Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Erstes Buch. Ein wenig Geschichte

I.
Gut zugeschnitten

Die Jahre 1831 und 1832 bezeichnen, als Vorläufer der Julirevolution, eine eigenartige und merkwürdige Epoche der Weltgeschichte. Sie ragen aus der Zeit, die ihnen vorangeht und die ihnen folgt, wie zwei hohe Berge hervor. Ein großartig revolutionärer Hauch durchweht diese Periode, in der die Gesellschaft, die Grundbedingungen der Civilisation, die individuellen Interessen, die uralte Gliederung des französischen Staatsgebäudes leidenschaftlichen Theoretikern und Schwarmgeistern als Spielball dienten. Sie wurden nach entgegengesetzten Zielen, die von den Historikern die »Reaktion« und der »Fortschritt« genannt worden sind, geschleudert und gelangten nur ab und zu in der Mitte, wo die Wahrheit weilt, zur Ruhe.

Diese denkwürdige Periode hat ziemlich scharf markirte Grenzen und liegt uns fern genug, so daß wir sie schon jetzt in ihren Hauptzügen darstellen können.

Diesen Versuch wollen wir nun unternehmen.

Die Restauration war eine jener schwer definirbaren Interimszeiten, die einen Ruhepunkt in der Geschichte einer großen Nation bedeuten. Dergleichen Zeiten sind absonderliche und täuschen die Politiker, die sie für ihre Zwecke auszunutzen versuchen. Im Anfang verlangt die Nation nur Ruhe, dürstet nur nach Frieden; der Einzelne kennt keinen andern Ehrgeiz, als sich recht klein zu machen. Der großen Ereignisse, der großen Gefahren und der großen Männer ist man satt und überdrüssig. Man wäre im Stande, einen Cäsar gegen einen Prusias, Napoleon gegen den gemüthlichen König des Schlaraffenlandes auszutauschen. Man hatte, als die Restauration begann, einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt, war erst in Mirabeau's, dann in Robespierre's, endlich in Bonaparte's Wagen gefahren und übermüdet. Jeder verlangte nach seinem Bett.

Während aber die Menschen Frieden um jeden Preis verlangen, sind die durch die Revolution geschaffenen Thatsachen zu mächtig, um sich wieder beseitigen zu lassen; man sieht sich gezwungen, ihnen Bürgschaften für ihren Bestand zu geben, ihnen Rechte einzuräumen.

Diese Forderung stellte England nach der Regierung Cromwells an die Stuarts und Frankreich nach dem Sturz Napoleons an die Bourbonen.

Wenn die Fürsten solche Garantieen gewähren, so nennen sie dies »oktroyiren.« In Wirklichkeit gewähren sie nichts. Die Macht der Verhältnisse zwingt sie nachzugeben. Diese unabweisbare und nützliche Wahrheit erkannten 1660 die Stuarts nicht, und auch die Bourbonen begriffen sie 1814 nicht.

Die Herrscherfamilie, die nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Kaiserthums nach Frankreich zurückkehrte, beging die verhängnißvolle Thorheit sich einzubilden, sie schenke und sie könne, was sie geschenkt habe, auch wieder zurücknehmen; das Haus Bourbon besitze Frankreich erb- und eigenthümlich, von Gottes Gnaden, während Frankreich nichts besitze. Aber schon der Umstand, das die Charte Ludwigs XVIII. nur mit Widerwillen der Nation verliehen wurde, hätte genügen sollen, den Bourbons zu beweisen, daß die Gabe nicht von ihnen kam.

Unfähig das neunzehnte Jahrhundert zu verstehen, lehnten sie sich gegen jede freiheitliche Regung der Nation auf. Sie machten Sperenzien, um uns eines vulgären Ausdrucks zu bedienen, und das Volk verübelte ihnen dies.

Das Haus Bourbon wähnte, es sei stark, weil das Kaiserthum vor ihm leicht, wie eine Theatercoulisse beseitigt worden war, und merkte nicht, daß es auf dieselbe Weise an die Stelle seines Vorgängers gerückt war, sich in derselben Hand befand, durch die Napoleon vom Thron gestoßen wurde. Es vermeinte einen festen Halt zu haben, weil es die Vergangenheit repräsentire. Dies war ein Irrthum; es bildete wohl einen Theil der Vergangenheit, aber die Geschichte der ganzen Vergangenheit war die Geschichte Frankreichs. Die französische Gesellschaftsordnung wurzelte in der Nation, nicht unter dem Thron der Bourbons.

Das Haus Bourbon war der starke, blutbefleckte Knoten, der ehedem Frankreichs Bestandtheile zu einem großen Ganzen verbunden hatte, konnte fortan aber nicht mehr als das wesentlichste Element seiner geschichtlichen Entwickelung und die Grundlage seiner Politik gelten. Die Bourbons waren entbehrlich; dies hatte eine zweiundzwanzigjährige Unterbrechung der Regierungsfolge bewiesen; für sie bestand diese Thatsache aber nicht. Bildeten sie sich doch ein, daß Ludwig XVII. am 9. Thermidor König war, daß die Schlacht bei Marengo unter der Regierung Ludwigs XVIII. geliefert wurde! Nie, seitdem es eine Geschichte giebt, waren Fürsten so blind gewesen gegen die Thatsachen und gegen jene göttliche Autorität, die sich in den Thatsachen kund giebt. Nie hatte jene irdische Macht, die man das Recht der Könige nennt, ihre Ansprüche denen der höhern Macht so keck vorangestellt.

Dieser entscheidungsvolle Irrglaube war es, der die Familie Bourbon dazu verleitete, die 1814 »oktroyirten« Garantieen, die sogenannten Zugeständnisse anzutasten. Was sie Zugeständnisse, revolutionäre Rechtsverletzungen nannte, waren Rechte, die wir uns in ehrlichem Kampfe erstritten hatten.

Als ihr die richtige Zeit und Stunde gekommen schien, faßte die Restauration, im Vertrauen auf ihren vermeintlichen Sieg über Bonaparte und auf ihre Beliebtheit bei der Nation, plötzlich einen raschen Entschluß und wagte einen Staatsstreich. Eines Morgens trat sie vor Frankreich hin und leugnete laut die Rechte der Gesammtheit und die des Einzelnen, machte der Nation die Herrschaft, dem Staatsbürger die Freiheit streitig.

Dies ist das Wesen der berühmten Juliordonnanzen.

In Folge dessen wurde die Restauration gestürzt.

Und zwar mit Recht. Indessen hatte sie sich, wie wir zugeben müssen, nicht allen Formen des Fortschritts widersetzt. Großes war neben ihr zu Stande gekommen.

Unter der Restauration hat sich die Nation gewöhnt, Streitfragen ruhig und sachgemäß zu erörtern, was der Republik gefehlt hatte, und dem Ausland Achtung zu gebieten ohne Verzicht auf die Wohlthaten des Friedens. Frankreichs Freiheit und Macht wirkten als ermuthigendes Beispiel auf die übrigen Völker Europas. Unter Robespierre hatte die Revolution, unter Bonaparte die Kanone das Wort gehabt, unter Ludwig XVIII. und Karl X. durfte die Intelligenz reden. Der Sturm legte sich, und die Fackel konnte wieder angezündet werden. Man sah in hehren Regionen das reine Licht der Vernunft erglänzen. Ein herrliches, ersprießliches und schönes Schauspiel. Fünfzehn Jahre hindurch bethätigten sich unter dem Schutz des Friedens und vor der Oeffentlichkeit die für den Denker alten, für den Staatsmann neuen Principien der Gleichheit vor dem Gesetz, der Gewissens-, Rede- und Preßfreiheit, der Berechtigung aller Fähigkeiten allen Staatsämtern gegenüber. So ging es bis zum Jahre 1830. Die Bourbons erwiesen sich also als ein Civilisationswerkzeug, das in den Händen der Vorsehung zerbrach.

Der Sturz der Bourbons ereignete sich unter Umständen, die dem Geschichtskenner Bewunderung abnöthigen; aber nicht Bewunderung für sie, sondern für die Nation. Ihre Thronentsagung war eine würdevolle, aber nicht imponirend und hinterließ keinen tiefen Eindruck: sie vollzog sich nicht mit dem grausigen Gleichmuth Karls I. von England, noch mit Napoleons Adlerschrei. Sie gingen eben, ohne wahres Verständnis für die Majestät ihres Unglücks. Bekundete doch Karl X., der auf der Reise nach Cherbourg aus einem runden Tisch einen viereckigen herausschneiden ließ, mehr Interesse für Etikette, als Trauer über den Sturz der Monarchie. Diese Kleinlichkeit betrübte die Leute, die für den König eine persönliche Anhängigkeit empfanden und die geschichtliche Bedeutung seiner Familie zu würdigen wußten. – Das Volk dagegen zeigte bei dieser Gelegenheit ein bewundernswürdiges Verhalten. Von dem Königthum eines Tages widerrechtlich angegriffen fühlte die Nation sich so stark, daß sie ihre Ruhe bewahrte und dem Zorn nicht Raum gab. Sie vertheidigte sich, übte Mäßigung, brachte alles wieder in das richtige Geleise, indem sie dem Gesetz die Herrschaft wiedergab und die Bourbons wieder in die Verbannung schickte; und begnügte sich – leider! – mit diesem Erfolge. Den alten König Karl X. und seine Familie behandelte sie mit Schonung. Nicht Dieser oder Jener, – Frankreich, ganz Frankreich, das ganze siegreiche und von seinem Siege berauschte Frankreich schien der Worte eingedenk zu sein, die Guillaume du Vair nach dem Tag der Barrikaden niederschrieb: »Denen, so, um Reichthümer und Aemter zu erschnappen, überall herumschranzen, wie die Vöglein von Ast zu Ast hüpfen, mag es leicht fallen, frech zu sein gegen gefallene Größen; mir aber deucht das Schicksal meines Königs nicht gleichgültig, zumal, wenn er mit Unglück und Trübsal belastet ist.«

Die Julirevolution fand sofort Freunde und Feinde in der ganzen Welt, wurde von den Einen mit Enthusiasmus und Freude begrüßt, von den Andern in den Abgrund der Hölle verdammt. Die Fürsten kniffen, wie die Eulen vor der Morgenröthe, Anfangs die Augen zu und machten sie dann bloß auf, um drohende Blicke zu entsenden. Begreifliche Furcht, entschuldbarer Aerger! War es doch bei dieser seltsamen Revolution kaum zu einem rechten Kampf gekommen! Hatte sie doch dem besiegten König nicht einmal die Ehre erwiesen, ihn als Feind zu behandeln und sein Blut zu vergießen! Diese Milde konnten ihr die Despoten, die alles Interesse daran haben, daß die Freiheit sich selbst in den Augen der Welt schadet, nicht verzeihen. Indessen wurde sie weder offen, noch im Geheimen bekämpft. Auch die sich am wüthendsten gebärdeten, ließen die vollzogene Thatsache gelten, denn trotz allem Egoismus und Groll empfindet der Mensch doch eine geheime Achtung vor allen Ereignissen, an denen er das Walten einer höheren Macht spürt.

Die Julirevolution ist der Triumph des Rechtes über die Thatsache, ein unvergleichbar herrlicher Sieg.

Darin besteht ihr Ruhmestitel, daher auch ihre Milde gegen den besiegten Feind. Das Recht, wenn es triumphirt, hat nicht nöthig gewaltsam aufzutreten.

Wer das Recht zur Richtschnur seiner Handlungen nimmt, handelt auch nach den Principien der Sittlichkeit und Wahrheit.

Dem Recht ist es eigenthümlich, daß es ewig schön und rein bleibt. Die Thatsache, mag sie auch noch so nothwendig erscheinen, noch so sehr sich der Billigung der Zeitgenossen erfreuen, wird, wenn sie nur als Thatsache besteht und nur wenig oder gar keinen Theil am Rechte hat, unausbleiblich zu einer Mißgestalt, einer Ungeheuerlichkeit ausarten. Wer sich klar darüber werden will, ein wie scheußlich häßliches Aussehen die Thatsache in den Augen späterer Geschlechter annehmen kann, der lese Macchiavelli. Der Mann war kein böser Genius, keine Ausgeburt der Hölle, kein charakterloser und nichtswürdiger Schriftsteller, sondern nur ein Vertheidiger der Thatsache. Und nicht bloß der Thatsache, wie sie sich seiner Zeit in Italien gestaltet hatte, sondern der Thatsache, die im sechzehnten Jahrhundert für ganz Europa maßgebend war. Diese Thatsache erscheint und ist scheußlich im Vergleich mit der sittlichen Norm des neunzehnten Jahrhunderts.

Dieser Kampf zwischen Recht und Thatsache besteht seitdem es Staaten giebt. Die Aufgabe der Weisen ist es, diesem Zweikampf ein Ende zu machen, die reine Idee mit der Wirklichkeit zu verschmelzen, dafür zu sorgen, daß Recht und Thatsache sich gegenseitig auf friedlichem Wege durchdringen.

II.
Schlecht genäht

Aber neben den Weisen arbeiten an dem Bau des Staates auch die schlauen Leute, und diese verfolgen ganz andere Ziele.

Die Revolution des Jahres 1830 blieb bald auf halbem Wege stehen.

Die schlauen Leute verfahren mit einer Revolution, die ihr Ziel hat, wie Strandbewohner mit einem gescheiterten Walfisch: sie schlachten sie aus.

Diese Art Menschen hat sich in unserm Jahrhundert das Prädikat »Staatsmänner« zuerkannt; dergestalt, daß dieses Wort »Staatsmann« jetzt fast der Gaunersprache angehört. Denn man vergesse nicht, daß die »Schlauheit« nothwendig verbunden ist mit einer allem Großen und Erhabenen angewandten Denkweise. Wer da sagt die »schlauen Leute,« bezeichnet damit auch die mittelmäßigen Köpfe.

So wie das Wort »Staatsmann« bisweilen dasselbe bedeutet wie »Verräther.«

Will man also den Schlauköpfen Glauben schenken, so sind Revolutionen, wie die des Jahres 1830, durchschnittene Pulsadern; sie müssen sofort unterbunden werden. Tritt das Recht zu stolz auf, so wird es gefährlich und muß der Sicherheit des Staates hintenangesetzt werden. Nach dem Siege der Freiheit schaffe man eine starke Regierung.

Hierin stimmen die Weisen mit den Schlauen noch überein, fangen aber an mißtrauisch zu werden. Ganz richtig! Eine starke Regierung muß sein. Aber was ist mit einer »starken« Regierung gemeint, und wer hat das Recht eine solche einzusetzen?

Diesen schüchtern vorgebrachten Einwand scheinen aber die schlauen Leute nicht zu hören und intriguiren weiter.

Nach diesen Politikern, die sich meisterhaft auf die Kunst verstehen, vortheilhafte Lügen hinter der Maske der Nothwendigkeit zu verstecken, bedarf ein Volk, das zwischen lauter monarchischen Ländern wohnt, vor allen Dingen einer Dynastie. Auf diese Weise könne es nach seiner Revolution Frieden behalten, d. h. Zeit gewinnen, um seine Wunden zu verbinden und sein Haus wieder in Stand setzen.

Nun ist es aber nicht immer ganz leicht, sich eine Dynastie zu verschaffen.

Streng genommen, läßt sich aus dem ersten, besten Mann von Genie oder sogar irgend einem glücklichen Abenteurer ein Monarch machen. Man hat dann in dem ersten Fall einen Bonaparte, in letzterem einen Iturbide.

Es kann aber nicht die erste beste Familie eine Dynastie abgeben. Es gehört dazu auch ein gewisses Alter, und der Stempel der Zeit kann nicht nachgemacht werden.

Begiebt man sich auf den Standpunkt der »Staatsmänner,« mit Vorbehalt natürlich, so muß der König, der eine Revolution beschließen soll, folgende Eigenschaften haben: Es ist vortheilhaft, daß er eine revolutionäre Gesinnung hege, d. h., daß er persönlich an der Umwälzung sich betheiligt, sich dabei Mißkredit oder Ehre erworben, die Gegner mit der Guillotine oder mit dem Degen bekämpft habe.

Welche Eigenschaften muß eine Dynastie haben? Verständniß für die Wünsche der Nation. Doch darf sie in der Revolution keine aktive Rolle gespielt haben; sie soll nur Fühlung mit den Ideen der Zeit haben.

Hieraus erklärt sich, warum die ersten, großen Revolutionen zufrieden sind, wenn sie einen Mann finden, und die zweiten durchaus eine Familie haben wollen, wie das Haus Braunschweig oder Orleans.

Königsfamilien gleichen jenem indischen Feigenbaum, von denen jeder Zweig, indem er sich bis zur Erde hinabneigt, Wurzel faßt und zu einem Baum wird. So kann auch jedes Mitglied einer Königsfamilie Gründer einer Dynastie werden. Unter der Bedingung, daß es sich bis zum Volke hinabneigt!

So lautet die politische Theorie, mit der die Schlauköpfe 1688 in England und 1830 in Frankreich den Fortschritt hemmten, das Volk einschläferten, das Recht entwaffneten.

Wer gebietet auf diese Weise den Revolutionen Einhalt? Die Bourgeoisie, die besitzenden Stände.

Warum?

Weil die Bourgeoisie den befriedigten Eigennutz vertritt.

Es wiederholte sich 1830 nach dem Sturze Karls X. dieselbe Erscheinung, die 1814 den Gang der Ereignisse bestimmte.

Man hat – mit Unrecht – behauptet, die Bourgeoisie sei ein besonderer Stand. Sie ist aber nur der zufrieden gestellte Theil des Volkes. Der Bourgeois ist ein Mann, der gerade Zeit hat, sich zu setzen. Ein Stuhl ist aber keine Kaste.

Will man sich aber zu früh hinsetzen, so kann es geschehen, daß man dabei den Fortschritt des Menschengeschlechts aufhält. Diesen Fehler hat sich die Bourgeoisie oft zu Schulden kommen lassen.

Man bildet keinen besonderen Stand, weil man einen Fehler begeht. Der Egoismus ist kein Merkmal, durch das sich eine Klasse Menschen von einer andern unterscheidet.

Uebrigens muß man sogar gegen den Egoismus gerecht sein. Nach der Umwälzung, die das Jahr 1830 herbeiführte, erstrebte derjenige Theil der Nation, den man die Bourgeoisie nennt, nicht etwa einen schimpflichen Trägheitszustand, nicht den Schlummer, um zu vergessen und sich in Träumen zu wiegen, sondern eine Zeit der Ruhe: Sie wollte nur Halt machen auf dem Wege, der zum Fortschritt führt, wie ja auch Soldaten, die gestern gekämpft haben und morgen wieder kämpfen werden, heute ausruhen, um ihre Kräfte wieder herzustellen.

So machte 1830 bis 48 die Bourgeoisie Halt, ohne darum dem Fortschritt wesentlichen Abbruch zu thun.

Der Mann aber, den sie nötig hatte, um Vergangenheit und Zukunft zugleich zu repräsentiren, brauchte nicht lange gesucht zu werden. Er hieß Louis Philippe d'Orléans.

221 Abgeordnete wählten Louis Philippe zum König. Die Krönung vollzog Lafayette, indem er diese Regierung die »beste Republik« nannte. Während also früher die französischen Könige in dem Dom zu Reims gesalbt wurden, übernahm jetzt diese Rolle das Pariser Stadthaus.

Als die schlauen Leute mit ihrer Arbeit fertig waren, zeigte es sich auch, wie mangelhaft sie ihre Aufgabe gelöst hatten. Sie hatten das absolute Recht aus ihrer Rechnung fortgelassen. Dieses protestirte, zog sich aber vorläufig, um sich auf einen desto furchtbareren Kampf vorzubereiten, aus der Arena zurück.

III.
Louis Philippe

Die Revolutionen schlagen derb zu und treffen gute Wahlen. Dies gilt auch von der in falsche Bahnen gelenkten und zahmen Julirevolution des Jahres 1830. Sie hatte Glück. Der König, den sie sich auserkor, war besser, als das neugeschaffene Königthum. Louis Philippe war ein Mann, wie es deren nicht viele giebt.

Mit allen Privat- und mehreren staatsmännischen Tugenden ausgestattet; auf die Erhaltung seiner Gesundheit und seines Vermögens, sowie auf seine äußere Erscheinung bedacht; sparsam mit den Minuten, wenn auch nicht immer mit den Jahren; müßig im Essen und Trinken; heiter; friedfertig; geduldig; gutmüthig; treu gegen seine Frau, eine Tugend, durch die er sich von dem Bourbons des alten Regimes vortheilhaft auszeichnete, und die er zu politischer Geltung zu bringen wußte, indem er durch seine Lakaien den Besuchern des Schlosses das königliche Ehebett zeigen ließ; mit allen Sprachen Europas vertraut und, was noch besser ist, mit den Sprachen, welche die verschiedenen Interessen zu hören lieben; vorzüglicher Vertreter des »Mittelstandes,« aber ausgezeichnet durch eine höhere Denkweise; vernünftig genug, sich bei allem Adelsstolze nur wegen seines inneren Wertes zu achten und Gewicht darauf zu legen, daß er ein Orleans, kein Bourbon, sei; sehr vornehm in seinem Auftreten, so lange er nur »Durchlaucht,« und durchaus bürgerlich, sobald er »Majestät« titulirt wurde; weitschweifig in seinen öffentlichen Reden und bündig im Ausdruck vor den Verwandten und Freunden; als Geizhals verschrieen, thatsächlich aber zur Verschwendung geneigt, wenn es die Befriedigung einer Laune oder die Erfüllung einer Pflicht galt; litterarisch gebildet, aber ohne Vorliebe für die Litteratur; Edelmann, aber nicht ritterlich gesinnt; schlicht, gleichmüthig und energisch; geliebt von seiner Familie, seinem Hofstaat und Gesinde; angenehmer Gesellschafter; als Staatsmann illusionslos, kühl, stets von dem unmittelbaren Interesse beherrscht; nachtragenden Grolles und uneigennütziger Dankbarkeit unfähig; Meister in der Kunst den breiten Volksmassen zum Trotz Majoritäten im Parlament zu schaffen; mittheilsam bis zur Unklugheit und dabei doch erfinderisch in Bezug auf Auskunftsmittel und stets bereit, diese oder jene Seite seines Wesens hervorzukehren, je nach den Umständen, und voller Liebe für sein Land, aber noch mehr auf das Wohl seiner Familie bedacht; mehr bestrebt, wirkliche Macht, als moralische Autorität zu besitzen und am wenigsten besorgt um seine persönliche Würde, ein Charakterzug, vermöge dessen er alles auf den Erfolg bezog und zur Hinterlist neigte, aber auch geeignet war, politischen Katastrophen vorzubeugen; genau; korrekt; wachsam; regsamen Geistes; scharfsinnig; unermüdlich; Inkonsequenzen ausgesetzt und Widerrufen nicht abgeneigt; revolutionär genug, um ohne Heuchelei die Marseillaise singen zu können; unzugänglich für die Liebe zum Schönen und Idealen, für waghalsige Hochherzigkeit, für Utopien und Chimären, für den Jähzorn, die Eitelkeit, die Furcht; von großer, persönlicher Tapferkeit als General bei Valmy, als Soldat bei Jemmapes, den Königsmördern gegenüber, die acht Attentate gegen ihn verübten; zugleich auch ein muthiger Denker, ängstlich nur vor einer möglichen Erschütterung des europäischen Staatengebäudes und ohne politischen Wagemuth; ein guter Menschenkenner; von nüchternem, praktischem und durchdringendem Verstande; beredt; mit erstaunlichem Gedächtniß ausgerüstet, der einzige Punkt, in dem er Cäsar, Alexander dem Großen und Napoleon glich, aber trotzdem er alle möglichen Thatsachen, Daten, Namen kannte, ohne Verständniß für die Neigungen, Leidenschaften, Eigenthümlichkeiten der Menge, für die inneren Bestrebungen, die geheimen Regungen, kurz alles, was man die unsichtbaren Strömungen der Gemüther nennen könnte; ohne jedwede innigere Fühlung mit dem Volksgeist, ein Mangel, dem er mittels seiner Schlauheit abzuhelfen verstand; zu herrschsüchtig, um sich innerhalb der ihm von der Verfassung vorgeschriebenen Grenzen zu halten; sein eigener erster Minister; immer auf der Lauer, um großen Ideen die kleinliche Wirklichkeit entgegenzusetzen; zugleich wahrhaft schöpferischer Civilisator und Rabulist; halb König, halb Advokat; kurz eine groß veranlagte und originelle Gestalt; ein Fürst, der es verstand, Frankreich's Mißtrauen zum Trotze eine starke Regierung zu schaffen und dem Ausland gegenüber energisch aufzutreten, – wegen aller dieser Vorzüge und Fehler wird Louis Philippe für einen der bedeutendsten Menschen seines Jahrhunderts gelten, und er würde auch den größten Herrschern zugezählt werden, hätte er ein wenig den Ruhm geliebt und für das Große ebenso viel Sinn gehabt, wie für das Nützliche.

Louis Philippe war in jüngeren Jahren ein hübscher Mann und bewahrte sich auch noch im Alter eine gewisse Anmuth; nicht immer bei der Nation beliebt, gefiel er stets dem Volke. Der Majestät ermangelte er; obgleich König, trug er die Krone nicht und Greis wie er war, behielt sein Haar die ursprüngliche Farbe. Vermöge seiner Manieren gehörte er noch der alten, vermöge seiner Gewohnheiten der neuen Zeit an, und war ein Gemisch von Edelmann und Spießbürger, wie man es 1830 liebte. Er trug wie Karl X. die Uniform der Nationalgarde und wie Napoleon das Band der Ehrenlegion.

Er ging selten in die Kirche, noch seltener auf die Jagd, niemals in die Oper, Gewohnheiten, die ihm von der Bourgeoisie hoch angerechnet wurden. Den Höflingen verstattete er keinen Einfluß. Eine andere Ursache seiner Beliebtheit war seine Gepflogenheit mit dem Regenschirm unter dem Arm auszugehen. Auch kannte er mehrere Handwerke, war Maurer, Gärtner und Arzt. Er ließ einen vom Pferde gefallenen Postillon zur Ader und ging ebenso wenig ohne seine Lanzette aus, wie Heinrich III. ohne seinen Dolch. Die Royalisten spotteten über diesen lächerlichen König, den ersten, der Menschenblut vergossen hat, um Menschen vor dem Tode zu retten.

Von den Beschwerden, die der Geschichtsschreiber gegen Louis Philippe erhebt, muß Manches in Abzug gebracht werden. Einiges davon ist auf Rechnung des Königthums zu setzen, Anderes darf seiner Regierung, noch Anderes dem König persönlich zur Last gelegt werden. Dann stellt sich heraus, daß die Konfiskation des demokratischen Rechts, die Bestrafung der Volksaufstände durch Kriegsgerichte, die Theilung der Herrschaft zwischen dem König und dreihundert Tausend Bevorrechteten, dem Königthum als solchem zuzuschreiben sind. Die Weigerung, Belgien zu annektiren, die barbarische Eroberung Algeriens sind Maßregeln der Minister gewesen; daß die Politik mehr auf den Vortheil der Familie des Königs abzielte, als auf die Förderung des Gesammtwohls, gereicht Louis Philippe persönlich zum Vorwurf.

Auf diese Weise wird also das Konto des Königs um ein Bedeutendes entlastet.

Sein Hauptfehler aber bestand darin, daß er im Namen Frankreichs zu bescheiden gewesen ist. Um die Zukunft der Seinigen nicht zu gefährden, war er gegen die Feinde Frankreichs nicht kühn genug und mißfiel so dem Volke, das heroische Thaten, wie die Erstürmung der Bastille und die Schlacht bei Austerlitz in seiner Geschichte aufzuweisen hat.

Allerdings verdiente, wenn man von den Pflichten gegen die Gesammtheit absehen darf, Louis Philippe's Familie die Liebe, die er ihr widmete, sowohl wegen ihrer Tugenden, wie wegen ihrer geistigen Begabung.

Dies ist, ohne irgend etwas zu verschweigen, aber auch ohne irgend welche Übertreibung, die Wahrheit über Louis Philippe.

Daß er als Prinz doch das Princip der Gleichheit aller Staatsbürger verfocht, den Widerspruch zwischen Revolution und Restauration in sich trug, als Revolutionär doch eine revolutionsfeindliche Regierung zu begründen geeignet war, dies sind die Ursachen, denen Louis Philippe 1830 sein Glück verdankte. Nie paßte sich ein Mensch besser einem Ereignis an, nie durchdrangen sich beide vollständiger. Außerdem bezeichnete ihn die Verbannung, in der er gelebt hatte, als des Thrones würdig. Er hatte von Land zu Land herumirren müssen, war arm gewesen, und hatte sich mit Arbeit seinen Unterhalt verdient. Er gab in Reichenau Mathematikunterricht, während seine Schwester Adédelaïde stickte und nähte. Diese Erlebnisse eines Prinzen begeisterten die Bourgeoisie. Er hatte auch den letzten eisernen Käfig in dem Kloster des Mont-Saint-Michel, den Ludwig XI. machen ließ und in dem noch Ludwig XV. Menschen einzusperren befahl, mit seinen eigenen Händen zerstört. Er war Dumouriez's Waffenbruder, Lafayette's Freund, Jakobiner gewesen. Mirabeau hatte ihm vertraulich auf die Schulter geklopft und Danton ihn mit »Junger Mann« angeredet. 1793 hatte er als Herr von Chartres in einer dunklen Loge dem Prozeß Ludwigs XVI., des »armen Tyrannen«, beigewohnt. Die Revolution, die unbewußt das Richtige traf, als sie das Königthum in der Person des Königs und den König mit dem Königthum vernichtete, der gewaltige Tumult in dem zum Gerichtshof konstituirten Convent, Capets Unfähigkeit sich dem öffentlichen Unwillen gegenüber zu verantworten, die verhältnismäßige Schuldlosigkeit Aller an dieser Katastrophe, der Richter und des Verurtheilten, alles dies hatte er miterlebt, und da Ludwig XVI. nur als Vertreter der Monarchie unterging, bewahrte Louis Philippe eine heilige Scheu vor der großartigen Gerechtigkeit des Volkes, die eben so unpersönlich ist, wie die Gottes.

Eine tiefe Spur hatte die Revolution in seinem Gemüth hinterlassen. Sein Gedächtniß enthielt gewissermaßen ein bis in die kleinsten Züge getreues Abbild jener großen Zeit. So berichtigte er eines Tages in Gegenwart eines Ohrenzeugen, an dessen Wahrhaftigkeit wir nicht zweifeln können, aus dem Kopf die ganze Liste der mit dem Buchstaben A beginnenden Mitglieder der konstituirenden Versammlung.

Louis Philippe war ein König, dessen Handlungen das Tageslicht nicht zu scheuen brauchten. Unter seiner Regierung hat Rede-, Preß- und Gewissensfreiheit geherrscht. Obwohl das Licht der Oeffentlichkeit den Privilegien feindlich ist, hat er sich dieses Licht gefallen lassen. Die Geschichte wird ihm dieses ehrliche Verhalten anrechnen.

Louis Philippe steht wie alle historischen Persönlichkeiten, die von der Weltbühne abgetreten sind, vor dem Gerichtshof der öffentlichen Moral. Aber sein Prozeß befindet sich noch in der ersten Instanz. Der Augenblick, ein endgiltiges Urtheil über ihn zu fällen, ist noch nicht gekommen, und sogar der strenge und tüchtige Louis Blanc hat vor kurzem sein erstes Verdikt gemildert.

Louis Philippe war ein Nothbehelf, der von den zweihunderteinundzwanzig Abgeordneten und der Revolution des Jahres 1830 hervorgesucht wurde, und unter allen Umständen könnten wir ihn hier von einem sicheren, philosophischen Standpunkt aus, nur mit gewissen Vorbehalten zu Gunsten des absoluten demokratischen Princips beurtheilen; nämlich indem wir daran festhalten, daß außerhalb des Menschen- und des Volksrechts alles nur Usurpation sein kann. Aber, abgesehen von diesen Vorbehalten, dürfen wir schon jetzt behaupten, daß, was seinen moralischen Charakter betrifft, Louis Philippe stets für einen der besten Fürsten gelten wird, der je einen Thron bestiegen hat.

Was spricht gegen ihn? Daß er ein König gewesen ist. Aber als Mensch zeichnete er sich durch seine Herzensgüte aus. Wenn er, den Kopf voller Sorgen, nach einer Tagesarbeit sich am Abend in sein Gemach zurückzog, nahm er oft, müde wie er war, einen Stoß Akten vor und brachte die Nacht mit der Durchsicht eines Kriminalprozesses zu. Er hielt es wohl für etwas Großes, wenn er den Diplomaten von ganz Europa die Stirn bot, empfand aber noch mehr Genugthuung, wenn er einen Menschen aus der Hand des Henkers befreien konnte. Er trat seinem Großsiegelbewahrer hartnäckig entgegen und machte den Staatsanwälten, die er »Gesetzesschwätzer« nannte, das Terrain der Guillotine Schritt für Schritt streitig. Bisweilen war sein ganzer Tisch mit Aktenstößen bedeckt; er prüfte sie sämmtlich und es war eine Pein für ihn, wenn er einen unglücklichen Verurtheilten seinem Schicksal überlassen mußte. Während der ersten Jahre seiner Regierung war die Todesstrafe so gut wie abgeschafft, und um das Blutgerüst wieder aufzurichten, mußte man dem König Gewalt anthun. Diesen Sieg errang Casimir Périer, ein »praktischer Mann«, der die Engherzigkeit der Bourgeoisie vertrat, über den liberaler gesinnten Louis Philippe, der Beccaria's Buch mit eigenhändigen Anmerkungen versehen hatte. Nach dem Fieschischen Attentat rief er aus: »Schade, daß ich nicht verwundet worden bin! Ich könnte dann Gnade walten lassen!« Bei einer andern Gelegenheit äußerte er sich, indem er auf den Widerstand seiner Minister anspielte, über einen politischen Verbrecher mit den Worten: »Begnadigt soll er werden, wenn ich es irgendwie durchsetzen kann.« Louis Philippe war milde wie Ludwig IX. und gutherzig wie Heinrich IV.

Da aber in der Weltgeschichte Herzensgüte eine seltene Perle ist, so ziehen wir fast einen guten einem großen Manne vor.

Da Louis Philippe von den Einen strenge, von den Andern mit ungerechter Härte beurtheilt worden ist, so versteht es sich von selbst, daß ein jetzt selber politisch toter Mann, der diesen König gekannt hat, vor der Geschichte mit einem Entlastungszeugniß zu seinen Gunsten auftritt, und Niemand wird diesem meinem Zeugniß eigennützige Motive unterschieben. Die Toten dürfen sich gegenseitig loben und trösten.

IV.
Schwache Grundmauern

Da unsere Erzählung uns jetzt durch ein tragisches Ereignis, das in die ersten Jahre der Regierungszeit Louis Philippes fällt, hindurchführt, so durften wir keine Zweifel bestehen lassen und mußten uns über diesen König aussprechen.

Louis Philippe war die Königswürde zugefallen, ohne daß er direkt etwas dazu gethan, ohne daß er irgend welche Gewalt gebraucht hätte. Nicht er selber hatte sich das Mandat gegeben; er hatte es sich auch nicht genommen. Man bot es ihm dar, und er nahm es an, in der allerdings unbegründeten, aber ehrlichen Ueberzeugung, daß die ihn zum König wählten, im Rechte wären, und daß es seine Pflicht sei, die Krone anzunehmen. So ehrlich aber Louis Philippe von der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche auf den Thron überzeugt war, ebenso ehrlich war die Demokratie, wenn sie behauptete, gegen dem König im Recht zu sein. Aus diesem Grunde glauben wir, daß die Schrecknisse der damaligen socialen Kämpfe weder dem König noch der Demokratie zur Last gelegt werden dürfen. Ein Zusammenstoß von Principien gleicht einem Zusammenstoß von Naturkräften. Der Ocean vertheidigt das Wasser, der Sturm tritt für die Rechte der Luft ein; der König vertheidigt das Königthum, die Demokratie macht die Rechte des Volkes geltend; das Relative, nämlich die Monarchie wehrt sich gegen das absolute, die Republik; unter diesem Konflikt hat die Gesellschaft schwer zu leiden; aber aus dem derweiligen Ungemach erwächst ihr später das Heil, und keinenfalls darf man die Kämpfer tadeln; eine der beiden Parteien täuscht sich offenbar, denn das Recht steht nicht wie der Koloß zu Rhodos auf zwei Ufern, hat nicht einen Fuß in der Republik und einen im Königthum, sondern es ist untheilbar und steht vollständig auf einer Seite; aber die sich irren, sind aufrichtig; ein Blinder ist ebenso wenig ein Verbrecher, wie die Vendéer, die sich gegen die republikanische Regierung empörten, als Räuber betrachtet werden durften. Die Schuld an solchen schrecklichen Konflikten muß also dem Fatum zugeschrieben werden, nicht Menschen.

Vollenden wir diese Auseinandersetzung.

Der Regierung des Jahres 1830 wurde das Leben von Anfang an sehr schwer gemacht. Sie mußte sofort um ihr Dasein kämpfen.

Die Feindseligkeit ihrer Gegner wuchs von Monat zu Monat; erst opponirte man heimlich, dann offen.

Die Julirevolution, die bei den Königen des Auslandes wenig Gnade fand, wurde, wie schon erwähnt, in Frankreich verschieden gedeutet.

Gott thut den Menschen seinen Willen in den Ereignissen kund, aber dieser Text ist in einer schwer verständlichen Sprache abgefaßt. Sofort machen sich die Menschen Übersetzungen zurecht, übereilte, unrichtige, unvollständige, widerspruchsvolle Übersetzungen. Denn nur Wenige verstehen Gottes Sprache wirklich. Die Scharfsinnigsten, Besonnensten, Gründlichsten entziffern den Urtext nur langsam, und wenn sie mit ihrer Uebersetzung fertig sind, sind ihnen schon zwanzig Andere zuvorgekommen und beherrschen die öffentliche Meinung. Jede Uebersetzung giebt Anlaß zur Bildung einer Partei; jede falsch verstandene Stelle des Urtextes gebiert eine Faktion, und jede Partei glaubt den Text richtig zu verstehen, jede Faktion Recht zu haben.

Bei allen Revolutionen sieht man Leute, die gegen den Strom schwimmen, nämlich die Anhänger der alten staatlichen Ordnung.

Diejenigen von den alten Parteien, die das Gottesgnadenthum vertreten, meinen, da die Revolutionen auf das Recht zu revoltiren fußen, so habe man auch das Recht gegen die, durch eine Revolution geschaffene Ordnung der Dinge zu revoltiren. Falsch argumentirt! Bei einer Revolution revoltirt nicht das Volk, sondern der König. Eine Revolution ist etwas ganz Anderes als eine Revolte. Jede Revolution enthält, da sie der normale Abschluß einer gewissen Reihe von Ereignissen ist, in sich ihre Berechtigung, der falsche Revolutionäre bisweilen Schande machen, die aber besteht, wenn sie auch befleckt wird. Revolutionen sind Erzeugnisse, nicht eines Zufalls, sondern der Notwendigkeit und bedeuten eine Rückkehr von dem Falschen zum Aechten und Wahren.

Die alten, legitimistischen Parteien griffen darum nicht weniger die Julirevolution mit all der Heftigkeit an, die unrichtigen Argumentationen entspringt. Irrthümer sind ausgezeichnete Waffen, und die Legitimisten verstanden es, die Regierung da anzugreifen, wo sie verwundbar war, nämlich ihr Mangel an Logik nachzuweisen. Sie fragten: Wozu braucht Eure Revolution einen König?

Dasselbe Feldgeschrei erhoben die Republikaner; aber von ihrer Seite war dies konsequent. Die Julirevolution hatte das Volk um das, was ihm zukam, betrogen, und die Demokratie war in ihrem Recht, wenn sie ihr deswegen Vorwürfe machte.

Von der Vergangenheit und der Zukunft zugleich angegriffen, hatte die Regierung, als Vertreterin des Augenblicks, einen schweren Stand.

Da sie ferner die Konsequenzen der Revolution perhorrescirte und monarchische Principien verfocht, so war sie genöthigt sich in der Politik durch Europa bestimmen zu lassen und vor allen Dingen Frieden mit den Königen zu halten, was neue Schwierigkeiten herbeiführte. Eine Friedfertigkeit, die nicht mit der Vernunft und Möglichkeit rechnet, hat oft mehr Lasten und Gefahren im Gefolge, als der Krieg. Aus diesem versteckten Konflikt, der immer zurückgehalten wurde und immer drohte, entstand der bewaffnete Friede, jenes kostspielige Auskunftsmittel der Civilisation, die des Vertrauens zu sich selbst ermangelt. Uebrigens bäumte sich das Julikönigthum, nachdem es sich vor den Staatswagen Europas hatte miteinspannen lassen, so daß Metternich es gern an die Longe gelegt hätte. Wurde es doch in Frankreich durch den Fortschritt vorwärts gedrängt und zwang dadurch die trägen Gäule von Monarchen ein rascheres Tempo einzuschlagen.

Mittlerweile aber harrten eine Menge Fragen der inneren Politik ihrer Erledigung. Pauperismus, Lohnregulirung, Erziehung, Strafrecht, Prostitution, Frauenemancipation, Produktion, Konsum, Vertheilung des Nationalreichthums, Handel und Wandel, Geld und Kredit – alle diese Fragen türmten sich zu einem Bau empor, der auf das Staatsgebäude zu stürzen und es zu vernichten drohte.

Außerhalb der eigentlichen politischen Parteien fand noch eine andere Bewegung der Geister statt. Der Gährung bei den Demokraten entsprach eine Gährung in der Philosophie. Die Gebildeten fühlten sich ebenso unbefriedigt, wenn auch in anderer Weise, als die große Menge.

Die Denker arbeiteten, während der Boden, auf dem sie standen, nämlich das Volk, von revolutionären Strömungen durchzuckt, unter ihnen ruckweise erbebte. Einzeln oder in Vereinen und Sekten erörterten sie friedlich, aber gründlich, die socialen Fragen, kaltblütig wie Bergleute, die Stollen in einen Vulkan hineintreiben und sich bei ihrer Arbeit durch die Erschütterungen und den Anblick des Kraterfeuers nicht stören lassen.

Diese Gemüthsruhe war eine der schönsten Eigentümlichkeiten jener wild bewegten Zeit.

Die Männer, die man mit dem Gattungsnamen Socialisten bezeichnen kann, überließen den politischen Parteien die Frage nach den Rechten der Staatsbürger und beschäftigten sich mit dem Glück, der Wohlfahrt des Menschen.

Sie erhoben die materielle Seite des Daseins, Ackerbau, Industrie, Handel fast zur Würde einer Religion, erörterten allerhand Fragen, auch die nach der Berechtigung der Todesstrafe und des Krieges, sowie, außer dem von der französischen Republik proklamirten Menschenrecht, auch die Rechte der Frauen und Kinder.

Man wird sich nicht wundern, wenn wir – aus mancherlei Gründen – die von dem Socialismus aufgeworfenen Fragen hier nicht gründlich abhandeln. Wir werden uns darauf beschränken, sie anzudeuten.

Alle Probleme, die von den Socialisten aufgestellt wurden, können, wenn man von den kosmogonischen Visionen, Phantastereien und den Verirrungen des Mysticismus absieht, auf zwei zurückgeführt werden: auf die Frage, wie Reichthum erzeugt wird und wie er vertheilt werden soll.

Das erste Problem schließt die Frage nach dem Wesen der Arbeit in sich, das zweite beschäftigt sich mit der Lohnregulirung.

Aus der Arbeit, d. h. der richtigen Verwendung der individuellen Kräfte, ergiebt sich die Macht des Staates; aus der gerechten Verteilung des Lohnes, also auch der Genüsse, das Glück des Einzelnen.

Unter Vertheilung muß man nicht die Gleichheit der Güter, sondern eine Vertheilung nach den Grundsätzen der Billigkeit verstehen.

Auf der Verbindung der Macht des Staates nach außen hin und des individuellen Wohls im Innern beruht das sociale Gedeihen.

Das erste unserer beiden Probleme ist von England gelöst worden. England versteht sich recht gut daraus Reichthum zu schaffen, vertheilt ihn aber sehr schlecht. Diese Einseitigkeit mündet in zwei Extreme, übermässigen Reichthum und übermäßiges Elend. Alle Genüsse für die Einen, alle Entbehrungen für die Andern, nämlich für das Volk. Sonderrechte, Monopole, Adel entstehen hier aus der Arbeit selber. Solch eine falsche und gefährliche Situation gründet die Macht des Staates auf das Elend des Individuums, eine Macht, die nur materieller Natur ist und keinen moralischen Bestandteil in sich schließt.

Das zweite Problem glaubt der Kommunismus lösen zu können. Irrtümlicher Weise, denn die gleichmäßige Vertheilung der Güter vernichtet die Produktion, indem sie den Wetteifer und folglich auch die Arbeit abschafft. Es ist eine Vertheilung, wie sie der Schlächter vornimmt: Auch der tötet, was er zertheilt.

Will man eine Lösung der beiden Probleme herbeiführen, so muß man beide zusammen angreifen, als wären sie ein einziges.

Löst ihr nur das erste, so schafft ihr nur ein Venedig oder ein England, eine künstliche oder eine materielle Macht. Solch ein Staat geht, wie Venedig, durch einen Gewaltstreich oder durch den Bankerott zu Grunde, denn dies wird dermaleinst Englands Ende sein. Die Welt aber sieht einem solchen Untergange theilnahmlos zu, weil nicht der Egoismus, sondern nur Tugenden und Ideen Wert für die Welt haben.

Selbstredend bezeichnen wir hier mit den Worten Venedig und England nicht das Volk dieser Länder, sondern gewisse Staatsverfassungen, Oligarchieen. Die Nationen selber achten und schätzen wir. Das Volk von Venedig wird sich von dem Sturz erheben; die englische Aristokratie wird untergehen, aber die englische Nation ist unvergänglich. Nach dieser Anmerkung wollen wir fortfahren.

Löset beide Probleme, ermuthigt den Reichen und schützt den Armen, beseitigt das Elend, macht der Ausbeutung des Schwachen durch den Starken ein Ende, legt den Neid Derjenigen, die emporstreben, gegen die schon oben Stehenden einen Zügel an, bemesset genau und in brüderlicher Weise den Lohn nach der Arbeit, legt der Entwicklung des Kindes den obligatorischen Schulunterricht und der Tüchtigkeit des Mannes die Wissenschaft zu Grunde, – pflegt den Verstand und sorgt dabei, daß auch die Arme beschäftigt werden, seid zugleich mächtig als Volk und glücklich als Individuen, demokratisirt das Eigenthum, nicht dadurch, daß ihr es abschafft, sondern es verallgemeinert, was leichter ist, als man insgemein glaubt – kurz, producirt und vertheilt richtig, so wird Frankreich materiell und moralisch groß sein.

So sprach, abgesehen von gewissen Schwarmgeistern, der damalige Socialismus.

Hochherzige Bemühungen! Anerkennungswürdige Bestrebungen!

Diese Theorien, die unerwartete Nothwendigkeit, auf die Philosophen Rücksicht nehmen zu müssen, die dunkle Ahnung, daß die Gegner hier und da das Richtige trafen, der Aufbau eines neuen politischen Systems, das den alten Anschauungen gerecht werden und dem Ideal der Revolutionäre nicht allzu schroff zuwiederlaufen sollte, der Antagonismus zwischen der Kammer und dem aufsässigen Volke, die richtige Begrenzung des politischen Einflusses, den er den einzelnen Personen seiner Umgebung verstatten durfte, sein Glaube an die Vortrefflichkeit der revolutionären Ideen, vielleicht auch die Einsicht, daß er sich einst vor einem höheren, endgiltigen Recht werde beugen müssen, der feste Wille seiner Vorfahren würdig zu sein, die Liebe zu seiner Familie, seine aufrichtige Achtung vor dem Volke, die Eingebungen seiner Rechtschaffenheit bereiteten Louis Philippe qualvolle Sorgen und ließen ihm seine schwere Pflichten als König fast unerfüllbar erscheinen.

Er fühlte, wie der Felsen, auf dem er stand, auseinander bröckelte, ohne jedoch in Staub zu zerfallen; war doch Frankreichs Genius stärker als je.

Ein Gewitter stieg am Horizont empor. Eine seltsam mächtige Wolke, die rasch zunahm, warf ihren düstern Schatten auf die Menschen, die Dinge, die Ideen. Suchten doch alter Groll und junge Begeisterung gewaltsam das Bestehende zu zerstören!

Zu Anfang des Jahres 1842, kaum zwanzig Monate nach der Julirevolution, hatten die Dinge eine Wendung genommen, die große Gefahren in der nächsten Zukunft ahnen ließ. Die Noth des Volkes, die Arbeitslosigkeit, der geheimnißvolle Tod des Prinzen von Condé, die Vertreibung der angestammten Nassauer Dynastie aus Belgien, das einen französischen Prinzen als König haben wollte und einem englischen gegeben wurde, die Erbitterung in Rußland gegen den Nikolausschen Despotismus, der teuflische Haß Ferdinand's von Spanien und Miguels von Portugal gegen alle freiheitlichen Ideen, die Vereitelung der Metternichschen Uebergriffe in Italien durch Frankreichs energisches Auftreten in Ancona, Polens neue Einsargung nach seiner vergeblichen Insurrektion, Europas Mißbehagen über die neue Schilderhebung der Revolution in Frankreich, die Unsicherheit des Bündnisses mit England, das immer bereit ist, über die Schwachen herzufallen und Beute zu machen, die Berufung der Pairs auf Beccaria, die Verminderung von Lafayette's Einfluß, Laffitte's Ruin, Casimir Périers Tod, der Bürgerkrieg in Paris und der Sklavenkrieg in Lyon, die fanatischen Hetzereien in Südfrankreich, die Schilderhebung der Herzogin von Berry in der Vendée, die Cholera vermehrten noch die Gefahren, womit die neuen Theorieen die Regierung bedrohten.

V.
Unbeachtete geschichtliche Thatsachen

Gegen Ende April hatte sich die Lage bedeutend verschlimmert. Die revolutionäre Stimmung befand sich jetzt im Stadium der Siedehitze. Schon seit 1830 hatten die Revolutionäre hier und da zu den Waffen gegriffen, aber diese kleinen Revolten waren schnell unterdrückt worden. Allein der Umstand, daß sie sich fortwährend ermunterten, nöthigte zu dem Schlusse, daß ein mächtiges Feuer unter der Asche glomm und man sah eine größere Revolution voraus. Frankreich wartete nur auf Paris, und Paris auf die Vorstadt Saint-Antoine.

In diesem Arbeiterviertel also waren die Gemüther aufs äußerste erhitzt.

In den Schänken der Rue de Charonne herrschten gewichtige und stürmische Debatten.

Es wurde hier alles Ernstes die Frage erörtert, ob man sich schlagen oder sich ruhig verhalten solle. In manchen Hinterzimmern nahm man Arbeitern den Eid ab, daß sie beim ersten Alarmschrei auf die Straße hinabstürzen und kämpfen sollten, ohne ihre Feinde zu zählen. Bisweilen stiegen die Betheiligten in ein verschlossenes Zimmer des ersten Stockwerks hinauf und vollzogen dort Ceremonien, die an die Freimaurer erinnern. Man versicherte auch eidlich dem Eingeweihten, daß man ihn »wie Familienväter unterstützen werde.«

Desgleichen wurden »umstürzlerische« Broschüren vorgelesen. »Sie schmähten und bespöttelten die Regierung,« besagt ein geheimer Polizeibericht.

Dort hörte man Aeußerungen wie folgende: »Ich kenne die Namen der Anführer nicht. Unsereinem wird es zwei Stunden vorher gesagt werden, wann es losgehen soll.« – Ein Arbeiter sagte: »Wir sind unsrer dreihundert. Gibt Jeder zehn Sous, so haben wir hundert und fünfzig Franken zu Kugeln und Pulver.« – Ein andrer: »Wir brauchen jetzt keine sechs, keine zwei Monate mehr zu warten. Ehe vierzehn Tage vergehen, können wir der Regierung entgegentreten. Fünfundzwanzig Tausend Mann genügen dazu.« – Noch ein Andrer erzählte: »Ich gehe nicht zu Bett, weil ich heute Nacht Patronen machen muß.« Von Zeit zu Zeit kamen »fein gekleidete« Leute, »thaten wichtig«, gaben mit einer gewissen »Kommandomiene« den Angesehensten unter den Arbeitern die Hand und gingen nach kurzem Aufenthalt wieder fort. – Wie groß die Aufregung war, begeistert folgender Vorfall: Eines Tages rief ein Arbeiter in einem mit Gästen überfüllten Lokal ganz laut: »Wir haben keine Waffen,« »Die Soldaten haben welche!« antwortete ein andrer und parodirte so, ohne es zu wissen, Bonapartes Proklamation an die französische Armee, die in Italien kämpfte. – »Wenn sie etwas Heimlicheres hatten,« bemerkt ein Bericht, »theilten sie sich's da nicht mit.« Man begreift nicht, was sie noch zu verschweigen haben konnten, nach den erwähnten Aeußerungen.

Diese Versammlungen wurden bisweilen an bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden Tagen abgehalten. In manchen sah man immer nur dieselben, acht bis zehn, Gesichter. Zu anderen wurde Jedermann zugelassen, und der Saal war so voll, daß man stehen mußte. Einige kamen aus lauter Begeisterung, Andre, weil das Lokal gerade auf ihrem Wege lag. Wie zur Zeit der großen Revolution wohnten den Versammlungen auch patriotische Frauen bei, die den Neuen um den Hals fielen.

Noch andere bedeutsame Thatsachen traten auf.

Z. B. Ein Gast sagte: »Herr Wirt, was ich schuldig bleibe, wird die Revolution bezahlen.«

In einer Kneipe wurden revolutionäre Agenten ernannt. Als Wahlurnen dienten Mützen.

Allmählich wurden diese Anschläge und Vorbereitungen lächerlich offenkundig. So sagte einmal eine Frau, die vor ihrer Thür fegte, zu einer andern: »Seit langer Zeit werden Patronen massenhaft fabricirt.« – Man konnte auf offner Straße Proklamationen an die Nationalgarden der Departements lesen. Eine war »Burtot, Weinhändler« unterzeichnet.

Eines Tages stieg vor dem Laden eines Liqueurfabrikanten auf dem Markt Lenoir ein Mann, der seiner Sprache nach ein Italiener sein mußte, auf einen Prellstein und las mit lauter Stimme ein sonderbares Schriftstück vor, das von einer geheimen Regierung auszugehen schien. Um ihn herum sammelten sich die Leute und applaudirten. Die Stellen, die von der Menge besonders beifällig aufgenommen wurden, sind aufgeschrieben worden. »Der Verbreitung unsrer Lehren werden Hindernisse entgegengestellt, unsre Proklamationen werden zerrissen; die Leute, die sie ankleben, verfolgt und ins Gefängniß geworfen.« Die Baumwollenkrisis hat uns mehrere Anhänger zugeführt, die es bis jetzt mit der Regierung gehalten haben.« – »Die Zukunft der Völker wird von uns kleinen Leuten angebahnt.« – »Man hat die Wahl nur zwischen Aktion und Reaktion, Revolution oder Gegenrevolution. Denn heutzutage glaubt man nicht mehr an den Stillstand. Für oder gegen das Volk, so lautet die Frage. Einen Mittelweg giebt es nicht.« – »Ruft uns ab, sobald wir Euch nicht mehr zusagen, aber bis dahin müßt Ihr tapfer mit uns marschieren.« Und alles dies am hellen lichten Tage!

Einige Redner traten mit einer Keckheit auf, die gerade deshalb Mißtrauen erregte. Am 4. April l832 stieg Jemand auf einen Prellstein an der Ecke der Rue Sainte-Marguerite und rief: »Ich bin Kommunist!« und u. a. noch: »Nieder mit dem Eigenthum! Die Opposition ist feige und sinnt nur auf Verrath. Sie hascht blos nach Beifall, wenn sie sich revolutionär gebärdet, will nur ihre Anträge durchbringen. Im Grunde genommen ist sie royalistisch und denkt gar nicht daran, mit der Revolution Ernst zu machen. Nehmt Euch also vor den Republikanern in Acht, Arbeiter!«

»Halt's Maul, Spitzel!« schrie ihm Einer aus der Menge zu und machte damit der Rede ein Ende.

Auch an geheimnißvollen Zwischenfällen fehlte es nicht.

In der Abenddämmerung begegnete ein Arbeiter in der Nähe des Kanals einem »fein gekleideten« Mann, der ihn anredete: »Wo gehst Du hin, Bürger?« »Mein Herr,« erwiederte der Arbeiter, »ich habe nicht die Ehre Sie zu kennen.« »Ich kenne Dich aber. Fürchte nichts. Ich bin der Agent des Komités. Du stehst in Verdacht, daß man sich nicht auf Dich verlassen kann. Halte also reinen Mund. Du wirst beobachtet.« Darauf gab er dem Arbeiter die Hand und ging davon, indem er ihm noch zurief: »Wir werden bald wiedersehn.«

Die Polizei, die natürlich überallhin horchte, belauschte nicht bloß in den Schänken, sondern auch auf offener Straße eigenthümliche Gespräche; z. B.:

Zwei zerlumpte Kerle tauschten Reden aus, die noch schlimmre Tendenzen, als die der Republikaner verriethen:

»Wer regiert uns?«

»Herr Philippe.«

»I bewahre, die Reichen.«

Ein andres Mal hörte man Jemand sagen: »Wir haben einen guten Angriffsplan.«

Von einem Gespräch zwischen vier verdächtigen Gestalten, die in einem Graben bei der Barrière du Trône hockten, belauschte man nur folgenden kurzen, aber inhaltsschweren Satz:

»Es wird alles Mögliche geschehen, damit er nicht mehr in Paris spazieren geht.«

Wer mit dem »Er« gemeint war, konnte kaum zweifelhaft sein, so dunkel der Sinn der Rede auch sonst sein mochte.

Die »Oberanführer,« wie man sich in den Arbeitervierteln ausdrückte, hielten sich abseits. Es hieß, sie hätten ihre Versammlungen in der Nähe der Kirche Saint-Eustache. Ein gewisser Auguste –, Direktor des Vereins der Schneider zu gegenseitiger Hülfe, wohnhaft in der Rue Mondétour, galt für den Vermittler zwischen den Häuptern der Verschwörung und der Vorstadt Saint-Antoine. Nichts desto weniger blieben ihre Namen stets unbekannt und keine sicher nachgewiesene Thatsache widerlegte je die stolze Antwort, die ein Angeklagter später vor dem Gerichtshof auf die Frage gab: »Wer war Ihr Anführer?« »Ich kannte und anerkannte Keinen!« sagte er.

Alles dies waren nur mündliche Aeußerungen, die zwar verdächtig genug klangen, aber keine greifbaren Anhaltspunkte boten. An diesen fehlte es indessen auch nicht.

Ein Zimmermann, der auf einem Bauplatz in der Rue de Reuilly arbeitete, fand daselbst ein Bruchstück eines zerrissenen Briefes, auf dem folgende Zeilen zu lesen waren:

»Das Komité muß Maßregeln ergreifen, um die Rekrutirung in den Sektionen für die . . . Gesellschaften zu verhindern.

P. S. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß in der Rue du Faubourg Poissonnière Nr. 5b bei einem Waffenschmied auf dem Hofe fünf bis sechs Tausend Gewehre lagern. Die Sektion besitzt keine Waffen.«

Einige Schritte von diesem Bruchstück lag ein andres, noch bedeutsameres, das den Zimmermann noch mehr in Verwundrung setzte und ihn bewog, seinen Nachbarn die Funde zu zeigen. Es war eine Liste mit Namen von Leuten, an die Waffen und Munition vertheilt waren. Erst später erfuhr man, daß in diesem Schriftstück alle Sektionen des vierten Arrondissements der »Gesellschaft der Menschenrechte« samt den Namen und Adressen der Sektionsvorsteher aufgezählt waren.

Nun noch einige materielle Thatsachen.

Bei einem Trödler in der Rue Popincourt beschlagnahmte die Polizei graues Papier, das in Patronenform zusammengefaßt war, samt einer Karte, auf der Folgendes stand:

Salpeter 12    Unzen
Schwefel 2    "
Kohle "
Wasser 2    "

Das Protokoll der Haussuchung konstatirte, daß die Schublade, in der das Papier gefunden wurde, stark nach Schießpulver roch.

Ein Maurer, der nach vollbrachtem Tagewerk spazieren ging, ließ auf einer Bank in der Nähe des Pont d' Austerlitz ein Paket liegen, das Jemand nach einem Polizeibüreau brachte. Es enthielt zwei gedruckte Dialoge, die »Lahautière« unterzeichnet waren, ein Lied mit der Ueberschrift: »Arbeiter, thut Euch zusammen!« und eine Blechbüchse mit Patronen.

Auf dem Boulevard zwischen dem Kirchhof Père-Lachaise und der Barrière du Trône, einer sehr öden Gegend, fanden Kinder unter einem Haufen Hobelspäne und Gemüseabfall einen Sack mit allerlei zur Anfertigung von Patronen und Kugeln notwendigem Werkzeug, das Spuren von Benutzung aufwies.

Einen gewissen Pardon, später Sektionsglied der Sektion Barricade-Merry, der bei dem Aprilaufstande 1834 getötet wurde, überraschte die Polizei um fünf Uhr Morgens, als er gerade mit der Anfertigung von Patronen beschäftigt war.

Die Regierung wurde eines Tages benachrichtigt, daß Waffen und zweimalhundertausend Patronen an die Arbeiter der Vorstädte vertheilt worden waren. Die Woche darauf wurden auf dieselbe Weise dreißig tausend Patronen ausgegeben. Merkwürdig dabei war, daß die Polizei nichts davon mit Beschlag belegen konnte. In einem abgefangenen Brief las man: »Der Tag ist nicht fern, wo binnen vier Stunden achtzigtausend Patrioten mit den Waffen in der Hand antreten werden.«

So allgemein bekannt waren die Vorbereitungen zum Aufstande, daß die Arbeiter oft die gemächliche Frage zu hören bekamen: »Na, wie steht's mit Eurer Revolte?« Das sagten die Leute so ruhig, als wollte man sich nach dem Befinden der Frau des Betreffenden erkundigen.

Ein Kaufmann sagte: »Ich weiß schon, Ihr wollt bald losschlagen. Vor einem Monat wart Ihr fünfzehntausend, jetzt seid Ihr fünfundzwanzigtausend Mann stark.« Dabei bot er dem Betreffenden ein Gewehr an, und ein Nachbar wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um ein kleines Pistol für sieben Franken zu verkaufen.

Im Uebrigen griff das Revolutionsfieber immer weiter um sich. Kein Theil von Paris oder Frankreich blieb davon verschont. Wie die Häute, die bei gewissen Entzündungskrankheiten im menschlichen Körper entstehen, so breitete sich das Netz der geheimen Gesellschaften über das Land aus. Aus dem zugleich öffentlichen und geheimen Bunde der »Freunde des Volkes« entstand die »Gesellschaft der Menschenrechte,« die ihre Erlasse in dem alten, republikanischen Stil abfaßte: »Im Monat Pluviose des Jahres 40 der republikanischen Zeitrechnung.« Dieser Geheimbund überdauerte alle Verurtheilungen und stand nicht an, seine Sektionen mit den denkbar revolutionärsten Namen zu bezeichnen: Sektion der Pieken, Sektion Königsmord. Sektion Sturmglocke, Sektion der Lumpe, Sektion Robespierre, Sektion Gleichheit u. s. w.

Aus der Gesellschaft der Menschenrechte ging eine »Gesellschaft der That« hervor. Es waren Ungeduldige, die sich von den Andern lossagten und vorauseilten. In ähnlicher Weise entstanden noch viele andre Geheimbünde, von denen wir die »Armee der Bastillen« hervorheben. Sie war militärisch organisirt, vier Mann unter einem Korporal, zehn unter einem Sergeanten, zwanzig unter einem Unterlieutenant, vierzig unter einem Lieutenant. Es waren ihrer nie mehr als fünf Mann, die sich gegenseitig kannten. Also eine Schöpfung, an der die Vorsicht einen eben so großen Antheil hatte, wie die Kühnheit, und die an Venedig erinnert. Das Centralkomité, das an der Spitze des Ganzen stand, hatte zwei Arme, die Gesellschaft der That und die Armee der Bastillen. Auch einen legitimistischen Geheimbund gab es, die Ritter von der Treue, die mit den republikanischen Gesellschaften Fühlung zu gewinnen suchten, aber mit schelen Augen betrachtet und überall abgewiesen wurden.

Im Studentenviertel gährte es nicht weniger stark, als in den Vorstädten. Ein Café in der Rue Saint-Hyacynthe und das der Sept-Billards, Rue des Mathurins-Saint-Jacques dienten den Studenten als Versammlungsorte, die Gesellschaft der Freunde des ABC hielt ihre Sitzungen im Café Musain und, wie erinnerlich, in einem Restaurant »Corinthe« in der Rue Mondétour. Diese Sitzungen waren geheime. Andre Versammlungen wurden überaus öffentlich abgehalten, und wie keck es dabei zuging, ersieht man u. a. aus einem Verhör, von dem wir ein Bruchstück hier mittheilen wollen: »Wo findet diese Versammlung statt? Rue de la Paix. Wo da? Auf der Straße. Welche Sektionen fanden sich da ein? Eine einzige. Welche? Die Sektion Manuel. Wer war der Anführer? Ich. Sie sind zu jung, als daß sie den gewichtigen Entschluß hätten fassen können, die Regierung anzugreifen. Wo bekamen Sie Ihre Instruktion her? Von dem Centralkomité.«

Wie das Volk, wurde auch die Armee bearbeitet, wie die Meutereien in Belfort, Lanéville und Epinal später bewiesen. Die Revolutionäre rechneten auf das zweiundfünfzigste, das fünfte, achte, siebenunddreißigste sowie auf das zwanzigste Regiment. In Burgund und in den Städten des Südens wurde der »Baum der Freiheit« aufgepflanzt, ein Mast, auf den oben eine phrygische Mütze gestülpt wurde.

Diese allgemeine Erregung erreichte, wie wir schon angedeutet haben, ihren höchsten Grad in der Vorstadt Saint-Antoine.

Die arbeitsame, muthige und hitzige Bevölkerung dieser alten Vorstadt, die an einen Ameisenhaufen erinnert, zitterte vor Ungeduld und Sehnsucht nach Veränderung, Aber trotz aller Vorbereitungen zum Kampfe ging die Arbeit ihren gewohnten Gang, und es ist unmöglich eine Vorstellung zu geben von dem lebhaften und unheilvollen Treiben, das sich damals hier entwickelte. Dieses Stadtviertel birgt in seinen Dachstuben das höchste Elend und unter den Unglücklichen befinden sich auch Leute von hohem Verstande. Keine Extreme aber sind gefährlicher, als die des Elends und des Verstandes, wenn sie sich berühren.

Die Schänken der Vorstadt Saint-Antoine, auf die oben hin und wieder angespielt wurde, haben eine geschichtliche Berühmtheit. In unruhigen Zeiten berauscht man sich da mehr an Worten, als an Wein. Ahnungen, die eine bessere Zukunft verheißen, kreisen dann hier, heben den gesunknen Muth und begeistern zu großen Thaten. Die Schänken der Vorstadt Saint-Antoine gleichen denen des Berges Aventinus, die über der Höhle der Sibylle standen und zu denen aus der heiligen Tiefe ein prophetischer Hauch emporstieg und die Trinker des »sibyllinischen Weines« in Verzückung versetzte.

Die Vorstadt Saint-Antoine ist ein Volksbehälter, in dem soziale Erdbeben Risse hervorbringen. Durch diese bricht dann der Wille des Volkes sich Bahn, bisweilen um Unheil anzurichten; denn er kann sich irren, wie jeder andre Wille. Aber auch wenn er auf falschen Wegen wandelt, tritt er mit Größe auf; ingens, gewaltig wie ein blinder Cyclop.

1793 schwärmten, je nachdem eine gute oder verkehrte Idee in der Luft schwebte, Fanatismus oder edle Begeisterung vorherrschte, aus der Vorstadt Saint-Antoine bald Legionen von Wilden, bald Schaaren von Helden aus.

Von Wilden. Wir müssen uns über dieses Wort des Weiteren auslassen. Was wollten diese störrischen Menschen, die in den Anfangstagen des Revolutionschaos in Lumpen gehüllt, den Totschläger oder die Pieke in der Hand, sich auf das alte Paris stürzten? Das Ende jeder Art von Unterdrückung wollten sie, das Ende jedweder Tyrannei, Arbeit für den Mann, Schulunterricht für das Kind, mildere Beurtheilung der weiblichen Schwachheit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Brod für Alle, Ideen für Alle, die Verwandlung der Erde in ein Paradies, den Fortschritt. Ja, Wilde waren diese aufs äußerste gereizter Menschen, aber die Wilden der Civilisation.

Neben diesen – allerdings fürchterlichen, aber zum Guten fürchterlichen – Menschen giebt es andre, die betreßt, mit Orden behangen, in seidnen Strümpfen, weißen Federn, gelben Handschuhen, Lackstiefeln, die Hand auf einem Sammetsessel oder ein marmornes Kamingesims gestützt, die Aufrechterhaltung der Vergangenheit, des Mittelalters, des Königtums von Gottes Gnaden, des religiösen Fanatismus, der Unwissenheit, der Sklaverei, der Todesstrafe, des Krieges befürworten! Was uns betrifft, so würden wir, wenn wir zwischen den Barbaren der Civilisation und den Kulturmenschen der Barbarei wählen müßten, die Barbaren vorziehen.

Indessen ist – dem Himmel sei's gedankt – eine andre Wahl möglich. Es geht ohne jedweden jähen Absturz, ob rück- oder vorwärts. Weder Despotismus eines Einzelnen noch der Masse. Wir rollen auf einer sanft geneigten Bahn.

Dafür aber, daß der Weg der Menschheit gangbarer werde, sorgt Gott.

VI.
Enjolras und seine Offiziere

Um diese Zeit hielt Enjolras im Hinblick auf die Dinge, die da kommen sollten, eine Art geheimer Schätzung.

Alle waren eines Tages zur Berathung im Café Musain versammelt, als Enjolras eine mit etwas räthselhaften, aber bedeutungsvollen Metaphern gewürzte Rede hielt.

»Es wäre wünschenswerth, daß man wüßte, woran man ist und auf wen man zählen kann. Wenn man Soldaten haben will, muß man sie anwerben, und eher zu viel, als zu wenig. Die Wandrer laufen mehr Gefahr Stöße abzukriegen, wenn Rinder die Landstraße entlang ziehen, als wenn keine da sind. Also laßt uns mal unsre Herde zählen. Wie viel sind wir? Diese Arbeit duldet keinen Aufschub. Revolutionäre müssen sich immer beeilen, denn der Fortschritt hat keine Zeit zu verlieren. Wir dürfen uns keinen Ueberraschungen aussetzen. Zu diesem Zwecke thun wir gut, die Nähte, die wir gemacht haben, auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Die Sache muß heute vollständig erledigt werden. Courfeyrac, Du nimmst Dir die Polytechniker vor. Heute, Mittwoch, ist ihr Ausgehtag. Du, Feuilly, Du gehst nach der Glacière, nicht wahr? Combeferre hat mir versprochen, sich mit Picpus zu beschäftigen, wo gutes Material vorhanden ist. Bahorel wird sich auf dem Platz de l'Estrapade umsehn. Prouvaire, die Maurer werden lau; erkundige Dich also, wie es mit der Loge in der Rue Grenelle-Saint-Honoré steht. Joly wird nach der Dupuytren'schen Klinik gehen und der medizinischen Fakultät den Puls befühlen. Laigle verfügt sich nach dem Gerichtshaus und redet ein Wörtchen mit den Referendaren. Ich übernehme die Cougourde.«

»Damit wäre Alles in Ordnung«, meinte Courfeyrac.

»Bewahre!«

»Was giebt's denn noch zu thun?«

»Etwas sehr Wichtiges.«

»Was denn?«

»Wir müssen an die Barrière du Maine denken«, antwortete Enjolras.

Er sann eine Weile nach und fuhr dann fort:

»In der Gegend wohnen viel Marmorwaarenfabrikanten, Bildhauer und Maler. Große Enthusiasten, kühlen aber leicht ab. Ich weiß nicht, was seit einiger Zeit mit ihnen vorgeht. Sie haben andre Dinge im Kopfe. Das Strohfeuer ihrer Begeistrung ist im Erlöschen begriffen. Sie schlagen die Zeit mit Dominospielen tot. Es ist dringend nothwendig, daß Einer hingeht und ein nachdrückliches Wort mit ihnen redet. Sie treffen sich bei Richefeu, zwischen zwölf und ein Uhr. Ich hatte darauf gerechnet, daß unser konfuser Freund Marius es übernehmen würde, dieses Feuer wieder anzufachen. Er würde sich im Großen und Ganzen dazu eignen, aber er läßt sich seit einiger Zeit nicht mehr bei uns sehen. Ich brauche also Jemand, der die besagte Gegend bearbeiten könnte, habe aber Niemand mehr.«

»Bin ich denn nicht da?« fragte Grantaire.

»Du Republikaner unterweisen? Du und im Namen der Principien Gleichgültige begeistern?«

»Warum denn nicht?«

»Bist Du denn zu irgend etwas zu gebrauchen?«

»Ich bilde es mir einigermaßen ein!«

»Du glaubst an nichts!«

»Doch, an Dich!«

»Grantaire, willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Jedweden, und wenn Du verlangtest, ich soll Dir die Stiefel putzen.«

»Nun, so befasse Dich nicht mit unsern Angelegenheiten. Trinke Deinen Absinth und schlafe dann Deinen Rausch aus.«

»Du bist ein undankbarer Mensch, Enjolras.«

»Du solltest im Stande sein, nach der Barrière du Maine zu gehen, Du?«

»Ich bin im Stande die Rue de Grès entlang, dann über den Platz Saint-Michel, dann seitwärts durch die Rue Monsieur-le-Prince, die Rue de Vaugirard entlang bis über das Karmeliterkloster hinaus, in die Rue d'Assas und Rue du Cherche-Midi hinein, dann die ganze Rue des Vieilles-Tuileries hindurch, die Chaussee du Maine entlang und zum Thor hinauszugehen, bis ich bei Richefeu ankomme. Das kriege ich und meine Stiefel fertig.«

»Kennst Du die Leute ein bischen?«

»Nicht besonders, wir duzen uns blos.«

»Wie wirst Du mit ihnen reden?«

»Na, ich werde von Robespierre sprechen, von Danton, von den Principien!«

»Du?«

»Ja, ja! Aber gegen mich ist eben Keiner gerecht. Wenn ich mich ins Zeug lege, bin ich fürchterlich. Ich habe Proudhon gelesen, kenne Rousseaus Gesellschaftsvertrag, weiß die Verfassung des Jahres 2 auswendig. ›Die Freiheit des Bürgers hört da auf, wo die Freiheit eines andern Bürgers anfängt.‹ – Hältst Du mich denn für ein Rind? Ich habe in meiner Schublade einen alten Tresorschein aus der Zeit der großen Staatspleite. Die Menschenrechte, die Herrschaft des Volkes, – davor hat unsereins Respekt. Ich bin sogar in einem gewissen Grade Anhänger von Hébert. Ich kann sechs geschlagne Stunden hintereinander feierlichen Klimbim quatschen.«

»Laß das Ulken und rede vernünftig!«

»Ich bin unbeugsam.«

Enjolras dachte einige Sekunden nach und machte dann eine Bewegung, die erkennen ließ, daß er mit sich einig geworden war.

»Gut, Grantaire, ich will einen Versuch mit Dir wagen. Du gehst also nach der Barrière du Maine.«

Grantaire ging und kehrte, da er in der Nachbarschaft des Café Musain wohnte, schon nach fünf Minuten wieder zurück. Er hatte zu Hause eine Weste à la Robespierre angezogen.

»Roth!« sagte er beim Eintreten und sah Enjolras fest in die Augen.

Dann klappte er energisch die beiden scharlachnen Spitzen seiner Weste empor, drückte sie an seine Brust und flüsterte Enjolras ins Ohr:

»Sei unbesorgt!«

Mit diesen Worten drückte er sich den Hut entschlossen ins Gesicht und ging.

Eine Viertelstunde später war es im Hinterzimmer des Café Musain still geworden. Alle Freunde des A B C waren Jeder an seine Arbeit gegangen.

Enjolras verließ das Lokal zuletzt und machte sich auf den Weg nach der Ebene von Issy, wo sich die in Paris anwesenden Mitglieder der Cougourde von Aix in einer der dortigen sehr zahlreichen Steinbrüche zu versammeln pflegten.

Unterwegs hielt Enjolras in seinem Geiste eine Musterung über die Truppen ab, die seine tüchtigen Offiziere ihm sicherlich zuführen würden, und dachte dabei auch an Grantaire. Da fiel ihm ein, daß die Barrière du Maine nicht sehr weit seitlich von dem Wege nach Issy ablag. »Wie wäre es, wenn ich einen Abstecher zu Richefeu machte? Da kann ich mich gleich mit eigenen Augen überzeugen, wie Grantaire seine Sache anfängt.«

Es schlug ein Uhr auf dem Kirchthurm zu Vaugirard, als Enjolras in die Tabagie Richefeu eintrat. Er kreuzte die Arme, ließ die Thür hinter sich zufallen und schaute sich um in dem mit Gästen überfüllten, räucherigen Saale.

Bald hörte er aus dem Lärm eine Stimme heraus, die von einer noch stärkeren, Grantaires, übertönt wurde.

Der tüchtige Werber saß einem andern Gast gegenüber an einem grauweißgestreiften Marmortisch, auf dem Dominosteine lagen, schlug mit der Faust auf und Enjolras hörte folgende Unterhaltung:

»Sechs und sechs.«

»Vier.«

»Du Glückspilz! Ich habe keine mehr.«

»Du bist reingefallen. Zwei.«

»Sechs.«

»Drei.«

»Eins.«

»Jetzt setze ich.«

»Vier Points.«

»Mit Mühe und Noth.«

»Du bist dran.«

»Ich habe einen kolossalen Bock geschossen.«

»Du machst's gut!«

»Fünfzehn.«

»Sieben dazu.«

»Dann habe ich zweiundzwanzig. (Nachdenklich) Zweiundzwanzig!«

»Du hast den Einspasch nicht erwartet. Hätte ich den zu Anfang gesetzt, so würde das Spiel eine ganz andere Wendung bekommen haben.«

»Zwei und Zwei.«

»Eins.«

»Eins! Gut, fünf.«

»Hab' ich nicht!«

»Du hast ja wohl gesetzt?«

»Ja.«

»Blank.«

»Hat Der Schwein! Nein, hast Du Schwein! (Lange Ueberlegung) Zwei.«

»Eins.«

»Weder fünf noch eins. Das ist unangenehm für Dich.«

»Domino.«

»Hol's der Teufel!«


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