Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Fünftes Buch. Schlechter Anfang, gutes Ende

I.
Die Kaserne neben der Einöde

So tief auch vor vier bis fünf Monaten der Kummer Cosette in die Seele geschnitten hatte, sie fing jetzt an zu genesen, ohne es selber zu merken. Die Natur, der Frühling, die Jugend, die Liebe zu ihrem Vater, der fröhliche Gesang der Vögel, die Farbenpracht der Blumen träufelten allmählich, Tag aus Tag ein, in ihre junge Seele etwas, das der Vergessenheit ähnlich sah. Erlosch das Feuer ganz? Oder glomm es unter der Asche weiter? So viel ist gewiß, daß sie fast keinen stechenden Schmerz mehr fühlte.

Eines Tages dachte sie plötzlich an Marius. »Ich vergesse ihn ja ganz!« sagte sie in ihrem Innern.

In derselben Woche sah sie einen sehr hübschen Kavallerieoffizier vor dem Garten vorübergehen. Eine Wespentaille, eine kleidsame Uniform, rosige Backen, den Säbel unter dem Arm, ein keck emporgedrehter Schnurrbart, eine lackirte Tschapka. Wie gesagt, ein Ideal von Lieutenant. Ferner blonde Haare, hervorstehende blaue Augen, ein rundes, eitles, unverschämtes und hübsches Gesicht; also gerade das Gegentheil von Marius. Auch mit einer Cigarre im Munde. – Cosette vermuthete, daß der Offizier zu dem in der Rue de Babylone kasernirten Lanzenreiterregiment gehörte.

Am folgenden Tage sah sie ihn wieder vorbeikommen und merkte sich, wieviel Uhr es war.

Von diesem Tage an kam der Offizier – ob zufälligerweise? – jeden Tag vor dem Pavillon vorbei.

Bald bemerkten auch seine Kameraden, daß in dem »schlecht gepflegten« Garten, hinter dem häßlichen Rococogitter ein recht hübsches Mädel wohnte und sich fast immer im Garten aufhielt, wenn der unsern Lesern wohlbekannte hübsche Lieutenant Théodule Gillenormand vorüberging.

»Sag' mal, hast Du Dir schon die Kleine angeguckt, die Dich immer so verliebt ansieht?«

»Hab' ich denn die Zeit dazu, alle die Mädel zu beachten, die mir nachsehen?« erwiderte der Lieutenant.

Es geschah dies gerade in der Zeit, wo Marius' Lebenslicht schwächer brannte und er sich danach sehnte, sie nur noch einmal vor seinem Tode sehen zu können. Wäre ihm dieser Wunsch erfüllt worden, hätte er gesehen, daß seine Cosette einen Lieutenant ihrer Beachtung wert hielt, er hätte kein Wort mehr hervorbringen können und wäre auf der Stelle entseelt zusammengebrochen.

Wessen Schuld war das? Niemandes.

Marius war einer von den Charaktern, die sich in ihren Kummer immer tiefer hineinwühlen und darin verharren; Cosette gehörte zu denen, die sich hineinstürzen und sich wieder herausarbeiten.

Cosette befand sich auch gerade in einer gefährlichen Gemütsverfassung, wo das Lebensglück sich selbst überlassener junger Mädchen der Laune des Zufalls überantwortet ist. Sie treffen dann eine folgenschwere Entscheidung genau in derselben Weise wie die Weinranken sich um das Kapitäl einer Palast- oder einer Spelunkensäule schlingen, nämlich aufs Gerathewohl. Dieser Gefahr ist jede Waise ausgesetzt, ob sie arm oder reich ist; denn der Reichthum schützt sie nicht davor, daß sie eine schlechte Wahl trifft, einen Liebesbund mit einem Manne eingeht, der ihrer nicht wert ist. Eine Mißheirat kann man aber auch mit einem sehr vornehmen Manne schließen, denn eine wahre Mißheirat besteht darin, daß die Seelen nicht zusammenklingen, und wie manch ein unberühmter, junger Mann niedriger Herkunft und ohne Vermögen eine schöne Marmorsäule ist, die einen Tempel voll edler Gefühle und stolzer Gedanken trägt, so ist mancher selbstzufriedene und reiche Weltmann mit blanken Stiefeln und glatten Worten, wenn man nicht auf sein Aeußeres sieht, sondern auf sein Inneres, also das, was er seiner Frau vorbehält, nichts Anderes als ein unedler Balken, der nur für eine gemeine Spelunke, den Tummelplatz der niedrigsten Leidenschaften paßt.

Was barg damals Cosette's Seele? Eine abgeschwächte oder eingeschlafene Liebe; ein Meer, das oben klar and hell, in der Mitte trübe, in der Tiefe ganz dunkel war. Das Bild des hübschen Lieutenants spiegelte sich nur an der Oberfläche wieder. Ob unten noch eine Erinnerung weilte? Vielleicht! Aber das wußte Cosette selber nicht.

Da ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall.

II.
In tausend Ängsten

In der ersten Hälfte des Monats April verreiste Jean Valjean. Dies pflegte er, wie dem Leser erinnerlich sein wird, von Zeit zu Zeit in längeren Zwischenräumen zu thun. Er blieb dann einen, höchstens zwei Tage weg. Wo er dann hinging, wußte Niemand, auch Cosette nicht. Nur einmal hatte sie ihn bei der Abreise in einer Droschke bis zu einer Sackgasse begleitet, wo sie auf dem Straßenschild: »Impasse de la Planchette« gelesen hatte. Auf diese kurzen Reisen begab sich Jean Valjean gewöhnlich, wenn das Geld zu Hause ausging.

Jean Valjean war also verreist. »In drei Tagen bin ich wieder hier!« hatte er gesagt.

Am Abend befand sich Cosette allein im Salon. Um sich die Langeweile zu vertreiben, machte sie ihr Harmonium auf und sang, indem sie sich dazu begleitete, den Chor der Euryanthe, das Schönste vielleicht, das je in der Musik geschaffen worden ist. Als sie damit zu Ende gekommen war, blieb sie in Gedanken verloren sitzen.

Plötzlich war ihr, als höre sie Jemand im Garten gehen.

Ihr Vater konnte es nicht sein, denn der war verreist. Die Toussaint, die im Bett lag, auch nicht. Es war zehn Uhr Abends.

Sie trat an den geschlossenen Fensterladen des Salons und legte das Ohr daran.

Jetzt kam es ihr vor, als wenn sie unten den leisen Schritt eines Mannes hörte.

Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und blickte durch ein Guckfenster, das in dem einen Fensterladen angebracht war, in den Garten. Trotzdem es aber Vollmond war und so hell wie am Tage, konnte sie Niemanden sehen.

Sie machte jetzt das Fenster auf. Unten lag der Garten und was man von der Straße sehen konnte, so ruhig da wie immer.

Cosette sagte sich, sie habe sich geirrt, es liege eine Sinnestäuschung vor, hervorgebracht durch Webers schaurigen und wunderbaren Chor, bei dessen Klängen der Geist haltlos in unermeßliche Tiefen stürzt, das innere Auge einen dämmrigen Zauberwald vor sich wogen sieht und das Ohr dürre Zweige unter den Füßen der Jäger knacken zu hören glaubt.

Sie schlug sich also die Sache aus dem Sinn.

Uebrigens war auch Cosette von Natur nicht sehr schreckhaft. Hatte sie doch von ihrer Mutter manchen zigeunerhaften Charakterzug geerbt und ähnelte mehr der Lerche als der Taube. Sie war dreist und muthig.

Am nächsten Tage ging sie bei Einbruch der Nacht im Garten spazieren. Auch dies Mal glaubte sie, während sie, von verworrenen Gedanken umsponnen, langsam dahinwandelte, ein ähnliches Geräusch wie Tags zuvor zu hören; aber sie beruhigte sich bei der Erwägung, daß zwei Aeste, die sich bewegen und sich aneinander reiben, so ziemlich denselben Eindruck auf das Gehör machen, wie Schritte eines Menschen im Grase; sie achtete also nicht besonders darauf und sah auch nichts Verdächtiges.

Endlich ging sie aus dem Gestrüpp heraus und wollte, um nach der Freitreppe zu gelangen, einen kleinen Rasenplatz überschreiten. Der Mond, der eben hinter ihr aufgegangen war, warf in diesem Augenblick ihren Schatten gerade vor sie hin.

Plötzlich blieb sie starr vor Schrecken stehen.

Neben ihrem Schatten sah sie auf dem Rasen noch einen zweiten, schrecklichen und unheimlichen, den Schatten eines Mannes mit einem runden Hute, der wohl an dem Saum des Gebüsches, einige Schritte hinter Cosette stand.

Eine Minute lang hatte sie nicht die Kraft, zu sprechen, zu schreien, zu rufen, sich zu rühren, den Kopf zu bewegen.

Endlich raffte sie allen ihren Muth zusammen und drehte sich entschlossen um.

Kein Mensch war hinter ihr zu sehen.

Sie sah auf die Erde. Der Schatten war verschwunden.

Sie eilte kühn in das Gestrüpp zurück, suchte überall, ging bis ans Gitter vor und fand nichts.

Trotzdem konnte sie den Schreck nicht gleich verwinden. War es denn möglich, daß sie sich wieder geirrt hatte? Zwei Tage hintereinander? Eine Sinnestäuschung, nun ja! Aber zwei? Besonders ängstigte es sie, daß der Schatten ganz gewiß kein Phantom war. Phantome tragen keine runden Hüte.

Den nächsten Tag kam Jean Valjean von der Reise zurück. Cosette erzählte ihm, was sie gesehen und gehört hatte. Sie erwartete, daß ihr Vater sie beruhigen, die Achseln zucken und sie eine Thörin schelten würde.

Statt dessen zeigte er aber eine sorgenvolle Miene, sagte jedoch:

»Es steckt gewiß nichts Besonderes dahinter.«

Gleich darauf aber schützte er etwas vor, um sich in den Garten zu begeben, und Cosette beobachtete ihn, wie er sich das Gitter sehr genau ansah.

In der Nacht erwachte sie plötzlich. Dieses Mal war sie ihrer Sache vollkommen sicher, sie hörte Schritte in der Nähe der Freitreppe, unter ihrem Fenster. Da sprang sie aus dem Bette und öffnete das Klappfenster. Im Garten stand in der That ein Mann mit einem dicken Knüttel in der Hand. Eben wollte sie schreien, als der Mond sein Licht auf das Profil des Mannes warf. Es war ihr Vater.

»Er muß doch Angst haben!« dachte sie, während sie sich wieder ins Bett legte.

Auch in den beiden folgenden Nächten sah sie durch den Fensterladen Jean Valjean im Garten Wache stehen.

In der dritten Nacht – der Mond nahm ab und begann später aufzugehen – hörte sie gegen ein Uhr Morgens ihren Vater unten laut lachen und sie rufen:

»Cosette!«

Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an und machte ihr Fenster auf.

Ihr Vater stand unten auf dem Rasenplatz.

»Ich wecke Dich, um Dich zu beruhigen. Sieh her. Da ist der Schatten mit dem runden Hut.«

Und er zeigte ihr auf dem Rasen einen Schatten, der allerdings dem eines Mannen mit einem runden Hut ähnlich war. Er kam von dem Schornstein eines benachbarten Hauses, der mit einer runden Haube bedeckt war.

Cosette lachte jetzt auch, ihre Angst vor dem nächtlichen Graus verschwand, und am nächsten Tage scherzte sie bei Tische mit ihrem Vater über den gruseligen Schornstein.

Jean Valjean sah wieder vollkommen beruhigt aus; was Cosette anbetrifft, so achtete sie nicht besonders darauf, ob der Schornstein auch wirklich in der Richtung des Schattens lag, den sie gesehen oder zu sehen geglaubt hatte, und ob der Mond auch an derselben Stelle stand. Auch dachte sie nicht weiter über den eigenartigen Schornstein nach, der sich nicht von ihr ertappen lassen wollte und vor ihr zurückgewichen war, als sie seinen Schatten erblickte; denn verschwunden war der Schatten gerade, als Cosette sich umdrehte. Sie gewann also ihre alte Gemüthsruhe wieder, ließ Jean Valjean's Erklärung gelten und vergaß, daß es Jemand geben könne, der des Abends und des Nachts im Garten herumginge.

Einige Tage darauf ereignete sich jedoch ein neuer Zwischenfall.

III.
Noch mehr Angst

Nahe dem Gartengitter stand eine steinerne Bank, die gegen die Straße hin durch eine Hagebuchenhecke neugierigen Blicken entzogen war, die aber ein Vorübergehender durch die Hecke hindurch mit der Hand erreichen konnte.

An einem Abend desselben Aprilmonats nun war Jean Valjean ausgegangen und Cosette hatte sich nach Sonnenuntergang auf diese Bank gesetzt. Ein kühler Wind fuhr durch die Bäume, das junge Mädchen war nachdenklich; allmählich überkam sie eine Schwermuth, über deren Ursache sie sich keine Rechenschaft hätte geben können, jene unwiderstehliche Traurigkeit, die der Abend in seinem Gefolge mit sich führt und vielleicht mit dem Mysterium des dann offnen Grabes zusammenhängt.

Wer weiß, ob nicht der Geist ihrer Mutter sie umschwebte?

Cosette stand nach einer Weile auf, ging langsam im Garten herum und bemerkte trotz der melancholischen Träumerei, die ihren Geist im Banne hielt, daß die Pflanzen vom Abendthau benetzt waren. »Man müßte sich wirklich,« dachte sie, »Holzschuhe anziehen, wenn man des Abends im Garten spazieren gehen will. Sonst erkältet man sich.«

Dann kehrte sie zur Bank zurück.

In dem Augenblick, wo sie sich hinsetzen wollte, bemerkte sie an der Stelle, wo sie vorhin gesessen, einen Stein, der ganz gewiß kurz zuvor nicht dagelegen hatte.

Cosette betrachtete ihn und fragte sich, was das heißen sollte. Plötzlich stieg der Gedanke in ihr auf, daß der Stein nicht von selber auf die Bank gekommen sein könne, daß Jemand ihn hingelegt, den Arm durch das Gitter gesteckt habe. Da erschrak sie heftig, lief davon, ohne sich umzusehen, flüchtete sich in das Haus und verschloß, verriegelte, verrammelte die Glasthür der Freitreppe.

»Ist mein Vater nach Hause gekommen?« fragte sie dann die Toussaint.

»Noch nicht, Fräulein.«

Wir haben schon angegeben, daß die Toussaint stotterte; es widerstrebt uns aber, da es sich um ein körperliches Gebrechen handelt, mit der Bezeichnung ihrer Aussprache fortzufahren.

Jean Valjean kehrte in Folge seiner Gewohnheit des Nachts spazieren zu gehen und viel nachzudenken, sehr oft erst spät nach Hause zurück.

»Toussaint,« fuhr Cosette fort, »Sie haben doch am Abend die Fensterläden gut zugemacht und die Stangen vorgelegt und sie in den Ringen gut befestigt?«

»O seien Sie unbesorgt, Fräulein!«

Die Toussaint unterließ diese Vorsichtsmaßregeln nie und Cosette wußte das recht gut, aber sie konnte nicht umhin noch hinzuzufügen:

»Es ist hier so schrecklich einsam!«

»Ja, das ist wahr. Man kann hier ermordet werden, ehe man die Zeit findet Au! zu sagen. Wenn der Herr wenigstens noch zu Hause bliebe. Aber fürchten Sie nichts, Fräulein. Eine Festung kann nicht besser verrammelt sein, als ich unser Haus verschließe und verrammle. Zwei Frauen, die ganz allein sind! Da muß man ja Angst kriegen. Wenn man sich das vorstellt, daß man mit einem Mal in der Nacht einen Kerl vor sich sieht, und er sagt: ›Schweig still!‹ und schneidet Einem den Hals ab. Der Tod selber ist es ja nicht, wovor man sich fürchtet. Man weiß ja, daß man sterben muß, und denkt: ›Na, ist gut.‹ Aber das ist doch ein gräulicher Gedanke, daß Einen solch ein Kerl anfassen wird. Und die Messer, die solche Leute haben, sind gewiß nicht hübsch scharf. Gott, erbarme Dich!«

»Schweigen Sie und sehen Sie nach, ob alles fest zugemacht ist.«

Entsetzt über das Schauerdrama, das die Toussaint entworfen hatte, und vielleicht auch der unheimlichen Erscheinungen im Garten eingedenk, wagte Cosette nicht einmal zu ihr zu sagen: »Gehen Sie doch mal nach der Bank und sehen Sie Sich den Stein an, den Einer da hingelegt hat.« Sie fürchtete nämlich, wenn die Magd die Thür aufmachen würde, um sich in den Garten zu begeben, könnte unterdessen ein »Kerl« hereinkommen. Sie ließ also bloß alle Thüren und Fenster aufs sorgfältigste verschließen, das ganze Haus von oben bis unten nach »Kerlen« durchsuchen, schloß sich dann in ihrem Zimmer ein, verriegelte die Thür, sah unter das Bett, begab sich zur Ruhe und schlief sehr unruhig. Die ganze Nacht träumte sie von einem Stein, der so groß wie ein Berg und voller Höhlen war.

Als die Sonne aufging – bekanntlich verscheucht das Tageslicht alle nächtlichen Schrecknisse und man lacht dann über sich selbst um so mehr, je mehr man sich geängstigt hat – bei Sonnenaufgang erwachte Cosette und redete sich ein, das Ganze sei nur ein böser Traum, ein Erzeugnis ihrer Furchtsamkeit gewesen. »Wie bin ich bloß dazu gekommen, daß ich mir so etwas eingebildet habe? Es ist dieselbe Geschichte, wie die Schritte, die ich vorige Woche im Garten zu hören glaubte, wie der Schatten des Schornsteins. Werde ich denn wieder graulig werden, wie ein kleines Kind?«

Sie kleidete sich an, stieg in den Garten hinab, eilte auf die Bank zu und – kalter Angstschweiß trat ihr vor die Stirn. Der Stein lag doch da!

Aber die Aufregung dauerte nicht lange. Die Furcht verwandelte sich rasch in Neugierde.

»Ach was! Ich kann ihn mir doch ansehn.«

Sie hob den Stein, der ziemlich groß war, auf. Es lag etwas darunter, das wie ein Brief aussah.

Es war ein Umschlag aus weißem Papier. Auf der einen Seite keine Adresse, auf der andern kein Siegel. Aber das Couvert war nicht leer.

Mit fieberhafter Eile riß Cosette ein kleines Heft heraus, dessen Seiten numerirt und beschrieben waren. Die Handschrift gefiel Cosette und schien ihr sehr fein zu sein.

Name und Unterschrift fehlten. An wen konnte die Sendung adressirt sein? Doch nur an sie selber, da das Packet auf ihre Bank gelegt worden war. Von wem kam es? Ein unwiderstehlicher Drang überkam sie, das Heft zu lesen. Zwar sträubte sie sich noch einen Augenblick, wendete ihren Blick von der Blättern ab, die sie in ihren zitternden Händen hielt, betrachtete den Himmel, die Straße, die vom Sonnenlicht durchschimmerten Akazien, einen Schwarm Tauben, der auf ein Dach flog. Dann aber richteten sich ihre Augen wieder lebhaft auf das Manuskript und sie beschloß, daß sie wissen müßte, was darin stände.

Es lautete folgendermaßen:

IV.
Ein Herz unter einem Stein

Die Verkleinerung des Weltalls zu einem einzigen Wesen, die Erhöhung eines einzigen Wesen zum Range der Gottheit ist Liebe.

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Die Liebe ist der Gruß, den die Engel den Gestirnen darbringen.

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Wie kummervoll doch Liebeskummer macht!

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Welche Leere, wenn das Wesen fern ist, das dem Liebenden die ganze Welt ausfüllt! Ja, es ist wirklich wahr, daß das geliebte Wesen ein Gott wird. Man begreift, daß der Herrgott neidisch werden könnte, hätte nicht der Urheber aller Dinge die Welt für die Seele und die Seele für die Liebe geschaffen.

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Ein Lächeln unter einem weißen Florhut mit lila Schleier – und die Seele betritt den Palast der Träume.

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Gott steckt hinter allem, aber alles versteckt Gott. Die Dinge sind dunkel, die Geschöpfe undurchsichtig. Ein Wesen lieben heißt es durchsichtig machen.

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Gewisse Gedanken sind Gebete. Es giebt Augenblicke, wo, welches auch die Haltung des Körpers sein mag, die Seele auf den Knieen liegt.

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Liebende, die fern von einander weilen, täuschen sich über ihre Trennung mit tausenderlei Einbildungen hinweg, die doch ihre Wirklichkeit haben. Hindert man sie, sich zu begegnen, können sie sich keine Briefe schreiben, so finden sie eine Menge geheimer Mittel, um mit einander zu verkehren. Sie senden einander den Gesang der Vögel, den Duft der Blumen, das Lachen der Kinder, das Licht der Sonne, die Seufzer des Windes, die Strahlen der Sterne, die ganze Schöpfung. Warum sollten sie auch nicht? Alle Werke Gottes sind geschaffen, der Liebe dienstbar zu sein. Die Liebe ist mächtig genug, die ganze Natur mit ihren Botschaften zu beauftragen.

Frühling! Du bist ein Brief, den ich an sie schreibe.

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Die Zukunft gehört noch weit mehr dem Herzen, als dem Verstande. Die Liebe ist das Einzige, das die Ewigkeit zu beschäftigen und auszufüllen vermag. Zum Unendlichen gehört das Unerschöpfliche.

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Die Liebe gleicht in ihrem Wesen der Seele. Sie ist von gleicher Beschaffenheit, ein göttlicher Funke, unverderblich, untheilbar, unvergänglich. Ein Feuer in uns, das unsterblich und unendlich ist, das nichts beschränken und nichts auslöschen kann. Man fühlt seine Glut im innersten Mark und sieht es bis in die Tiefen des Himmels strahlen.

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O Liebe! Welche Lust, wenn Zwei sich verstehen, ihre Herzen austauschen, ihre Blicke in einander versenken! Nicht wahr, Glück, ich lerne Dich noch kennen? Ich werde noch mit ihr lustwandeln, wo keines Menschen Ohr uns belauscht, kein Auge uns sieht? Mir hat bisweilen geträumt, daß Stunden, wie die Engel sie verleben, auch manchmal Menschen zu Theil werden.

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Gott kann das Glück Derer, die sich lieben, nur erhöhen, insofern er ihnen ein endloses Leben giebt. Nach einem Leben voller Liebe ist eine Ewigkeit voller Liebe allerdings eine Steigerung. Aber das unsagbare Glück, das die Liebe schon in dieser Welt der Seele spendet, in Bezug auf seine Stärke zu vermehren, ist unmöglich. Das vermag selbst Gott nicht. Gott ist die Erfüllung des Himmels; die Liebe die Erfüllung des Menschen.

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Du betrachtest einen Stern aus zwei Gründen, weil er licht und weil er unerforschlich ist. In Deiner Nähe weilt ein sanfteres Licht und ein unergründlicheres Geheimniß, das Weib.

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Wir hängen alle in Bezug auf unsere Lebensbedingungen von bestimmten Wesen ab. Fehlen sie uns, so fehlt uns die Luft, so ersticken wir. Aus Mangel an Liebe sterben ist schrecklich, ist die Asphyxie der Seele.

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Hat die Liebe zwei Wesen zu einer himmlischen, heiligen Einheit verbunden, so ist für sie das Räthsel des Lebens gelöst. Sie sind dann nur noch die beiden Endpunkte desselben Geschicks, die beiden Fittiche desselben Geistes. Liebet, schwebet!

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An dem Tage, wo Du einem Weibe begegnest und Du sie für eine verklärte Lichtgestalt hältst, bist Du verloren, denn Du liebst. Du hast dann nur noch eine Rettung: Denke an sie so energisch, daß sie gezwungen ist, an Dich zu denken.

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Was die Liebe beginnt, kann nur von Gott vollendet werden.

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Wahre Liebe empfindet Kummer und Freude über einen verlorenen Handschuh oder ein gefundenes Taschentuch und bedarf der Ewigkeit zu ihrer Aufopferung und Hoffnung. Sie besteht zugleich aus unendlich Großem und Kleinem.

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Unter den Mineralien ist der anziehende Magnet, unter den Pflanzen die feinfühlige Mimose, unter den Menschen der Liebende der Trefflichste.

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Nichts genügt der Liebe. Besitzt man das irdische Glück, so verlangt man nach Paradieseswonne; ist man im Paradies, so will man in den Himmel.

O ihr, die ihr liebet, alles dies ist in der Liebe enthalten. Versteht nur, es in ihr zu finden. Die Liebe hat mit dem Himmel die Betrachtung gemein und besitzt noch etwas Höheres, die Lust.

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Kommt sie noch nach dem Park? Nein. – In dieser Kirche wohnt sie der Messe an, nicht wahr? Jetzt nicht mehr. – Wohnt sie noch in diesem Hause? Sie ist verzogen. – – Wohin? Sie hat es nicht gesagt.

Welche Pein nicht die Adresse seiner Seele zu wissen!

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Die Liebe treibt Kindereien, die andern Triebe erniedrigen sich zu Kleinlichkeiten. Schande über die Leidenschaften, die den Menschen klein, Ehre denen, die ihn zum Kinde machen!

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Merkwürdig, nicht wahr? Mich umgiebt düstere Nacht. Ein Wesen, das von mir gegangen ist, hat den Himmel mitgenommen.

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O, neben einander in demselben Grabe, Hand in Hand, zu liegen, und in der Dunkelheit hin und wieder uns einen Finger liebkosend streicheln, mehr brauchte ich in der Ewigkeit nicht.

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Ihr, die ihr unglücklich seid, weil ihr liebet, liebet noch stärker. An der Liebe sterben, heißt durch sie leben.

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Liebet. Mit dieser Qual ist eine hehre Verklärung verbunden. Hohe Wonne neben schrecklicher Todespein.

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O Freude der Vögel! Daß sie ein Nest haben, treibt sie zu singen.

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Die Liebe ist eine himmlische Athmung von Paradiesesduft.

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Wer tief zu empfinden, weise zu denken versteht, der nehme das Leben, wie Gott es eingerichtet hat, als eine lange Prüfung, eine unverständliche Vorbereitung für das unbekannte Geschick. Dieses Geschick, das einzig wahre, beginnt für den Menschen mit der ersten Stufe, die ins Innre des Grabes führt. Dann bekommt er etwas zu schauen, dann fängt er an, das Endgültige zu ahnen. Dieses Wort merket Euch. Die Lebenden sehen das Unendliche; das Endgültige zeigt sich nur den Toten. Einstweilen liebet und leidet, hoffet und betrachtet. Wehe dem, der nur Körper, Formen, eitlen Schein geliebt hat! Ihm wird der Tod alles nehmen. Suchet die Seelen zu lieben und ihr werdet sie dermaleinst wiederfinden.

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Ich bin auf der Straße einem jungen Mann, der liebte, begegnet. Er trug einen alten Hut, einen fadenscheinigen Rock; er hatte Löcher an den Ellbogen; durch die Sohlen seiner Stiefel flutete das Wasser und durch seine Seele Himmelslicht.

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Wie herrlich, geliebt zu werden! Und wieviel herrlicher noch ist es, wenn man liebt! Das Herz wird heldenmüthig, besteht nur noch aus Reinem, stützt sich nur auf Schönes und Großes. In ihm kann eben so wenig ein unedler Gedanke keimen, wie auf einem Gletscher eine Brennnessel. Niederen Trieben und Empfindungen unzugänglich, erhaben über die Erbärmlichkeiten, die Thorheit, die Lüge, den Haß, die Nichtigkeiten dieser Welt schwebt die Seele im Blau des Himmels und fühlt, so wie die Spitzen der Berge, nur noch die Erschütterungen des Geschicks, die Erdbeben.

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Gäbe es Niemand, der liebt, so würde die Sonne erlöschen.

V.
Nach der Lektüre des Briefes

Während sie diese Zeilen las, gab sich Cosette mehr und mehr süßen Träumereien hin. Als sie die Augen von dem letzten Worte aufhob, ging gerade der hübsche Offizier mit sieghafter Miene vorüber. Cosette dachte: »Ein greulicher Mensch!«

Darauf begann sie sich das Heft mit den Gedankensplittern genauer anzusehen. Dieselbe reizende Handschrift; aber bald schwärzere, bald hellere Tinte, so daß die Reflexionen an verschiedenen Tagen niedergeschrieben sein mußten, ohne Plan, ohne Ordnung, ohne Wahl, wie sie in dem Herzen des Verfassers aufgetaucht waren. So etwas Herrliches hatte Cosette noch nicht gelesen. Ihr war, als betrete sie ein Heiligthum, als flute ihr aus jeder Zeile ein neues, ungeahntes Licht entgegen. Die Erziehung, die sie empfangen, hatte immer nur auf die Seele Rücksicht genommen, nie von der Liebe gesprochen, gleichsam als wenn Jemand das Wesen des Feuerbrandes erläutern wollte, ohne der Flamme zu erwähnen. Diese fünfzehn Seiten offenbarten ihr mit einem Schlage und in sanfter Weise, was die Liebe, das Herzeleid, das Geschick, das Leben, die Ewigkeit, der Anfang, das Ende sei. Es war, als hätte sich eine Hand aufgethan und plötzlich einen Bündel Strahlen in das Dunkel ihrer Seele geworfen. Der diese Zeilen geschrieben, das fühlte sie, war ein liebesfähiger, edler, willensstarker, von unermeßlichem Schmerz niedergedrückter, von leidenschaftlicher Hoffnung emporgehobener, enthusiastischer Mann. Was war das für ein Manuskript? Ein Brief ohne Adresse, ohne Unterschrift, ohne Datum, ein dringliches und uneigennütziges Schreiben, ein Räthsel voller Wahrheiten, eine Liebesbotschaft, die bestimmt war, von einem Engel befördert und von einer Jungfrau gelesen zu werden, eine Bestellung zu einem Stelldichein außerhalb der Erde. Der Verfasser war Jemand, der gefaßt und hoffnungslos sich in die Arme des Todes zu flüchten bereit ist und der einer Abwesenden das Geheimniß des Schicksals, den Schlüssel des Lebens, die Liebe übermittelt. Mit einem Fuß im Grabe und einem Finger im Himmel hatte er dies geschrieben. Diese Gedanken, die einzeln auf das Papier getropft waren, entstammten der Seele.

Wer mochte sie aber beschrieben haben?

Ein Einziger, Er! sagte sie sich sofort.

Nun war es auch in ihrem Geiste wieder hell geworden. Sie empfand unbeschreibliche Freude und unsägliche Herzensangst. Also er war da! Sein Arm hatte durch das Gitter gelangt! Während sie ihn vergaß, hatte er sie wieder aufgesucht! Aber hatte sie ihn denn vergessen? Nun und nimmermehr! Welch eine Thorheit, daß sie das je von sich geglaubt hatte! Sie hatte ihm immer ihre Liebe bewahrt. Das Feuer war zugedeckt gewesen, aber es hatte weiter geglimmt, war in ihr Herz eingedrungen; aber jetzt brach es von Neuem hervor und loderte hoch empor. Das Manuskript war wie ein Funke, der aus seiner Seele emporgestiegen und in die ihre gefallen war. Sie prägte sich jedes Wort in ihr Herz ein. »Ja ja! Diese Gedanken erkenne ich wieder. Das habe ich schon alles in seinen Augen gelesen!«

Als sie zum dritten Mal damit zu Ende gekommen war, schritt der Lieutenant Théodule wieder gerade vorbei und klirrte gewaltig mit den Sporen, so daß Cosette, wohl oder übel, die Augen aufschlagen mußte. »Nein, was für ein fader, einfältiger, eingebildeter, geckenhafter, unangenehmer Mensch das ist!« dachte sie. Nun ließ es sich der Offizier gar noch einfallen, sie anzulächeln. Da wandte sie sich verschämt und empört um. Am liebsten hätte sie ihm etwas an den Kopf geworfen.

Sie lief davon, ins Haus zurück, und schloß sich in ihr Zimmer, um das Manuskript wieder und immer wieder zu lesen, es auswendig zu lernen, und sich ungestört ihren Träumereien hingeben zu können. Als sie es oft genug gelesen, küßte sie es und steckte es in ihr Corsett.

Jetzt war's geschehen. Sie war jetzt unrettbar der ätherischen Liebe verfallen.

Den ganzen Tag über umnebelte ihren Geist eine Art Betäubung, die ihr alle Klarheit des Denkens raubte. Sie brachte es nicht zu einer bestimmten Vorstellung über die neue Lage, in der sie sich befand, und bemühte sich, allen möglichen Sorgen zum Trotz, etwas von der Zukunft zu hoffen. Dabei wich ihr oft in Folge ihrer Erregtheit alle Farbe aus dem Gesicht und zeitweise erbebte sie am ganzen Leibe. Dann und wann kam es ihr vor, als sei ihr Geist von Traumnebeln umsponnen und sie betastete dann das geliebte Papier unter ihrem Kleide, drückte es an ihr Herz, und hätte Jean Valjean sie in einem solchen Augenblick gesehen, er wäre erschrocken gewesen über die ungewöhnliche Freude, die ihr aus den Augen leuchtete. »Gewiß, gewiß kommt es von ihm!« wiederholte sie beständig.

Und auch das galt ihr für gewiß, daß gütige Engel, daß der Himmel sich selber ihrer angenommen und ihn ihr wieder zugeführt hätten.

Wie schön die Liebe alles auszulegen versteht! Die gütigen Engel waren Spitzbuben, von denen der eine dem andern aus einem Gefängnißhof in den danebenliegenden einen Kassiber hatte zukommen lassen!

VI.
Wenn Vater zur rechten Zeit ausgeht

Als der Abend kam, ging Jean Valjean aus. Cosette machte sich alsbald die Haare, wie sie ihr am besten zu Gesicht standen, und zog ein Kleid an, das die Schneiderin aus Versehen etwas zu tief ausgeschnitten hatte und das den Ansatz des Halses sehen ließ. Es war keineswegs so »indecent,« wie die Damen derartige Roben nennen und kleidete Cosette nur desto besser. Warum sie aber große Toilette machte, wußte sie nicht.

Wollte sie ausgehn? Nein.

Erwartete sie Besuch? Auch nicht.

Als es dämmerte, ging sie in den Garten hinab. Die Toussaint war in der nach dem Hinterhof gelegenen Küche beschäftigt.

Sie bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und gelangte an die Bank.

Der Stein lag noch immer da.

Sie setzte sich und legte ihre zarte weiße Hand auf den eigenthümlichen Briefbeschwerer, als wollte sie ihn liebkosen und ihm danken.

Plötzlich hatte sie jene unerklärbare Empfindung, die uns benachrichtigt, wenn Jemand hinter uns steht.

Sie wandte sich um und fuhr in die Höhe.

Er war es!

Mit bloßem Kopfe, blaß und abgehärmt. Es war schon so dunkel, daß man seinen schwarzen Rock kaum noch unterscheiden konnte. Seine schöne Stirn sah beim schwachen Zwielicht fahl aus und seine Augen waren von Schatten bedeckt. Seine Erscheinung hatte etwas Totenhaftes, das aber durch die unvergleichliche Sanftmuth seiner Züge gemildert wurde. Sein Lebenslicht schien dem Erlöschen fast so nahe, wie die Sonne, die nur noch wenige Strahlen durch die höheren Regionen der Luft sandte.

Sein Hut lag einige Schritte vor ihm im Gestrüpp.

Cosette, die einer Ohnmacht nahe war, stieß einen Schrei aus. Sie trat langsam zurück, denn es zog sie mächtig zu ihm hin. Er seinerseits stand regungslos da. Sie fühlte nur den trauervollen Blick seiner Augen, die sie nicht sehen konnte.

Indem sie zurückwich, kam sie an einen Baum und lehnte sich an. Sonst wäre sie umgesunken.

Da vernahm sie seine Stimme, die Stimme, die sie bis dahin noch nie gehört hat. Er sprach leise, so daß es kaum das Rauschen des Laubes übertönte:

»Verzeihen Sie, daß ich gekommen bin. Das Herz droht mir zu brechen, ich konnte so nicht länger leben. Haben Sie gelesen, was ich da auf die Bank hingelegt habe? Erkennen Sie mich noch ein wenig? Fürchten Sie Sich nicht vor mir. Ach, es ist Zeit vergangen seit dem Tage, wo Sie mich gesehen haben – im Luxemburger Garten, unweit der Gladiatorstatue und seit dem Tage, wo Sie an meiner Bank vorüberkamen! Es war am 16. Juni und am 2. Juli. Also nahezu ein Jahr. Seitdem habe ich Sie nicht mehr gesehen. Sie wohnten Rue de l'Ouest in einem neuen Hause, im dritten Stock nach vorn. Sie sehen, daß ich Bescheid weiß. Ich ging Ihnen nämlich vom Garten aus nach. Was hatte ich denn sonst noch Wichtiges zu thun? Mit einem Mal waren Sie verschwunden. Eines Tages nur glaubte ich Sie zu erkennen, als ich unter einer Arcade des Odeons die Zeitung las und eine Dame mit einem Hut, wie Sie einen trugen, vorüberging. Ich eilte ihr nach und sah, daß ich mich geirrt hatte. Jetzt komme ich des Nachts immer her. Aber fürchten Sie nichts: es sieht mich Niemand. Ich sehe dann zu Ihren Fenstern empor und gehe ganz sacht, damit Sie nicht erschrecken. Neulich stand ich hinter Ihnen, Sie drehten Sich um und ich lief davon. Einmal habe ich Sie auch singen hören. Wie glücklich machte mich das! Nicht wahr, das schadet nichts, wenn ich Ihrem Gesang zuhöre? Sie sind mein Engel, lassen Sie mich also herkommen. Zumal, da ich wohl bald sterben werde. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe! Verzeihen Sie, daß ich so mit Ihnen spreche. Vielleicht wollen Sie das nicht?«

»O meine Mutter!« rief sie aus und brach zusammen.

Er fing sie auf und drückte sie heftig an seine Brust, ohne zu wissen, was er that. Er stützte sie, während er selber schwankte. Es schwamm und flimmerte ihm vor den Augen; seine Gedanken verwirrten sich und ihn däuchte, er frevle an etwas Heiligem, indem er sie in seinen Armen hielt. Und doch hatte die Sinnlichkeit keinen Theil an dem, was er that. Er war berauscht von Liebe.

Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Er fühlte das Manuskript und stammelte:

»Sie lieben mich?«

»So schweig doch! Du weißt es ja!« hauchte sie und barg verschämt ihr Gesicht an der Brust des überglücklichen jungen Mannes.

Er sank auf die Bank nieder, sie neben ihn. Sprechen konnten sie nicht mehr. Die Sterne begannen zu schimmern. Woher kam es, daß ihre Lippen sich begegneten? Ja, woher kommt es, daß der Vogel singt, daß der Schnee schmilzt, daß die Rosenknospe aufgeht, daß der Mai seine Herrlichkeit entfaltet, daß die Morgenröthe die dunklen Bäume auf den Höhen beleuchtet?

Ein Kuß und das war alles.

Alle Beide erbebten und sahen sich im Dunkel mit glänzenden Augen an.

Sie merkten nicht die Kühle der Nacht, die Kälte der Steinbank, der Feuchtigkeit des Erdbodens. Sie sahen sich an und süße Gedanken durchwogten ihr Inneres. Ihre Hände waren in einander verschlungen, ohne daß sie es wußten.

Es fiel ihr nicht ein, ihn zu fragen, wie er in den Garten hingekommen war. Kam es ihr doch so einfach und selbstverständlich vor, daß er da war.

Von Zeit zu Zeit berührte sein Knie das ihre; dann erschraken alle Beide.

Hin und wieder entrangen sich Cosettens übervoller Brust ein paar abgerissene Worte.

Endlich kam das Gespräch in Fluß. Die beiden jungen Leute sagten sich alles, ihre Träumereien, ihre Freuden, ihre Sorgen, ihre Aengste, wie sie sich aus der Ferne angebetet, wie sich nacheinander gesehnt, wie verzweifelt sie gewesen waren, als sie sich nicht mehr begegneten. Mit einer entzückenden Vertraulichkeit, die keiner Steigerung mehr fähig war, theilten sie sich alles mit, was sie in ihrem Herzensschrein Verborgenstes hatten. Sie erzählten sich mit innigster Zuversicht zu ihren Illusionen alles, was die Liebe, die Jugend und ein Rest von Kindlichkeit ihnen eingegeben hatten. Die beiden Herzen ergossen sich eins in das andere so vollständig, daß nach Verlauf einer Stunde er alle ihre und sie alle seine Gedanken kannte.

Als sie zu Ende waren, als sie sich alles gesagt hatten, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und fragte ihn:

»Wie heißen Sie?«

»Marius. Und Sie?«

»Cosette!«


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