Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Zwölftes Buch. Corinthe

I.
Geschichte des Restaurants Corinthe

Auf der rechten Seite der heutigen Rue Rambuteau, der Rue Mondétour gegenüber, lag ehemals die Rue de la Chanvrerie und die berühmte Schänke Corinthe.

Hier wurde 1831 eine Barrikade erbaut, über deren Geschichte wir hier etwas Licht verbreiten wollen.

Der Klarheit zu Liebe erlaube man uns wieder zu dem einfachen Mittel unsere Zuflucht zu nehmen, dessen wir uns schon bei der Beschreibung des Schlachtfeldes von Waterloo bedient haben.

Man kann sich von den Häusergruppen, die früher der Kirche Saint-Eustache gegenüber lagen, eine ziemlich genaue Vorstellung machen, wenn man sich zwischen der Rue Saint-Denis und der Markthalle ein großes lateinisches N gelagert denkt, dessen vertikale Haarstriche die Rue de la Grande Truanderie, die Rue de la Chanvrerie, und dessen Grundstrich die Rue de la Petite Truanderie vorstellen würde. Sämmtliche drei Striche des N durchschnitt die alte, schiefe und krumme Straße Mondétour. Es standen also hier auf einem etwa hundert Klafter großen Raum zwischen der Markthalle und der Rue Saint-Denis einerseits und der Rue du Cygne und der Rue des Prêcheurs andrerseits sieben Häuserinseln von verschiedener Größe und Form, die wie die Mauersteine auf einem Bauplatze nur durch schmale Ritzen von einander getrennt waren.

Wir sagen schmale Ritzen, denn wir finden keinen bessern Ausdruck, diese engen, dunklen, von achtstöckigen Häusern eingefaßten Gassen zu bezeichnen. Die Häuser waren dermaßen altersschwach, daß man sie in der Rue de la Chanvrerie und de la Petite-Truanderie mit Balken stützte, welche von einem Hause zum andern hinüberreichten. Die Straßen waren schmal; die Rinnsteine breit; das Pflaster immer feucht; die Läden dunkel wie Keller, dazu ungewöhnlich große Haufen Unrath und dicke mit eisernen Bändern umspannte Prellsteine; endlich mit ungeheuren, uralten Gittern versicherte Thore; so sah es in diesem Stadtviertel aus, ehe die Rue Rambuteau hier durchgelegt wurde.

Wer von der Rue Saint-Denis aus in die Rue de la Chanvrerie einbog, sah sie sich allmählich verengern, so daß sie einem schmalen Trichter glich. An dem vor ihm gelegnen Ende, nach der Markthalle zu, lag quer vor der Straße eine Reihe hoher Häuser und er hätte glauben können, daß er sich in einer Sackgasse befand. Die Häuserreihe begrenzte eine dunkle, kaum bemerkbare Querstraße, die Rue Mondétour, die auf der einen Seite in die Rue des Prêcheurs, auf der andern in die Rue du Cygne und la Petite Truanderie mündete. An dem Ende nun, wo die Rue de la Chanvrerie am schmalsten war und in die Rue Mondétour auslief, lag rechts an der Ecke ein Haus, das nicht so hoch wie die andern, nur zwei Stockwerke enthielt, mit dem vor dreihundert Jahren gegründeten Wirtshaus »Corinthe«.

Im Erdgeschoß die Küche und die Gaststube mit dem Ladentisch; im ersten Stock der Billard und Speisesaal; beide durch eine Wendeltreppe aus Holz mit einander verbunden; im zweiten Stock die Wohnung der Wirtsleute, zu der man vom ersten aus durch eine abgelegne Thür vermittelst einer leiterähnlichen Treppe gelangte; unter dem Dach zwei Stuben für die Mägde; unter der Gaststube der Keller, zu dem eine Treppe mit einer Fallthür führte: Dies war die Vertheilung der Räumlichkeiten in dem verräucherten Hause, wo man sogar bei Tage Licht brennen mußte.

Das Wirtshaus Corinthe also war, wie schon erwähnt, eines der Lokale, wo Courfeyrac und seine Freunde sich zu treffen und zu versammeln pflegten. Grantaire hatte diese Kneipe entdeckt, wo man nicht bloß zu trinken bekam, sondern auch speisen konnte. Man aß hier u. a. ein Gericht von gefüllten Karpfen, das die Feinschmecker weit und breit herlockte. Außerdem war es angenehm, daß der Wirt in Bezug auf den Geldpunkt überaus gemüthlich war. Bei Vater Hucheloup aß, trank, lärmte man sehr viel und bezahlte, wenn man's darauf anlegte, wenig, unregelmäßig oder auch gar nicht. Aber willkommen war man immer.

Vater Hucheloup sah immer sehr übelgelaunt aus und es hatte den Anschein, als wollte er seine Kunden einschüchtern, sie anschnauzen, Streit mit ihnen anfangen, statt sie höflich zu bedienen. Trotzdem aber, wie gesagt, war man immer willkommen. Diese Sonderbarkeit zog auch viele Leute an, namentlich junges Volk, das den Alten gern brummen hörte. Er war nämlich Fechtlehrer gewesen. Während er aber am brummigsten aussah, konnte er plötzlich vergnügt lachen. Er war eben harmlos, wie die Tabaksdosen, welche die Form einer Pistole haben.

Seine Frau, Mutter Hucheloup, ein bärtiges Wesen, fiel durch phänomenale Häßlichkeit auf.

Um 1830 starb Vater Hucheloup und mit ihm das Geheimnis des berühmten Karpfengerichts. Seine untröstliche Wittwe, untröstlich, weil sich Niemand an sie heranwagte, setzte das Geschäft fort. Aber unter ihrem Regiment ließen die Speisen sehr viel, und der Wein, der immer schlecht gewesen war, alles zu wünschen übrig. Trotzdem fuhren Courfeyrac und seine Freunde fort, das Lokal zu besuchen – aus Mitleid, wie Laigle behauptete.

Zwei Mägde, Matelote und Gibelotte, zwei Namen, die der Speisekarte entnommen waren – ihre eigentlichen kannte kein Mensch – halfen Frau Hucheloup, die Krüge und Näpfe, in denen die Getränke und Speisen servirt wurden, auf den Tisch stellen. Matelote, eine rothhaarige, großmäulige, dicke Trutschel, die Lieblingsodaliske des seligen Hucheloup war häßlicher, als jedwedes noch so scheußliche Ungethüm der Mythologie; da es sich aber schickt, daß die Magd der Herrin in allem den Vortritt läßt, so war sie nicht ganz so greulich anzusehen, wie Frau Hucheloup. Gibelotte, eine hochaufgeschossene Person von lymphatischer Komplexion, die mit ihren schwarzumränderten Augen und schläfrig gesenkten Augenwimpern wie die verkörperte Müdigkeit aussah, bediente Jedermann, auch die andere Magd mit demselben stereotypen, matten Lächeln.

An der Thür des Speisesaals las man folgenden, von Courfeyrac gedichteten Reim:

»Wenn Du's kannst, ponire;
Wenn Du's wagst, dinire.«

II.
Eine vergnügliche Vorbereitung

Laigle wohnte vorzugsweise bei Joly. Er saß in einem Heim, wie der Vogel auf einem Ast sitzt. Die beiden Freunde lebten, aßen und wohnten zusammen. Sie besaßen alles gemeinsam, sogar Fräulein Musichetta.

Am Morgen des 5. Juni waren sie zusammen nach ihrem Stammlokal, »Corinthe,« gegangen, um daselbst zu frühstücken. Joly hatte einen fürchterlichen Stockschnupfen, von dem er seinem Freunde Laigle schon etwas abgegeben hatte. Laigle's Rock sah schäbig aus, aber Joly kleidete sich nobel.

Es war ungefähr neun Uhr Morgens, als sie das Lokal betraten.

Sie stiegen in das erste Stockwerk hinauf, wo Matelote und Gibelotte sie empfingen.

»Austern, Käse und Schinken,« kommandirte Laigle.

Sie waren die einzigen Gäste im Speisesaal.

Gibelotte, mit Joly's und Laigle's Gewohnheiten vertraut, stellte eine Flasche Wein auf den Tisch.

Als sie eben ihre ersten Austern vorgenommen hatten, tauchte durch die Luke, in der die Wendeltreppe endete, ein Kopf empor. Es war Grantaire.

»Ich kam zufällig hier vorbei. Da strömte mir aus dem Hause ein herrlicher Geruch von fromage de Brie entgegen und hier bin ich.«

Als Gibelotte Grantaire sah, stellte sie zwei Flaschen Wein auf den Tisch.

»Trinkst Du die beiden Flaschen allein aus?« fragte ihn Laigle.

»Was ein rechter Kerl ist, fürchtet sich nicht vor zwei Feinden. Er dreht Einem nach dem Andern den Hals um.«

Hatten die Uebrigen sich zuerst an das Essen gemacht, so begann Grantaire mit dem Getränk. Eine halbe Flasche wurde rasch heruntergegossen.

»Hast Du denn ein Loch im Magen?« fragte Laigle.

»Na ja, wie Du eins am Ellbogen hast.«

Und nachdem er wieder sein Glas geleert hatte, rief er aus:

»Hör mal. Dein Rock hat ein ehrwürdiges Alter.«

»Deshalb sind wir auch so gute Freunde, mein Rock und ich. Er ist wunderbar nachgiebig, hindert keine von meinen Bewegungen, schmiegt sich liebevoll an mich an; ich fühle ihn nur, insofern er mich warm hält. – Kommst Du vom Boulevard?«

»Nein.«

»Wir haben den Trauerzug vorbeikommen sehen, Joly und ich.«

»Wie ruhig diese Straße ist,« fuhr dann Laigle nach einer Weile fort. »Wer würde ahnen, daß in Paris alles drüber und drunter geht? Man merkt, daß hier früher lauter Klöster waren. Dubreul und Sauval zählen sie alle auf.«

»Sprich nicht von Mönchen! Mir juckt es schon überall«, fiel Grantaire ein. Plötzlich rief er aus:

»Brrr! Ich habe eine faule Auster heruntergeschluckt. Da überkommt mich wieder die Hypochondrie. Die Austern sind schlecht, die Mägde häßlich. Ich hasse das Menschengeschlecht. Eben komme ich an der Nationalbibliothek vorbei. Diese Verschwendung von Papier und Tinte. Was wird nicht alles zusammengeschrieben! Und dabei hat es einen Dummkopf von Philosophen gegeben, der behauptete, der Mensch sei ein Zweifüßler ohne Federn. – Und dann bin ich einem Mädchen, das ich kenne, begegnet, einem Frauenzimmer, das schön ist wie eine Frühlingsgöttin, und die Elende war glücklich, hoch entzückt, im siebenten Himmel, aus dem Häuschen, weil gestern ein scheußlicher, pockennarbiger Bankier geruht, ihr einen Antrag zu machen. Ja, ja! Geldsackprosa liest sich besser als Mondscheinpoesie und die Frauen jagen lieber Goldfüchsen nach, als Idealen. Vor ein paar Wochen lebte sie von dem redlichen Erwerb ihrer Hände, war glücklich in einem Dachstübchen und hielt sich für reich, weil sie ein Bett und ein paar Blumentöpfe besaß. Und nun hat eine Nacht zu einer so unvortheilhaften Verwandlung genügt. Das Gräuliche dabei ist, daß die Kanaille heute ebenso hübsch war, wie gestern. Man konnte ihrem Gesichtchen nicht anmerken, daß sie jetzt mit einem Ekel von Kerl behaftet ist. Da lobe ich mir die Rosen! Die haben den Vorzug oder meinetwegen den Nachtheil, daß die Spuren der Raupen auf ihren Blättern sichtbar bleiben. Weh mir! es giebt keine Moral auf der Welt; das bezeugt mir die Myrthe, das Sinnbild der Liebe, der Lorbeer, das Sinnbild des Friedens, der Apfelbaum, an dessen Frucht Adam beinahe erstickt wäre, und der Feigenbaum, der Großvater der Schürzen und Unterröcke. Was das Recht und die Gerechtigkeit anbetrifft, wollt Ihr wissen, was das ist? Die Gallier begehren Clusium, Rom aber, das Clusium protegirt, fragt: ›Was hat Euch Clusium gethan?‹ Brennus antwortet: ›Was Euch Alba Longa, Fidenä, die Volsker, die Aequer, die Sabiner gethan haben: Habt Ihr Alba Longa gestohlen, so langen wir uns jetzt Clusium.‹ ›Das werdet Ihr bleiben lassen!‹ schreit Rom. Brennus, nicht faul, erobert Rom und ruft: ›Wehe den Besiegten!‹ Nun wißt Ihr, was das Recht ist. Nein, was es in der Welt für Raubvögel giebt! Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich daran denke!«

Er hielt Joly sein Glas hin, damit Dieser es ihm wieder füllte, trank es aus und fuhr fort, ohne daß die Andern, und auch er selber die Unterbrechung gewahr wurden:

»Brennus, der Rom nahm, war ein Raubthier, und der Bankier, der eine Grisette nimmt, ist auch eins. Hier so wenig Scham, wie dort. Also Kinder, seid gescheidt und glaubt an nichts. Es giebt nur eine Wirklichkeit: der Genuß, den Wein verschafft. Welche Meinung Ihr auch hegt, ob Ihr für den magern Hahn seid, wie der Kanton Uri oder für den fetten, wie der Kanton Claris, ist egal; nur trinket. Ihr erzählt da was über den Boulevard, den Leichenzug u. s. w. Wir bekommen also wieder einmal eine Revolution? Ich erstaune, daß der liebe Gott so arm an Auskunftsmitteln ist. Alle Augenblicke müssen die Achsen der Ereignisse geschmiert werden; sonst kommt der Weltwagen nicht vorwärts und jedes Mal, wenn er im Koth stecken bleibt, bedarf es einer Revolution, um ihn herauszuziehen. Das würde ich einfacher machen. Ich würde nicht jeden Augenblick nachhelfen, sondern das Menschengefühl glatt auf seiner Bahn dahinführen. Ich würde meinen Strumpf stricken, ohne Maschen fallen zu lassen, ohne den Faden zu zerreißen. Ich würde keine Flicken einsetzen, keine Nothbehelfe gebrauchen. Was Ihr den Fortschritt nennt, wird durch zwei Motoren in Gang gebracht, die Menschen und die Ereignisse. Aber leider muß man von Zeit zu Zeit das Außerordentliche heranziehen, um auszukommen. Das Gewöhnliche reicht gewöhnlich nicht aus: Unter den Menschen müssen Genies, unter den Ereignissen Revolutionen auftreten. Kommt doch der Himmel selber nicht mit den alltäglichen, wollte sagen, den allnächtlichen Sternen aus und engagirt von Zeit zu Zeit einen Kometen, wenn er eine Glanzrolle geben, den Menschen ein außergewöhnliches Ereigniß ankündigen will. Soll ein Caesar sterben, so rückt ihm ein Brutus mit einem Dolch und der Himmel mit einem Kometen auf den Leib. Dergleichen Ereignisse und Erscheinungen sehen allerdings nach was aus und imponiren Denen, die nicht alle werden, zeugen aber von einer recht armseligen Erfindungsgabe. Was beweist eine Revolution? Doch nur, daß man sich nicht besser zu helfen weiß, daß zwischen der Gegenwart und der Zukunft eine Lücke ist und daß man nicht versteht die beiden Enden ordentlich an einander zu knüpfen. Kurz, überall und in Allem stellt sich das Weltall und die Menschheit Armutszeugnisse aus. Schluß: Laßt uns trinken. Das ist vernünftiger, als wenn wir uns die Knochen zerschießen lassen und macht mehr Freude, als wenn man seinem Nächsten die Kehle durchschneidet. Warum gehen die Wachsköpfe nicht lieber mit einem lieben Ding am Arm hinaus ins Freie und wälzen sich auf dem duftigen Heu! Wahrhaftig, es werden zu viel Dummheiten auf der Welt begangen. Eine alte, zerbrochne Laterne, die ich vorhin bei einem Trödler sah, flößt mir den Gedanken ein, es wäre doch Zeit, daß es in den Köpfen mal aufgehellt würde. Ja, ja, das kommt davon, wenn man schlechte Austern und Revolutionen herunterschlucken muß. Da bin ich nun ganz schwermüthig geworden.

»Weil wir gerade von Revolutionen sprechen« –, begann jetzt Joly, »Ihr wißt doch, was für eine mit Marius vorgegangen ist?«

»Er ist verliebt, aber in wen?« fragte Laigle.

»Das weiß man nicht.«

»Marius' Liebe kann ich mir vorstellen,« spöttelte Grantaire. »Das muß etwas recht Nebelhaftes sein. Solche Dichternaturen leben von blauem Dunst. Dichter und Narr ist dasselbe. Tymbraeus Apollo. Marius und seine Maria, Maria oder Mariette, das muß ein schnurriges Pärchen sein. Ich bin nie dabei gewesen, weiß aber sehr genau, was zwischen den Beiden vorgeht. Extasen, über denen die Hauptsache vergessen wird. Keuschheit hier auf Erden und wollüstige Umarmungen im Unendlichen. Sinnliche Seelen, die sich im Aether begatten«.

Grantaire traf eben Anstalten, seiner zweiten Flasche den Garaus zu machen und vielleicht auch eine neue Rede zu halten, als aus dem viereckigen Treppenloch wieder Jemand emportauchte. Es war ein noch nicht zehnjähriger, zerlumpter, sehr kleiner Junge, mit gelbem, pfiffigem Gesicht, grellen Augen und üppigem Haarwuchs. Er war vom Regen durchnäßt und sah sehr vergnügt aus.

Der Junge redete, ohne lange zu zögern und zu suchen, obgleich er offenbar keinen von den drei Herren kannte, Laigle an:

»Sind Sie Herr Laigle?«

»Ja. Was willst Du von mir?«

»Die Sache ist die. Ein großer Blonder hat zu mir auf dem Boulevard gesagt: Kennst Du Mutter Hucheloup? Ja habe ich gesagt, Rue Chanvrerie, die Wittwe von dem Alten. Geh dahin, hat er gesagt. Du findest da Herrn Laigle. Zu dem sage: A B C. Nicht wahr, das ist ein Ulk? Er hat mir zehn Sous gegeben.«

»Joly, borge mir zehn Sous,« sagte Laigle. Und zu Grantaire gewandt: »Grantaire, borge mir zehn Sous.«

Das machte einen Franken, den Laigle dem Jungen gab.

»Wie heißt Du?« fragte er ihn.

»Navet; ich bin der Freund von Gavroche.«

»Bleibe bei uns,« sagte Laigle.

»Frühstücke mit uns.« fügte Grantaire hinzu.

Der Junge antwortete

»Geht nicht. Ich gehöre zum Trauerzuge. Ich muß ›Nieder mit Polignac!‹ schreien.«

Und mit einem gewaltigen Kratzfuß ging er davon.

»A–B–C,« sagte Laigle halblaut vor sich hin. »Das bedeutet Lamarque's Beerdigung.«

»Der große Blonde,« erläuterte Grantaire, »ist Enjolras.«

»Gehen wir zu ihm?« fragte Laigle.

»Es regnet,« entgegnete Joly. »Ich habe geschworen, daß ich mich dem Feuer aussetzen werde, jedoch nicht dem Wasser. Ich will mir keinen Schnupfen holen.«

»Ich bleibe hier,« sagte Grantaire. »Ich sehe mir lieber das Billard da an, als einen Leichenwagen.«

»Schluß: Wir bleiben« entschied Laigle. »Dann Kinder, laßt uns trinken. Uebrigens, wenn wir auch das Begräbniß versäumen, zu der Hauerei kommen wir noch immer zurecht.«

»Ja, da will ich dabei sein!« rief Joly.

Laigle rieb sich die Hände.

»Der Rock von 1830 wird also umgeändert werden. Thut auch Noth. Er ist dem Volk zu eng geworden.«

»Eure Revolution ist mir schnurz,« meinte Grantaire. »Ich habe keine Abneigung gegen diese Regierung. Eine Krone mit einer Nachtmütze darauf ist nichts Gefährliches.«

Im Saal herrschte Dunkelheit, dicke Wolken verdrängten vollends das Tageslicht. Im Wirtshaus und auf der Straße ließ sich kein Mensch sehen, da alle Welt ausgegangen, um zu sehen, was »los« war.

»Ist es Mittag oder Mitternacht?« rief Laigle. »Gibelotte bringen Sie Licht!«

»Enjolras,« seufzte Grantaire, »hält nichts von mir. Er hat gedacht: Joly ist krank, Grantaire ist betrunken. Deshalb hat er sich an Laigle gewandt und den kleinen Navet zu ihm geschickt. Hätte er mich aufgefordert, ich wäre gekommen. Nun ist es sein eigner Schade. Auf die Weise werde ich nicht zu seinem Begräbniß gehen.«

Nachdem sie diesen Beschluß gefaßt, setzten Laigle, Joly und Grantaire den Fuß nicht mehr aus der Kneipe. Um zwei Uhr Nachmittags stand ihr Tisch voll geleerter Flaschen. Zwei Lichter beleuchteten die Scene, von denen das eine in einem mit Grünspan überzognen, kupfernen Leuchter, das andre in dem Hals einer gesprungnen Karaffe steckte. Grantaire hatte Joly und Laigle zum Trinken animirt und sie ihn in eine heitrere Stimmung versetzt.

Was Grantaire anbetrifft, so war er schon seit Mittag über den Wein, der ihm nicht anregend genug war, hinausgegangen. Bei eingefleischten Trunkenbolden erzielt der Wein nur Achtungserfolge. Seine Wirkungen waren ihm zu matt, wie die Erzeugnisse der natürlichen Magie. Seine Phantasie verlangte nach stärkeren Ausschweifungen. Da er nun weder Opium noch Haschisch bei der Hand hatte und seinen Verstand vollständig ertränken wollte, so nahm er seine Zuflucht zu einem Gemisch von Branntwein, Stout und Absynth, das bekanntlich eine verheerende Wirkung auf die Nerven ausübt. Dieses schwere Getränk belastet die leichte Phantasie gleichsam mit Blei und überantwortet sie den Furien des Alps, der Nacht und des Todes.

So weit war es indeß mit Grantaire bis jetzt noch nicht gekommen, er befand sich noch in dem Stadium der ungeheuren Heiterkeit. Seine beiden Freunde blieben in dieser Hinsicht auch nicht hinter ihm zurück und stießen tapfer mit ihm an. Grantaire begleitete und bekräftigte seine tollen Scherzreden mit unsinnigen Gebärden, stützte würdevoll die linke Faust auf's Knie, wobei sein Arm einen rechten Winkel bildete und hielt, rittlings auf einem Schemel sitzend, das volle Glas in der rechten Hand, feierliche Reden an die dicke, alte Trutschel Matelote:

»Tretet näher, durch die Weihe der Zeit geheiligte Dame, auf daß ich Euch den Eurer Schönheit gebührenden Tribut meiner Bewundrung darbringe.«

»Matelote und Gibelotte,« schrie jetzt Joly, »geben Sie Grantaire nichts mehr zu trinken. Er verjuchheit ein fürchterliches Geld. Seit heute Morgen hat er schon zwei Franken und fünfundsiebzig Centimes durchgebracht.«

Laigle war ebenfalls schwer betrunken, verhielt sich aber sehr ruhig. Er saß auf der Fensterbrüstung, wo er sich den Rücken vom Regen abkühlen ließ, und betrachtete seine beiden Freunde.

Plötzlich hörte er hinter sich Lärm. Eilige Schritte nahten und der Schrei! »Zu den Waffen!« ertönte. Er wandte sich um und sah in der Rue Saint-Denis Enjolras nebst seinen Freunden und dem Schwarm Bewaffneter, der ihnen folgte.

Die Rue de la Chanvrerie war nicht sehr lang. Laigle hielt also seine beiden Hände rund um den Mund, so daß sie eine Art Sprachrohr bildeten und rief:

»Holla! Courfeyrac, holla!«

Courfeirac blieb stehen, sah Laigle, trat einige Schritte vor und fragte: »Was willst Du?« Eine Frage, die sich mit einem: »Wo gehst Du hin?« von Seiten seines Freundes kreuzte.

»Wir wollen eine Barrikade bauen!«

»Dann bleibt hier! Einen bessern Ort werdet ihr nicht finden.«

»Hast Recht.«

Und auf einen Wink von Courfeyrac stürzte sich der Haufe in die Rue de la Chanvrerie hinein.

III.
In Grantaire's Seele wird es Nacht

Die Stelle eignete sich allerdings wunderbar zur Anlage einer Barrikade. Das Wirtshaus beherrschte die Straße, die Rue Mondétour konnte rechts und links leicht gesperrt werden, so daß Angreifer nur von der Rue Saint-Denis aus kommen konnten. Laigle hatte in seinem Rausch ein Feldherrngenie bewiesen, das ein nüchterner Hannibal nicht hätte überbieten können.

Als der bewaffnete Haufe in die Straße hereinstürzte, verbreitete er überall gewaltigen Schrecken. Alles flüchtete und im Umsehen wurden rechts und links, von unten bis oben, sämmtliche Thüren und Fenster verschlossen, verriegelt, verrammelt. Eine alte Frau hängte in ihrem Schreck eine Matratze an einer Stange zum Fenster hinaus, um die Gewehrkugeln aufzuhalten. Nur die Thür des Wirtshauses blieb geöffnet, aus dem einfachen Grunde, weil der Trupp es besetzt hatte. »Ach du mein Gott! Ach du mein Gott!« seufzte Frau Hucheloup.

Laigle war hinuntergegangen Courfeyrac zu begrüßen.

Joly, der am Fenster geblieben war, rief ihm zu:

»Courfeyrac, Du hättest einen Regenschirm mitnehmen sollen. Du wirst Dich gehörig erkälten.«

In wenigen Minuten wurden nun zwanzig eiserne Stangen, mit denen die Fenster versichert waren, herausgebrochen und die Pflastersteine zehn Klafter weit auf der Straße ausgerissen; Gavroche und Bahorel bemächtigten sich eines vorüberfahrenden Rollwagens, der dem Kalkbrenner Anceau gehörte, und stürzten ihn um; die drei Fässer mit Kalk, mit denen er beladen war, wurden mit Haufen von Pflastersteinen bedeckt und ihnen zur Seite die leeren Fässer, die Enjolras im Keller des Wirtshauses vorfand, aufgestellt. Feuilly, dessen feine Finger nur an die Führung des Pinsels gewöhnt waren – er war Fächermaler –, baute zur Stützung der Fässerreihe und des Wagens zwei Haufen von Bausteinen auf. Ueber die Fässer wurden Balken gelegt, die man von der Fassade des nächsten Hauses wegnahm. Als Laigle und Courfeyrac sich umdrehten, war schon die halbe Straße mit einem mannshohen Wall versehen. Das Volk baut schnell aus Trümmern Neues.

Matelote und Gibelotte hatten sich den Arbeitern zugesellt. Gibelotte schleppte Schutt herbei mit derselben schläfrigen Miene, wie sie die Gäste zu bedienen pflegte.

Plötzlich kam ein mit zwei Schimmeln bespannter Omnibus vorbei.

Laigle stieg über die Pflastersteine, rannte hin, zwang den Kutscher anzuhalten und die Passagiere auszusteigen, wobei er als galanter Mann den Damen die Hand bot, schickte den Kondukteur weg und kam mit dem Wagen zurück.

»Omnibusse,« meinte er, »dürfen an Corinth nicht vorbei. Non licet omnibus adire Corinthum!

Die Pferde wurden ausgespannt und die Rue Mondétour hinuntergejagt, der Omnibus umgestürzt und zur Vervollständigung der Barrikade verwendet.

Frau Hucheloup unterdessen hatte sich fassungslos vor Angst in das erste Stockwerk geflüchtet.

Sie starrte vor sich hin, war aber unfähig, etwas wahrzunehmen, und schrie so zu sagen ganz leise. Die Töne blieben ihr in der Kehle stecken.

»Die Welt geht unter,« stöhnte sie.

Joly küßte Frau Hucheloup auf ihren dicken, rothen und runzligen Hals. »Ich habe immer,« meinte er zu Grantaire, »den Frauenhals als etwas unendlich Zartes betrachtet.«

Aber Grantaire überbot seinen Freund noch. Seine Phantasie nahm einen dithyrambenhaften Schwung an. Er faßte Matelote um die Taille und lachte seelensvergnügt.

»Matelote ist häßlich, von idealer Häßlichkeit, eine wahre Gorgone. Laßt Euch die Geschichte ihrer Geburt erzählen. Ein gothischer Pygmalion, der in Kathedralenfratzen arbeitete, verliebte sich in eine von ihnen, die scheußlichste von allen. Deshalb bat er Amor, er möge ihr Leben verleihen und zeugte mit ihr Matelote. Seht Sie Euch an, Freunde; sie hat chromgelbe Haare wie die Geliebte Tizians und ist ein gutes Frauenzimmer. Ich bürge Euch dafür, daß sie tapfer mit uns kämpfen wird. In jedem guten Frauenzimmer steckt etwas Heldenhaftes. Was Mutter Hucheloup betrifft, so seht Euch mal den Husarenschnurrbart an, den sie von ihrem Mann geerbt hat. Die wird auch tapfer dreinschlagen. Wenn die Beiden allein vorrücken, werden ganze Regimenter auskneifen. Kameraden, wir werden die Regierung stürzen, so gewiß und wahrhaftig, wie zwischen der Ameisen- und Margarinesäure fünfzehn andre Säuren liegen, was mir freilich egal ist. Meine Herren, mein Vater hat mich nie leiden mögen, weil ich keinen Sinn für Mathematik hatte. Ich bin nur für die Liebe und die Freiheit. Ich bin Grantaire der Gemüthliche, der Gutmüthige, der Sorglose. Da ich nie Geld habe, so entbehre ich's auch nicht. Habe ich doch nie Vergleiche angestellt, wie es ist, wenn man welches hat und wenn man keins besitzt. Aber wenn ich reich wäre, sollte es keine Armen mehr geben. Ja, ja, wenn die guten Menschen das meiste Geld hätten, wieviel besser würde alles gehen! Denkt Euch Jesus Christus mit dem Vermögen Rothschilds. Wieviel Gutes würde er stiften! Matelote umarme mich. Du bist üppig und schüchtern. Deine Wangen sind zart und Deine Lippen reizen zum Kusse!«

»Halt's Maul, Du Weinfaß!« fuhr ihn Courfeyrac an.

Auch Enjolras, der mit dem Gewehr in der Hand auf dem Kamm der Barrikade stand, hob jetzt sein ernstes Gesicht empor. Er war, wie wir schon erwähnt haben, ein spartiatischer und puritanischer Charakter. Er hatte Seelenverwandtschaft mit den Helden, die mit Leonidas in den Thermopylen fielen, und den Fanatikern, die mit Cromwell Drogheda auf dem Scheiterhaufen verbrannten.

»Grantaire rief er, »mach daß Du fortkommst. Hier ist nur der Freiheits- nicht der Weinrausch am Platze. Du machst der Barrikade Schande.«

Diese zornige Rede übte eine eigenthümliche Wirkung auf Grantaire aus. Es war, als hätte er eine kalte Dousche über's Gesicht bekommen. Sein Rausch war ihm plötzlich nicht mehr anzumerken. Er setzte sich, legte die Arme auf einen Tisch, der am Fenster stand, sah Enjolras mit einem Blicke voll unbeschreiblicher Sanftmuth an und sagte:

»Laßt mich hier schlafen!«

»Geh und schlafe wo anders!« rief Enjolras.

Aber Grantaire hielt seine Augen liebevoll auf ihn geheftet und antwortete:

»Laß mich hier noch schlafen, – ehe ich in den Tod gehe.«

Enjolras warf ihm einen geringschätzigen Blick zu.

»Grantaire, Du bist ja nicht im Stande zu wollen, zu denken, zu glauben, zu leben, zu sterben.«

Grantaire erwiderte mit ernstem Nachdruck:

»Ich werde Dir beweisen, daß Du dich irrst.«

Er lallte noch einige unverständliche Worte, ließ dann den Kopf schwer auf den Tisch niederfallen und schlief sofort ein.

IV.
Ein Versuch die Wittwe Hucheloup zu trösten

»Wie famos sich die Straße so ausnimmt!« rief Bajorel entzückt über die schöne Barrikade. »Die Toilette paßt zu dem Tanze, den wir hier aufführen werden.«

Courfeyrac suchte, während er das Haus ein Bischen lädirte, die Wirtin zu trösten.

»Mutter Hucheloup, Sie beklagten sich wohl neulich, daß die Polizei Sie in Strafe genommen hat, weil Gibelotte einen Teppich zum Fenster hinaus ausgeschüttelt hat?«

»Ja, mein lieber, guter Herr Courfeyrac. Ach Du mein Gott, wollen Sie mir denn den Tisch da auch noch in Ihre greuliche Barrikade hineinfuhrwerken? Hundert Franken hat mir die Obrigkeit wegen dem Teppich und einem Blumentopf, der aus dem Dachfenster auf die Straße gefallen ist, abgenommen. Ist das nicht scheußlich?«

»Na, sehen Sie, Mutter Hucheloup, dafür wollen wir Rache nehmen.«

Mutter Hucheloup schien nicht zu begreifen was sie bei dieser Art Genugthuung zu gewinnen hatte. Ihre Zufriedenheit war von derselben Natur wie die, von der eine arabische Anekdote erzählt. Eine Frau hatte von ihrem Mann eine Ohrfeige bekommen und beklagte sich darüber bei ihrem Vater: »Du bist es Deiner Ehre schuldig, daß Du ihm diesen Schimpf mit einem andern vergiltst.« Der Vater fragte: »Auf welche Backe hast Du diese Ohrfeige bekommen?« »Auf die linke.« Der Vater gab ihr eine Ohrfeige auf die rechte Wange und sagte: »So, nun kannst Du zufrieden sein.

Sage Deinem Mann, wenn er meine Tochter, so habe ich seine Frau geohrfeigt.«

Der Regen hatte aufgehört und Rekruten waren gekommen. Einige Arbeiter brachten ein Pulverfaß, einen Korb voll Flaschen mit Vitriol, einige Karnevalsfackeln und Lampions, die von der letzten Illumination, der des königlichen Namenstages, übrig geblieben waren, eines Festes, das erst ganz kürzlich, am 1. Mai, stattgefunden hatte. Man zerbrach auch die einzige Laterne, die in der Rue de la Chanvrerie stand, und alle andern in den benachbarten Straßen.

Unter Enjolras's, Combeferre's und Courfeyrac's Anleitung wurden jetzt zwei Barrikaden zu gleicher Zeit gebaut. Sie lehnten sich beide an das Wirtshaus und bildeten einen rechten Winkel mit einander, indem die eine die Rue de la Chanvrerie, die andre die Rue Mondétour nach der Rue du Cygne hin absperrte. Diese letztere, die sehr kurz war, bestand nur aus Tonnen und Pflastersteinen. Es arbeiteten hier etwa fünfzig Mann, von denen ungefähr dreißig mit Gewehren versehen waren, denn sie hatten auf ihrem Marsche bei einem Waffenschmied eine bedeutende Anleihe gemacht.

Es war eine sonderbare und bunte Schaar. Einer in einem Jackett, hatte einen Kavalleriesäbel und zwei Sattelpistolen; ein andrer, in Hemdsärmeln und mit einem runden Hut, trug ein Pulverhorn an der Seite; einen Dritten schützte ein Brustpanzer aus grauem Papier; außerdem war er mit einer Sattlerahle bewaffnet. Einer unter ihnen schrie beständig: »Kinder, laßt uns Alles bis auf den letzten Mann ausrotten und an der Spitze unsrer Bajonette sterben.« Dieser hatte kein Bajonett. Ein Andrer prangte mit dem Lederzeug und der Patronentasche eines Nationalgardisten. Man sah viele Gewehre mit Legionsnummern, wenig Hüte, keine Halstücher, viel bloße Arme, einige Picken. Alle Lebensalter und Gesichtsfarben waren vertreten; neben blassen, jungen Leuten sonnenverbrannte Arbeiter. Alle arbeiteten sehr eilig und suchten sich dabei Muth einzusprechen. Um drei Uhr Morgens würden Verstärkungen kommen; ein Regiment würde ganz gewiß zum Volke übertreten; ganz Paris sei in Begriff, zu den Waffen zu greifen. War der Inhalt der Gespräche von unheimlicher Natur, so herrschte dabei lauter Gemüthlichkeit und Herzlichkeit. Sie verkehrten wie Brüder mit einander und kannten sich doch nicht beim Namen. Denn das ist ja das Schöne bei großen Gefahren, daß sie das brüderliche Band, das alle Menschen, die sich kennen und nicht kennen, umschlingt, sichtbar machen.

In der Küche war ein Feuer angezündet worden und die Arbeiter schmelzten in einer Gießform Kannen, Löffel, Gabeln und überhaupt das ganze Zinngeschirr des Wirtshauses. Dabei wurde getrunken und neben den Weingläsern trieben sich die Zündhütchen und Rehposten auf den Tischen herum. Im Billardsaal saßen Frau Hucheloup, Matelote und Gibelotte, bei denen sich der Schrecken auf verschiedne Weise kund gab, indem die Eine stumpf, die Zweite athemlos, die Dritte munter geworden war, und sich damit beschäftigten, alte Lappen zu zerreißen und Charpie zu zupfen. Drei große Kerle mit starken Bärten und üppigem Haupthaar, bei deren bloßen Anblick die armen Frauenzimmer schon zitterten, halfen ihnen mit ihren groben Fäusten bei der feinen Arbeit.

Der hochgewachsene Mann, der sich dem Trupp in der Rue des Billettes angeschlossen hatte, machte sich nützlich, indem er an der kleinen Barrikade arbeitete. Gavroche dagegen half bei dem Bau der andern. Was den jungen Mann betrifft, der in Courfeyrac's Hotel auf ihn gewartet, und nach Marius gefragt hatte, so war er ungefähr seit der Umstürzung des Omnibus verschwunden.

Gavroche, der ganz in seinem Elemente schien, ließ es sich angelegen sein, dem gemeinsamen Werke Leben einzuhauchen. Er ging hin und her, stieg und sprang auf und nieder, sang, lachte, scherzte. Er war offenbar dazu da, den Muth der Andern zu heben. Was für ein Sporn trieb ihn an? Sein Elend. Was für Flügel trugen ihn? Seine gute Laune. Er war wie ein Wirbelwind, man sah und hörte ihn überall gewissermaßen zu gleicher Zeit. Seine Allgegenwart konnte beinahe verstimmen, da sie Niemanden zur Ruhe kommen ließ. Von ihm angestachelt, arbeitete Alles rüstiger. Er feuerte die Trägen an, munterte die Ermüdeten auf, machte die Träumer ungeduldig, setzte die Einen in Athem, stimmte die Andern lustig oder zornig und summte um Alle herum wie eine Mücke, die ein ganzes Gespann zu größerer Eile zwingt.

»Munter! Munter! Noch mehr Steine! Noch mehr Fässer! Noch mehr Dinger! Wo sind noch welche? Eine Kiepe mit Schutt her, damit wir das Loch da zustopfen können! Nein, ist Eure Barrikade klein! Sie muß durchaus höher werden. Steckt mehr hinein, schmeißt mehr drauf, bringt alles her, was Ihr findet. Haut das ganze Haus kurz und klein. Eine Barrikade ist ein Sammelsurium. Da, seht mal die Glasthür hier, die können wir brauchen!«

»Eine Glasthür?« Die Arbeiter lachten. »Nanu? Wozu kann die denn nützen? Erkläre uns doch das, du Lilliputer!« rief ein Student.

»Selbst dummer Puter!« gab Gavroche mit stolzer Ueberlegenheit zurück. »Eine Glasthür schützt eine Barrikade nicht davor, daß sie angegriffen wird, hindert aber sehr, wenn man hinaufklettern will. Habt Ihr denn nie Aepfel aus einem Garten gestibitzt, wo die Mauer oben mit Glas gespickt war? Verlaßt Euch darauf, die Spießbürger werden sich hüten und in eine Glasthür hineintreten. Auf die Weise lassen sie sich die Hühneraugen nicht gern abschneiden. Kinder, Kinder, was habt Ihr wenig Gripps!«

Großen Aerger verursachte ihm sein Pistol ohne Hahn. Er rannte von dem Einen zum Andern und schrie: »Ein Gewehr! Warum kriege ich kein Gewehr?«

»Du und ein Gewehr!« sagte Combeferre achselzuckend.

»Na, warum denn nicht? 1830, als wir mit Karl X. ein Hühnchen pflückten, habe ich mit einem Gewehr geschossen.«

Enjolras zuckte die Achseln.

»Erst die Männer, dann können die Kinder welche bekommen.«

Gavroche wandte sich stolz nach ihm hin und antwortete:

»Wenn Du vor mir fällst, nehme ich Deines!«

»Dummer Junge!« meinte Enjolras.

»Na, Du kannst Dir auf Deine Klugheit auch nicht zu viel einbilden!«

In diesem Augenblick lenkte ein in die Straße verirrtes Gigerl die Aufmerksamkeit auf sich und machte dadurch dem Streit ein Ende.

Gavroche rief ihn an:

»Heda, junger Mann! Wie wär's, wenn Sie auch was fürs Vaterland thäten?«

Das Gigerl wollte aber vom Vaterlande nichts wissen und machte sich schleunigst aus dem Staube.

V.
Die Vorbereitungen

Die damaligen Zeitungen, laut denen die Barrikade der Rue de la Chanvrerie, eine »fast uneinnehmbare Befestigung,« wie sie sagten, die Höhe eines ersten Stockswerks erreichte, haben sich geirrt. In Wirklichkeit war sie durchschnittlich nur sechs bis sieben Fuß hoch. Sie war so eingerichtet, daß die Vertheidiger sich dahinter verstecken, sich darüber lehnen und sie selbst vermittelst einer vierfachen Reihe von Pflastersteinen, die Stufen bildeten, von innen aus ersteigen konnten. Nach außen zu war sie kunstvoll genug gebaut, sodaß sie kaum erklimmbar schien. Zwischen der Häuserreihe und demjenigen Ende der Barrikade, das vom Wirtshause am weitesten ablag, war eine Lücke gelassen, durch die ein Mann hindurch konnte, wodurch der Besatzung ein Ausfall ermöglicht wurde. Die Deichsel des Omnibus war in die Höhe gerichtet, mit Stricken befestigt und an dem oberen Ende derselben wehte eine rothe Fahne.

Die kleinere Barrikade Mondétour konnte man, da sie hinter dem Wirtshause versteckt lag, von der Rue de la Chanvrerie aus nicht sehen. Beide Befestigungen zusammen bildeten eine richtige Redoute. Dasjenige Stück der Rue Mondétour, das in die Rue des Prêcheurs mündet, und nach der Markthalle führt, zu versperren, hielten Enjolras und Courfeyrac nicht für nöthig. Sie wollten wahrscheinlich eine Kommunikation nach außen frei lassen und fürchteten nicht, daß ein Feind sich durch die gefährlich schmale Rue des Prêcheurs hindurchwagen würde.

Abgesehen von diesem freigelassenen Ausgang, der sich mit dem Ast eines Laufgrabens vergleichen ließ, – und wenn man die schmale Lücke auch berücksichtigt, – bot das Innre der Barrikade, in dem das Wirtshaus einen vorspringenden Winkel bildete, dem Blick ein unregelmäßiges nach allen Seiten hin geschlossenes Viereck. Zwischen der großen Befestigung und den hohen Häusern, die an dem Ende der Rue de la Chanvrerie standen, lag ein zwanzig Schritt breiter Zwischenraum, so daß die Barrikade gleichsam an diese sämtlich bewohnten, aber von oben bis unten verschlossenen Häuser sich anlehnte.

Dies ganze Werk wurde binnen noch nicht einer Stunde ausgeführt, ohne daß sich Soldaten sehen ließen. Die wenigen Leute, die sich jetzt noch in die Rue Saint-Denis wagten, eilten, wenn sie die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie erblickten, ängstlich weiter.

Als die beiden Barrikaden fertig und die Fahne aufgepflanzt war, wurde ein Tisch aus dem Wirtshaus herbeigeschafft und Courfeyrac stieg hinauf. Dann brachte Enjolras den viereckigen Kasten und Courfeyrac machte ihn auf. Er war mit Patronen angefüllt. Bei diesem Anblick erbebten auch die Tapfersten und beobachteten einen Augenblick feierliches Stillschweigen.

Courfeyrac vertheilte sie lächelnd.

Jeder bekam dreißig Patronen. Viele hatten Pulver und machten noch andre mit den gegossenen Kugeln; was das Pulverfaß anbetrifft, so stand es auf einem besondern Tisch unweit der Thür und wurde reservirt.

Die Signale ließen sich noch immer und auf allen Seiten hören, aber die Barrikadenkämpfer achteten nicht mehr auf das eintönige Geräusch, das bald näher kam, bald sich entfernte.

Nun luden sie alle zusammen, ohne Hast, mit feierlichem Ernst die Gewehre und Karabiner. Enjolras stellte außerhalb der Barrikaden drei Schildwachen auf, eine in der Rue de la Chanvrerie, die zweite in der Rue des Prêcheurs, die dritte in der Rue de la Petite-Truanderie.

Dann erwarteten sie entschlossen und ruhig den Feind.

VI.
Auf der Wacht

Wie füllten sie die Zeit aus, die ihnen noch vergönnt war?

Wir müssen es erwähnen, da es eine geschichtliche Thatsache ist.

Während die Männer Patronen machten und die Frauen Charpie zupften, während eine große Kasserolle mit geschmolznem Zinn und Blei über einem Kohlenbecken dampfte, während die Schildwachen mit dem Gewehr im Arm auf und ab gingen und der unermüdliche Enjolras ihnen auf den Dienst paßte, suchten, wie in den friedfertigeren Tagen ihrer Studienzeit, Combeferre, Courfeyrac, Jean Provaire, Feuilly, Laigle, Joly, Bahorel und noch einige Andre sich gegenseitig auf und deklamirten Angesichts des nahenden Todes Liebesgedichte.

Während derselben Zeit wurde an der kleinen Barrikade ein Lampion angehängt. Auf der großen brachte man in einer Art Käfig, der aus Pflastersteinen gemacht und zum Schutze gegen den Wind auf drei Seiten geschlossen war, eine Wachsfackel an, deren grelles Licht die rothe Fahne schaurig beleuchtete, während die Straße und die Barrikade in Dunkelheit gehüllt blieben.

VII.
Der Rekrut von der Rue des Billettes

Schon war es tiefe Nacht und noch ließ sich kein Feind sehen, man hörte nur verworrenes Geräusch, bisweilen auch Gewehrgeknatter, aber kein heftiges, fortgesetztes, und dies auch nur ganz in der Ferne. Diese Frist, die sich in die Länge zog, war ein Beweis, daß die Regierung sich Zeit ließ und ihre Kräfte sammelte. Die gegen die fünfzig vorgehen sollten, zählten sechzig Tausend.

Enjolras überfiel jene Ungeduld, die starken Seelen Angesichts entscheidungsvoller Ereignisse eigen ist. Er empfand das Bedürfnis irgend etwas zu unternehmen und suchte zu diesem Zweck Gavroche auf. Der rührige Junge war in die Gaststube hinaufgegangen und fabrizirte Patronen beim unsichern Schein zweier Talglichter, die er vorsichtshalber auf den Ladentisch gestellt hatte. Von außen war dies Licht nicht zu sehen, auch hatten die Insurgenten in den oberen Stockwerken jedwede Beleuchtung unterlassen.

Gavroche's Aufmerksamkeit war aber in diesem Augenblick durch etwas Anderes als die Patronenfabrikation in Anspruch genommen.

Es war nämlich der Mann von der Rue des Billettes in die Gaststube getreten und hatte sich an denjenigen Tisch gesetzt, wo das wenigste Licht hindrang. Diesem Mann, der bisher seine Umgebung und die Vorgänge beim Barrikadenbau mit auffälliger Genauigkeit geprüft hatte, jetzt aber sich theilnahmlos verhielt und nur seine Gedanken zu sammeln schien, folgte Gavroche mit den Augen und bewunderte neidisch das große Gewehr, daß dem Glücklichen bei der Vertheilung der erbeuteten Waffen zugefallen war. Plötzlich aber, nachdem er das Gesicht des Unbekannten schärfer ins Auge gefaßt hatte, fuhr er voll Erstaunen in die Höhe. Dann schlich er sich näher an ihn heran, trippelte hinter seinem Rücken herum und sah ihn sich von der Seite an, als wollte er sich Gewißheit verschaffen, daß er sich nicht geirrt habe. »Ist's möglich! – Er ist's doch nicht! – Doch, doch!« lauteten etwa die Zweifel und Behauptungen, die man ihm vom Gesicht ablesen konnte.

Während seine Gedanken noch mit dem Unbekannten beschäftigt waren, trat Enjolras an Gavroche heran:

»Du bist ein kleiner Kerl, den Niemand beachten wird. Schleiche Dich an den Häusern entlang und sieh Dich in den benachbarten Straßen um, was draußen vorgeht.«

Gavroche richtete sich auf und warf sich in die Brust.

»So, so! Also die Kleinen sind doch zu etwas gut? Ein wahres Glück! Und manchmal kann man sich sogar auf die Kleinen besser verlassen, als auf die Großen!«

Hier senkte er die Stimme zum Flüsterton herab, zeigte auf den Mann von der Rue Billettes und sagte:

»Sehen Sie Sich doch mal den Großen da an!«

»Nun, was ist's mit dem?«

»Das ist ein Spitzel.«

»Bist Du Deiner Sache sicher?«

»Es ist noch keine vierzehn Tage her, da hat er mich bei den Ohren von dem Karnieß des Pont-Royal, wo ich spazieren ging, heruntergehoben.«

Enjolras ging rasch von dem Jungen weg und flüsterte einem Hafenarbeiter einige Worte zu. Der Mann ging aus der Gaststube hinaus und kehrte fast sofort in Begleitung dreier anderer Arbeiter zurück. Die vier breitschultrigen, starken Männer stellten sich, ohne die Aufmerksamkeit des Unbekannten zu erregen, hinter seinem Stuhl auf und hatten augenscheinlich Lust, über ihn herzufallen.

Nun trat Enjolras an den Tisch heran und fragte:

»Wer sind Sie?«

Bei dieser plötzlichen Frage fuhr der Unbekannte zusammen. Er versenkte seinen Blick tief in Enjolras's aufrichtige Augen und schien dessen Gedanken zu verstehen. Er lächelte mit unnachahmlicher Geringschätzung und Entschlossenheit und antwortete:

»Ich sehe schon. Nun ja!«

»Sie sind ein Polizeispion?«

»Ich bin Beamter.«

»Sie heißen . . .«

»Javert.«

Enjolras gab den vier Arbeitern ein Zeichen. Im Nu, noch ehe Javert sich einmal umdrehen konnte, war er niedergeworfen, gebunden und visitirt.

Sie fanden bei ihm eine kleine, runde, zwischen zwei Gläser geklebte Karte mit dem französischen Wappen und mit der Aufschrift: »Javert, Polizeiinspektor.« Auch trug dieselbe die Namens-Unterschrift des damaligen Polizeipräsidenten Gisquet.

Nach der Visitirung band man ihn an einen Pfeiler der Gaststube fest.

»Dies Mal hat die Maus die Katze gefangen,« bemerkte jetzt Gavroche, der dabei gestanden und mit dem Kopf nickend, seinen Beifall kund gegeben hatte.

Der Vorgang wickelte sich so rasch ab, daß die Insurgenten innerhalb und außerhalb des Wirtshauses erst darauf aufmerksam wurden, als schon alles beendet war. Javert hatte keinen Schrei, keinen Hülferuf ausgestoßen. Als sie ihn an dem Pfahl stehen sahen, eilten Courfeyrac, Laigle, Joly, Combeferre und Diejenigen, die hinter den Barrikaden standen, herbei.

So fest gebunden, daß er sich nicht bewegen konnte, zeigte Javert die unerschrockne Seelenruhe eines Menschen, der sich keiner Lüge bewußt ist.

»Sie werden zehn Minuten, ehe die Barrikade genommen wird, erschossen werden,« erklärte Enjolras.

»Warum nicht gleich?« herrschte ihn Javert stolz an.

»Wir schonen das Pulver.«

»Ein Messerstich thut's auch.«

»Herr Spion, wir sind Richter und keine Mörder.«

Darauf wandte er sich an Gavroche:

»Du thue, was ich Dir gesagt habe.«

»Gleich! Aber Sie geben mir sein Gewehr, nicht wahr? Einen Kuhfuß ist der Dienst wert, den ich Euch geleistet habe.«

Mit diesen Worten grüßte er militärisch und eilte vergnügt davon.

VIII.
Le Cabuc

Die Schilderung der tragischen Ereignisse, die wir hier vor den Augen des Lesers entrollen, würde keine vollständige sein, wollten wir einen Vorfall unerwähnt lassen, der sich bald nach Gavroche's Aufbruch ereignete.

Ein Insurgentenhaufen gleicht bekanntlich einer Lawine: Je weiter er sich bewegt, desto größer wird er, und die Individuen, die ihn bilden, fragen einander nicht, wo sie herkommen. Unter denen, die sich Enjolras's Schaar angeschlossen hatten, befand sich ein Kerl mit einer abgenutzten Lastträgerjacke, der sich überlaut und wüthig gebärdete. Dieser Mensch, der mit Namen oder Beinamen Le Cabuc hieß, war betrunken oder stellte sich wenigstens so und hatte sich mit einigen Andern an einen Tisch gesetzt, den sie aus dem Wirtshaus auf die Straße getragen hatten. Während nun dieser Cabuc seine Tischgenossen mit Wein regalirte, betrachtete er nachdenklich das fünfstöckige Haus, das der großen Barrikade parallel und der Rue Saint-Denis gegenüber lag. Plötzlich rief er aus:

»Wißt Ihr was, Leute? Das Haus da sollte man besetzen. Von den Fenstern aus beherrscht man die ganze Straße und es müßte mit dem Teufel zugehn, wenn sich einer da hineinwagte.«

»Ja, aber das Haus ist geschlossen,« entgegnete Einer.

»Dann müssen wir anklopfen.«

»Es wird uns Niemand aufmachen.«

»Dann schlagen wir die Thür ein.«

Le Cabuc eilt an die Thür, die mit einem gewaltigen Klopfer versehen war, und bearbeitet sie mehrere Male mit Nachdruck. Aber Niemand macht ihm auf.

»Ist Jemand hier?« ruft er.

Nichts rührt sich.

Da ergreift er ein Gewehr und rennt mit dem Kolben gegen die Thür. Aber sie war aus Eichenholz und inwendig mit Blech und Eisen beschlagen, wie ein Festungsthor. Das Haus erzitterte wohl unter den Kolbenstößen, die Thür aber gab nicht nach.

Wahrscheinlich bekamen aber die Leute drinnen Angst, denn im dritten Stock that sich ein Lukenfenster auf und ein Talglicht in der Hand, lehnte sich ein erschrockner Mann in grauen Haaren, der Portier, heraus.

»Was wünschen Sie, meine Herren?«

»Mach die Hausthür auf.«

»Darf ich nicht, meine Herren.«

»Mache trotzdem auf.«

»Geht nicht, meine Herren.«

Le Cabuc legte sein Gewehr an und zielte nach dem Portier, da unten aber völlige Dunkelheit herrschte, sah ihn der Alte nicht.

»Willst Du aufmachen? Ja oder nein?«

»Nein, meine Herren.«

»Du sagst Nein?«

»Ich sage Nein, liebe . . .«

Er beendete den Satz nicht. Der Schuß war losgegangen, die Kugel drang ihm unter dem Kinn hinein und durch die Halsader aus dem Genick wieder hinaus. Der Greis sank zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Das Licht entfiel seiner Hand und erlosch, der Kopf des Getöteten blieb zur Luke heraushangen.

»So!« rief Le Cabuc und ließ seinen Gewehrkolben auf das Straßenpflaster herabfallen.

Kaum hatte er dies Wort ausgesprochen, so fühlte er auf seiner Schulter eine Hand, die ihn wuchtig niederdrückte, und eine Stimme hinter ihm rief:

»Auf die Knie!«

Der Mörder wandte sich um und sah Enjolras' blasses und strenges Antlitz vor sich. Der junge Mann war bei dem Knall des Gewehres herbeigeeilt und hielt jetzt mit der linken Hand Le Cabuc fest.

»Nieder auf die Knie!« wiederholte er.

Und mit unwiderstehlicher Gewalt bog der schmächtige, junge Mensch den vierschrötigen Lastträger wie ein Schilfrohr nieder und zwang ihn, in den Koth zu knieen. Mit seinem Frauengesicht, seinen weit geöffneten Nasenflügeln, seinen gesenkten Augenlidern hatte sein griechisches Profil jetzt etwas, das an die Statuen der antiken Themis erinnerte.

Alle waren herbeigeeilt und bildeten feierlich schweigend in einiger Entfernung einen Kreis um den Mörder und seinen Richter.

Le Cabuc wagte nicht mehr, sich zu wehren, und zitterte am ganzen Leibe. Enjolras ließ ihn los und zog seine Uhr hervor.

»Sammle Dich. Bete oder denke. Ich gebe Dir eine Minute Frist.«

»Gnade!« winselte der Mörder, ließ den Kopf hängen und stieß einige unartikulirte Verwünschungen hervor.

Enjolras wandte die Augen nicht von der Uhr ab, bis die Zeit verstrichen war, und steckte alsdann die Uhr wieder in die Tasche. Dann packte er Le Cabuc, der sich heulend vor Angst an seine Knie drückte, bei den Haaren und hielt ihm dem Lauf seines Pistols an das Ohr. Viele unter den entschlossenen Männern, die sich so ruhig auf ein gefährliches Wagniß eingelassen hatten, wandten sich schaudernd ab.

Der Schuß knallte, der Mörder fiel mit der Stirn nach vorn auf die Erde und Enjolras richtete sich in die Höhe, indem er sich mit der Ruhe des guten Gewissens im Kreise umsah.

Dann stieß er die Leiche mit dem Fuße an und rief:

»Schafft ihn fort.«

Drei Mann eilten herbei, hoben den Elenden, der noch zuckte, empor und warfen ihn über die kleine Barrikade in die Rue Mondétour.

Enjolras aber nahm eine nachdenkliche Miene an. Hehre Schwermuth verdüsterte die Heiterkeit seines Gemüths.

»Bürger,« sprach er, während Alles achtungsvoll schwieg, »was der Mann gethan hat, war scheußlich, and was ich gethan habe, ist schrecklich. Er hat getötet; deshalb habe ich ihn wieder getötet. Ich mußte es thun, denn der Aufstand bedarf der Disciplin. Der Mord ist unter den vorliegenden Verhältnissen noch mehr Verbrechen, als sonst. Wir dürfen der Revolution keine Schande machen, wir sind die Priester der Republik, die Hostien der Pflicht und es darf nicht sein, daß man die Sache, für die wir streiten, übel beleumde. Deshalb habe ich den Mörder gerichtet und zum Tode verurtheilt. Mich, der ich gezwungen war so zu handeln, so sehr es meinen Gefühlen widerstritt, habe ich gleichfalls gerichtet und ihr werdet baldigst sehen, welche Strafe ich über mich verhängt habe.«

Die Zuhörer erbebten.

»Wir werden Dein Schicksal theilen,« rief Combeferre.

»Es sei,« hob Enjolras wieder an. »Noch eins. Indem ich den Verbrecher strafte, habe ich der Nothwendigkeit, dem Fatum gehorcht. Aber diese Nothwendigkeit kann nur in der alten Weltordnung bestehen; das Gesetz des Fortschritts will, daß das Fatum vor der brüderlichen Liebe verschwinde. Der Augenblick ist freilich schlecht gewählt, das Wort Liebe auszusprechen. Trotzdem thue ich es und preise die Liebe, denn ihr gehört die Zukunft. Dermaleinst wird die Unwissenheit, die den Menschen zu verbrecherischen Handlungen verleitet, und dies Gesetz der Wiedervergeltung, das der Gewalt die Gewalt entgegensetzt, nicht mehr die Welt regieren, werden kein Satan und kein Erzengel Michael mehr mit einander kämpfen. Dann wird Niemand seinen Nebenmenschen töten, dann wird die Menschheit der Liebe fähig sein. Er wird kommen, der Tag, Freunde, wo Alles Eintracht, Harmonie, Licht, Freude und Leben sein wird. Und damit dieser Tag einst komme, deshalb gehen wir in den Tod.«

Später, nach dem Kampfe, als die Leichen nach der Morgue gebracht und visitirt wurden, fand man bei Le Cabuc eine Polizistenkarte. Der Verfasser hat 1848 den diesbezüglichen, 1832 abgefaßten Bericht an den Polizeipräsidenten in Händen gehabt.

Darf man einer, bei der damaligen Polizei verbreiteten, sehr sonderbaren, aber wahrscheinlichen Meinung beipflichten, so war Le Cabuc kein Andrer als Claquesous. Thatsache ist, daß seitdem von dem gefürchteten Raubmörder keine Rede mehr war.


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