war für heute vorerst das Wichtigste, was ich Ihnen über dies Heft sagen wollte. Auf ein und anderes komme ich ein anderes Mal zurück. Immer aber wiederhole ich Ihnen aufs neue meinen herzlichen Dank für die Mühe, die Sie mir so liebevoll widmen.



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