Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch. In der Rue Plumet

I.
Ein Haus mit einem Geheimniß

Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte ein Parlamentspräsident eine Geliebte und wollte es Niemand wissen lassen, denn zu jener Zeit paradirten die Vornehmen gern mit ihren Maitressen, während die Bürgerlichen sie versteckten. Er ließ also, um sein Geheimniß gut zu bewahren, in der wenig begangenen Rue de Blomet, die jetzt Rue Plumet genannt wird und in der Vorstadt Saint-Germain liegt, ein »Häuschen« bauen.

Dieses Haus war ein Pavillon mit einem einzigen Stockwerk. Zwei Zimmer im Erdgeschoß, zwei Kammern im ersten Stock, unten eine Küche, oben ein Boudoir, unter dem Dach ein Boden, vor dem Hause ein Garten mit langem Gitter, der nach der Straße hinaus lag und ungefähr einen Morgen im Geviert maß. Dies war alles, was die Vorübergehenden zu sehen bekamen; aber hinter dem Pavillon lag ein schmaler Hof und an dem andern Ende des Hofes befand sich wieder eine kleine Gebäulichkeit, die nur zwei Zimmer enthielt und dazu bestimmt war, im Nothfall ein Kind und seine Amme unterzubringen. Dieses Häuschen hatte hinten eine verborgene Thür mit einem Geheimschloß, durch die man in einen schmalen, oben offnen, zwischen zwei hohen Mauern gelegenen, gepflasterten Gang gelangte. Mit außerordentlicher Kunst versteckt, zog sich dieser Weg, indem er bald diese, bald jene Richtung annahm, zwischen Gärten und Feldern hin und endete schließlich an einer andern, gleichfalls versteckten Thür mit Geheimschloß, die, ungefähr fünfhundert Meter von dem Pavillon, nach der stillen Rue de Babylone führte.

Hier schlich sich der Herr Präsident hinein und hätte man auch gewußt, daß er täglich einen heimlichen Gang hatte, so wäre doch Niemand auf den Gedanken gekommen, daß nach der Rue de Babylone und nach der Rue Blomet gehen auf dasselbe hinauskam. Dank mehrerer gut kombinirter Erwerbungen hatte der kluge Mann die geheime Straßenverbindung auf seinen eigenen Grund und Boden und unbeachtet herstellen können. Später hatte er dann das an den Gang anstoßende Land parzellenweise verkauft, und die Eigenthümer der Grundstücke glaubten auf beiden Seiten, sie hätten eine einfache Grenzmauer vor sich und hatten keine Ahnung von dem Dasein des Ganges. Nur die Vögel sahen dieses Kuriosum. Die Grasmücken und Meisen des vorigen Jahrhunderts mögen sich über den Herrn Präsidenten schön amüsirt haben.

Der Pavillon, nach Mansard's Manier gebaut, à la Watteau getäfelt und möblirt, mit einer dreifachen Blumenhecke umgeben, sah verschwiegen, nett und feierlich aus und war mithin ein in jeder Hinsicht passendes Nestchen für das Liebchen eines hohen Justizbeamten.

Das Haus und der Gang existirten noch um das Jahr 1847. 1793 kaufte es ein Kesselflicker zum Abbruch; da er aber das Geld nicht aufbringen konnte, wurde er von der Nation für fallit erklärt, so daß nicht der Kesselflicker das Haus demolirte, sondern umgekehrt. Seitdem blieb das Haus unbewohnt und verfiel allmählich, wie jedes Wohnhaus, dem die Gegenwart des Menschen nicht das Leben mittheilt. Die alten Möbel waren noch immer darin und es war zu verkaufen oder zu vermiethen, laut einem an dem Gitter seit 1810 ausgehängten gelben Miethzettel, den die Vorübergehenden nicht lesen konnten.

Gegen das Ende der Restauration verschwand der Miethzettel und die Fensterläden des ersten Stockwerks standen offen. Das Haus war bewohnt. An den Fenstern hingen kleine Gardinen, ein Zeichen, daß eine Dame darin wohnte.

Im Oktober 1829 nämlich war ein bejahrter Herr gekommen und hatte das Haus, wie es war, gemiethet, wohlverstanden, mit dem Hintergebäude und dem Gange. Er ließ das Haus wieder in Stand setzen und zog mit einem jungen Mädchen und einer alten Magd still ein, wie ein Dieb, nicht wie ein rechtmäßiger Besitzer. Die Nachbarn redeten aber nicht darüber, weil keine da waren.

Dieser bescheidene Miether war Jean Valjean, das junge Mädchen Cosette. Die Magd, Namens Toussaint, ein Frauenzimmer, das Jean Valjean vor dem Hospital und dem Elend bewahrt hatte, besaß drei kostbare Eigenschaften, die ihn bewogen hatten, sie in seinen Dienst zu nehmen: Sie war alt, aus der Provinz und stotterte. Er gab sich für einen Rentier Fauchelevent aus.

Warum hatte Jean Valjean das Kloster Petit-Picpus verlassen? Was war denn vorgegangen?

Nichts.

Wie erinnerlich, war Jean Valjean im Kloster glücklich, so glücklich, daß er schließlich Gewissensbisse darüber empfand. Er sah Cosette täglich, fühlte seine Vaterliebe zu ihr stetig zunehmen, hatte seine Freude an dem Gedanken, daß sie ihm gehörte, daß nichts sie ihm entreißen konnte, daß es immer so sein, daß sie gewiß Nonne werden würde, da sie Tag für Tag in diesem Sinne beeinflußt wurde, daß so das Kloster für sie wie für ihn die Welt bedeutete, daß erst er, dann sie darin ihr Leben beschließen würde, kurz, er durfte sich der süßen Hoffnung hingeben, daß eine Trennung nicht möglich war. Wenn er aber alles dies genauer prüfte, so verfiel er in Gewissenszweifel. Er fragte sich, ob all das Glück auch wirklich ihm gehörte, ob er nicht das Glück eines andern Wesens konfiscire, ob er, ein Greis, ein Kind seinem Eigennutz opfern dürfe. Cosette hatte das Recht, erst das Leben kennen zu lernen, und wenn er ihr von vornherein und gewissermaßen ohne ihre Erlaubniß alle Freuden entzog unter dem Vorwande, er wolle ihr alle Prüfungen ersparen, wenn er sich ihre Unwissenheit und ihre Abgeschiedenheit von der Welt zu Nutze machte, um ihr eine künstliche Neigung zu einem Beruf beizubringen, so behandelte er ein menschliches Wesen naturwidrig und belog Gott. Und wer weiß, ob Cosette nicht eines Tages sich hierüber klar werden und ihn hassen würde? Namentlich dieser fast egoistische und weniger muthige Gedanke war ihm unerträglich und er beschloß, das Kloster zu verlassen.

Er beschloß es, er erkannte zu seinem größten Leidwesen, daß es sein müsse. Einwände dagegen gab es nicht. Der fünfjährige Aufenthalt außerhalb der Welt hatte gewiß alle Gefahren beseitigt oder gemindert. Er konnte es ruhig wagen, unter die Menschen zu gehen. Er war älter und die Verhältnisse andre geworden. Wer sollte ihn jetzt wiedererkennen? Und im schlimmsten Fall bestand die Gefahr nur für ihn, und er durfte nicht Cosette zum Klosterleben verurtheilen, weil er zum Bagno verurtheilt war. Vor allen Dingen aber ging die Pflicht selbstsüchtigen Bedenken vor. Auch hinderte ihn ja nichts, vorsichtig zu sein und die richtigen Maßregeln zu ergreifen.

Was Cosettens Erziehung betrifft, so war sie nahezu beendigt und abgeschlossen.

Nachdem er also vollständig mit sich ins Reine gekommen, wartete er auf eine gute Gelegenheit. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten: Der alte Fauchelevent starb.

Jean Valjean begab sich zu der hochehrwürdigen Priorin und setzte ihr auseinander, er habe von seinem Bruder so viel geerbt, daß er fortan leben könne, ohne arbeiten zu müssen; er wolle daher aus dem Dienst des Klosters scheiden und seine Tochter mitnehmen. Da nun Cosette das Klostergelübde nicht ablegen würde, so sei es nicht billig, daß sie unentgeltlich in der Pension unterhalten und erzogen worden sei; er bitte daher ergebenst die hochehrwürdige Mutter, zu gestatten, daß er als Entschädigung für Cosettes fünfjährigen Aufenthalt im Kloster einen Betrag von fünftausend Franken an die Ordensgenossenschaft entrichte.

So kam Jean Valjean aus dem Kloster von der ewigen Anbetung des allerheiligsten Sakraments.

Als er auszog, nahm er den kleinen Handkoffer, von dem er den Schlüssel immer mit sich führte, selber in die Hand und weigerte sich, ihn einem Gepäckträger anzuvertrauen. Dieses Kofferchen erregte Cosette's Neugier aufs höchste, wegen eines Balsamirungsgeruches, der ihm entströmte.

Wir wollen gleich hier bemerken, daß er diesen Koffer fortan nicht mehr von sich ließ. Es war das erste und manchmal das einzige Stück, daß er bei Wohnungsveränderungen mitnahm. Cosette scherzte darüber und behauptete, sie wäre eifersüchtig auf den Koffer.

Im Uebrigen war Jean Valjean nicht frei von Sorgen, als er sich wieder in die Welt wagte.

Die Entdeckung des Hauses in der Rue Plumet, wo er so gut versteckt wohnen konnte, kam ihm also sehr gelegen Ein Vortheil war es auch, daß er jetzt rechtmäßiger Besitzer des Namens Ultime Fauchelevent war.

Außerdem miethete er noch zwei andere Wohnungen in Paris, um nicht immer in ein und demselben Stadtviertel gesehen zu werden, sich bei der geringsten Gefahr in Sicherheit bringen zu können und nicht, wie in der Nacht, wo er Javert auf so wunderbare Weise aus den Händen geschlüpft war, einer plötzlichen Ueberraschung ausgesetzt zu sein. Es waren recht kleine, armselige Wohnungen in zwei sehr weit auseinander gelegenen Stadtvierteln, die eine in der Rue de l'Ouest und die andere Rue de l'Homme-Armé.

Er wohnte nun mit Cosette von Zeit zu Zeit vier bis sechs Wochen bald in der Rue de l' Homme-Armé bald in der Rue de l'Ouest, ohne die Toussaint dorthin mitzunehmen. Er ließ dann die Bedienung von den Portiers besorgen und gab sich für einen Rentier aus, der außerhalb wohne und in der Stadt ein Absteigequartier brauche. Dieser grundedle Mann hatte drei Wohnungen in Paris, um vor der Polizei fliehen zu können.

II.
Jean Valjean als Nationalgardist

Der Hauptsache nach hielt er sich aber in der Rue Plumet auf und hatte sich da folgendermaßen eingerichtet:

Cosette nebst der Magd wohnte in dem Pavillon. Sie hatte das große Schlafzimmer inne mit den schönen Pfeilerspiegeln, den mit Tapeten und großen Lehnstühlen ausgestatteten Salon des Präsidenten und den Garten. Für das Schlafzimmer hatte Jean Valjean ein Bett samt Baldachin aus dreifarbigem altem Damast und einen schönen, persischen Teppich angeschafft, und um den strengen Eindruck abzuschwächen, den diese alten Prunkstücke machten, hatte er ihnen eine Menge Nippsachen, niedliche Möbel und Utensilien, wie junge Mädchen sie gern haben, beigefügt, eine Etagère, einen Schrank mit kostbar eingebundenen Büchern, eine Schreibmappe, einen mit Perlmutter ausgelegten Arbeitstisch, Waschgeschirr aus japanischem Porzellan. An den Fenstern des ersten Stocks hingen lange Damast-, im Erdgeschoß gestickte Gardinen. Den ganzen Winter über war Cosette's Häuschen von oben bis unten geheizt. Er selber wohnte in dem kleinen erbärmlichen Hinterhäuschen, das ein Gurtbett mit einer Matratze, einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, eine Wasserkanne aus Steingut, einige alte Bücher auf einem Brett, den geliebten Handkoffer enthielt und nie geheizt wurde. Er speiste bei Cosette und ließ sich immer ein Stück Schwarzbrod auf den Tisch legen. Zu der Toussaint hatte er, als sie bei ihm ihren Dienst antrat, gesagt: »Die Herrschaft im Hause führt das Fräulein.« »Und Sie?« fragte erstaunt die Magd. »Ich bin noch mehr als der Hausherr, ich bin der Vater.«

Cosette hatte im Kloster die Haushaltung erlernt und verwaltete das Wirtschaftsgeld. Alle Tage führte Jean Valjean sie spazieren, gewöhnlich nach dem Jardin du Luxembourg, wo er die einsamste Allee bevorzugte, und jeden Sonntag besuchten sie den Gottesdienst, immer in der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, weil sie sehr weit von ihrer Wohnung war. Da dies ein sehr armes Stadtviertel ist, theilte er viel Almosen aus und vor der Kirche umschwärmten ihn stets eine Menge Bettler, weshalb Thénardier seinen Bettelbrief »an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas« adressirt hatte. Desgleichen machte er häufig mit Cosette Hausbesuche bei Nothleidenden und Kranken. Fremde kamen nie in das Haus. Die Lebensmittel kaufte die Toussaint ein und das Wasser holte Jean Valjean selber von einem Brunnen, der sich in der Nähe, auf dem Boulevard, befand. Das Brennmaterial und der Wein wurden in einer halb unterirdischen, mit Muschelwerk ausgelegten Vertiefung untergebracht, die an die Thür der Rue de Babylone stieß. Es war die Grotte des Herrn Präsidenten gewesen, denn zu der Zeit, wo die Lusthäuschen Mode waren, konnte man sich keine Liebe ohne eine Grotte denken.

An der Thür, die in die Rue de Babylone führte, war ein für Briefe und Zeitungen bestimmter Kasten angebracht; da aber die drei Bewohner des Pavillons der Rue Plumet weder Briefe noch Zeitungen empfingen, so hatte der Briefkasten keinen andern Zweck als Steuerzettel und Stellungsbefehle aufzunehmen. Denn als Besitzer von Staatsrente mußte Herr Fauchelevent in der Nationalgarde dienen. So genau waren die Behörden bei der Rekrutirung verfahren, daß ihre Erhebungen sich bis auf das Kloster Petit-Picpus erstreckten. Ein Mann aber, der in diesem geheiligten, unzugänglichen Gebiet gewohnt hatte, war für seine Mairie eine Respektsperson, die der Ehre wert war, auf Wache zu ziehen.

Drei oder vier mal jährlich zog Jean Valjean seine Uniform an und that Dienst; sehr bereitwillig, denn es war für ihn eine erlaubte Vermummung, die ihn mit den übrigen, ordentlichen Staatsbürgern als gleichberechtigt hinstellte und ihm doch gestattete, für sich zu bleiben. Er hatte allerdings das sechzigste Lebensalter erreicht, wo er nach dem Gesetz dienstfrei wurde, hütete sich aber von seinen Rechten Gebrauch zu machen und seinem Feldwebel davonzulaufen. Er hatte keinen Civilstand und verheimlichte seinen Namen, seine Identität, sein Alter, alles; er war, wie gesagt, ein freiwilliger Nationalgardist. Sein ganzer Ehrgeiz beschränkte sich darauf, dem ersten besten Steuerzahler zu gleichen. Sein Ideal waren in Bezug auf innere moralische Vollkommenheit die Engel, in Bezug auf äußerliche der Bürger.

Heben wir indeß noch einen Punkt hervor. Wenn Jean Valjean mit Cosette ausging, kleidete er sich so, daß man ihn für einen ehemaligen Offizier halten konnte. Ging er aber allein aus, was meistens des Abends geschah, so trug er eine Arbeiterjacke und ‑hose, so wie eine Mütze, die sein Gesicht verdeckte. Aus Vorsicht oder aus Bescheidenheit? Aus beiden Gründen. Diese Eigentümlichkeiten ihres Vaters bemerkte Cosette kaum, da sie daran gewöhnt war, rätselhafte Dinge mit ihm zu sehen und zu erleben; und die Toussaint, die für Jean Valjean eine unbegrenzte Verehrung empfand, hieß alles gut, was er that. »Ein komischer Kauz!« meinte einst der Schlächter zu ihr. »Ein wa–ahrer Hei–eiliger!« gab sie zurück.

Weder Jean Valjean, noch Cosette, noch die Toussaint gingen je durch die Thür, die an der Rue Plumet lag, und wer sie nicht durch das Gitter sah, konnte nicht leicht errathen, daß sie hier wohnten. Diese Thür ließ Jean Valjean immer verschlossen und den Garten unbebaut, damit das Haus unbeachtet bliebe.

Darin irrte er sich aber wohl.

III.
Foliis ac frondibus

Der seit einem halben Jahrhundert sich selbst überlassene Garten war ungemein lieblich geworden. Die Leute, die hier vorüberkamen, blieben stehen und bewunderten ihn, ohne die Geheimnisse zu ahnen, die sich hinter seinen üppigen Dickichten verbargen. Mehr als ein Träumer ließ seine Blicke und Gedanken jenseit des alten mit einem mächtigen Hängeschloß verwahrten, gewundenen, wackligen, an zwei bemoosten Pfeilern befestigten Gitters schweifen, das ihn von dem Wundergarten trennte.

Eine steinerne Bank, ein paar von Schimmel entstellte Statuen, hier und da losgegangnes Gitterwerk an der Mauer waren die einzigen Spuren menschlicher Arbeit, die der Ort noch aufwies. Gänge und Rasen hatten die Quecken überwuchert. Der Gärtner war gegangen und die Natur wieder zurückgekommen. Das Unkraut gedieh prächtig, was ja das größte Glück ist, das einem armen Fleckchen Erde begegnen kann. Wie gut hatten es hier die Levkojen! In diesem Garten hemmte nichts den heiligen Drang der Pflanzen, nach Bethätigung ihrer Lebenskräfte. Die Bäume hatten sich zu den Sträuchern hinabgeneigt, die Sträucher waren zu den Bäumen emporgestiegen; die unten kriechenden Gewächse hatten diejenigen aufgesucht, die oben in der Luft leben; die vom Winde geschüttelten Baumkronen berührten das Moos des Erdbodens; die Stämme, Stengel, Aeste, Zweige, Ranken, Dornen bildeten ein unentwirrbares Durcheinander; die Vegetation hatte hier unter dem wohlwollenden Auge des Schöpfers in engster Umschlingung das heilige Mysterium ihrer Verbrüderung, das Symbol der menschlichen Bruderschaft, vollzogen. Dieser Garten war kein Garten mehr, sondern ein gewaltiges Dickicht, und undurchdringlich wie ein Urwald, dunkel wie eine Kathedrale, voll süßer Düfte und üppigen Lebens.

Im Lenz, wenn die Natur zu neuer Arbeit erwacht und frische Säfte in alle Gewächse emporsendet, schauerten aus dem gewaltigen Gestrüpp auf die feuchte Erde, auf die Statuen, auf die Freitreppe des Pavillons, auf die Straße eine unermeßliche Menge von Blüten und Blumen nieder. Tausende von weißen Schmetterlingen flatterten hier herum wie lebendige Schneeflocken, das Gezwitscher unschuldiger Vöglein entzückte das Ohr, und was die gefiederten Sänger dem Hörer zu sagen vergaßen, das fügte das Gesumm der Insekten hinzu. Des Abends fühlte man sich zur Träumerei gestimmt; himmlische Ruhe und Schwermuth lagerten über dem Ganzen; der berauschende Duft der Winden und Jelängerjelieber stieg überall auf wie ein feines Gift; man hörte die letzten Rufe der Grauspechte und Bachstelzen, die sich zu schlummern anschickten; man empfand die heilige Vertraulichkeit, die zwischen dem Vogel und den Baum waltet: Am Tage haben die Blätter ihre Freude an den Flügeln, des Nachts gewähren die Blätter den Flügeln Schutz.

Im Winter war das Dickicht schwarz, durchnäßt, struppig, und gestattete einen Durchblick nach dem Hause hin. Statt der Blumen an den Zweigen und des Thaus an den Blumen sah man dann die weißen Silberstreifen der Schnecken auf dem kalten und dicken Teppich der gelben Blätter; aber unter allen Umständen und zu jeder Jahreszeit durchwehte den kleinen Garten liebliche beschauliche Melancholie, Einsamkeit, Freiheit, die Abwesenheit des Menschen und die Gegenwart Gottes; das verrostete alte Gitter schien zu sagen: Dieser Garten gehört mir.

War man auch hier ringsum von dem Getriebe einer Großstadt umwogt, sah man auch in geringer Entfernung die statiösen Häuser der Rue de Varennes, den Dom der Invaliden, das Abgeordnetenhaus; mochten auch die Equipagen in der Rue de Bourgogne und der Rue Saint-Dominique noch so stolz, die gelben, braunen, weißen, rothen Omnibusse auf dem nächsten Platze noch so laut aneinander vorüber rasseln, – in der Rue Plumet war eine Einöde, hatte die Natur, die alle menschlichen Einrichtungen beschämt und sich überall gleich herrlich, gleich mächtig zeigt, in der Ameise so gut wie in dem Adler, aus einem erbärmlichen Pariser Garten einen majestätischen Urwald geschaffen.

Denn nichts ist wirklich gering; das weiß Jeder, der das Schaffen der Natur zu beobachten versteht. Obgleich der Philosophie keine vollständige Gewißheit erreichbar ist, obgleich sie weder die Ursachen genau anzugeben noch die Grenzen der Wirkung zu bestimmen vermag, bewundert der Betrachter mit unsagbarem Entzücken, wie all die Kräfte gesondert und doch nach einem Plane wirken, auf einen Punkt zielen.

Die Algebra findet Anwendung auf die Wolken; die Strahlen der Sterne nützen der Rose; kein Denker wird zu behaupten wagen, daß der Duft des Hagedorns den Gestirnen nicht zu Gute komme. Wer vermag die Wanderungen eines Molekels zu berechnen? Was wissen wir, ob nicht Entstehungen von Welten durch den Fall von Sandkörnern hervorgerufen werden? Wer kennt die gegenseitigen Beziehungen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen, den Wiederhall der Ursachen in den Abgründen des Seins und die Lawinen der Schöpfung. Eine Milbe hat ihre Wichtigkeit, das Kleine ist groß, das Große klein; alles ist im Gleichgewicht kraft der Nothwendigkeit. Welch eine erschreckliche Vision für den Verstand! Zwischen den Lebewesen und den Dingen bestehen wunderbare Verknüpfungen: in dem unerschöpflichen Ganzen verachtet das Hohe, das Geringe, die Sonne die Blattlaus nicht; Eines bedarf des Andern. Das Licht nimmt irdische Düfte mit in den Himmelsraum, ohne zu wissen, was es damit macht; die Nacht träufelt Sternenessenz auf die schlummernden Blumen herab. Alle Vögel, die da fliegen, tragen an ihren Pfötchen den Faden des Unendlichen mit sich. Für die Natur ist die Entstehung eines Meteors und das Herauskriechen der Schwalbe aus dem Ei ein Vorgang, für sie ist die Geburt eines Regenwurms und eines Sokrates dieselbe Arbeit. Wo das Fernrohr aufhört, beginnt die Thätigkeit des Mikroskops. Welches von Beiden sieht mehr und Größeres? Wählt, wenn ihr könnt. Der Schimmel besteht aus einer Unzahl Blumen, die Milchstraße aus Millionen von Sternen. Ebenso durcheinander gemengt und unauflöslich verkettet sind die Akte des Verstandes und die Thatsachen der Substanz. Die Elemente und die Gedanken vermischen, vermählen sich, multipliciren sich mit einander, so daß sie die materielle und die moralische Welt derselben Klarheit theilhaftig machen. Bei den großen, kosmischen Austauschungen wellt und wogt das Weltallleben hin und her, verwendet alles, läßt keinen Traum eines Schlafes verloren gehen, läßt hier ein Thierlein fallen, zerbröckelt dort einen Himmelskörper, macht aus dem Licht eine Kraft und aus dem Gedanken ein Element und löst alles auf, ausgenommen den geometrischen Punkt, das Ich; führt alles zu der untheilbaren Seele zurück und entfaltet alles in Gott; verschlingt alle Thätigkeiten, die höchsten wie die geringsten, zu einem Schwindel erregenden Mechanismus, setzt den Flug eines Insekts in Beziehung zu der Bewegung der Erde, ordnet, vielleicht wäre es auch nur vermöge der Identität des Gesetzes, die Evolution der Kometen am Firmament den Wirbeln der Infusorien im Wassertropfen unter. Das Weltall ist eine geistige Maschine, ein ungeheures Räderwerk, dessen erster Motor die Mücke und dessen letztes Rad der Thierkreis ist.

IV.
Ein anderes Gitter

Es schien, als habe dieser Garten, der ursprünglich zu der Feier frivoler Mysterien bestimmt war, sich umgewandelt, um keusche Geheimnisse zu beschützen. Aus dem Paphos war ein Eden geworden.

Jetzt weilte in dieser lieblichen Einöde ein unschuldsvolles Wesen, dessen Herz bereit war die Liebe aufzunehmen.

Cosette war fast noch ein Kind, als sie das Kloster verließ, erst vierzehn Jahre alt, also im Backfischalter und wenig entwickelt; abgesehen von den Augen eher häßlich als hübsch; nicht abstoßend, aber linkisch, mager, zugleich blöde und dreist.

Ihre Erziehung war abgeschlossen, d. h. man hatte sie Religion und besondere Frömmigkeit gelehrt; außerdem Geschichte oder was man im Kloster so nennt; Geographie, Grammatik, ein wenig Musik, im Uebrigen war sie überaus unwissend, was jungen Mädchen gut ansteht, ihnen aber auch gefährlich werden kann. Es ist besser, wenn sie allmählich und schonend aufgeklärt werden, denn wenn später das grelle Licht der Wirklichkeit unvermittelt in ihre Seele fällt, so sind sie kindischen Beängstigungen und schweren Verirrungen ausgesetzt. Nur der Instinkt einer Mutter kann, da sie die Erinnerungen aus ihren jungfräulichen Jahren mit den Erfahrungen der Frau verbindet, wissen, wie diese halbe Aufklärung beschaffen sein muß. Dieser Instinkt läßt sich durch nichts ersetzen. Alle Namen der Welt kommen hierin einer Mutter nicht gleich. Cosette hatte aber keine Mutter, sondern nur viele Mütter gehabt.

Was Jean Valjean anbetrifft, so fehlte es ihm ja nicht an Zärtlichkeit und Wachsamkeit; aber er war doch nur ein alter Mann, der diese Seite des Lebens nicht kannte.

Wieviel Geschicklichkeit gehört aber dazu, eine Mädchenseele auf das Leben vorzubereiten und jene großartige Unwissenheit, die sich Unschuld nennt, zu bekämpfen!

Nichts macht ein junges Mädchen für heiße und thörichte Liebe so empfänglich wie die Klostererziehung. Hier lernt sie ihr Denken auf das Unbekannte richten. Auf sich selbst zurückgedrängt, ohne geregelten Abfluß, konzentriren sich die Triebe und wühlen sich tief, immer tiefer ein. Daher denn Visionen, Grübeleien, Vermuthungen, Erdichtungen von Romanen und Abenteuern, deren Heldin man ist, phantastische Vorstellungen und Wünsche, die, sobald das junge Mädchen das Kloster hinter sich gelassen hat, sich in Wirklichkeit umzusetzen streben. Damit die Klosterregel über das menschliche Herz obsiegen könnte, müßte der Zwang das ganze Leben hindurch andauern.

Als sie das Kloster verließ, konnte Cosette nichts Lieblicheres finden, als das Haus in der Rue Plumet. Es war die Fortsetzung der Einsamkeit mit dem Anfang der Freiheit; ein verschlossener Garten, aber eine üppige, sinnberauschende Landschaft; dieselben Träumerein wie im Kloster, aber mit jungen Männern im Hintergrunde; ein Gitter das aber an der Straße lag.

Indessen war sie, wie gesagt, als sie hierher kam, noch ein Kind, und Jean Valjean konnte sie ruhig sich in dem milden Garten ergehen lassen. »Thue hier alles, was Du willst,« sagte er zu ihr, und das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie untersuchte alle Büsche und drehte alle Steine um, ob Thiere da wären. Sie spielte also vorläufig nur und träumte noch keine gefährlichen Träume.

Außerdem liebte sie ihren Vater Jean Valjean von ganzem Herzen und mit ganzer Seele, mit einer naiven, kindlichen Innigkeit, die sie in ihm einen angenehmen, wünschenswerten Gesellschafter sehen ließ. Wie man sich erinnern wird, las schon Herr Madeleine sehr viel, Jean Valjean fuhr auf diesem Wege fort und erwarb auf diese Weise das Talent seine Worte gut zu setzen und das Interesse des Zuhörers zu fesseln. Besaß er doch jene verborgene Vielseitigkeit und Beredtsamkeit, die spontane Entwicklung des Verstandes mit sich zu bringen pflegt. Es war ihm noch von früher her so viel Herbheit geblieben, daß er seine Gutmüthigkeit damit würzen konnte; war seine Rede derb, so war sein Herz gut. Cosette lieh ihm also, während sie neben ihm auf der Bank im Jardin du Luxembourg saß und ihre Blicke um sich schweifen ließ, gern ihr Ohr, wenn er aus seinen Büchern und seinem Leben schöpfte und ihr allerlei Dinge ausführlich erklärte.

Der Umgang mit dem schlichten Mann genügte ihr noch, ebenso wie der wilde Garten ihre ganze Welt war. Wenn sie den Schmetterlingen nachgetollt hatte und athemlos zu ihm kam, war sie selig, wenn er sie auf die Stirn küßte.

Cosette liebte den guten Alten so sehr, daß sie ihm nicht vom Leibe ging. Wo Jean Valjean weilte, fand sie ihr Glück. Da er nicht in dem Pavillon wohnte und nicht oft in den Garten kam, so gefiel ihr der Hinterhof und das armselig möblirte Hinterhaus besser als ihr prächtiger Salon. Jean Valjean schalt sie bisweilen deswegen, während er sich über die Belästigung innerlich freute: »So gehe doch in Deine Wohnung und laß mich doch mal allein!«

Sie ihrerseits machte ihm gleichfalls zärtliche Vorwürfe, mit jener Anmuth, die einer Tochter ihrem Vater gegenüber so gut ansteht.

»Vater, mich friert hier bei Dir. Warum schaffst Du Dir keinen Ofen und keinen Teppich an?«

»Liebes Kind, es giebt sehr viel Leute, die besser sind als ich, und die nicht einmal ein Obdach haben.«

»Ja, warum habe ich denn aber eine geheizte Stube und alles, was ich brauche?«

»Weil die Mädchen und Frauen Entbehrungen nicht ertragen können.«

»Also die Männer können frieren und unbehaglich leben?«

»Gewisse Männer, ja!«

»Gut; dann werde ich so oft zu Dir kommen, daß Du schließlich genöthigt sein wirst heizen zu lassen.«

Oder sie sagte:

»Vater, warum ißt Du dieses abscheuliche Brod?«

»Weil es mir so beliebt, Töchterchen.«

»Gut; wenn Du's ißt, werde ich auch welches essen.«

Damit also Cosette kein Schwarzbrod genießen sollte, bequemte sich Jean Valjean dazu Weißbrod zu essen.

Von ihrer Kindheit hatte Cosette nur sehr verworfene Erinnerungen bewahrt. Sie betete jeden Morgen und Abend für ihre Mutter, die sie nicht gekannt hatte. Der Thénardiers erinnerte sie sich nur noch als zweier traumhafter Schreckgestalten. Sie konnte sich aber entsinnen, daß sie einmal in der Nacht Wasser aus einem Walde geholt hatte, sehr weit von Paris, wie sie glaubte. Ihr war, als habe sie vordem in einem Abgrund gelebt, aus dem Jean Valjean sie hervorgeholt hätte. Ihre Kindheit kam ihr vor wie eine Zeit, wo sie von lauter Tausendfüßen, Spinnen und Schlangen umwimmelt war. Wenn sie des Abends vor dem Einschlafen nachdachte und sie sich nicht klar vorstellen konnte, daß sie Jean Valjean's Tochter sei, so bildete sie sich ein, die Seele ihrer Mutter wäre in den guten Alten übergegangen, um in ihrer Nähe zu weilen.

Wenn er vor ihr saß, legte sie wohl ihre Wange auf seinen Kopf und ließ schweigend eine Thräne auf ihn fallen, indem sie dabei dachte: »Der Mann ist vielleicht meine Mutter!«

Denn Cosette glaubte, – so sonderbar sich auch dies anhören mag – kraft der ihr im Kloster anerzognen, großartigen Unwissenheit, sie hätte so gut wie gar keine Mutter gehabt. Kannte sie doch nicht einmal ihren Namen! Denn jedes Mal, wenn sie Jean Valjean danach fragte, schwieg er. Wiederholte sie ihre Frage, so lächelte er statt aller Antwort und als sie einst hartnäckiger in ihn drang, sah sie eine Thräne über seine Wangen rollen.

Breitete er aus Vorsicht die Nacht der Vergessenheit über Fantine's Namen? Oder aus Achtung vor der Toten?

So lange Cosette noch ein kleines Kind war, hatte Jean Valjean gern mit ihr von ihrer Mutter gesprochen. Als sie größer wurde, schien es ihm unmöglich, wagte er es nicht mehr. That er es Cosettens oder Fantinens wegen? Jedenfalls empfand er eine Art religiöser Scheu, Cosettens Gedanken mit der Verstorbenen zu beschäftigen und sie als Dritte ihrem Schicksal beizugesellen. Ihm war, als schaue er bisweilen im Dunkeln einen auf einen Mund gelegten Finger. War die Scham, die Fantine in so reichem Maße besessen hatte und die ihr gewaltsam entrissen worden war, nach ihrem Tode zurückgekehrt und wachte sie nun darüber, daß die Ruhe der Toten nicht gestört wurde? Stand Jean Valjean unter diesem Einfluß? Da wir nicht glauben, daß mit dem Tode alles vorbei sei, möchten wir diese Erklärung nicht abweisen. Daher die Unmöglichkeit, selbst Cosette gegenüber den Namen Fantine auszusprechen.

Eines Tages sagte Cosette:

»Vater, ich habe diese Nacht meine Mutter im Traum gesehen. Sie hatte zwei große Flügel. Sie muß doch bei ihren Lebzeiten der Heiligkeit nahe gekommen sein.«

»Ja, weil sie eine Märtyrerin war.«

Im Ganzen fühlte sich also Jean Valjean recht glücklich.

Alle die Beweise, die sie ihm gab, daß sie ihn innig und ausschließlich liebte, die Art z. B., wie sie sich bei ihren Spaziergängen an seinen Arm hing, erfüllte ihn mit dem überschwenglichsten Wonnegefühl. Der Arme zitterte dann vor himmlischer Freude und suchte sich zu überreden, daß dieses Glück sein ganzes Leben hindurch währen würde. Er sagte sich, er habe wirklich nicht genug gelitten, um das zu verdienen, und dankte Gott in seinem innersten Herzen, daß ein solcher Elender wie er von einem unschuldsvollen Wesen so geliebt wurde.

V.
Die Rose merkt, daß sie gefährlich werden kann

Eines Tages, als Cosette zufällig sich in einem Spiegel sah, kam sie sich zu ihrem Erstaunen ganz hübsch vor. Diese Entdeckung versetzte sie in eine merkwürdige Aufregung. Denn bis dahin hatte sie nicht über ihre äußere Erscheinung nachgedacht. Wenn sie in den Spiegel sah, so that sie das nicht, um ihr Gesicht in Bezug auf seine Schönheit zu prüfen. Man hatte ihr auch immer gesagt, sie wäre häßlich. Nur Jean Valjean hatte das bestritten, aber ohne besondern Nachdruck. Wie dem auch sei, Cosette hatte sich immer für häßlich gehalten und sich mit dem Leichtsinn der Kindheit in dies Unglück gefunden. Nun ihr aber mit einem Mal ihr Spiegel, ebenso wie Jean Valjean: »Bewahre! Bewahre!« zurief, konnte sie die Nacht kaum schlafen. – »Wie merkwürdig das sein würde, wenn ich wirklich hübsch wäre!« dachte sie und erinnerte sich der Schulkameradinnen, die im Kloster wegen ihrer Schönheit auffielen. »Ob ich wirklich mich mit der vergleichen könnte?«

Am nächsten Morgen sah sie wieder in den Spiegel, nicht zufällig, und bekam Zweifel: »Solch ein Unsinn! Ich bin doch häßlich.« Sie hatte aber nur schlecht geschlafen und sah deshalb blaß und matt aus. Der Gedanke, daß sie hübsch wäre, hatte sie am Abend zuvor nicht über die Gebühr gefreut; die Enttäuschung machte ihr aber Kummer. In Folge dessen besah sie sich nicht mehr im Spiegel und brachte es vierzehn Tage lang fertig, sich, ohne hineinzusehen, die Haare zu machen.

Sie hatte die Gewohnheit, sich nach dem Abendessen mit irgend einer Handarbeit zu beschäftigen, während Jean Valjean neben ihr saß und las. Bei einer solchen Gelegenheit blickte sie einmal von ihrer Stickerei auf und war ganz erstaunt, wie sorgenvoll ihr Vater sie ansah.

Ein andres Mal hörte sie, wie Jemand auf der Straße hinter ihr sagte: »Ein hübsches Mädchen! Schade, daß sie so geschmacklos gekleidet ist!« »Ach, mich meint er nicht. Ich bin häßlich und an meiner Toilette ist nichts auszusetzen.« Es war aber zu der Zeit, wo sie noch den Plüschhut und das Merinokleid trug.

Eines Tages endlich, als sie gerade im Garten war, hörte sie, wie die alte Toussaint über sie mit ihrem Vater sprach. »Haben Sie bemerkt, wie hübsch das Fräulein wird?« Die Antwort entging ihr, aber die Aeußerung der Toussaint wirkte wie ein elektrischer Schlag. Sie eile aus dem Garten nach ihrem Zimmer hinauf, stürzte auf den Spiegel zu, den sie drei Monate lang nicht angesehen hatte, und that einen entzückten Schrei.

Sie konnte nicht mehr umhin, der alten Toussaint und ihrem Spiegel beizupflichten. Ihre Taille hatte sich herrlich entwickelt, ihre Haut war weiß und zart geworden, ihre Haare hatten einen prächtigen Glanz angenommen, ihre Augen blickten muntrer und heller als früher. So wurde sie sich in einem Nu ihrer Schönheit bewußt. Ja, die Andern hatten es schon bemerkt, die Toussaint sagte es, der Herr neulich auf der Straße hatte sie gemeint. Kein Zweifel mehr. Sie eilte wieder in den Garten hinunter, stolz und glücklich wie eine Königin. Sie glaubte die Vögel singen zu hören, obgleich es doch Winter war, und Blumen blühen zu sehen.

Jean Valjean seinerseits empfand eine unerklärbare Beklemmung, als er täglich Cosettes liebes Gesicht an Schönheit gewinnen sah. Was Andere mit freudiger Bewunderung erfüllte, war für ihn eine Quelle des derbsten Kummers. Er fürchtete, diese Veränderung würde irgendwie sein Glück stören. Er, der jede Art von Elend kennen gelernt, dessen Wunden so zu sagen noch bluteten, der erst nahe daran gewesen war, ein bösartiger Mensch und dann ein Heiliger zu werden, der einst die Bagnokette geschleppt und jetzt die noch schwerere Last des gesellschaftlichen Bannes trug, er, den das Gesetz noch nicht freigelassen und den es trotz der Unsträflichkeit seines Wandels jeden Augenblick der Schande überantworten konnte, dieser Mann ließ sich alles gefallen, entschuldigte, verzieh, lobte alles und verlangte von der Vorsehung, den Menschen, den Gesetzen, der Gesellschaft nur eins, – daß Cosette ihn lieb haben mochte.

Jetzt aber zitterte er. Was Frauenschönheit bedeutet, darüber wußte er ja wenig genug; aber sein Instinkt sagte ihm, daß seinem Glück eine Gefahr drohe.

»Wie schön sie ist! Was wird blos aus mir werden?« dachte er.

In dieser Hinsicht unterschied sich die Zuneigung, die er für Cosette empfand, von der Liebe einer Mutter. Was Diese mit Freuden erfüllt hätte, machte ihm Sorgen.

Es währte auch nicht lange, so traten Veränderungen in Cosettens Wesen auf.

Gleich nachdem sie die entzückende Entdeckung gemacht hatte, fing sie an, auf ihre Toilette zu achten. Sie erinnerte sich an das, was der Herr auf der Straße gesagt hatte: »Hübsch, aber ohne Geschmack gekleidet!« Dies Orakel entfaltete jetzt in ihr die Liebe zum Putz, eine von den beiden Leidenschaften, die das Leben der Frauen für sich in Anspruch nehmen. Die Liebe nämlich ist die zweite. Mit dem Glauben an ihre Schönheit entwickelte sich auch alsbald in ihr der ganze weibliche Charakter. Sie fand jetzt den Merino greulig und schämte sich des Plüsches. Und da ihr Vater ihr nie eine Bitte abschlug, so fehlte es ihr auch nicht an den nöthigen Mitteln, um sich die Wissenschaft der Toilette rasch und gründlich anzueignen, jene Wissenschaft, in der sich die Pariserinnen vor allen andern Frauen auszeichnen.

In noch nicht einem Monat brachte es Cosette in ihrer Einöde dahin, daß sie nicht nur eine der hübschesten, sondern was noch weit mehr bedeuten will, der elegantesten jungen Damen in Paris war. Wenn der Herr, der damals ihre Kleidung getadelt hatte, sie jetzt sähe! Er hätte Augen gemacht! Sie war auch wirklich reizend und kannte den Unterschied zwischen Gérard's und Herbaut's Hüten.

Diese Fortschritte beobachtete Jean Valjean mit Sorgen. Er, der nur in niederen Regionen kriechen oder höchstens gehen konnte, sah, wie seiner Cosette Flügel wuchsen.

Allerdings hätte eine Dame auf den ersten Blick bemerkt, daß Cosette keine Mutter hatte. Gewisse von der Schicklichkeit oder Gewohnheit vorgeschriebene Regeln wurden von Cosette nicht beobachtet. So hätte eine Mutter sie z. B. darauf aufmerksam gemacht, daß ein junges Mädchen sich nicht in Damast kleiden darf.

Den ersten Tag, wo sie in ihrer schwarzen Damastrobe und Mäntelchen und mit ihrem weißen Florhut ausging und sich strahlend vor Freude, glücklich, stolz, mit rosigem Gesicht an seinen Arm hing, fragte sie: »Vater, wie gefalle ich Dir?« »So siehst Du reizend aus!« antwortet er, aber in seiner Stimme klang ein Anflug von Bitterkeit wieder. Dann benahm er sich während des Spaziergangs wie gewöhnlich. Nach Hause zurückgekehrt, fragte er aber:

»Sag' mal, trägst Du nicht mehr das Kleid und den Hut, den Du früher hattest?«

Cosette warf einen verächtlichen Blick auf den Kleiderriegel, an dem die verfemten Toilettenstücke hingen.

»Den Plunder? Was soll ich damit, Vater? Ich denke nicht dran, solche greuligen Sachen kann ich nicht tragen. Wenn ich die Kiepe da aufsetzte, würde ich wie eine Vogelscheuche aussehen.«

Jean Valjean seufzte tief.

Von dieser Zeit an bemerkte er auch, daß Cosette nicht mehr so oft zu ihm kam und immer ausgehen wollte. Wozu in der That hat man ein hübsches Gesicht und schöne Kleider, wenn man sie nicht zeigen soll?

Außerdem fiel ihm auf, daß Cosette sich weniger im Hinterhof aufhielt. Sie bevorzugte jetzt den Garten und ging gern an dem Gitter entlang spazieren. Der menschenscheue Jean Valjean dagegen setzte keinen Fuß in den Garten und blieb im Hof, wie der Hund.

Nun sie sich ihrer Schönheit bewußt war, verlor sie den Reiz, den die Unkenntniß dieses Vorzuges jungen Mädchen verleiht. Giebt es doch nichts Bezaubernderes als die Verbindung von Schönheit und Naivität, als ein liebliches unschuldiges Kind, das, ohne es zu wissen, den Schlüssel des Paradieses in seiner Hand trägt. Aber was Cosette an unbewußter Anmuth einbüßte, das gewann sie an reizvollem nachdenklichen Ernst.

Zu jener Zeit war es, daß Marius sie nach einer sechsmonatlichen Unterbrechung im Jardin du Luxembourg wiedersah.

VI.
Der Krieg beginnt

Cosette trug in ihrer Abgeschiedenheit, wie Marius in der seinen, all den Zündstoff in sich, aus dem ein großer Liebesbrand auflodern mußte. Das Schicksal brachte mit seiner stillen, unentrinnbaren Geduld die beiden mit der stürmischen Elektricität der Leidenschaftlichkeit geladnen jungen Leute näher und näher an einander, bis ihre Seelen sich in einem Blick begegneten und die Liebe hervorbrach, wie aus zwei Wolken, die sich vereinigen, der Blitz herauszuckt.

In Romanen ist mit der Liebe, die durch den ersten Blick entzündet wird, so viel Mißbrauch getrieben worden, daß Niemand mehr von so plötzlicher Liebe reden hören mag. Kaum wagt noch Jemand zu sagen, daß zwei junge Leute Liebe zu einander gefaßt haben, weil sie sich angesehen haben. Dennoch entsteht aber die Liebe so und nur so. Das Uebrige ist nur das Uebrige und kommt nach. Keine Thatsache ist so sicher, als daß zwei Seelen den entscheidenden Schlag empfangen, indem sie den Funken austauschen.

Zu jener bestimmten Zeit, wo Cosette, ohne es zu wissen, durch ihren Blick Marius in Unruhe zu versetzen vermochte, ahnte Marius nicht, daß auch sein Blick dieselbe gute und böse Wirkung auf Cosette ausübte.

Schon längst sah und beobachtete sie ihn, wie junge Mädchen sehen und beobachten, nämlich, indem sie die Augen anderswohin richtete. Als Marius sie noch häßlich fand, bemerkte sie schon, daß er ein hübscher junger Mann war. Aber da er sie nicht beachtete, so blieb auch er ihr gleichgültig.

Indessen konnte sie nicht umhin, zu konstatiren, daß er einen schönen Haarwuchs, schöne Augen und Zähne hatte, daß seine Stimme angenehm klang, wenn sie ihn mit seinen Freunden sprechen hörte, daß er eine schlechte Haltung hatte, die aber einer gewissen, eigenartigen Anmuth nicht ermangelte, daß er nichts weniger als dumm aussah, daß er edel, sanft, schlicht und stolz schien und endlich daß er arm war, aber ein vornehmes Wesen hatte.

Als dann ihre Augen sich begegneten und sich erzählten, was die Zunge nicht ausdrücken kann, wurde sich Cosette nicht sofort über ihren Gemüthszustand klar. Sie kehrte nur nachdenklich an jenem Tage nach dem Hause in der Rue de l'Ouest zurück, wo Jean Valjean seiner Gewohnheit gemäß damals gerade sechs Wochen hindurch wohnte. Am nächsten Morgen fiel ihr der junge Unbekannte wieder ein, der sich bis dahin so gleichgültig und kalt gegen sie verhalten hatte und nun mit einem Male sie beachtete; es kam ihr aber nicht so vor, als sei ihr diese seine Aufmerksamkeit angenehm. Sie zürnte vielmehr dem stolzen Jüngling und fühlte sich kriegerisch aufgelegt.

Jetzt, dachte sie mit noch kindlicher Freude, würde sie Rache an ihm nehmen können.

Sie merkte, wenn auch noch nicht mit völliger Klarheit, daß sie an ihrer Schönheit eine Waffe habe. Die Frauen spielen mit ihrer Schönheit, wie ein Kind mit einem Messer. Sie bringen sich selber Wunden bei.

Der Leser erinnert sich wohl noch der blöden Zurückhaltung unseres Freundes Marius. Er blieb auf seiner Bank sitzen und wagte sich nicht in die Nähe seiner Schönen. Diese ärgerte sich darüber und sagte endlich eines Tages zu Jean Valjean: »Vater, wir wollen doch einmal da lang gehen.« In Anbetracht, daß Marius nicht zu ihr kam, ging sie zu ihm hin. In diesem Fall machen es ja alle Frauen wie Muhammed. Außerdem ist sonderbarer Weise das erste Symptom der wahren Liebe bei einem jungen Mann die Schüchternheit, während die jungen Mädchen dann keck werden. Dies mag verwunderlich scheinen, ist aber sehr einfach. Wenn die beiden Geschlechter einander näher treten wollen, muß das eine die Eigenschaften des andern annehmen.

An jenem Tag raubte Cosettens Blick Marius den Verstand, während sie erbebte. Ihn beseligten süße Hoffnungen, sie fürchtete sich. Von nun an hegten sie heiße Liebe zu einander.

Das Erste, was sie empfand, war eine unerklärbare, tiefe Schwermuth. Sie erkannte sich nicht wieder. Ihr altes Ich, das aus Gleichgiltigkeit und Frohsinn bestand, war von der Gluth der Liebe geschmolzen, wie der Schnee unter den Strahlen der Sonne zerrinnt.

Sie liebte mit um so größerer Leidenschaftlichkeit, als sie ihren Seelenzustand nicht kannte. Sie wußte nicht, ob die Liebe etwas Gutes oder Böses, Nützliches oder Gefährliches, Nothwendiges oder Tötliches, Ewiges oder Vorübergehendes ist; sie liebte. Man hätte sie in das größte Erstaunen versetzt, wenn man zu ihr gesagt hätte; »Wie? Sie schlafen nicht? Das ist ja verboten! Sie haben keinen Appetit? Das ist unrecht von Ihnen. Sie leiden an Beklemmungen und Herzklopfen? Das schickt sich nicht! Sie werden roth und blaß, wenn Sie eines gewissen schwarz gekleideten jungen Mannes in einer gewissen, grünen Allee ansichtig werden? Pfui, schämen Sie Sich!« Sie hätte geantwortet »Wieso verdiene ich den Tadel wegen einer Sache, gegen die ich nichts thun kann und die ich nicht verstehe?«

Es traf sich, daß die Liebe gerade in der Gestalt auftrat, die ihrem damaligen Seelenzustand am besten zusagte, nämlich als stumme Betrachtung aus der Ferne, als Vergötterung eines Unbekannten. Jetzt hatte sich der Traum ihrer Nächte in einen Roman verwandelt und blieb doch noch ein Traum; jetzt war das geliebte Phantom Fleisch und Blut geworden, trug aber noch keinen Namen, war frei von Unvollkommenheiten, und hielt sich in bescheidener Entfernung. Jede zudringlichere Begegnung hätte Cosette geängstigt, da sie dem Ideenkreise des Klosters damals noch nicht völlig entrückt war. Von einem Mann oder auch nur Bräutigam konnte noch nicht die Rede sein: sie brauchte nur eine Traumgestalt.

Da die höchste Naivität und die höchste Coquetterie sich berühren, lächelte sie ihm ganz offenherzig zu.

Jeden Tag konnte sie jetzt kaum die Zeit erwarten, wo sie mit Jean Valjean zum Spaziergang aufbrach. Hatte sie dann Marius gesehen, so fühlte sie sich unaussprechlich glücklich und bildete sich ein, sie sage die volle Wahrheit, wenn sie zu Jean Valjean bemerkte, der Jardin du Luxembourg sei doch ein schöner Garten.

VII.
Immer mehr Trauer

Für jede Lage des Lebens hat der Mensch einen Instinkt. Auch unsern Jean Valjean benachrichtigte die alte und ewige Mutter Natur von Marius Gegenwart. Jean Valjean erbebte in den tiefsten Tiefen seines Herzens. Er sah nichts, wußte nichts und sah sich doch mit hartnäckiger Aufmerksamkeit in der Finsternis, die ihn umgab, als fühlte er, wie sich auf der einen Seite etwas Neues aufbaute, und andererseits etwas Altes einstürzte. Marius, gleichfalls gewarnt und zwar – nach einem weisen Gesetze Gottes – von derselben Mutter Natur, that alles, was er konnte, um nicht von dem »Vater« bemerkt zu werden. Dennoch geschah es, daß Jean Valjean ihn bisweilen sah. Marius Gebahren war doch gar nicht natürlich. Er zeigte eine verdächtige Vorsicht und eine linkische Keckheit.

Dann kam er nicht mehr so nahe heran, wie ehedem. Er setzte sich weit ab und sah ganz verzückt aus, hielt ein Buch in der Hand und that, als lese er. Warum that er nur so? Früher kam er mit seinem alten Anzug, jetzt trug er täglich den neuen; er ließ sich wohl gar die Haare kräuseln, verdrehte die Augen ganz komisch; trug Handschuhe; kurzum, Jean Valjean war der junge Mann in der Seele zuwider.

Cosette ließ sich nichts merken. Ohne recht zu wissen, was sie empfand, hatte sie das Gefühl, daß es etwas war, das sie verheimlichen müsse.

Zwischen den Veränderungen, die Cosette mit ihrer Toilette vorgenommen, und der plötzlichen Vorliebe des jungen Unbekannten für neue Kleider herrschte ein Parallelismus, der Jean Valjean mißfiel. Vielleicht, ohne Zweifel, ganz gewiß ein Zufall, aber ein bedrohlicher!

Nie brachte er Cosette gegenüber die Rede auf den Unbekannten. Eines Tages indessen konnte er nicht anders und rief, gepeitscht von jener Verzweiflung, die gern in ihrer eigenen Wunde wühlt: »Sieht der junge Mann pedantisch aus!«

Ein Jahr früher hätte Cosette mit ihrer kindlichen Gleichgültigkeit ihm widersprochen: »Bewahre! Er macht einen recht netten Eindruck.« Zehn Jahre später wäre sie schlau auf seine Bemerkung eingegangen: »Du hast Recht, lieber Papa. Greulig pedantisch.« Bei ihrer damaligen Lebenserfahrung und Gemüthsverfassung konnte sie aber nur Gleichgültigkeit heucheln. Sie antwortete mit größter Seelenruhe:

»Der junge Mann da?«

Als wenn sie ihn zum ersten Mal in ihrem Hause sähe.

»Wie dumm von mir!« dachte Jean Valjean. Sie hat ihn noch gar nicht beachtet, und ich mache sie aufmerksam auf ihn!«

O Einfalt der Greise! O Schlauheit der Kinder!

Noch ein Gesetz, das für die Anfangszeit der Liebe, für die ersten Kämpfe gegen Hindernisse gilt: Das junge Mädchen geht in keine Falle, während der junge Mann sich nur zu leicht fangen läßt. Jean Valjean ging seinem Gegner mit List zu Leibe, was dieser mit der liebenswürdigen Thorheit seiner Leidenschaft und seiner Jugend nicht errieth.

Jean Valjean legte ihm alle möglichen Schlingen; er kam zu einer andern Zeit nach dem Garten, setzte sich auf eine andere Bank, vergaß sein Taschentuch, ließ Cosette zu Hause, und Marius that ihm stets den Gefallen seinen Argwohn naiv zu bestätigen. Cosette dagegen ließ sich aus ihrer scheinbaren Unaufmerksamkeit und Gleichgültigkeit nicht herausbringen, und Jean Valjean gelangte schließlich zu der Ueberzeugung, der junge Laffe sei in Cosette vernarrt, während Diese ihn nicht im entferntesten beachte.

Er empfand aber darum nicht weniger schwere Sorgen. Der Augenblick, wo die Liebe in Cosettes Herz einziehen würde, mußte früher oder später kommen. Fängt doch alles mit der Gleichgiltigkeit an!

Ein einziges Mal beging Cosette einen Fehler und setzte ihn in Schrecken. Als er nämlich nach dreistündigem Aufenthalt von der Bank aufstand, rief sie: »Schon!«

Er stellte die Spaziergänge nach dem Garten nicht ein, weil er nicht von seiner gewöhnlichen Ordnung abweichen und dadurch Cosettes Aufmerksamkeit rege machen wollte, aber während der für das Liebespaar so süßen Stunden, während Cosette dem verzückten Marius zulächelte und dieser nur ihr holdes liebes Antlitz sah, betrachtete ihn Jean Valjean mit wuthfunkelnden Augen. Er, der geglaubt hatte, er sei keiner Regung der Bosheit mehr fähig, fühlte jetzt in Marius Gegenwart, wie sich längst zugedeckte Tiefen in seiner Seele aufthaten und der alte Menschenhaß und Ingrimm wieder zu Tage trat.

»Was hat der Bengel hier zu suchen? Was schleicht er, was schnüffelt er so herum? Was will er? Eine Liebelei natürlich, weiter nichts! Und ich, ich bin erst ein Elender und dann über die Maßen unglücklich gewesen; ich bin alt geworden, ohne jung gewesen zu sein; ich habe keine Eltern, keine Freunde, keine Frau, keine Kinder gehabt; bin sanft gewesen gegen Diejenigen, die mich mißhandelt haben, und gut gegen die Bösen; bin trotz alledem wieder ein rechtschaffner Mensch geworden, habe meine Sünden bereut und meinen Feinden verziehen; und jetzt, wo ich belohnt bin, wo ich das Ziel erreiche, soll alles, was ich mir so schwer verdient habe, zu Nichte werden, soll ich Cosette, mein Leben, mein Glück verlieren, weil es einem dummen Jungen beliebt hat, in einem öffentlichen Garten herumzutummeln!«

Das Uebrige haben wir schon erzählt. Marius benahm sich wieder thöricht. Er ging Cosette nach, als sie mit ihrem Vater nach der Rue de l'Ouest heimkehrte. Ein andres Mal fragte er den Portier aus, der seinerseits mit Jean Valjean sprach:

»Herr Fauchelevent, da hat sich neulich ein neugieriger junger Herr nach Ihnen erkundigt. Wer mag das sein?« – Am nächsten Tage warf Jean Valjean Marius einen Blick zu, den dieser endlich verstand, und eine Woche später war er ausgezogen. Er schwor, daß er nie wieder den Fuß in den Jardin du Luxembourg noch in die Rue de l'Ouest setzen würde. Er kehrte dann nach der Rue Plumet zurück.

Cosette klagte nicht, sagte nichts, that keine Fragen, forschte nach keinem Warum; sie war schon so weit vorgeschritten, daß sie Acht auf sich gab und sich zu verrathen fürchtete. Jean Valjean hatte keine Erfahrung von dieser Art Unglück, dem einzigen, das liebenswert ist und das er nicht durchgemacht hatte, und deshalb begriff er nicht, was es mit Cosettes Stillschweigen auf sich hatte. Nur fiel ihm ihre Schwermuth auf, und das machte ihm Kummer. Es stand hier eine Unerfahrenheit einer andern gegenüber, und Beide vermochten nicht, sich gegenseitig zu verstehen.

Eines Tages machte er einen Versuch. Er fragte:

»Willst Du mit mir nach dem Jardin du Luxembourg gehen?«

»Ja!« sagte sie und ein Freudenstrahl erhellte ihr bleiches Gesicht.

Sie gingen, aber da schon drei Monate verstrichen waren, seitdem sie ihre Spaziergänge ausgesetzt hatten, war kein Marius in dem Garten zu sehen.

Am nächsten Tage fragte Jean Valjean wieder:

»Gehen wir heute wieder nach dem Jardin du Luxembourg?«

»Nein,« antwortete sie mit wehmüthiger und sanfter Stimme.

Jean Valjean ärgerte sich über ihre Wehmuth und war betrübt über ihre Sanftmuth.

Was ging blos in dem Kopf des Mädchens vor? Daß solch ein junges Ding ihm schon so dunkle Räthsel aufgeben konnte! Mit diesen sorgenvollen Fragen zermarterte Jean Valjean jetzt oft sein Hirn. Bisweilen blieb er, statt sich zur Ruhe zu begeben, an dem Tisch sitzen und brachte die ganze Nacht damit zu, über Cosettens Gemüthszustand nachzudenken.

O wie sehnsuchtsvoll wandte er jetzt seine Gedanken nach dem Kloster zurück, dem Wohnort der Engel, dem unzugänglichen Eisberg der Tugend! Er sah oft im Geiste den Garten voller holder Mädchenblüthen, deren Sinn nur auf den Himmel gerichtet war. Wie bedauerte er, daß er aus diesem Paradiese ohne Noth fortgegangen war! Wie thöricht, daß er Cosette in die Welt zurückgeführt hatte, damit jetzt seine heldenmüthige Selbstaufopferung ihm solches Unheil bringen sollte! Wie oft rief er: »Was habe ich gethan?«

Cosette ließ er aber nichts von dieser Reue merken. Ihr gegenüber bekundete er stets dieselbe gute Laune und Freundlichkeit. Eher behandelte er sie noch gütiger, väterlicher. Und wenn etwas auf eine Veränderung in seinem Innern hindeutete, so wahr es vielmehr eine Zunahme von Milde und Nachsicht.

Cosette ihrerseits war nicht minder trübsinnig. Sie empfand Marius Abwesenheit so schmerzlich, wie sie sich seiner Zeit gefreut hatte, ihm zu begegnen, wurde sich aber der Natur ihres Seelenzustandes nicht recht bewußt. Als Jean Valjean die Spaziergänge nach dem Jardin du Luxembourg einstellte, gab ihr weiblicher Instinkt ihr einen leisen Wink, daß sie sich ihre Vorliebe für diesen Garten nicht dürfe anmerken lassen; wenn sie sich gleichgültig zeige, würde ihr Vater sie schon wieder dorthin führen. Aber Jean Valjean war auf Cosettes stillschweigende Einwilligung stillschweigend eingegangen, und Tage, Wochen, Monate vergingen, ohne daß er die geringste Lust bezeigte, seine alte Gewohnheit wieder aufzunehmen. Sie bereute jetzt, daß sie so schnell nachgegeben hatte, aber es war zu spät. Denn als sie später nach dem Garten zurückkehrte, war Marius nicht mehr da. Was nun? Ob sie ihm je wieder begegnen würde? Ein herbes, banges Weh schnürte ihr das Herz zusammen und der Druck nahm täglich zu. Nichts konnte diese Pein lindern. Es war ihr gleich, ob es Sommer oder Winter war, ob die Sonne schien oder ob es regnete, ob die Vögel sangen, ob jetzt Georginen oder Maßliebchen blühten, ob die Waschfrau die Wäsche zu sehr oder zu wenig gestärkt, ob die Toussaint gut oder schlecht eingekauft hatte. Sie war immer niedergeschlagen, zerstreut, nur von dem einen Gedanken beherrscht, die Augen starr ins Leere gerichtet, wie man in der Nacht nach der tiefdunklen Stelle schaut, wo soeben eine Vision entschwunden ist.

Auch sie ließ, abgesehen von ihrer zunehmenden Blässe, Jean Valjean nichts merken. Ihr Gesicht behielt dieselbe Sanftmuth.

Ihre Blässe genügte aber vollkommen, um Jean Valjean Sorgen zu machen. Wenn er sie aber fragte, was ihr fehle, antwortete sie stets:

»Nichts.«

Dann pflegte sie, da sie wohl ahnte, daß auch er bekümmert sei, ihn ihrerseits zu fragen:

»Und Du, Vater? Fehlt Dir was?«

Sie bekam dann dieselbe Antwort:

»Mir? Gar nichts!«

Diese beiden Menschen, die sich so innig und ausschließlich geliebt, die Einer in dem Andern gelebt und gewebt hatten, litten jetzt nebeneinander. Einer durch die Schuld des Andern, ohne es sich zu sagen, ohne gegenseitigen Groll und freundlich lächelnd.

VIII.
Die Galeerensklaven

Am unglücklichsten von Beiden war Jean Valjean. Trägt doch die Jugend, eben als solche, ihren Kummer stets leichter als das Alter.

Zu Zeiten gewann Jean Valjean's Seelenpein dermaßen die Oberhand, daß er kindische Einfälle hatte. Es ist ja eine bekannte Eigenthümlichkeit des schweren Kummers, daß er den Menschen zeitweise wieder auf das geistige Niveau der Kindheit herabdrückt. Da er sich nämlich nicht der Einsicht verschließen konnte, daß Cosette ihm nicht mehr allein gehörte, wollte er sein Eigenthum vertheidigen, sie zurückhalten, sie mit etwas Aeußerlichem und Auffallendem begeistern. Gerade weil nun aber seine Einfälle, wie gesagt, kindische waren, gewann er z. B. ein richtiges Verständniß für die Art des Eindrucks, den gewisse Posamentierwaaren bei jungen Mädchen hervorrufen. Eines Tages nämlich geschah es, daß er auf der Straße einen General, den Grafen Coutard, Festungskommandant von Paris, in Galauniform vorbeireiten sah. Diesen mit goldnen Tressen behangnen Mann beneidete er. Welch ein Glück, wenn er auch solch einen imponirenden Rock tragen dürfte! Wenn Cosette ihn damit sähe, würde er ihr imponiren; ginge er dann mit ihr spazieren, vor den Tuilerieen vorbei, so würde ihm die Wache das Gewehr präsentiren. Das würde Cosette genügen und ihr die jungen Leute aus dem Sinne bringen.

Zu diesem traurigen Gedanken kam noch eine heftige Erschütterung, die eine unerwartete Begebenheit in ihm hervorrief.

Bei dem einsamen Leben, das sie führten, hatten sie, seitdem sie nach der Rue Plumet gezogen waren, der Zerstreuung halber die Gewohnheit angenommen, sich ab und zu den Sonnenaufgang anzusehen, ein idyllisches Vergnügen, das der Jugend sowohl wie dem Alter zusagt.

Am frühen Morgen spazieren gehen ist für Jemand, der die Einsamkeit liebt, eben so angenehm, wie Spaziergänge des Nachts, hat aber den Vortheil voraus, daß man dem fröhlichen Erwachen der Natur beiwohnen kann. Die Straßen sind menschenleer und die Vögel singen. Cosette stand, wie die Vöglein, auch gern früh auf. Zu diesen morgendlichen Ausflügen wurden schon Abends zuvor die Vorkehrungen getroffen. Er schlug sie vor und sie nahm das Anerbieten mit Freuden an. Sie verfuhren dabei so heimlich, als handle es sich um eine Verschwörung, und brachen, noch ehe der Tag angefangen hatte, auf. Dergleichen unschuldige Absonderlichkeiten haben einen eignen Reiz für die Jugend.

Jean Valjean hatte, wie wir schon öfter gesagt haben, eine große Vorliebe für wenig besuchte Orte, für Gegenden, die kein Mensch kannte. So suchte er auch besonders gern gewisse armselige Felder in der Umgegend von Paris auf, auf denen im Sommer dürftiges Getreide wuchs und die im Herbst nach der Ernte wie abgerupft aussahen. Auch Cosette langweilte sich hier nicht. Fand er hier die gesuchte Einsamkeit, so erfreute sie sich hier der Freiheit der Kinderjahre. Sie konnte umhertollen und sogar spielen, den Hut abnehmen und Blumen pflücken. Sie sah sich die Schmetterlinge an, die auf den Blumen saßen, fing sie aber nicht. Mit der Liebe zugleich zieht auch Sanftmuth und Weichherzigkeit in das Gemüth ein, und ein junges Mädchen, das ein gebrechliches Liebesglück im Herzen trägt, erbarmt sich auch des zarten Schmetterlings. Sie flocht auch Kränze aus Klatschrosen, deren Blätter, von dem Licht der Sonne durchfluthet, ihr hübsches Gesicht mit einer Purpurglorie umgaben.

Selbst nachdem der Kummer bei ihnen eingezogen war, hatten sie die Gewohnheit früh aufzustehen und spazieren zu gehen, beibehalten.

Eines Morgens also, im Oktober 1831, wo der Herbst besonders milde auftrat, waren sie auch ausgegangen und befanden sich in der Nähe der Barrière du Maine. Der Morgen graute erst, und die Sonne war noch nicht zu sehen, eine Tageszeit, wo die Natur dem Menschen ein entzückendes und großartiges Schauspiel bietet. Einige Gestirne am mattblauen Firmament, die Erde ganz schwarz, am Himmel weiße Wolken, Gräser und Sträucher vom Winde geschüttelt, überall der ahnungsvolle Schauer der Dämmerung. Eine Lerche, die so hoch wie die Sterne zu schweben schien, ließ ihr fröhliches Lied erschallen und es war als verbreite dieser Hymnus der Kleinheit an die Unendlichkeit süßen Frieden über die Natur. Im Osten hob sich das Hospital Val-de-Grâce stahlfarben vom hellen Horizont ab; hinter der Kuppel stieg die Venus empor und sah wie eine Seele aus, die aus einem finstern Gebäude entweicht.

Ueberall Friede und Stille; Niemand auf der Chaussee; unten einige wenige Arbeiter, die sich an ihr Tagewerk begaben.

Jean Valjean saß in der Seitenallee auf einem Haufen Balken, der vor einem Zimmerplatz lag, das Gesicht der Landstraße und den Rücken dem Tageslicht zugewendet. Er vergaß die Sonne, die eben aufgehen wollte, denn alle seine Gedanken waren auf einen Punkt gerichtet, auf das Glück, das ihm an Cosettens Seite noch beschieden sein könnte. So tief war er in diese Träumerei versunken, daß Zeit dazu gehört hätte, ehe er wieder auf die Erde zurückkommen konnte. Bei diesen Gedanken fühlte er sich beruhigt und beinah glücklich. Cosette, die neben ihm stand, betrachtete die Wolken, die sich allmählich rosig färbten.

Plötzlich rief sie: »Vater, sieht das nicht so aus, als wenn dahinten Leute kämen?«

Jean Valjean hob die Augen auf und sah, daß Cosette Recht hatte.

Die Chaussee, die nach der ehemaligen Barrière du Maine führt, ist bekanntlich eine Verlängerung der Rue de Sèvres und schneidet sich rechtwinklig mit dem innern Boulevard. An der Stelle, wo die Chaussee und der Boulevard sich kreuzen, wurde ein für die frühe Tageszeit ungewöhnliches Geräusch lautbar und eine unförmige Masse bog aus dem Boulevard in die Chaussee ein.

Das Ding wurde größer und schien eine regelmäßige Bewegung zu haben; an manchen Stellen ragte etwas hervor, das hin und her schwankte; es sah wie ein Wagen aus, aber man konnte nicht erkennen, womit er beladen war. Man erkannte Pferde und Räder, hörte Menschenstimmen und Peitschengeknall. Nach und nach treten die Umrisse deutlicher hervor, trotz des Halbdunkels, das sie umgab. Es war in der That ein Wagen; er kam auf das Thor zu, in dessen Nähe Jean Valjean saß; dem ersten Wagen folgten andere, bis es im Ganzen ihrer sieben waren, die sich dicht hinter einander fortbewegten. Auf diesen Fuhrwerken schwankten Silhouetten, man sah funkelnde Gegenstände, vielleicht blanke Säbel, und hörte ein Geklirr und Gerassel, das von Ketten zu kommen schien.

In dem Maße, wie der Zug herankam, zeichneten sich die Einzelheiten des schaurigen Bildes mit größerer Deutlichkeit ab; die aufgehende Sonne erhellte mit fahlem Schein das Gewimmel, die Silhouettenköpfe wurden zu leichenfarbnen Gesichtern und schließlich erkannte man Folgendes:

Von den sieben Wagen waren die sechs ersten sonderbar gebaut. Sie glichen den Rollwagen, die bei den Böttchern in Gebrauch sind: Zwei lange auf Rädern ruhende Leitern, deren vorderes Ende je eine Gabeldeichsel abgab, und die von je vier hintereinander gespannten Pferden gezogen wurden. Auf diesen Leitern sah oder errieth man vielmehr seltsame Gruppen von Menschen. Je Vierundzwanzig saßen auf einem Fuhrwerk. Zwölf auf jeder Seite, mit dem Rücken nach innen und dem Gesicht nach außen, die Beine heraushängend; hinter dem Rücken hatten sie etwas Rasselndes, eine Kette, und um den Hals etwas Glänzendes, ein viereckiges Halseisen. An die Kette waren sie Alle festgeschmiedet, und wenn sie von dem Wagen herabsteigen sollten, so mußten sie alle beisammen bleiben und sich zugleich bewegen, so daß eine solche Gruppe einem Tausendfuß ähnelte. Vorn und hinten auf jedem Wagen standen zwei mit Gewehren bewaffnete Leute, die mit einem Fuß je ein Ende der Kette niederhielten. Das siebente Fuhrwerk, ein ungeheurer Packwagen, aber ohne Verdeck, hatte vier Räder und sechs Pferde. Er war beladen mit Kesseln, gußeisernen Töpfen, Kohlenbecken und Ketten und einigen gefesselten Menschen, die lang ausgestreckt da lagen und krank zu sein schienen.

Diese Wagen fuhren in der Mitte des Dammes. Auf beiden Seiten marschirten in doppeltem Spalier die Wächter, unglaublich gemein aussehende Kerle, mit Dreimastern, wie die Soldaten sie zur Zeit des Direktoriums trugen, in schmutzigen, abgerissenen Invalidenuniformen, graublauen Hosen, und mit rothen Epauletten, gelben Wehrgehenken, Infanteriesäbeln, Gewehren und Stöcken; halb Bettler und halb Henker, halb Gesindel und halb Soldaten. Derjenige, der ihr Anführer zu sein schien, hielt eine Postpeitsche in der Hand. Vorn und hinten ritten Gendarmen, ernsten Angesichts, mit dem Säbel in der Faust.

Der Zug war so lang, daß, als der erste Wagen das Thor erreichte, der letzte kaum aus dem Boulevard herausfuhr.

Eine Menge Menschen, die im Nu überallher herbeigelaufen waren, stand dicht gedrängt zu beiden Seiten der Chaussee und sah zu. Sie wuchs mit jedem Augenblick und man hörte Leute, die sich gegenseitig in den angrenzenden Straßen riefen, und Geklapper von Holzpantinen.

Die Insassen der Wagen verhielten sich still. Sie sahen leichenblaß aus in Folge der Morgenkälte. Alle trugen Leinwandhosen und Holzschuhe an ihren bloßen Füßen. Die übrigen Kleidungsstücke waren so gräulig, buntscheckig, wie nur die Phantasie des Elends es ausdenken kann. Zerlöcherte Filzhüte, getheerte Kappen, häßliche, wollene Mützen; zerlumpte Arbeiterjacken und schwarze Röcke. Mehrere hatten Frauenhüte, andre Körbe auf dem Kopf. Von Manchen sah man ihre zottige Brust; bei Andern durch die Löcher der Aermel tätowirte Zeichnungen von Liebestempeln, flammenden Herzen, Liebesgöttern. Man erblickte auch Flechten und rothe Geschwülste. Einige stützten ihre Füße auf Strohstricke, die an den Leitersprossen befestigt waren. Einer von ihnen hielt etwas, das wie ein schwarzer Stein aussah, in der Hand und biß von Zeit zu Zeit hinein; es war ein Stück Brod. Man sah da nur trockne, erloschne oder bösartig flammende Augen. Die Eskorte schimpfte; von Zeit zu Zeit hörte man den dumpfen Schall von Stockschlägen; hinter dem Zuge liefen Kinder und lachten.

Der Anblick dieses Schauspiels war grauenerregend. Es konnte am nächsten Tage, in einer Stunde regnen und dann wieder regnen. Waren dann die Unglücklichen bis auf die Haut durchnäßt, so wurden sie sobald nicht wieder trocken. Waren sie einmal durchgefroren, so wurden sie sobald nicht wieder warm. Mochten sie begangen haben, was sie wollten, man schauderte bei dem Gedanken, daß menschliche Wesen gebunden und hülflos allen Unbillen der Witterung wie Klötze und Steine preisgegeben waren.

Die Stockschläge blieben nicht einmal den Kranken erspart, die mit Stricken gefesselt und regungslos auf dem siebenten Fuhrwerk lagen.

Plötzlich brach die Sonne durch das Gewölk und goß einen Feuerschein über all die wilden Gesichter aus. Die Zungen geriethen in Bewegung und ließen eine Fluth von frechen Hohnreden, Flüchen, unflätigen Liedern los. Es war schrecklich anzusehen, wie die bösen Gedanken sich plötzlich in den Mienen dieser Menschen abspiegelten, wie sozusagen diese Teufel die Masken abnahmen und ihr Innres bloß legten. Einige unter ihnen, die Spaßvögel, hatten Federposen, in die sie hineinbliesen und den Zuschauern, besonders den Frauen, Ungeziefer zuschleuderten. Die Insassen des ersten Wagens brüllten mit wilder Lustigkeit ein damals beliebtes Potpourri von Désaugiers, »die Vestalin,« und in den Seitenalleen hörten behäbige Bürger den von den Elendsgestalten gesungnen Zoten mit dummem Behagen zu.

Alle Arten des Grausenhaften fanden sich hier, wie ein Chaos beisammen, allerhand bestialische Gesichtswinkel, Greise, Jünglinge, kahle Schädel, graue Bärte, widerwärtige Frechheit, verbissene Resignation, Raubthierschnauzen, Schweinemäuler mit Mützen darüber, mädchenhafte Köpfe, mit Pfropfenzieherlocken, kindliche und gerade deshalb unholde Gesichter, magere Skeletfratzen, denen nur der Tod fehlte. Auf dem ersten Wagen sah man einen Neger, der vielleicht Sklave gewesen war und die Ketten vergleichen konnte. Die Schande, die große Gleichmacherin, hatte Alle auf dasselbe Niveau herabgedrückt; sie standen jetzt geistig und sittlich Einer so tief wie der Andere, der stumpfsinnig gewordene Unwissende, wie der in Verzweiflung verfallene Gescheidte. Kein Unterschied mehr zwischen diesen Menschen, die sich den Blicken als die Elite des Koths darboten. Offenbar hatte der Anordner dieser Procession die Elenden nicht klassificirt. Sie waren kunterbunt durcheinander, in alphabetischer Unordnung gepaart, gebunden und verladen worden. Da aber jede Addition von Scheußlichkeiten eine Summe ergiebt, so hatte jede Kette sozusagen eine Seele, jede Wagenladung einen einheitlichen Charakter. Auf dem einen Wagen wurde gesungen, auf einem andern gebrüllt, die dritte Fracht bettelte; dann sah man eine, die mit den Zähnen knirschte; wieder eine andre stieß Drohungen gegen die Zuschauer aus; noch eine andre lästerte; die letzte verhielt sich still, wie das Grab. Ein Dante wäre wohl versucht gewesen zu glauben, er sehe sieben wandelnde Höllenkreise.

Mit dem großen Unterschied freilich, daß dieser Zug ganz und gar des Großartigen entbehrte. Diese Verdammten fuhren nicht auf dem von Blitzen umzuckten Wagen der Apokalypse, sondern auf Schinderkarren nach dem Orte der Pein.

Einer der Wärter stellte sich, wenn er die Gefangnen mit seinem Hakenstock in die Rippen stieß, ganz so an wie Einer, der im Koth wühlt. Eine alte Frau, die zuschaute, zeigte die Unglücklichen einem fünfjährigen Knaben und sagte: »Nimm Dir ein Beispiel daran, Du Thunichtgut.«

Als das Singen und Schimpfen zu laut wurde, knallte der die Eskorte zu kommandiren schien, mit der Peitsche und bei diesem Signal prasselte ein schrecklicher Hagel von Stockschlägen auf die Insassen sämtlicher sieben Wogen nieder. Viele brüllten und schäumten vor Wuth, zur größten Freude der Straßenjungen, die zahlreich wie Aasfliegen den Zug umschwärmten.

Jean Valjean starrte mit unbeschreiblichem Grausen das entsetzliche Schauspiel an. Seine Augen hatten nichts Menschliches mehr; sie glichen, wie bei gewissen Kranken, glasigen Massen, die das Bild der Außenwelt nicht aufzunehmen, und nur Angst und Entsetzen wiederzuspiegeln vermögen. Was er vor sich sah, war für ihn ein Schreckgespenst, nicht eine Wirklichkeit. Er wollte aufstehen um zu fliehen und konnte doch keinen Fuß bewegen. Wie versteinert und festgenagelt fragte er sich in seiner namenlosen Angst, was diese grausige Verfolgung heißen solle, wo dieses Pandämonium herkomme. Da schlug er plötzlich mit der Hand auf seine Stirn: Er erinnerte sich nämlich, daß dergleichen Transporte ganz gewöhnlich diesen Umweg machten, um nicht dem König auf dem Wege nach Fontainebleau zu begegnen, und daß er selber vor fünfunddreißig Jahren durch dasselbe Thor gefahren war.

Cosette empfand einen andern, aber nicht großen Schrecken. Sie wußte nicht, was sie da sah, hielt es nicht für möglich. Endlich als sie wieder zu Athem kam, rief sie:

»Vater, was sind denn das für Leute?«

»Sträflinge.«

»Wo geht ihre Reise hin?«

»Nach dem Zuchthaus, den Galeeren.«

In demselben Augenblick schlugen gerade die Hüter der Ordnung sämtlich mit rasendem Pflichteifer auf die unglücklichen Sträflinge los. Diese duckten sich und boten dem Beschauer das denkbar widerwärtigste Bild scheuen Sklavengehorsams; sie schwiegen und blickten um sich, wie angekettete Wölfe. Bei diesem Anblick zitterte Cosette an allen Gliedern und fragte:

»Vater, ob das wohl noch Menschen sind?«

»Manchmal!« stöhnte der Bejammernswerte.

Es war in der That ein Trupp Galeerensklaven, der vor Tagesanbruch aus dem Gefängniß Bicêtre aufgebrochen war und den Weg über Le Mans einschlug, um Fontainebleau, wo sich damals der König aufhielt, zu vermeiden. Durch diesen Umweg wurde die schreckliche Reise um drei bis vier Tage verlängert, aber was kam es darauf an, wenn nur Sr. Majestät der Anblick solcher Scheußlichkeiten erspart blieb!

Wie vernichtet wandte Jean Valjean sich heimwärts. Hatte doch diese Begegnung eine furchtbare Erschütterung in ihm hervorgerufen!

Indessen bemerkte er nicht, während er mit Cosette nach der Rue de Babylone zurückkehrte, daß sie über das Gesehene andere Fragen an ihn richtete; vielleicht waren seine Gedanken durch diese Schrecknisse zu sehr in Anspruch genommen, als daß er ihre Worte hätte wahrnehmen und beantworten können. Am Abend aber, als Cosette kam, ihm eine gute Nacht zu wünschen, hörte er, wie sie halblaut und vor sich hin redete: »Wenn ich einem solchen Menschen begegnete, Herr des Himmels, ich glaube, ich hätte den Tod davon!«

Glücklicher Weise traf es sich, daß am nächsten Tage gelegentlich irgend einer offiziellen Feier in Paris Feste und Bälle veranstaltet, auf dem Champ de Mars eine Parade abgehalten, auf der Seine Schifferstechen angestellt, auf den Champs-Elysées Theater gespielt, auf der Place de l' Etoile ein Feuerwerk abgebrannt und überall illuminirt wurde. Zu diesen Vergnügungen führte Jean Valjean, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, Cosette, um die Erinnerungen an das gräßliche Schauspiel, dem sie Tags zuvor beigewohnt hatte, auszulöschen. Wegen der Parade schien es ihm auch natürlich und passend, daß er seine Nationalgardistenuniform anlegte, wobei er denn freilich das Gefühl hatte, es sei ein vortreffliches Mittel sich unkenntlich zu machen, sich vor Verfolgern zu schützen. Zunächst schien es auch, als habe er seinen Zweck erreicht. Cosette, die grundsätzlich ihrem Vater alles zu Gefallen that und für die jedes Schauspiel etwas Neues war, ging auf den Vorschlag mit der Bereitwilligkeit der Jugend, ohne sich lange zu besinnen und Bedenken zu erheben, ein und rümpfte nicht allzusehr das Näschen vor den bescheidnen Freuden, die Volksfeste bieten. Jean Valjean konnte also sehr wohl glauben, sein Versuch sei gelungen, und die Erinnerung an das scheußliche Schauspiel sei vollständig verwischt.

Einige Tage darauf befanden sie sich eines Morgens, als sehr schönes Wetter war, auf der Freitreppe des Gartens, also wieder eine Abweichung von ihren Gewohnheiten, denn Jean Valjean hielt sich lieber im Hintergebäude auf und Cosette, seitdem sie Liebeskummer hatte, in ihrem Zimmer. Das junge Mädchen im Négligé, das der Jugend so reizend steht, wie einem strahlenden Gestirn zartes Gewölk, stand da von der Sonne beschienen, rosig von einer gut durchschlafnen Nacht, und entblätterte ein Maßliebchen. Sie kannte nicht die hübsche Formel: Ich liebe Dich ein wenig, innig, leidenschaftlich u. s. w. Denn von wem hätte sie dergleichen lernen können? Sie mißhandelte die Blume instinktiv, in aller Unschuld und hatte keine Ahnung, daß Maßliebchen zerpflücken eine Herzensprüfung ist. Gäbe es eine vierte Grazie mit dem Namen »die lächelnde Melancholie,« sie hätte an Lieblichkeit Cosette nicht übertroffen. Jean Valjean sah ihrem Spiel zärtlich zu und hatte seine Freude an den anmuthigen Bewegungen ihrer Fingerchen. In einem nahen Gebüsch zwitscherte ein Rothkehlchen. Am Himmel zog leichtes Gewölk fröhlich dahin, als sei es so eben in Freiheit gesetzt worden. Cosette spielte mit ernsthaftem Gesicht; offenbar dachte sie aufmerksam an irgend etwas, wahrscheinlich Liebliches. Da wandte sie plötzlich mit einer delikaten Schwanenbewegung den Hals seitwärts zu Jean Valjean hin und fragte: »Väterchen, was ist denn das, die Galeeren?«


 << zurück weiter >>