Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Siebentes Buch. Die Gaunersprache

Die vielen spezifisch sprachlichen Betrachtungen des Verfassers über das Argot sind unübersetzbar und nur für Philologen interessant, konnten also in dieser Übersetzung nicht berücksichtigt werden.

I.
Der Ursprung der Gaunersprache

Als der Verfasser dieser lehrreichen und traurigen Geschichte im Jahre 1828 in einem, denselben Zweck verfolgenden Werke (der letzte Tag eines Verurtheilten) einen Spitzbuben, der sich der Gaunersprache bediente, einführte, erhob ein Theil des Publikums verwunderte Proteste gegen dieses Beginnen. »Was? Die Sprache der Verbrecher, des Abschaums der Gesellschaft, in der Litteratur!«

Für derartige Einwände haben wir kein Verständnis.

Seitdem haben zwei tüchtige Schriftsteller, von denen der Eine ein gründlicher Kenner des menschlicher Herzens, der Andere ein unerschrockner Freund des Volkes ist, Balzac und Eugène Sue, ebenfalls Banditen ihre wirkliche Sprache reden lassen und wieder sind dieselben Klagen laut geworden: »Wenn die Schriftsteller uns doch mit der abscheulichen Hallunkensprache in Ruhe lassen wollten! Es graut und ekelt einem ja vor solcher Lektüre!«

Wer leugnet, daß die Gaunersprache etwas Widerwärtiges sei?

Aber wenn es gilt, die Tiefen einer Wunde, eines Abgrunds, einer Civilisation zu sondiren, kann man nie zu weit gehen, nie zu tief hinabsteigen. Wir hatten immer geglaubt, es sei eine muthvolle That oder allerwenigstens eine einfache und ersprießliche Handlung, die wegen der darin enthaltenen Anerkennung und Erfüllung einer Pflicht, beifällige wohlwollende Beachtung verdiente. Warum nicht alles durchforschen, nicht alles studiren? Warum mitten auf dem Wege stehen bleiben? Die Sonde darf dies, der Sondirer nicht.

Allerdings, in die Niederungen hinabzusteigen, dorthin, wo das feste Erdreich aufhört und der Sumpf anfängt, und das unflätige Idiom aus dem Schlamm hervorzuzerren und in der Nähe zu betrachten ist keine angenehme, keine leichte Aufgabe. Gewiß, die Wörter und Redewendungen der Gaunersprache hören sich albern, unheimlich, grausig an. Diese Sprache gleicht den ekelhaften Organismen, die in der Fäulniß ihre Lebensbedingungen finden.

Aber seit wann befreit der Abscheu von der Pflicht des Studiums? Seit wann schreckt die Krankheit den Arzt zurück? Kann man sich einen Naturforscher vorstellen, der sich weigert der Viper, der Fledermaus, dem Skorpion, der Assel, der Tarantel seine Beachtung zu schenken, weil sie ihm zu häßlich sind? Der Denker, der von der Gaunersprache nichts wissen mag, gleicht dem Chirurgen, der sich vor einem Geschwulst oder einer Warze ekelt. Er wäre ein Philologe, der eine sprachliche, ein Philosoph, der eine die Menschheit interessirende Thatsache ignoriren würde. Denn es muß Denen, die es nicht wissen, gesagt werden, daß die Gaunersprache zugleich ein linguistisches Phänomen und ein Ergebnis der gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen ist. Was ist die Gaunersprache? Die Sprache des Elends.

Man könnte zu Gunsten der Gaunersprache die Thatsachen betonen, daß jeder Stand, jeder Beruf, jedes Handwerk, alle Künste und Wissenschaften ihre eignen Wörter und Redewendungen haben, die den Laien so unverständlich sind, wie die Gaunersprache den ehrbaren Leuten. So sagt der Soldat statt Gewehr »Kuhfuß«; der Handwerker nennt seinen Lehrling einen Stift; in Marktberichten heißt es, daß die Preise nicht unwesentlich anzogen; der Schauspieler streicht sich das Lederzeug an; der Dichter spricht von den Geschenken Pomonas, u. s. w. Aber so unverständlich diese Ausdrücke an sich sind und so wesentlich dieses Merkmal ist, das die erwähnten Idiome mit der Gaunersprache gemein haben, so unterscheidet sich diese doch von allen andern Idiomen durch ihre besondere Gemeinheit, Roheit und Bosheit und nimmt deshalb unter allen eine Sonderstellung ein, Sie ist nämlich die Sprache des Elends, das gegen die übrige Gesellschaft Front macht, sich gegen die Rechte der Glücklichen und Herrschenden empört, den Gesellschaftsbau durch das Laster und das Verbrechen untergräbt. Sie ist also eine Kampfsprache und dieser Umstand verleiht ihr ein eigenartiges Gepräge.

Eine Sprache oder auch ein Bruchstück irgend einer Sprache, deren sich irgendwo und irgendwann Menschen bedient haben, also einen der guten oder schlechten Bestandtheile und Bedingungen der Civilisation, der Vergessenheit entreißen, heißt das Forschungsmaterial vermehren, heißt die Civilisation fördern. Einen solchen Dienst hat mit oder ohne seinen Willen Plautus der Wissenschaft erwiesen, indem er in einem seiner Lustspiele zwei karthagische Soldaten phönicisch sprechen ließ, und Molière, der die lingua franca und verschiedene französische Bauerndialekte verwendete. Aber hier wird man mir wieder Einwürfe machen. Ja, das ist ganz was Andres. Das Phönicische, die lingua franca läßt man sich gefallen, die Dialekte mögen auch hingehen; das sind Sprachen, die von ganzen Nationen oder wenigstens in Provinzen gesprochen werden. Aber wozu soll es nützen, wenn die Gaunersprache studirt und schriftlich fixirt wird?

Hierauf wollen wir nur eins erwiedern. Wenn die Sprache einer Nation oder einer Provinz Beachtung verdient, so ist die Sprache, die das Elend spricht, des Studiums und der Theilnahme in noch höherem Grade wert.

Ferner ist die Beschreibung socialer Schäden und Gebrechen, deren Heilung man erstrebt, keine Aufgabe, die eine Auswahl zu treffen gestattet. Der Historiker der Sitten und Ideen hat einen nicht weniger erhabenen Beruf, als derjenige, der nur Ereignisse verzeichnet. Dieser betrachtet die Außenseite der Civilisation, Geburten und Hochzeiten von Fürstlichkeiten, Schlachten, Versammlungen, große Staatsmänner, die zu Tage getretenen Ergebnisse der Revolutionen; die andre Klasse von Geschichtsschreibern dagegen beschäftigt sich mit der Innenseite, der Basis, dem Hintergrund der Ereignisse, also mit dem arbeitenden, leidenden und wartenden Volke, den niedergetretenen Rechten der Frau und des Kindes, den tückischen Kriegen zwischen den Einzelnen, den verborgenen Grausamkeiten, den Vorurtheilen, den konventionellen Ungerechtigkeiten, den unbeabsichtigten Wirkungen der Gesetze, den allmählichen Veränderungen nationaler Anschauungen, den Regungen der Volksseele, den Hungerleidern, den Enterbten, den Wittwen und Waisen, den Unglücklichen und Geächteten, überhaupt allen Denen, die in der Finsterniß des Elends wie Schatten herumirren. Ein solcher Historiker muß, milde wie ein Bruder und strenge wie ein Richter, die Beweggründe der Handlungen aufdecken und sowohl von Denen erzählen, die Böses erdulden, als auch von Denen, die Böses thun. Haben diese Geschichtsschreiber geringere Pflichten, als diejenigen, die äußerliche Thatsachen beschreiben? Glaubt man, daß Alighieri weniger Wichtiges zu sagen hat, als Macchiavelli? Verdienen die Tiefen der Civilisation, weil sie dunkel sind, weniger Beachtung, als ihre Höhen? Kennt man den Berg, wenn man nicht die Höhle kennt?

Vielleicht könnte man, beiläufig bemerkt, aus dem so eben Gesagten eine scharfe Scheidung beider Klassen von Historikern folgern, die für uns aber nicht existirt. Keiner kann das öffentliche, sichtbare, augenfällige Leben der Völker gut schildern, wenn er nicht zugleich ihr inneres und verborgenes Leben bis zu einem gewissen Grade ergründet. Die Geschichte der Sitten, der Ideen und die der Ereignisse durchdringen, ergänzen, entsprechen sich gegenseitig, verketten sich mit einander.

Denn der Mensch hat nicht, wie der Kreis, nur ein Centrum; er gleicht vielmehr der Ellipse, die zwei Brennpunkte besitzt. Bei dem Menschen bilden die Thatsachen einen solchen Mittelpunkt und die Ideen einen andern.

Das Gauneridiom ist nichts Anderes als eine Garderobe, wo die Sprache, wenn sie eine Schlechtigkeit begehen will, sich verkleidet. Daher die maskirten Wörter und die gemeinen Metaphern.

Aber so scheußlich die Sprache des Verbrechens auch sein mag, lasset uns Mitleid haben mit denen, die sie sprechen. Wer sind wir denn, daß wir sie verdammen dürften? Wer bin ich, der mit Euch spricht? Wer seid Ihr, die Ihr mir zuhört? Woher kommen wir? Und ist es sicher, daß wir nichts begangen haben, ehe wir geboren wurden? Die Erde ist einem Gefängniß nicht unähnlich. Wer weiß, ob der Mensch nicht ein von der göttlichen Justiz verurtheilter Sträfling ist?

Seht Euch das Leben näher an. Ueberall Strafe und wieder Strafe!

Bist Du, was man einen Glücklichen nennt, dann bist Du doch mit fortwährendem Leid belastet. Jeden Tag bringt Dir irgend einen großen Kummer oder eine kleine Sorge. Gestern zittertest Du für die Gesundheit Jemandes, der Deinem Herzen theuer ist; heute ist Dir um die Deinige bange; morgen wird Dir Geldmangel, übermorgen die Bosheit eines Verleumders, den nächsten Tag das Unglück eines Freundes Sorge machen; dann das Wetter, irgend ein Verlust, ein Vergnügen, mit dem Dein Gewissen oder Dein Rückgrat nicht einverstanden ist; ein anderes Mal wieder politische Ereignisse. Der Herzensangelegenheiten zu geschweigen. U. dergl. m. Löst sich eine Wolke auf, so dräut alsbald eine andere. Unter hundert Tagen ist kaum einer, der lauter Freuden und lauter Sonnenschein bringt. Und dabei gehörst Du zu denen, deren Loos ein glückliches ist! Ueber den andern Menschen lagert beständige Nacht.

Deshalb werden auch diejenigen, die nachdenklich veranlagt sind, sich nicht leicht der Ausdrücke: Glückliche und Unglückliche bedienen. Auf dieser Welt, die offenbar der Vorhof zu einer andern ist, giebt es keine Glücklichen.

Eine richtigere Einteilung ist die, welche Erleuchtete und Umnachtete unterscheidet.

Die Zahl der Erleuchteten vermehren, die der Umnachteten vermindern – das ist das Ziel, dem die Menschheit zustreben soll. Deshalb rufen wir beständig: Schulunterricht! Wissenschaft! Lesen lehren heißt Licht anzünden.

Licht bedeutet aber nicht nothwendiger Weise Freude. Auch die Erleuchteten leiden. Dasselbe Feuer, das leuchtet, verbrennt auch, wenn es zu stark ist. Die Flamme versengt die Flügel des Vogels. Nur das Genie bringt das Wunder zu Wege, daß es brennen und doch dabei fliegen kann.

Wenn Du je die Welt verstehen und Deine Mitgeschöpfe mit Liebe umfangen lernst, wirst Du auch noch leiden und weinen. Die Erleuchteten haben Kummer, wäre es auch nur wegen der Umnachteten.

II.
Die Etymologie der Gaunersprache

Unter einem rein litterarischen Gesichtspunkt betrachtet sind wenige Studien anziehender und fruchtbarer als die Gaunersprache. Es ist eine Sprache in der Sprache, eine Art krankhafter Auswuchs, ein ungesundes Pfropfreis, aus dem eine ganze Vegetation hervorgegangen ist, eine Schmarotzerpflanze, die in unserm alten, gallischen Sprachstamm wurzelt. So sieht wenigstens dieses Idiom auf den ersten Blick, für den oberflächlichen, gewöhnlichen Betrachter, aus. Aber denjenigen, die Sprachen studiren, wie sie studirt werden müssen, nämlich wie die Geologen die Erde, erscheint die Gaunersprache einem angeschwemmten Land ähnlich. Je nachdem man sie mehr oder weniger durchforscht, findet man in ihr, unter der altfranzösischen Volkssprache, provençalische, spanische, italienische Elemente, Wörter der lingua franca, die in den Seestädten des Mittelländischen Meeres gesprochen wird, englische, deutsche, lateinische, endlich baskische und celtische Bestandtheile. An dem Gebäude haben also alle möglichen Kinder des Elends gearbeitet. Jede fluchbeladne Generation hat eine Schicht hinterlassen, jedes Leid einen Stein eingefügt.

Außer diesem entliehenen Material hat die Gaunersprache noch andere Quellen, die gewissermassen dem Menschengeist selber entstammen.

Erstens die unmittelbare Wortschöpfung. Hierin besteht das große Mysterium der Sprachen, mit Worten Gegenstände schildern, Vorstellungen von ihrem Wesen erwecken. Dies ist der Untergrund, gleichsam der Granit, auf dem jede menschliche Sprache aufgebaut ist. In dem Gauneridiom wimmelt es von solchen, ohne Vermittlung, von vornherein aus einem Stück gebildeten Wörtern, die merkwürdig ausdrucksvoll und lebendig sind.

Zweitens die figürliche, übertragene Redeweise. Eine Sprache, die alles sagen und alles verheimlichen will, muß nothgedrungen viel Metaphern erzeugen.Vgl. Hund (Vorlegeschloß), Leichenfledderer (Dieb, der Schlafende bestiehlt.)

Drittens Entstellung von Wörtern der gewöhnlichen Sprache. Z. B. hängt man oft, um von den »Wittischen« nicht verstanden zu werden, ein und dieselbe Endung an alle möglichen Wörter.

Als Erzeugnisse der Verderbnis, verderben und vergehen die Wörter der Gaunersprache überaus schnell. Um sich dem allgemeinen Verständnis zu entziehen, verändert sie sich, so bald sie nicht mehr unverständlich ist und erleidet in zehn Jahren mehr Umwälzungen, als gewöhnliche Sprachen in zehn Jahrhunderten.

Wer wissen will, wo die meisten Bagnolieder entstanden sind, der lese Folgendes:

In dem Châtelet zu Paris war ein großer, langer Keller, der acht Fuß unter dem Niveau der Seine lag. Fenster hatte er nicht; die einzige Oeffnung war die Thür. Menschen konnten hinein, die Luft nicht. Die Decke war ein steinernes Gewölbe, als Fußboden diente zehn Zoll dicker Schlamm. Er war wohl mit Fliesen gepflastert, aber das durchgesickerte Wasser hatte die Steine überall durchbrochen und zerbröckelt. Acht Fuß über dem Boden war ein langer, massiver Balken angebracht, der von dem einen Ende des Kellers bis zum andern reichte. Von diesem Balken hingen in regelmäßigen Zwischenräumen drei Fuß lange Ketten herab und unten an jeder Kette war ein Halseisen. In diesem Keller wurden die zur Galerenstrafe verurtheilten Verbrecher bis zu dem Tage ihrer Abreise nach Toulon untergebracht. Man schob sie unter den Balken, und steckte sie in die Halseisen. Da die Kette zu kurz war. konnten sie sich nicht hinlegen. Sie mußten also immer stehen und wenn ihre Kniee und Hüften ihnen den Dienst versagten, konnten sie sich nur ausruhen, indem sie sich mit den Händen an der Kette fest hielten. Schliefen sie, so weckte sie alle Augenblicke das Halseisen, das sie würgte. Natürlich wachten manche dann gar nicht mehr auf. Um den Wasserkrug oder das Brod zu langen, das man ihnen in den Koth vor die Füße warf, bedurfte es ungeheuerlicher Anstrengungen. Sie schoben es mit einem Hacken am Bein hinauf, bis sie es mit den Händen fassen konnten. Nicht einmal, wenn sie ihre natürlichen Bedürfnisse befriedigen mußten, wurden sie von der Kette losgemacht. Wie lange blieben sie in diesem Keller? Ein, zwei, manchmal sechs Monate. Einer ein ganzes Jahr. In dieses Vorzimmer des Zuchthauses konnte man kommen, wenn man blos dem König einen Hasen weggeschossen hatte. Wie verbrachten sie aber ihre Zeit? Sie stöhnten und – sangen. Denn wenn die Hoffnung geschwunden ist, bleibt doch immer noch der Gesang. Der arme Wilderer Survincent, der in dem Keller des Châlet eingesperrt gewesen ist, sagte: »Das Singen hat mich aufrecht erhalten.« Und da behaupten noch Manche, die Poesie sei zu nichts nütze! In diesem Keller also sind fast alle Lieder der Gaunersprache entstanden. Die meisten sind melancholischer Natur, andre heitre Weisen und eins ist gar ein Liebeslied!

III.
Scherz und Ernst in der Gaunersprache

Vor vierhundert Jahren, wie noch heute, war das Gauneridiom von einem düstern, symbolischen Geiste durchdrungen, der in den Wörtern nur Klagen oder Drohungen ausklingen ließ. Es ist dieselbe Art Wehmuth, der die Bettler und Verbrecher des mittelalterlichen Paris auch in den Figuren ihrer Kartenspiele, von denen einige auf uns gekommen sind, Ausdruck gegeben haben. So stellte z. B. die Treffacht einen großen Baum mit acht ungeheuren Kleeblättern dar, was den Wald bedeuten sollte. Am Fuß des Baumes brieten drei Hasen einen Jäger am Spieße, und hinten, über einem andern Feuer, rauchte ein Kochtopf, aus dem der Kopf eines Hundes hervorsah. Man kann sich nichts Traurigeres denken, als diese Wiedervergeltung, die auf solchen Karten für die auf dem Scheiterhaufen gebratnen Schmuggler und in Kesseln gesottnen Falschmünzer geübt wurde. Alle Lieder der Gaunersprache, die wir aus jener Zeit noch besitzen, athmen, wenn sie höhnen und drohen, dieselbe Schwermuth, und alle Melodien tragen denselben kläglichen, weinerlichen Charakter. »Ich begreife nicht, wie Gott, der Vater der Menschen, seine Kinder quälen und sie schreien hören kann, ohne selber Qual dabei zu empfinden.« Ueberall demüthigt sich in diesen Liedern der Elende vor dem Gesetz und der Gesellschaft, bittet um Gnade und bekennt, daß er Unrecht hat.

Gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aber trat eine Aendrung ein. Die Gefängnißlieder, die Halunkenrefrains gebärdeten sich nun, sozusagen, unverschämt und lustig, als drücke die sie sangen, kein Schuldbewußtsein mehr. Diese Leute fühlten wohl, daß die Denker und Schwärmer, ohne sich dessen bewußt zu werden, ihnen zu Hülfe kamen, daß Raub und Plündrung in den philosophischen Theorien und Sophismen der besser situirten Klassen eine Rolle zu spielen begannen, ein Beweis, daß eine große Revolution nahe bevorstand, wenn das Unheil keine rechtzeitige Ablenkung erfuhr.

Verweilen wir hier einen Augenblick. Wen klagen wir an? Das achtzehnte Jahrhundert und seine Philosophie? Gewiß nicht. Das achtzehnte Jahrhundert hat wesentlich Vernünftiges und Gutes geschaffen. Die Encyclopädisten mit Diderot, die Physiokraten mit Turgot, die Philosophen mit Voltaire, die Utopisten mit Rousseau an der Spitze bildeten vier Legionen, die im Dienste der Gottheit standen, die als Vorhut das Menschengeschlecht auf der Bahn des Fortschritts führten. Diderot, als Vertreter des Schönen, Turgot des Nützlichen, Voltaire des Wahren, Rousseau des Gerechten. Aber neben den Philosophen gab es Sophisten, giftiges Unkraut neben heilsamen Pflanzen. Während der Henker auf der Haupttreppe des Pariser Gerichtspalais die Werke der großen und edlen Denker verbrannte, veröffentlichten vergessene Schriftsteller mit königlicher Erlaubniß Bücher mit merkwürdig umstürzlerischen Tendenzen, die von den unteren Volksklassen begierig gelesen wurden. Einige von diesen Schriften, die sonderbarer Weise von einem Prinzen patronisiert wurden, befinden sich in der Bibliothèque secrète. Die Verfasser von dergleichen elenden Machwerken übten einen wenig beobachteten, aber desto unheilvolleren Eindruck auf die breiten Volksschichten aus, besonders Restif de la Bretonne, der wie kein Andrer die öffentliche Moral untergrub.

Diese Spekulation auf die niedrigsten Triebe der Menschennatur grassirte damals in ganz Europa, richtete aber nirgends so große Verwüstungen an, wie in Deutschland. Hier wurden während einer gewissen Zeit, deren Hauptvertreter Schiller mit seinem berühmten Drama »Die Räuber« ist, Raub und Plündrung zum Range eines Protestes gegen das Eigenthum und die Arbeit erhoben, mit gewissen, scheinbar wahren und allgemein anerkannten Grundbegriffen zu einem theoretischen Ganzen verquickt, in dem ihre Gefährlichkeit sich dem oberflächlichen Blick entzog, und circulirten in dieser Form in der arbeitenden, leidenden und rechtschaffnen Bevölkerung, ohne daß die unklugen Apotheker, die den Trank gebraut hatten, es merkten, ja ohne daß die wahre Tragweite der neuen Theorien dem Volke zum Bewußtsein gelangte. Eine solche Erscheinung ist aber immer ein bedenkliches Symptom. Die Noth gebiert den Groll, und während die besitzenden Klassen die Augen zumachen, oder einschlafen, was hier auf eins herauskommt, entzündet der Haß der Enterbten seine Fackel an irgend einem Feuer, daß ein unzufriedner oder querköpfiger Wühler entflammt hat, und beleuchtet damit den Gesellschaftsbau.

Daher, wenn gewisse Bedingungen hinzutreten, jene schrecklichen, socialen Erdbeben, jene Bauernaufstände, die ehemals Frankreich so entsetzlich verheerten, und gegen die alle rein politischen Erschütterungen ein wahres Kinderspiel sind; denn sie bedeuten nicht blos Empörungen des Unterdrückten gegen seinen Unterdrücker, sondern Angriffe der Armuth auf den Reichthum: Dann bricht alles zusammen.

Dieser Gefahr, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts vielleicht dem gesammten Europa drohte, beugte die französische Revolution vor, und bedeutete somit eine rechtschaffne That.

Die französische Revolution, die nichts Geringeres ist, als das mit dem Schwert bewaffnete Ideal, erhob sich und schloß mit demselben Ruck das Thor des Bösen zu und das Thor des Guten auf.

Sie formulirte die Frage, deren Lösung nothwendig geworden war, proklamirte die Wahrheit, beseitigte die kranken Stoffe, heilte das Jahrhundert, erhob das Volk zum Herrscher.

Man kann von ihr behaupten, daß sie den Menschen zum zweiten Mal geschaffen hat, indem sie ihm eine zweite Seele, das Recht, gab.

Das neunzehnte Jahrhundert erbt das schöne Besitztum, das sie geschaffen, und heutzutage ist die sociale Katastrophe, die wir soeben andeuteten, schlechterdings unmöglich. Nur ein Blinder kann sie prophezeien, nur ein Thor sie befürchten! Die französische Revolution war eine Impfung gegen die Pöbelaufstände.

Dank der Revolution sind die socialen Verhältnisse andre geworden. Die feudalen und monarchischen Krankheiten stecken uns nicht mehr im Blute. Unser Gesellschaftskörper hat keine mittelalterliche Konstitution mehr. Die Zeiten sind vorbei, wo der Boden unter unsern Füßen durchwühlt war und die Ungeheuer der Tiefe sich einen Weg an die Oberfläche bahnten, um die Civilisation zu vernichten.

Die Hauptbedeutung der großen, französischen Revolution liegt darin, daß sie eine moralische Hebung der Menschheit bewirkt hat. Die Entfaltung des Rechtsgefühls hat eine Entfaltung des Pflichtgefühls zur Folge. Das Gesetz aller ist die Freiheit, die nach Robespierre's bewunderungswürdiger Definition da endet, wo die Freiheit eines Andern anfängt. Seit 1789 ist die Entwicklung des Individuums und folglich des Volkes gesichert, hat der Arme sein Recht und folglich auch seinen Antheil am Glück; der Besitzlose ist der Rechtschaffenheit des ganzen Frankreich theilhaftig; die Würde des Staatsbürgers ist ein innrer Panzer; wer frei ist, der ist auch gewissenhaft; wer das Stimmrecht hat, regiert. So vollständig ist die Gesundung der öffentlichen Moral, die durch die Revolution herbeigeführt wurde, daß bei siegreichen Volksaufständen kein Pöbel mehr zum Vorschein kommt. Der erste Schrei der veredelten Massen lautet heutzutage: »Tod den Spitzbuben!« Der Fortschritt ist ein ehrlicher Mann; das Ideal und das Absolute stibitzen nicht. Von wem wurden 1848 die Wagen, in denen die Schätze des Tuilerienpalastes fortgeschafft wurden, behütet? Von den Lumpensammlern der Vorstadt Saint-Antoine. Unter vielen andern Kostbarkeiten befand sich auch auf einem dieser Wagen die alte Krone der Könige von Frankreich mit dem berühmten Diamanten, der den Namen »der Regent« führt und dreißig Millionen Franken wert ist. Diese Krone, diese Diamanten hüteten Leute, die keine Stiefel an den Füssen hatten.

Also mit den socialen Pöbelaufständen ist es nichts. Paßt dies gewissen, schlauen Politikern nicht in ihren Kram, so thut es mir leid; an der Thatsache aber ist nichts zu ändern. Das alte Schreckbild wirkt nicht mehr und kann in der Politik nicht mehr gebraucht werden. Heutzutage fürchtet sich kein Mensch mehr vor dem rothen Gespenst. Die Vögel respektiren die Vogelscheuche nicht mehr.

IV.
Zwei Pflichten: Wachen und Hoffen

Ist unter so gestalteten Umständen jede sociale Gefahr vorbei? Gewiß nicht. Vor Pöbelaufständen braucht die Gesellschaft sich nicht mehr zu fürchten, einem Blutandrang nach dem Kopfe ist vorgebeugt; sie thut aber gut, wenn sie auf eine richtige Regulirung ihrer Athmung achtet. Sie wird an keinem Schlaganfall sterben; aber sie leidet an der Schwindsucht, d. h. dem Elend.

Wiederholen wir es unermüdlich: Zuerst an die Enterbten und mit Mühsal Beladnen denken, ihnen beispringen, sie lieben, sie um neue, herrliche Gedanken bereichern, ihnen eine vielseitige Erziehung angedeihen lassen, sie zur Arbeit aufmuntern, indem man ihnen beständig mit gutem Beispiel vorangeht, die Last, die der Einzelne zu tragen hat, erleichtern, indem man der Gesamtheit ein höheres Ziel steckt, die Armuth einschränken, ohne dem Reichthum nahe zu treten, dem Volke neue Thätigkeitsgebiete schaffen, den Bedrückten und Schwachen hundert Arme entgegenstrecken, mittels der Macht der Gesammtheit, wie es die Pflicht verlangt, die Eröffnung staatlicher Werkstätten, öffentlicher Schulen und Laboratorien ermöglichen, die Löhne erhöhen, die Arbeit herabmindern, das Soll und das Haben ins Gleichgewicht bringen, nämlich das Recht auf Genuß nach der Leistung und nach dem Bedürfniß bemessen, kurz die Staatsmaschine zum Nutzen der Nothleidenden und Unwissenden mehr Aufklärung und Wohlergehn erzeugen lassen, – dies ist – mögen es die Wohlmeinenden nicht vergessen – die erste aller unsrer Verpflichtungen gegen unsre Mitmenschen; dies ist – mögen die egoistisch Gesinnten es sich merken – die erste aller politischen Pflichten.

Und auch dies ist bloß ein Anfang. Das wahre Problem lautet: Die Arbeit kann keine Pflicht sein, wenn sie nicht zu gleicher Zeit ein Recht ist.

Doch wollen wir diese Punkte nicht des weiteren erörtern, da es hier nicht am Platze wäre.

Wenn Vorsehung ein andrer Name für die Natur ist, so muß die Gesellschaft auch Voraussicht heißen.

Intellektuelles und moralisches Wachstum ist nicht minder unentbehrlich, als materielle Zunahme. Das Wissen ist ein notwendiges Zehrgeld, das Denken ein unumgängliches Bedürfniß, die Wahrheit hat, ebenso wie der Weizen, Nährwert. Ein Verstand, der keine Wissenschaft und Weisheit zu sich nimmt, magert ab und verdient Mitleid wie ein Magen, der nichts zu essen bekommt.

Der Lösung dieser Frage strebt auch gegenwärtig der Fortschritt unwiderstehlich zu. Die Welt wird in dieser Hinsicht Erstaunliches sehen. Indem das Menschengeschlecht emporsteigt, werden auch die unteren Volksklassen ganz naturgemäß über das Elend emporgehoben werden. Die Beseitigung der Noth wird durch eine einfache Niveauerhöhung bewerkstelligt werden.

An dieser segensreichen Lösung der socialen Frage zu zweifeln liegt kein Grund vor.

Allerdings ist die Vergangenheit zur Zeit sehr stark. Sie erholt sich, wird wieder jung. Sie schien gestorben zu sein und wandelt doch wieder sieghaften Schrittes unter den Lebenden. Sie kommt an der Spitze ihrer Armee, der abergläubischen Wahngebilde, mit ihrem Degen, dem Despotismus, mit ihrer Fahne, der Unwissenheit; sie hat seit einiger Zeit so manche Schlacht gewonnen. Schon rückt sie hohnlachend gegen unsre Thore vor. Verzweifeln wir aber nicht. Verkaufen wir das Feld, wo Hannibal lagert.

Was können wir, die den Glauben haben, fürchten?

Ideen können ebenso wenig rückwärts, wie Flüsse.

Allein Diejenigen, die von der Zukunft nichts wissen wollen, sollten sich die Sache reiflich überlegen. Indem sie dem Fortschritt ein Nein entgegensetzen, verurtheilen sie nicht die Zukunft, sondern sich selbst. Sie bringen sich eine gefährliche Krankheit bei; sie impfen sich die Vergangenheit ein. Es giebt nur ein Mittel dem kommenden Morgen zu entgehen: Man muß sterben.

Den Tod wollen wir aber überhaupt nicht. Der des Leibes komme so spät wie möglich, der Untergang der Seele nie.

Ja, die Sphinx wird reden und uns die Lösung des Räthsels sagen. Was das achtzehnte Jahrhundert begonnen hat, die Erlösung des Volkes aus dem Elend, wird das neunzehnte vollenden. Nur ein Blödsinniger kann dies bezweifeln. Daß dermaleinst, daß in einer nahen Zukunft der Wohlstand verallgemeinert werden wird, ist eine geschichtliche Notwendigkeit.

Anstrengungen von Gesamtheiten bestimmen den Gang der Geschichte und bringen in einer gegebenen Zeit Logik, und folglich Gleichgewicht, und folglich Gerechtigkeit. Eine aus irdischen und himmlischen Faktoren zusammengesetzte Kraft geht aus den Bestrebungen der Menschheit hervor und regiert sie; dieser Kraft fällt es nicht schwer, Wunder zu wirken, Außerordentliches hervorzubringen. Unterstützt von der Wissenschaft, die vom Menschen, und von dem Ereigniß, das von einem Andern kommt, erschrickt sie nicht vor jenen Widersprüchen in gestellten Fragen, die von der großen Menge für Unmöglichkeiten erklärt werden. Sie bewerkstelligt die Lösung von Aufgaben mittels Zusammenstellung von Ideen nicht minder geschickt, als sie Lehren giebt, indem sie Tatsachen an einander hält und man darf alles erwarten von der räthselhaften Macht des Fortschritts, der eines Tages Orient und Occident in einem Grabe, die Imons und Bonaparte im Innern einer Pyramide zusammenbringt.

Einstweilen erleidet der Fortschritt keine Verzögrung, keinen Aufenthalt. Die sociale Philosophie erstrebt wesentlich die Wissenschaft und den Frieden. Ihr Zweck ist und ihr Ergebniß soll sein die Verwüstung des Grolls der Unzufriednen mittels des Studiums der Antagonismen. Sie soll prüfen und analysiren, dann neubilden. Ihre Methode besteht in einer Reduktion: Sie scheidet überall den Haß aus.

Daß eine Gesellschaft bei einem Sturm untergeht, hat man mehr als ein Mal gesehen; die Geschichte erzählt uns von vielen Völkern und Reichen, die Schiffbruch gelitten haben; Sitten, Gesetze, Religionen werden eines Tages von einem Unbekannten, dem Orkan, dahingerafft. Die Civilisationen Indiens, Chaldäas, Persiens, Assyriens, Aegyptens sind eine noch der andern verschwunden. Warum, wieso, wissen wir nicht. Hätten sie gerettet werden können? Hatten sie Schuld an ihrem Untergange? Litten sie an einem organischen Fehler, den sie nicht ablegen wollten? Alles Fragen, die Niemand beantworten kann. Die Finsterniß der Vergangenheit entzieht uns die Kenntniß der Gründe, die die Vernichtung jener Civilisationen herbeiführten. Leck waren sie, denn sonst wären sie nicht versunken; aber weiter wissen wir auch nichts zu sagen, und ohne Verständnis sehen wir in dem Meer der Vergangenheit zwischen den Wellen, die wir die Jahrhunderte nennen, die großen Schiffe Babylon, Niniweh, Tarsus, Theben, Rom in die Finsterniß der Tiefe versinken. Aber wenn an einer Stelle Finsternis herrscht, so ist es an einer andern hell. Wissen wir nichts von den Krankheiten der alten Kulturvölker, so kennen wir die Gebrechen unsrer Civilisation. Wir können sie bei dem Licht der Wissenschaft prüfen, mittels der Sonde die Ursachen ihrer Leiden feststellen und sobald uns die Ursachen bekannt sind, werden wir auch die Heilmittel finden. Unsre Civilisation, das Werk von zwanzig Jahrhunderten, ist zu gleicher Zeit ein häßliches und wunderbar schönes Erzeugniß. Es verlohnt also wohl der Mühe, daß sie gerettet werde und das wird uns gelingen. Der Denker unsrer Zeit hat also die Pflicht, die Civilisation zu auskultiren.

Diese Untersuchung aber, wie gesagt, ist ermuthigend und mit der Hervorhebung dieser Thatsache wollen wir diese Zeilen, diese Abschweifung von der Leidensgeschichte Jean Valjeans, abschließen. Völker können zu Grunde gehen, die Menschheit nicht.


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