Victor Hugo
Die Elenden. Zweiter Theil. Cosette
Victor Hugo

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Achtes Buch. Die Kirchhöfe nehmen, was man ihnen giebt

I.
Wie man in ein Kloster hineinkommt

Nachdem Cosette zu Bett gebracht war und Jean Valjean und Fauchelevent zu Abend gegessen hatten, streckten sich Beide, da weiter kein Bett vorhanden war, auf ein Bund Stroh hin. Bevor er aber die Augen schloß, sagte Jean Valjean noch einmal: »Ich muß durchaus hier bleiben!«

Diese Worte trabten dem wackern Fauchelevent die ganze Nacht im Kopfe herum, und auch Jean Valjean that bis zum Morgen kein Auge zu.

Er begriff, da Javert ihm auf die Spur gekommen war, daß er und Cosette verloren waren, wenn sie in die Stadt zurückgingen. Nun ein neuer Sturm ihn hierher verschlagen hatte, mußte er hier bleiben. Denn das Kloster war zwar ein überaus gefährlicher, aber auch der sicherste Ort; gefährlich, denn kein Mann durfte das Klostergebiet betreten, und ertappte man ihn, so wanderte er stracks ins Gefängniß; die denkbar größte Sicherheit bot aber dem Flüchtling dies Kloster, insofern es Niemanden in den Sinn kommen konnte, ihn hier zu suchen.

Ebenso schlug sich Fauchelevent auf seinem Lager mit den mannigfaltigsten Gedanken herum. Zu allererst wurde er sich klar darüber, daß die ganze Sache sehr unklar war. Wie kam Herr Madeleine über die hohe Mauer in den Garten? Hinübergestiegen war er nicht, dazu war sie zu hoch, und hinaufklettern war auch nicht möglich, am allerwenigsten mit einem Kinde auf dem Rücken oder in den Armen. Was war das übrigens für ein Kind? Wo kamen sie alle beide her? Seitdem Fauchelevent im Kloster war, hatte er keine Nachrichten mehr aus Montreuil-sur-Mer gehabt. Vater Madeleine sah auch nicht danach aus, als habe er Lust, viel Fragen zu beantworten, und einen Heiligen auszuforschen, wäre doch auch gar zu unschicklich gewesen. Der Gärtner schloß aber aus einigen Aeußerungen Jeans Valjean's, Herr Madeleine habe in Folge des allgemeinen Stillstands von Handel und Wandel fallirt und werde von seinen Gläubigern verfolgt, oder er hätte sich bei einer politischen Verschwörung betheiligt und müsse sich verborgen halten, was unserem Fauchelevent durchaus nicht mißfiel, denn er war gut bonapartistisch gesinnt.

Jedenfalls hatte sich also Herr Madeleine das Kloster zum Versteck ausgesucht, und da war es selbstverständlich, daß er bleiben wollte. Unbegreiflich war es allerdings, daß er ein kleines Mädchen mitgebracht hatte. Aber was half es, daß er sich über diese und andere Thatsachen den Kopf zerbrach, seinen eigenen Augen und Ohren nicht trauen wollte und die ganze unerklärliche Geschichte immer wieder in Gedanken durchnahm? Klar blieb doch nur der eine Punkt, daß Herr Madeleine ihm das Leben gerettet hatte. Diese Thatsache gab den Ausschlag. Fauchelevent sagte sich: »Jetzt bin ich an der Reihe. Uebrigens hat sich Herr Madeleine nicht so lange bedacht, als er unter den Wagen gekrochen ist und mich gerettet hat.«

Alle Einwände, die etwa gegen den Entschluß, seinen Wohlthäter zu retten, erhoben werden konnten, erwiesen sich auf den ersten Blick als hinfällig.

»Wenn er aber gestohlen hätte, müßte ich ihn dann auch noch retten? Ja, trotz alledem. Oder gesetzt, er hätte Einen tot geschlagen? Trotzdem. Da er aber ein Heiliger ist, erst recht.«

Aber wie das Ungeheure möglich machen? Der Gedanke, daß er dem Flüchtling hier im Kloster eine dauernde Zufluchtsstätte bereiten sollte, grenzte an baren Unsinn, und dennoch unternahm es der arme, alte Mann, nur gestützt auf seinen guten Willen und seine Bauernschlauheit, mit der Klosterregel fertig zu werden. Vater Fauchelevent war im Egoismus ergraut, aber jetzt, wo er am Ende seiner Tage stand und keine Interessen mehr in dem Weltgetriebe wahrzunehmen hatte, jetzt gefiel er sich in der Pflicht, Dankbarkeit zu bezeigen; jetzt stürzte er sich auf die Gelegenheit etwas Gutes zu thun, wie Einer, der vor Durst vergeht, über ein Glas guten Wein, von dem er noch nie getrunken hat. Die moralische Atmosphäre, in der er nun seit mehreren Jahren weilte, hatte eine Umwandlung seines innern Menschen hervorgerufen, und ihn altruistischen Ideen zugänglich gemacht.

Endlich besaß er noch eine andere kostbare Eigenschaft, die auch die ärgsten Stürme des Lebens nicht entwurzelt hatten: Er war ein Mensch, der gern dem ersten Impulse nachgab, und solche Leute werden bekanntlich niemals schlecht. Seine Fehler und Laster, denn die hatte er gehabt, gingen nicht tief, und seine Physiognomie gehörte zu denen, die vor der Prüfung des Beobachters Stand halten.

Bei Tagesanbruch erwachte Fauchelevent aus seinen Grübeleien, that die Augen auf und sah Madeleine, der von seinem Strohsack aus Cosette betrachtete. Fauchelevent setzte sich aufrecht und sagte:

»Nun Sie hier drin sind, ist die Frage, wie Sie hier hereinkommen?«

Die Frage war richtig gestellt und gab Jean Valjean zu denken.

»Vor allen Dingen,« sagte Fauchelevent, »dürfen Sie keinen Fuß aus dem Zimmer setzen, weder Sie noch das kleine Mädchen. – Thun Sie einen Schritt in den Garten, so sind wir futschikato.«

»Ja freilich!«

»Herr Madeleine, Sie haben es gerade gut getroffen, d. h. schlecht; eine von den Damen ist nämlich schwer krank. In Folge dessen wird jetzt Niemand seine Nase hier in unsere Bude stecken. Es heißt, sie wird sterben, und sie halten schon das vierzigstündige Gebet. Im Kloster geht Alles drunter und drüber. Sie haben jetzt was zu thun. Die jetzt ihre Anstalten zu der großen Reise trifft, ist eine Heilige. Freilich sind wir Alle hier Heilige. Der einzige Unterschied zwischen den Damen und mir ist bloß, daß sie ›unsere Zelle‹ und daß ich ›meine Bude‹ sage. Es wird das Gebet für die Sterbenden und dann das für die Gestorbenen gehalten. Heute werden wir hier unbehelligt bleiben; aber was morgen geschehen wird, dafür stehe ich nicht.«

»Indessen« wendete Jean Valjean ein, »liegt das Häuschen in einem Winkel, und hinter einem alten Gemäuer versteckt; Bäume stehen auch noch da, und vom Kloster aus kann man es nicht sehen.«

»Ja, und die Nonnen kommen nie hierher!«

»Woran fehlt es denn aber?«

»Es sind noch die Jöhren da!«

Eben wollte er sich deutlicher erklären, als sich ein Glockenschlag vernehmen ließ.

»Die Nonne ist gestorben,« sagte er. »Das ist das Totengeläut.«

Und er gab Jean Valjean ein Zeichen, er solle hinhorchen.

Die Glocke that jetzt einen zweiten Schlag.

»Es ist, wie ich sagte, Herr Madeleine. In dieser Weise wird die Glocke jede Minute einmal angeschlagen, vierundzwanzig Stunden lang, bis die Leiche aus der Kirche hinausgetragen wird. Also die Sache ist die. Die Jöhren spielen, und da braucht blos mal ein Ball nach meiner Bude herrollen, so kommt die ganze Bande ankajolt und tollt hier herum. Sie dürfen es nicht, aber die holden Engelchen haben doch nun einmal den Teufel im Leibe.«

»Wen meinen Sie denn?«

»Die kleinen Mädchen. Die würden Sie bald hier ausspioniren, kann ich Ihnen sagen, und ein Halloh erheben: ›Ein Mann! Ein Mann!‹ Heute freilich ist nichts zu fürchten. Sie werden keine Zwischenstunden haben. Den ganzen Tag über wird gebetet werden. Da! hören Sie. Es ist das Totengeläut.«

»Ach so, Vater Fauchelevent. Sie haben hier auch ein Erziehungsinstitut.«

»Das wäre übrigens was für Cosette,« dachte er bei sich.

»Na gewiß,« sagte Fauchelevent. »Was das für einen Aufruhr geben, wie die Jöhren rennen würden! Wenn die leibhaftige Pest hier hereinkäme, würde der Schreck nicht so groß sein, als wenn sie hier einen Mann erwischten. Sie sehen ja, Herr Madeleine, mir haben sie eine Glocke angehängt, als wäre man ein reißendes Thier.«

Jean Valjean wurde immer nachdenklicher. »In dem Kloster wären wir gut aufgehoben!« dachte er. Dann sagte er laut:

»Ja ja! Wenn man nur wüßte, wie man's anstellen müßte, um hier bleiben zu können!«

»Nein!« entgegnete Fauchelevent. »Die Schwierigkeit liegt darin, wie man hinauskommt.«

»Hinausgehen?« fragte Jean Valjean, und das Blut drang ihm in Masse nach dem Herzen.

»Freilich, Herr Madeleine. Wollen Sie hier bleiben, so müssen Sie erst raus.«

Und nachdem er wieder einen Schlag der Totenglocke abgewartet, fuhr er fort:

»Hier dürfen Sie Sich nicht finden lassen. Wo kommen Sie her?« würde es heißen.

Plötzlich ließ sich ein ziemlich komplicirtes Geläute von einer andern Glocke vernehmen.

»Da!« meinte Fauchelevent. »Jetzt werden die Mütter zum Kapitel berufen. Das geschieht immer, wenn Eine ihre letzte Reise angetreten hat. Könnten Sie nicht auf dem Wege hinausgehen, wo Sie hereingekommen sind? Ich frage es nicht aus Neugierde, aber sagen Sie mal, auf welchem Wege sind Sie hier hereingekommen?«

Jean Valjean verfärbte sich. Ihn schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß er sich wieder in die Straße wagen solle. Man denke sich, Jemand hat sich aus einem Wald gerettet, in dem eine Unzahl Tiger hausen, und ein guter Freund giebt ihm den Rath, wieder darin spazieren zu gehen! Jean Valjean sah noch in Gedanken Javert das ganze Stadtviertel durchstreifen, und fühlte seine Faust an seinem Kragen.

»Kein Gedanke daran!« sagte er. »Nehmen Sie an, ich wäre vom Himmel gefallen.«

»Ich glaub' es Ihnen ja! Gewiß hat der liebe Gott Sie sich mal näher besehen wollen, hat Sie in seine Hand genommen und wieder fallen lassen. Er wollte, daß Sie in einem Männerkloster wieder auf die Erde kämen, hat aber ein Versehen gemacht. Da klingelt's eben wieder. Das ist das Zeichen für den Pförtner, daß er die Behörden benachrichtigt und ein Arzt geschickt wird, der den Todesfall zu konstatiren hat. Das gehört Alles zu den Sterbezeremonien. Der Arzt ist hier im Hause nicht gern gesehen. Dergleichen Leute glauben an nichts, und stecken ihre Nase in wer weiß was. Wie schnell sie dies Mal nach dem Arzt schicken! Was mag blos vorgehen? Ihre Kleine schläft immer noch. Wie heißt sie denn?«

»Cosette.«

»Sie sind ihr Großvater?«

»Ja wohl.«

»Die schaffen wir leicht hinaus. Ich gehe durch eine besondere Thür in den Hof und klopfe an, damit der Pförtner mich hinausläßt. Ich habe eine Kiepe auf dem Rücken, wo die Kleine drin ist. Daß Vater Fauchelevent mit einer Kiepe ausgeht, ist nichts Außerordentliches. Sie brauchen bloß dem Kinde zu sagen, daß es sich hübsch still verhält, und wir decken sie gut mit der Plane zu. Ich gehe dann zu einer guten Freundin, einer Gemüsehändlerin in dem Chemin-Vert, die ein Kinderbett hat. Der schreie ich ins Ohr – sie ist nämlich schwerhörig – die Kleine wäre eine Nichte von mir, sie möchte sie bis zum nächsten Tag bei sich behalten. Nachher kann sie dann wieder mit Ihnen hierher zurückkommen. Denn dazu will ich Ihnen schon verhelfen, daß Sie wieder hier hereinkommen. Aber wie wollen Sie es anstellen, um hinauszukommen?«

Jean Valjean schüttelte bedenklich den Kopf.

»Alles kommt darauf an, daß ich von Niemand gesehen werde. Schaffen Sie mich doch auch in einer Kiepe und unter einer Plane hinaus.«

Fauchelevent kratzte sich mit dem Mittelfinger der linken Hand am Ohrlappen, ein Zeichen höchster Verlegenheit.

Da wurde seine Aufmerksamkeit wieder durch ein Geläute auf etwas anderes gelenkt.

»Jetzt geht der Arzt wieder weg. Er hat die Leiche besichtigt und gesagt: »Sehr schön! die ist tot.« Wenn der Arzt den Paß für die Ewigkeit ausgestellt hat, so schickt das Beerdigungsbureau einen Sarg nebst Bahre. Die Tote wird von ihren Ranggenossinnen eingesargt, und dann muß ich kommen und den Sarg zunageln. Die Leiche wird in einen niedrigen Saal in der Kirche gebracht, wo kein Mann Zutritt hat, ausgenommen der Arzt, der mit der Totenschau beauftragt ist. Denn die Leichenträger und mich rechne ich nicht als Männer. In dem Saal nagle ich den Sarg zu. Dann holen die Beerdigungsfritzen sie ab und ›Nu heidi, Kutscher!‹ geht die Fahrt nach dem Himmel. De profundis

Ein Sonnenstrahl glitt über Cosettes Gesicht dahin, die Kleine hielt im Schlaf den Mund offen und sah aus wie ein Engel, der Licht trinkt. In ihren Anblick versunken, hörte Jean Valjean nicht mehr auf Fauchelevent's redselige Auseinandersetzungen hin.

Wenn Einer nicht angehört wird, ist dies noch lange kein Grund, daß er den Mund halten soll, und dem wackeren Gärtner fiel es auch nicht ein, seiner Zunge einen Zügel anzulegen.

»Sie soll auf dem Kirchhof Vaugirard beerdigt werden. Dem Vernehmen nach will man den Kirchhof eingehen lassen. Er stimmt nicht mehr mit den jetzigen Reglements überein, ist polizeiwidrig und soll auf den Aussterbeetat gesetzt werden. Schade! Er lag sehr bequem. Der Totengräber von dem Kirchhof da, Vater Mestienne ist ein guter Freund von mir. Die Nonnen von unserm Kloster haben ein Vorrecht, sie werden nämlich bei Einbruch der Nacht auf jenen Kirchhof hinausgebracht. Darüber hat die Polizeipräfektur einen eigenen Paragraphen erlassen.«

Abermals erklang ein grelles Geläute. Fauchelevent machte hastig sein Knieleder los und schnallte es sich um.

»Dies Mal bin ich gemeint. Die Priorin wünscht mich zu sprechen. Hol's der Teufel, da hab ich mich am Schnallendorn gepiekt. Herr Madeleine, rühren Sie Sich nicht von der Stelle und warten Sie, bis ich wiederkomme. Es ist was Neues vorgefallen.«

Nach höchstens zehn Minuten klopfte Fauchelevent leise an eine Thür und von innen antwortete eine sanfte Stimme: »Immerdar!«

Es war die Thür eines Sprechzimmers, wo Dienstangelegenheiten des Gärtners erledigt wurden; es grenzte an den Kapitelsaal, und die Priorin saß hier auf dem einzigen Stuhle, den es enthielt, und wartete auf Fauchelevent.

II.
Fauchelevent der Schwierigkeit gegenüber

In kritischen Fällen erregt und ernst auszusehen ist eine Besonderheit gewisser Charaktere und Professionen, besonders aber der Priester und Religiösen. Auch dem liebenswürdigen, sonst so lustigen Fräulein de Blemeur oder Mutter Innocentia standen diese Gemütsbewegungen auf dem Gesicht geschrieben, als Fauchelevent in das Zimmer trat.

Der Gärtner begrüßte sie furchtsam und blieb auf der Thürschwelle stehen. Die Priorin, die ihren Rosenkranz durch die Hände gleiten ließ, rief ihm zu:

»Ah, Sie sind's, Vater Fauvent.«

Dies war die im Kloster übliche Abkürzung seines Namens.

Fauchelevent verneigte sich abermals.

»Vater Fauvent, ich habe Sie kommen lassen . . .«

»Ich stehe zu Diensten, hochwürdige Mutter!«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich meinerseits,« fiel Fauchelevent mit einer Kühnheit ein, vor der er in seinem Innern erschrak, »habe der Hochehrwürdigen Mutter gleichfalls etwas zu sagen.«

Die Priorin sah ihn an.

»Ach, Sie haben mir eine Mittheilung zu machen?«

»Eine Bitte!«

»Gut. So reden Sie!«

Der gute Fauchelevent gehörte zu der Kategorie von Bauern, die dreist sind. Eine gewisse pfiffige Unwissenheit ist eine Macht; man nimmt sich vor solch einem Menschen nicht in Acht und wird um so sichrer von ihm genommen. Seitdem er vor mehr als zwei Jahren in das Kloster gekommen war, hatte er sich allmählich immer beliebter gemacht. Da er fast immer allein war und durch seine Gärtnerarbeit nicht sehr in Anspruch genommen wurde, hatte er nicht viel Anderes zu thun, als seine Neugierde zu befriedigen. Zwar bedeuteten in der Entfernung, die er stets einhalten mußte, die verschleierten Frauen, die er gehen und kommen sah, für ihn zunächst nichts mehr als Schatten. Aber je mehr Aufmerksamkeit und Denkarbeit er ihnen widmete, desto mehr Fleisch und Blut nahmen die Geistergestalten für ihn an. Er glich in dieser Hinsicht einem Tauben, der hören lernt, einem Blinden, der nach einer glücklichen Operation mehr und mehr Geschicklichkeit im Gebrauch der Augen erlangt. Er hatte es sich angelegen sein lassen, die Bedeutung der verschiedenen Läutsignale kennen zu lernen, und es war ihm auch gelungen, so daß für ihn das räthselvolle und stille Kloster keine Geheimnisse mehr hatte. Aber obwohl er Alles wußte, schwieg er über Alles. Und das war ein großer Vortheil für ihn. Denn deshalb galt er für dumm, was ihm natürlich als ein Verdienst angerechnet wurde. Die Nonnen hielten große Stücke auf Fauchelevent und hatten großes Vertrauen zu dem stummen Alten. Zudem war er regelmäßig in seinen Gewohnheiten und ging nur dann aus, wenn es die Natur seiner Beschäftigung dringend erheischte, eine Zurückhaltung, die gleichfalls Anerkennung fand. Bei alle dem hatte er den Klosterpförtner und den Totengräber gründlich ausgefragt, so daß er über Tod und Leben der Nonnen Mancherlei wußte. Aber er mißbrauchte seine Wissenschaft nicht und die Ordensgenossenschaft hätte sich nicht gern von ihm getrennt. Alt, lahm, schwachsichtig, vielleicht sogar schwerhörig – mehr Vorzüge konnte man von einem Diener des Klosters doch nicht verlangen!

Der Pfiffikus begann also im Vollbewußtsein seiner Unentbehrlichkeit der hochehrwürdigen Mutter Priorin eine gewundene und weitschweifige Rede zu halten. Er sprach von den Gebrechen des Alters, den Jahren, die jetzt doppelt zählten, der Zunahme der Arbeit, der Größe des Gartens, dem wenigen Schlaf, den er sich jetzt gönnen könnte, den Melonen, die er vergangene Nacht habe zudecken müssen. Seine Ansprache gipfelte in der Bemerkung, er habe einen Bruder (hier machte die Priorin eine unruhige Bewegung), der nicht mehr jung sei (beruhigte Bewegung der Priorin), und der, wenn es gestattet werden sollte, zu ihm ziehen und bei der Arbeit helfen könnte. Dieser Bruder sei ein tüchtiger Gärtner, der sich der Genossenschaft sehr nützlich machen würde, nützlicher als er selber es gekonnt habe. Sollte man aber diesen seinen Vorschlag nicht genehmigen, so sehe er sich, altersschwach wie er sei, genöthigt, den Dienst des Klosters zu quittiren. Sein Bruder habe übrigens auch eine Enkelin, die er gern im Ordenshause Gott zu Ehren erziehen lassen möchte, und man könnte nicht wissen, ob nicht einst aus der Kleinen eine brave Nonne würde. Als er zu Ende geredet, unterbrach die Priorin ihre Beschäftigung mit dem Rosenkranze und fragte:

»Könnten Sie Sich bis heute Abend eine starke, eiserne Stange verschaffen?«

»Zu welchem Zweck?«

»Um als Hebel zu dienen.«

»Zu dienen, hochehrwürdige Mutter!«

Ohne ein Wort hinzuzufügen, erhob sich jetzt die Priorin und begab sich in den angrenzenden Raum, den Kapitelsaal, wo die Versammlung wahrscheinlich schon auf sie wartete. Fauchelevent blieb allein.

III.
Mutter Innocentia

Nach einer Viertelstunde ungefähr kam die Priorin zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl.

Beide Theile schienen ernsten Gedanken nachzuhängen, und es entspann sich folgender Dialog, den wir möglichst wortgetreu wiederzugeben versuchen wollen.

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Wissen Sie in der Kapelle Bescheid?«

»Ich habe da eine Gitterloge, wo ich der Messe anwohne.«

»Sie haben doch auch schon im Chor zu thun gehabt?«

»Einige Male.«

»Es würde sich darum handeln, eine Steinplatte hochzuheben.«

»Ist sie schwer?«

»Es ist die große Fliese neben dem Altar.«

»Die Platte, die das Grabgewölbe abschließt?«

»Ja.«

»Das ist ein Stück Arbeit, wozu zwei Männer nöthig wären.«

»Mutter Ascensio ist stark wie ein Mann.«

»Ein Frauenzimmer leistet nie so viel wie ein Mann.«

»Wir können Ihnen aber nur von einem Frauenzimmer helfen lassen. Man thut, was man kann. Weil Don Mabillon vierhundertsiebzehn Briefe des heil. Bernhard und Merlonus Horstius nur dreihundertsiebenundsechzig mittheilt, verachte ich Merlonus Horstius nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Der Mensch soll nach Maßgabe seiner Kräfte arbeiten. Die Insassen eines Klosters können es an Körperkraft nicht mit den Arbeitern einer Schiffswerft aufnehmen.«

»Und Frauen sind nie so stark wie Männer. Hochwürdige Mutter sollten meinen Bruder sehen. Das ist mal ein strammer Bursche.«

»Außerdem haben Sie ja auch noch den Hebel.«

»Das ist der einzige Schlüssel, der zu einer solchen Thür paßt.«

»An dem Stein ist ein Ring.«

»Da stecke ich den Hebel durch.«

»Und der Stein dreht sich um Angeln.«

»Sehr wohl, hochwürdige Mutter. Das Gewölbe mache ich auf.«

»Außerdem sollen Ihnen die vier Solosängerinnen helfen.«

»Und wenn wir das Gewölbe aufhaben?«

»Wird es wieder zugemacht.«

»Weiter nichts?«

»Doch!«

»Befehlen Sie, hochwürdige Mutter.«

»Fauvent, wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Dazu bin ich hier, daß ich alles thue, was mir gesagt wird.«

»Und daß Sie reinen Mund halten.«

»Gewiß, hochwürdige Mutter.«

»Sobald das Gewölbe geöffnet ist, . . .«

»Mache ich es wieder zu.«

»Ja, aber vorher . . .«

»Muß ich was thun?«

»Etwas hinunterlassen.«

Jetzt trat eine Pause in dem Gespräch ein. Die Priorin schob die Unterlippe vor, als trage sie Bedenken, mit der Sprache herauszurücken, hob aber endlich wieder an:

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie wissen doch, daß Jemand im Hause gestorben ist?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?«

»Da hinten im Garten hört man ja nichts.«

»Wirklich nicht?«

»Kaum, daß ich mein Signal unterscheiden kann.«

»Sie ist bei Tagesanbruch verschieden.«

»Außerdem wehte heute früh der Wind nicht nach meiner Seite.«

»Es handelt sich um die selige Mutter Crucifixio.«

Die Priorin hielt einen Augenblick inne, bewegte die Lippen wie zum Gebet und fuhr fort:

»Vor drei Jahren sah eine Jansenistin, Madame de Béthune, die Mutter Crucifixio blos beten und bekehrte sich sofort zum allein seligmachenden Glauben.«

»Richtig, jetzt höre ich das Totengeläute.«

»Die Mütter haben sie in die Totenkammer getragen, die an die Kirche stößt.«

»Ich weiß schon welche.«

»Kein anderer Mann als Sie darf und soll da hinein. Passen Sie gut auf. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn ein Mann seinen Fuß in die Totenkammer setzte!«

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr.

»Zur neunten Stunde des Morgens und zu jeder Stunde sei gelobt und angebetet das allerheiligste Sakrament des Altars!« betete die Priorin.

»Amen!« fiel Fauchelevent ein.

Wieder murmelte die Priorin leise etwas – wahrscheinlich etwas Religiöses – vor sich hin und erhob dann wieder die Stimme:

»Bei ihren Lebzeiten hat Mutter Crucifixio Bekehrungen vollbracht, nach ihrem Tode wird sie Wunder thun.«

»Das kann nicht fehlen!«

»Vater Fauvent, die Genossenschaft ist gesegnet gewesen in Mutter Crucifixio. Allerdings ist es nicht Jedermann gegeben, zu sterben wie der Kardinal de Bérulle, der während der heiligen Messe, gerade als er die Worte ›Hanc igitur oblationem‹ sprach, seinen Geist aufgab. Aber wenn ihr auch nicht ein so hohes Glück zu Theil geworden, so hat Mutter Crucifixio einen sehr schönen Tod gehabt. Bis zum letzten Augenblicke bewahrte sie ihr volles Bewußtsein und sprach mit uns und dann mit den Engeln. Sie hat uns auch etwas aufgetragen. Wenn Sie mehr Glauben hätten und dabei gewesen wären, so würde sie Ihr Knie berührt und geheilt haben. Sie hatte ein glückliches Lächeln. Man merkte, daß sie in Gott wieder geboren wurde. Es war ein seliges Sterben!«

In der Meinung, das sei ein Gebet gewesen, fiel er ihr ins Wort: »Amen!«

»Vater Fauvent, man muß den letzten Willen der Toten achten.«

Sie schob wieder einige Kügelchen des Rosenkranzes weiter, während Fauchelevent schwieg.

»Ich habe über diese Frage mehrere Geistliche zu Rathe gezogen, die mit Sachkenntniß und Erfolg im Weinberge des Herrn arbeiten und in der Ausübung der klösterlichen Pflichten bewandert sind.«

»Hochwürdige Mutter, hier hört man die Totenglocke weit deutlicher als im Garten.«

»Außerdem ist sie nicht eine Tote wie andere, sondern mehr eine Heilige.«

»Wie Sie, hochwürdige Mutter!«

»Sie schlief seit zwanzig Jahren in ihrem Sarge, auf ausdrückliche Erlaubniß Sr. Heiligkeit Pius IX.«

»Derselbe, der den Kai . . ., der Buonaparte gekrönt hat.«

Für einen Schlauberger wie Fauchelevent war diese historische Reminiscenz ein arger Schwupper. Glücklicherweise hatte die Priorin, die nur ihrem eignen Gedanken nachging, nichts gehört. Sie fuhr ruhig fort:

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Der heil. Diodor, Erzbischof von Kappadocien, befahl, daß man auf seinen Grabstein blos das Wort acarus, Erdenwurm, setzen sollte, und also geschah es. Ist das wahr? Verhält sich das nicht so?«

»Gewiß hochwürdige Mutter.«

»Der hochselige Mezzocane, Abt von Aquia, ordnete an, daß man ihn unter dem Galgen begraben solle, und also geschah es.«

»Das ist wahr.«

»Der heil. Terenz, Bischof von Porto an der Tibermündung, verlangte, man soll auf seinen Grabstein das Zeichen eingraben, an dem man das Grab von Vatermördern erkannte, in der Hoffnung, die Vorübergehenden würden auf sein Grab speien. Also geschah es. Man soll den Toten gehorchen.«

»Also sei es!«

»Die Leiche von Bernhard Guidonis, der bei Roche-Abeille in Frankreich geboren war, wurde, auf sein Geheiß und wider den Willen des Königs von Kastilien, nach der Dominikanerkirche in Limoges gebracht, obgleich Bernhard Guidonis Bischof von Tuy in Spanien war. Oder darf Jemand das Gegentheil behaupten?«

»Bewahre hochwürdige Mutter.«

»Die Thatsache ist von Plantavit de la Fosse bezeugt.«

Abermals wanderten einige Perlen des Rosenkranzes weiter. Dann fuhr die Priorin fort:

»Vater Fauvent, Mutter Crucifixio muß in demselben Sarge bestattet werden, in dem sie zwanzig Jahre lang geschlafen hat.«

»So gehört es sich.«

»Ihr Tod ist eine Fortsetzung dieser Gewohnheit.«

»Ich soll also den Sarg zunageln?«

»Ja.«

»Also nicht den uns das Beerdigungsbüreau schickt?«

»Nein.«

»Wie hochwürdige Mutter befehlen.«

»Die vier Solosängerinnen sollen Ihnen helfen.«

»Beim Sargzumachen? Dabei brauche ich keine Hülfe.«

»Nein. Aber um die Leiche hinabzulassen,«

»Hinab . . .?

»In das Gewölbe.«

»In welches Gewölbe.«

»In das Gewölbe unter dem Altar.«

Fauchelevent fuhr erstaunt zurück.

»In das Grabgewölbe?«

»Mit der Eisenstange . . .«

»Ja, aber . . .«

»Die Sie durch den Ring stecken, heben Sie die Steinplatte empor.«

»Aber . . .«

»Der Wille der Toten muß geschehen. In dem Grabgewölbe unter dem Altar bestattet zu werden, nicht in unheiliger Erde zu schlafen, dort im Tode zu ruhen, wo sie während des Lebens gebetet hat, ist der letzte, höchste Wunsch unserer Mutter Crucifixio gewesen. Sie hat uns darum gebeten, d. h. sie hat es befohlen.«

»Es ist aber verboten.«

»Von den Menschen verboten, von Gott geboten.«

»Wenn das herauskäme?«

»Wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»O, ich bin wie ein Stein von Ihrem Hause.«

»Das Kapitel hat sich versammelt. Die stimmberechtigten Mütter, die ich so eben befragt habe, und die noch berathschlagen, haben beschlossen, daß Mutter Crucifixio ihrem Wunsche gemäß in ihrem Sarge unter unserm Altar beigesetzt werden soll. Denken Sie, Vater Fauvent, wenn hier Wunder geschehen sollten! Was für eine Ehre wäre das für unsere Genossenschaft! Wunder gehen ja aus Gräbern hervor.«

»Aber hochwürdige Mutter, wenn die Sanitätskommission . . .«

»Der heil. Benedictus II. hat gegen Konstantin Pogonatus wegen der Begräbnißfrage opponirt.«

»Aber der Polizeikommissar . . .«

»Chonodemarius, einer der sieben deutschen Könige, die unter der Regierung des Kaisers Konstantius in Gallien eindrangen, hat ausdrücklich das Recht der Religiösen anerkannt, als solche, d. h. unter dem Altar, beigesetzt zu werden.«

»Aber der Inspektor der Polizeipräfektur . . .«

Die Welt hat dem Kreuze gegenüber nichts zu sagen. Martinus, elfter General der Karthäuser gab seinem Orden die Divise: Stat crux, dum volvitur orbis

»Amen!« fiel Fauchelevent wieder ein. Denn er konnte nie Latein hören, ohne feierlich Amen zu sagen.

Wer zu lange geschwiegen hat, ist in Bezug auf Zuhörer nicht wählerisch. Als der Rhetor Gymnastoras aus dem Gefängniß entlassen wurde, blieb er, um die vielen Dilemmas und Syllogismen, die er während der Zeit ausgetüftelt hatte, schleunigst anzubringen, vor dem ersten, bester Baum stehen und hielt ein beredte Ansprache an ihn, um ihm ausführliche Mittheilung von seinen wissenschaftlichen Funden zu machen. So entstürzten nun auch dem Munde der Priorin, die Fauchelevent gegenüber von der Regel des Stillschweigens befreit war, die Worte in so gewaltiger Menge, wie ein Schwall Wasser aus einer geöffneten Schleusenkammer:

»Zu meiner Rechten habe ich Benedictus und zu meiner Linken Bernhard. Wer war Bernhard? Der erste Abt von Clairvaux. Fontaines in Burgund ist der glückselige Ort, wo er das Tageslicht erblickt hat. Sein Vater hieß Técelin und seine Mutter Alethe. Er hat mit der Gründung des Cistercienserklosters angefangen, bis er später sich dazu erhob, der Gründer von Clairvaux zu werden. Er wurde von dem Bischof von Châlon-sur-Saône, Guillaume de Champeaux zum Abt geweiht, hatte siebenhundert Novizen und stiftete hundert und sechzig Klöster, kämpfte auf dem Konzil zu Sens im Jahre 1140 Abeilard's, Pierre de Bruy's und seines Schülers Henry Irrlehren nieder, und ebenso die Thorheiten der sogenannten Apostoliker; widerlegte Arnold von Brescia, den Mönch Raoul, den Judentöter, trat mit Autorität in dem Konzil zu Reims 1148 auf, veranlaßte die Verurtheilung Gilbert's de la Porée, Bischofs von Poitiers, die Verurtheilung Eon's de l'Etoile, schlichtete Streitigkeiten zwischen Fürstlichkeiten, berieth den jungen König Ludwig und den Papst Eugenius III., brachte einen Kreuzzug zu Stande, that zweihundertfünfzig Wunder in seinem Leben, und neununddreißig an einem Tage. Wer war Benedictus? Der Patriarch vom Monte Cassino, der zweite Gründer des Cönobitismus, der Basilius des Occidents. Sein Orden hat vierzig Päpste, zweihundert Kardinäle, fünfzig Patriarchen, sechzehnhundert Erzbischöfe, viertausendsechshundert Bischöfe, vier Kaiser, zwölf Kaiserinnen, sechsundvierzig Könige, einundvierzig Königinnen, dreitausendsechshundert kanonisirte Heilige hervorgebracht und besteht seit vierzehnhundert Jahren. Auf der einen Seite der heil. Bernhard; auf der andern der Beamte der Sanitätskommission! Auf der einen Seite der heil. Benedikt und auf der andern ein Inspektor der Straßenpolizei! Der Staat, die öffentliche Hygiene, das Beerdigungsbüreau, die Polizeiverordnungen, die städtische Verwaltung – sind das Dinge, die uns etwas angehen? Es würde öffentliche Entrüstung erregen, wenn man wüßte, wie wir behandelt werden. Wir haben nicht einmal das Recht, unsern Staub Jesu Christo zu geben. Die Hygiene ist eine Erfindung der Revolutionäre. Gott untersteht heutzutage dem Polizeikommissar. Schweigen Sie, Fauvent!«

Dem Armen war nicht wohl zu Muthe, und dabei war der Wortschwall noch nicht vorbei.

»Das Recht der Klosterangehörigen auf Bestattung im Kloster ist über allen Zweifel erhaben. Nur Fanatiker und die auf den Pfaden des Irrthums wandeln, können das leugnen. Wir leben in einer Zeit schrecklicher Begriffsverwirrungen, krasser Unwissenheit, gräßlicher Gottlosigkeit. Giebt es doch heutzutage Leute, die keinen Unterschied machen zwischen dem gewaltigen Bernhard dem Heiligen, und Bernhard von den katholischen Armen, einem gewissen Priester aus dem dreizehnten Jahrhundert. Andere machen sich der Lästerung schuldig, die Hinrichtung Ludwig XVI. in Vergleich zu stellen neben die Kreuzung Jesu Christi. Ludwig XVI. war doch nur ein König. Hüten wir uns vor dem Zorne Gottes. Man verwechselt oft Gerechte und Ungerechte. Man citirt Voltaire und kennt César de Bus nicht, der ein gottesfürchtiger Mann war, während Voltaire dem Frevel huldigte. Der letzte Erzbischof, der Kardinal von Périgord wußte nicht einmal, daß Bérulle's Nachfolger Charles de Gondren hieß! Den Namen des Paters Coton kennt man, nicht weil er die Gründung des Oratoriums befürwortet hat, sondern weil der Hugenottenkönig Heinrich IV. über ihn fluchte. Das Gedächtniß unseres François de Sales halten manche Laien deshalb in Ehren, weil er beim Spiel mogelte. Und dann greift man die Religion an. Warum? Weil es schlechte Priester gegeben hat. Was schadet das aber? Ist darum Martin von Tours nicht ein Heiliger gewesen? Hat er darum seinen Mantel nicht mit einem Bettler getheilt? Die Heiligen werden verfolgt, die Wahrheit geleugnet. Die blinden Thiere sind aber die bösesten. Niemand denkt mehr ernstlich an die Hölle. O über das schlechte Volk! ›Im Namen des Königs!‹ bedeutet so viel wie: ›Im Namen der Revolution!‹ Man weiß nicht mehr, was man den Toten und was man den Lebenden schuldet. Es ist verboten, religiös zu sterben. Das Begräbnis ist eine Angelegenheit des Staates. Schauderhaft! Der heil. Leo II. hat eigens zwei Briefe geschrieben, den einen an Peter Notarius, den andern an den König der Westgothen, um die Autorität des Exarchen und die Suprematie des Kaisers in den Angelegenheiten, die auf Verstorbene Bezug haben, zu bekämpfen. Darin gaben uns auch die Parlamente vor der Revolution Recht. Ehedem durften wir auch in weltlichen Dingen mitreden. Der Abt von Cîteaux, Ordensgeneral, war erbliches Mitglied des Parlaments von Burgund. Wir thun mit unsern Toten, was wir wollen. Befindet sich doch der Leichnam des heil. Benedikt in der Abtei von Fleury in Frankreich, obwohl er in Italien, auf dem Monte Cassino, am Sonnabend den 21. März 543, gestorben ist. Alles dies sind unwiderlegliche Thatsachen. Ich verabscheue die Psallanten, ich verdamme die Ketzer, aber wer das Gegentheil behauptet von dem, was ich gesagt habe, den hasse ich weit mehr. Man braucht blos Arnoul Wion's, Gabriel Bucelin's, Trithéme's, Maurolicus' und Don Luc d' Achery's Schriften zu lesen.«

Hier schöpfte die Priorin Athem und wandte sich dann wieder an Fauchelevent:

»Wollen Sie's thun, Vater Fauvent?«

»Gewiß, hochwürdige Mutter.«

»Wir können auf Sie zählen?«

»Unbedingt.«

»So ist's recht!«

»Ich bin dem Kloster in jeder Hinsicht ergeben.«

»Also abgemacht: Sie machen den Sarg zu. Die Schwestern tragen ihn in die Kapelle, das Totenamt wird gehalten und dann gehn wir in das Kloster zurück. Zwischen elf Uhr und Mitternacht treten Sie mit der Eisenstange an. Dann wird Alles in der größten Stille abgemacht. Nur die vier Solosängerinnen, Mutter Ascensio und Sie werden dabei sein.«

»Und die Schwester an der Richtsäule?«

»Die wird sich nicht umdrehen.«

»Aber sie hat Ohren.«

»Die werden nicht hören. Im Uebrigen erfährt die Welt ja nicht, was das Kloster weiß.«

Wieder trat eine Pause ein.

»Nehmen Sie Ihre Glocke ab. Die Schwester an der Richtsäule braucht nicht zu merken, daß Sie da sind.«

»Hochwürdige Mutter?«

»Was denn, Vater Fauvent?«

»Ist der Arzt schon wegen der Totenschau hier gewesen?«

»Er kommt heute um vier Uhr. Das Signal ist ja gegeben worden. Hören Sie denn kein Geläut?«

»Ich achte blos auf mein Signal.«

»Das ist schön von Ihnen, Vater Fauvent.«

»Hochwürdige Mutter, ich werde einen Hebel von wenigstens sechs Fuß Länge brauchen.«

»Wo werden Sie ihn hernehmen?«

»Wo Gitter sind, da fehlen auch Eisenstangen nicht. Es liegt da im Garten ein Haufen altes Eisen, wo ich mir was aussuchen werde.«

»Drei Viertelstunden ungefähr vor Mitternacht. Vergessen Sie nicht.«

»Hochwürdige Mutter?«

»Was?«

»Wenn Sie jemals wieder solch ein Stück Arbeit zu vergeben hätten, wäre mein Bruder der geeignete Mann, ein wahrer Türke von Kerl!«

»Machen Sie auch die Sache schnell ab.«

»Schnell gehen kann ich aber nicht. Ich bin ein lahmer, alter Mann. Deshalb thäte mir ein Gehülfe sehr noth.«

»Lahmheit ist keine Schande. Ja vielleicht sogar ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., der den Gegenpapst Gregor bekämpfte und Benedikt VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige und der Lahme. Aber noch eins. Ich habe mich eines Andern besonnen. Eine volle Stunde ist doch wohl besser. Seien Sie mit Ihrer Stange Schlag elf Uhr beim Hauptaltar. Das Amt fängt um Mitternacht an, und Alles muß schon eine Viertelstunde vorher abgemacht sein.«

»Ich werde mein Möglichstes thun, um der hochwürdigen Genossenschaft einen Beweis meines Pflichteifers zu geben. Ich nagle also den Sarg zu, bin mit meiner Hebelstange Punkt elf Uhr in der Kapelle und finde da die vier Sängerinnen und Mutter Ascensio. Zwei Männer wäre besser. Aber na! Wir machen dann das Grabgewölbe auf, lassen den Sarg hinab, decken es wieder zu. Auf die Weise erfährt die Regierung nichts. Das ist doch Alles, hochwürdige Mutter?«

»Nein.«

»Was ist denn sonst noch zu besorgen?«

»Sie denken nicht an den leeren Sarg!«

Beide hielten inne und sannen nach.

»Vater Fauvent, was machen wir blos damit?«

»Der kommt auf den Kirchhof!«

»Leer?«

»Hochwürdige Mutter, ich vernagle ihn in dem niedrigen Saal, wo Keiner hinkommt als ich, und decke das schwarze Leichentuch darüber.«

»Ja, aber die Leichenträger werden sofort fühlen, daß nichts darin ist.«

»Ach der Teu–!« rief Fauchelevent, kam aber mit dem verpönten Wort nicht zu Ende, denn die Priorin schaute ihn strenge an und machte das Zeichen des Kreuzes.

Der Alte beeilte sich desto mehr, Rath zu schaffen, um den Fluch in Vergessenheit zu bringen.

»Hochwürdige Mutter, ich fülle den Sarg mit Erde. Das wird so schwer wiegen, als wenn eine Leiche drin wäre.

»Sie haben Recht. Der Mensch kommt von Erde und wird zu Erde. Dann ist Alles besprochen.«

Jetzt erheiterte sich das Gesicht der Priorin, die bis dahin sorgenvoll dreingeschaut hatte. Sie winkte Fauchelevent ab, rief ihm aber, als er schon auf der Schwelle stand, mit gedämpfter Stimme nach:

»Fauchelevent, ich bin zufrieden mit Ihnen. Stellen Sie mir morgen nach dem Begräbniß Ihren Bruder vor, und sagen Sie ihm, er soll seine Enkelin mitbringen.

IV.
Nach Austin Castillejo

Die Schritte eines Lahmen sind wie die Liebesblicke eines Einäugigen: Sie kommen nicht schnell ans Ziel. Dazu kam, daß Fauchelevent sich allerlei Gedanken machte. Es kostete ihm eine Viertelstunde, ehe er nach seiner Baracke gelangte. Während der Zeit war Cosette aufgewacht und saß jetzt vor dem Kaminfeuer. Als Fauchelevent eintrat, zeigte ihr Jean Valjean die Kiepe an der Wand und sagte:

»Höre mir aufmerksam zu, Cosettechen. Wir müssen aus diesem Hause hinausgehen, kommen aber wieder und werden es hier gut haben. Der gute, alte Gärtner wird Dich in der Kiepe auf seinem Rücken davontragen, und Du sollst zu einer Dame, wo Du auf mich warten wirst. Dort hole ich Dich ab. Folge mir ja, wenn Du nicht willst, daß Dich die Thénardier wieder in ihre Gewalt bekommt, und verhalte Dich mäuschenstill!«

Cosette nickte mit ehrpusliger, verständnißvoller Miene.

Hier ließen sich Fauchelevent's Schritte vernehmen, und Jean Valjean wandte sich nach ihm um:

»Nun, wie steht's?«

»Die Schwierigkeiten sind gehoben und auch nicht gehoben. Ich habe die Erlaubniß Sie hereinzulassen; aber zunächst müssen wir Sie hinausschaffen, und da liegt der Hase im Pfeffer. Was das kleine Mädchen anbetrifft, ist die Sache leicht zu machen, wenn sie keinen Muck redet.«

»Dafür bürge ich.«

»Aber Sie, Vater Madeleine?«

Und nach einer qualvollen Pause rief er:

»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und gehen Sie da hinaus, wo Sie hereingekommen sind.«

»Geht nicht!« entgegnete Jean Valjean, wie schon einmal zuvor.

Fauchelevent brummte, indem er seine Rede nicht so sehr an Jean Valjean, als an sich selber richtete:

»Die andere Sache macht mir auch Kopfschmerzen, Ich habe ihr versprochen, Erde hineinzuthun. Erde verhält sich aber ganz anders als ein menschlicher Körper. Es wird nicht gehen, sie wird sich verschieben, sich bewegen, und die Leichenträger werden den Braten riechen. Dann kriegt's aber die Obrigkeit auch zu erfahren.«

Jean Valjean sah ihm fest ins Gesicht, denn er glaubte, sein alter Freund phantasire.

Als ihm aber Dieser einen ausführlichen Bericht über seine Unterredung mit der Priorin erstattete, fragte er:

»Was ist das für ein leerer Sarg?«

»Also, eine Nonne stirbt. Sofort kommt der Totenarzt, besieht sich die Leiche und meldet: ›Ja, die ist tot.‹ Darauf schickt die Behörde einen Sarg und am nächsten Tage einen Leichenwagen nebst den Leichenträgern, die den Sarg abholen und auf den Kirchhof bringen. Aber wenn sie zu uns kommen, wird in dem Sarge nichts drin sein.«

»So legen Sie was hinein!«

»Was denn? Eine Leiche habe ich nicht.«

»Das meine ich auch nicht.«

»Ja, was soll ich denn aber hineinlegen?«

»Einen Lebendigen?«

»Wen denn!«

»Mich!«

Fauchelevent fuhr von seinem Stuhl auf, als wäre eine Bombe unter ihm geplatzt.

»Sie!«

»Warum denn nicht?« fragte Jean Valjean und lächelte, was bei ihm so selten war, wie Sonnenschein im Winter.

»Fauchelevent, wir sagten ja vorhin: Mutter Crucifixio ist gestorben und Vater Madeleine wird begraben. Jetzt trifft das wirklich ein.«

»Ach so! Ich sehe, Sie spähen!«

»Nein, nein! Ich rede im Ernst. Hinaus muß ich ja doch.«

»Allerdings.«

»Ich hatte Ihnen auch gesagt, Sie möchten eine Kiepe und eine Plane für mich besorgen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das haben wir jetzt, bloß daß die Kiepe aus Tannenholz ist, und statt der Plane haben wir ein schwarzes Tuch.«

»Ein weißes. Auf den Sarg einer Nonne kommt ein weißes Leichentuch.«

»Meinetwegen, ein weißes.«

»Sie sind doch ganz anders, als andere Leute, Vater Madeleine.«

Eine so krause Idee, die nichts Anderes war, als eine echte, verwegene Bagnoerfindung, so in den »gemüthlichen Schlendrian des Klosterlebens« eingreifen zu sehen, versetzte Fauchelevent in kein geringeres Erstaunen, als etwa der Anblick einer Möwe in der Rue Saint-Denis einen Pariser.

»Es kommt ja darauf an, hinauszukommen, nicht wahr? Auf die Weise läßt es sich machen. Aber sagen Sie mir ordentlich Bescheid, damit ich weiß, wie's dabei zugeht. Wo ist der Sarg?«

»Der leere?«

»Ja.«

»Unten, in dem Totensaal. Er steht auf zwei Böcken, und ein Leichentuch ist darüber geworfen.«

»Wie lang ist der Sarg?«

»Sechs Fuß.«

»Wie ist das mit dem Totensaal?«

»Ein Raum im Erdgeschoß mit einem vergitterten Fenster nach dem Garten, das nach Außen mit einem Fensterladen verwahrt ist, und dann sind zwei Thüren, eine nach dem Kloster und eine nach der Kirche.«

»Was für eine Kirche?«

»Die öffentliche, die an der Straße gelegen ist.«

»Haben Sie die Schlüssel zu den beiden Thüren?«

»Nein. Blos den Schlüssel zu der Thür, die nach dem Kloster geht. Den andern hat der Kastellan.«

»Wann macht er die Thür nach der Kirche auf?«

»Blos um die Leichenträger hereinzulassen, wenn sie die Bahre abholen. Gleich darauf wird die Thür wieder abgeschlossen.«

»Wer nagelt den Sarg zu?«

»Ich.«

»Wer breitet das Tuch darüber?«

»Ich«

»Sind Sie allein?«

»Kein anderer Mann, ausgenommen der Arzt, darf in den Totensaal. Das steht sogar an der Wand angeschrieben.«

»Könnten Sie mich heute Nacht, wenn Alles im Kloster schläft, in dem Totensaal verstecken?«

»Nein; wohl aber in einem kleinen dunkeln Verschlag, der sich nach dem Totensaal öffnet. Ich bewahre darin meine Begräbnißwerkzeuge. Er steht zu meiner alleinigen Verfügung, und ich habe die Schlüssel dazu.«

»Um wieviel Uhr wird der Leichenwagen morgen kommen?«

»Gegen drei Uhr Nachmittags. Das Begräbniß findet auf dem Kirchhof Vaugirard kurz vor Einbruch der Nacht statt. Es ist nicht ganz nahe.«

»Ich werde mich in Ihrem Verschlag die ganze Nacht und den ganzen Vormittag versteckt halten. Zu essen werde ich auch was haben müssen.«

»Ich will Ihnen was bringen.«

»Dann kommen Sie also um zwei Uhr Nachmittags und sargen mich ein!«

Fauchelevent fuhr zurück und knackte mit den Fingern.

»Aber so was ist doch rein unmöglich!«

»Ich bitte Sie! Ein paar Nägel mit dem Hammer in ein Brett eintreiben!«

Was Fauchelevent etwas Unerhörtes dünkte, war für Jean Valjean etwas Einfaches. Er hatte schon gefährlichere Proben bestanden. Wer im Zuchthaus gewesen ist, hat die Kunst studirt, seine Körperlänge und seinen Umfang erheblich zu vermindern. Einen Gefangenen übermannt der Wunsch zu entspringen so sicher, wie einen Kranken die Krisis, die ihn rettet oder umbringt. Was läßt sich aber der Mensch nicht Alles gefallen, wenn er dadurch von einer Krankheit genesen oder aus dem Gefängniß entfliehen kann? Sich den Wandungen einer Kiste anpassen, wie ein Stück Waare, Luft schnappen, wo eigentlich keine war, seine Athmung sorgsam regulieren, halb ersticken und nicht ganz sterben, war eins der Talente, die Jean Valjean mit unheimlicher Geschicklichkeit zu üben verstand.

Uebrigens haben aber nicht blos gemeine Sträflinge sich dieses eigenthümlichen Transportmittels bedient; es hat auch Gnade in den Augen eines Kaisers gefunden. Wenn wir einem Bericht des Mönches Austin Castillejo's trauen dürfen, ließ auch Kaiser Karl V., als er nach seiner Abdankung mit der Plombes noch ein Stelldichein haben wollte, sie in einem Sarg in sein Kloster und auf dieselbe Weise wieder hinausschmuggeln.

Nachdem Fauchelevent sich etwas von seinem Schreck erholt hatte, fragte er:

»Wie wollen Sie denn athmen?«

»Es wird schon gehen!«

»Mir wird der Athem knapp, wenn ich blos daran denke.«

»Sie werden ja doch einen Bohrer haben. Damit machen Sie in der Nähe des Mundes einige kleine Löcher. Und ganz fest aufzunageln brauchen Sie ja den Deckel auch nicht.«

»Nun ja! Wenn es Ihnen nun aber passiert, daß Sie husten oder niesen?«

»Wer in einer solchen Gefahr schwebt, hustet und niest nicht. – Es hilft Alles nicht, Vater Fauchelevent. Hier werde ich entweder abgefaßt, oder ich muß in dem Leichenwagen hinaus.«

Jedermann hat beobachtet, daß Katzen, wenn sie durch eine halboffene Thür hindurchschleichen, gern anhalten und sich nicht weiter wagen. So zaudern auch viele allzu vorsichtige Menschen in entscheidungsvollen Augenblicken auf die Gefahr hin, vom Schicksal zerquetscht zu werden, während schnelle Entschlossenheit sie leicht retten würde. Auch Fauchelevent hatte eine solche Anwandlung von Katzenvorsicht. Indessen steckte ihn Jean Valjean's Zuversicht doch etwas an. Er murmelte:

»Hm! Ein anderes Mittel hat man allerdings nicht.«

Jean Valjean fuhr fort:

»Das Einzige, was mir Sorge macht, ist die Frage, wie sich die Dinge auf dem Kirchhof entwickeln werden.«

»Gerade der Punkt setzt mich am wenigsten in Verlegenheit,« belehrte ihn Fauchelevent. »Wenn Sie es zu Wege bringen, daß Sie wohlbehalten auf dem Kirchhof anlangen, so will ich es schon einrichten, daß Sie wohlbehalten aus der Totengrube herauskommen. Der Totengräber, Vater Mestienne, ein Freund von mir, arbeitet lieber im Weinberge des Herrn als auf dem Kirchhof. Mit dem werde ich also leichter fertig, als er mit einem Sarg. Nämlich auf folgende Weise. Wir kommen kurz, bevor der Abend dämmert, drei Viertelstunden vor Thoresschluß, dort an. Der Wagen fährt bis dicht an die Grube hinan. Ich immer hinterher, weil das meine Pflicht ist. In der Tasche führe ich aber Hammer, Stemmeisen und Zange mit mir. Der Wagen hält also an, die Leichenträger schlingen einen Strick um den Sarg und lassen ihn in die Grube hinab. Der Priester spricht die üblichen Gebete, macht das Zeichen des Kreuzes, besprengt den Sarg mit Weihwasser und schrammt ab. Ich bleibe mit Vater Mestienne, den ich in- und auswendig kenne, allein. Er ist entweder molum oder noch nicht. Hat er noch nicht seine Ladung eingenommen, so sage ich zu ihm: ›Komm fix, ehe der Kirchhof geschlossen wird, wir wollen uns in der 'Gemüthlichen Ecke' den Magen erwärmen, sonst erkälten wir uns alle Beide bei dem naßkalten Wetter.‹ Solch einen Vorschlag weiß mein Freund Mestienne immer zu würdigen. Er kommt mit, säuft in größter Eile, weil wir nicht viel Zeit haben, ungeheure Mengen gutes Getränk, weil er von mir freigehalten wird, und sinkt in jedem Fall um so eher unter den Tisch, als sein Verdauungsschlauch von vornherein nicht leer von Wein sein wird. Hat er die Waffen gestreckt und seinem Verstand auf einige Stunden Urlaub gegeben, so fingre ich ihm seine Totengräberkarte aus der Tasche und humple ohne ihn nach dem Kirchhof zurück. Ist er dagegen schon voll, so sage ich zu ihm: ›Ich will Dir die Arbeit abnehmen, geh nach Hause.‹ Auf diese Weise werde ich ihn wieder los, und hole Sie aus dem Sarge heraus.«

Jean Valjean streckte ihm die Hand entgegen, und der wackere Bauer schlug mit Herzlichkeit ein.

»Das wäre also gründlich verabredet. Es wird Alles gut gehen.«

»Wenn nur die Sache keinen Haken hat!« seufzte innerlich Fauchelevent. »Das Abenteuer ist doch riesig gefährlich!«

V.
Auch Trunkenbolde sind nicht unsterblich

Am nächsten Tage, als die Sonne sich schon dem Saum des Gesichtsfeldes näherte, fuhr, von den wenigen Passanten des verkehrsarmen Boulevard du Maine feierlich gegrüßt, ein altmodischer, mit Abbildungen von Totenköpfen, Knochen und Thränen verzierter Leichenwagen dem Kirchhof Vaugirard zu. In diesem Wagen befand sich ein Sarg mit einem weißen Leichentuch, auf dem ein schwarzes Kreuz mit seitwärts niederhangenden Armen abgebildet war. Hinterher folgte eine schwarz drapirte Equipage, in der ein Priester im Chorhemd und ein Chorknabe mit einem rothen Käppchen saßen. Rechts und links von dem Leichenwagen ging je ein Leichenträger in grauer Uniform mit schwarzen Aufschlägen. Ganz hinten kam ein lahmer, alter Mann in Arbeiterkleidern.

Aus der Tasche des Arbeiters ragte der Stiel eines Hammers, die Klinge eines Stemmeisens und die beiden Arme einer Zange hervor.

Der Kirchhof Vaugirard nahm eine Ausnahmestellung ein. Er hatte seine besondern Gebräuche, so wie seinen Thorweg für Wagen und seine Thür für Fußgänger. Ferner besaßen hier einst die Benediktinerinnen des kleinen Klosters Petit-Picpus ein Terrain in einer Ecke, wo ihre Toten auch in der Folge des Abends bestattet wurden. Da auf diese Weise die Totengräber im Sommer des Abends und im Winter des Nachts Dienst hatten, waren sie einer besondern Disciplin unterworfen. Die Thore der Pariser Kirchhöfe wurden damals bei Sonnenuntergang geschlossen, und da dies eine Bestimmung der Stadtverwaltung war, so wurde sie auch auf dem Kirchhof Vaugirard befolgt. Der Thorweg und die Fußgängerthür, die neben einander lagen, waren mit Gittern versehen. Daneben stand ein von dem Architekten Perronnet gebauter Pavillon, in dem der Pförtner des Kirchhofs wohnte. Die beiden Gitter also drehten sich mit unerbittlicher Pünktlichkeit um ihre Angeln, sobald die Sonne hinter dem Invalidendom verschwand. Hatte sich ein Totengräber auf dem Kirchhof verspätet, so gab es für ihn nur eine Möglichkeit hinauszukommen: er mußte seine von dem städtischen Begräbnißbüreau ausgestellte Totengräberkarte vorzeigen. Er steckte sie dann in eine Art Briefkasten, die am Fenster des Pförtners angebracht war, dieser zog an einer Schnur, und die Fußgängerthür ging auf. Hatte der Totengräber seine Karte nicht bei sich, so nannte er seinen Namen; der Pförtner, der dann manchmal schon im Bett lag und schlief, stand auf, recognoscirte den Totengräber und schloß die Thür auf. In diesem Fall zahlte der Verspätete fünfzehn Franken Strafe.

Dieser Kirchhof Vaugirard beeinträchtigte mit seiner Eigenart die Gleichmäßigkeit der Verwaltung, weshalb man ihn bald nach dem Jahre 1830 eingehen ließ. Seine Nachfolge fiel dem Kirchhof Montparnasse zu und dieser bekam auch die berühmte Schänke mit, die sich mit der einen Mauer an den Kirchhof Vaugirard anlehnte, den »Guten Keil,« wie sie genannt wurde, nach einem auf dem Schilde abgebildeten Werkzeug dieser Art.

Der Kirchhof Vaugirard war damals schon, so zu sagen, im Verblühen begriffen. Er wurde alt. Unkraut, Moos und Schimmel überwucherten ihn, während die Blumen abnahmen. Feinre Leute dachten geringschätzig über ihn, und glaubten, er wäre gerade gut genug für die Armen. Kein Vergleich mit dem Père-Lachaise, der Ruhestätte der Vornehmen und Reichen. Der Besitz der feinsten Mahagonimöbel ist kein so sicherer Beweis, daß Jemand der eleganten Welt angehört, wie das Eigenthumsrecht auf einige Quadratfuß in Père-Lachaise. Der Kirchhof Vaugirard war nur noch ein ehrwürdiges Stück Alterthum, wie auch die Art seiner Anlagen bewies: Grade Alleen, viel Buchsbaum, Lebensbäume, Stechpalmen, alte Gräber von alten Ebenbäumen beschattet, sehr hohes Gras. Des Abends sah es da unheimlich, gruselig aus.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Sarg mit dem weißen Tuch und dem schwarzen Kreuz in den Hauptweg des Kirchhofs Vaugirard einfuhr. Der Lahme, der ihm folgte, war unser Freund Fauchelevent.

Mutter Crucifixio's Bestattung in dem Grabgewölbe unter dem Altar, Cosettens Transport in der Kiepe, Jean Valjean's Unterbringung in dem Totensaal waren ohne irgend ein Hinderniß bewerkstelligt worden.

Beiläufig gesagt, halten wir Mutter Crucifixio's Beisetzung unter dem Klosteraltar für eine durchaus läßliche Sünde, die fast einer Pflicht ähnlich sieht. Die Nonnen hatten sie, nicht nur ohne sich Vorwürfe zu machen, sondern mit ausdrücklicher Billigung ihres Gewissens vollzogen. Im Kloster gelten die Verordnungen »der Regierung, der Obrigkeit« nur für unberechtigte Einmischungen in religiöse Angelegenheiten. Erst die Ordensregel; dann die Befehle irdischer Autoritäten. Macht so viel Gesetze, wie Ihr wollt; aber behaltet sie für Euch. Wir müssen vor allen Dingen Gott geben, was Gottes ist, und nur wenn etwas übrig bleibt, können wir auch dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Ein Fürst ist nichts im Vergleich mit einem Princip.

Fauchelevent war sehr vergnügt. Sein Doppelkomplott zu Gunsten der Nonnen und Madeleine's, seine Intrigue für und gegen das Kloster war geglückt, und Jean Valjean's kaltblütige Zuversichtlichkeit hatte sich auch Fauchelevent mitgetheilt, der an dem Enderfolg nicht zweifelte. Denn was noch zu thun übrig blieb, schien keine Schwierigkeiten mehr zu bieten. Seit zwei Jahren hatte er den Totengräber Vater Mestienne, wer weiß wie oft, wann es ihm gerade beliebte, betrunken gemacht und ihn ganz nach seinem Willen, seiner Laune gelenkt. Fauchelevent war jetzt in Folge dessen seiner Sache so gewiß, daß es ihm nicht einfiel, irgend einer Besorgniß Raum zu geben.

Deshalb rieb er sich auch, als der Wagen in den Kirchhof einfuhr, stillvergnügt seine großen Hände und freute sich diebisch über die Komödie, in der er die Hauptrolle spielte.

Plötzlich hielt der Leichenwagen an, an dem Gitterthor, wo der Erlaubnißschein zur Beerdigung vorgezeigt werden mußte. Der Beamte des Beerdigungsbüreaus verständigte sich mit dem Kirchhofspförtner. Während dieses Gesprächs, das immer einige Minuten in Anspruch nimmt, kam ein Unbekannter heran und stellte sich hinter den Leichenwagen, neben Fauchelevent. Es war ein Mann, der eine Arbeiterjacke mit großen Taschen und unter dem Arm eine Hacke trug.

Fauchelevent sah ihn an und fragte:

»Wer sind Sie?«

»Der Totengräber!« antwortete der Unbekannte.

Wäre eine Kanone auf ihn abgefeuert worden, Fauchelevent hätte keinen größeren Schreck bekommen können.

»Der Totengräber!« wiederholte er entsetzt.

»Ja!«

»Sie?«

»Ja, ja.«

»Vater Mestienne ist der Totengräber.«

»War der Totengräber.«

»War?«

»Er ist gestorben.«

Fauchelevent hatte alle Möglichkeiten in Rechnung gezogen, nur nicht die, daß ein Totengräber sterben kann. Leider verhielt sich aber die Sache so. Auch Totengräber sterben. Sie graben fortwährend andern Leuten Gruben und fallen mal selber in eine.

Fauchelevent stand mit angstvoll geöffneten Munde da und brachte nur mühsam die Worte hervor:

»Ist ja nicht möglich.«

»Doch, doch!«

»Aber der Totengräber ist doch Vater Mestienne!«

»Nach Napoleon Ludwig XVIII. Nach Mestienne Gribier. Ich heiße nämlich Gribier, guter Alter.«

Fauchelevent sah sich jetzt, bleich vor Schrecken, seinen Mann genau an.

Ein langer, dürrer, blasser Kerl, dessen unheimliche Erscheinung zu seinem unheimlichen Amte wunderbar paßte. Der Miene nach zu urtheilen war er ein Mediziner, der seinen Beruf verfehlt hat, und mit einer untergeordneten Beschäftigung vorlieb nehmen mußte.

Fauchelevent brach in ein lautes, krampfhaftes Gelächter aus.

»Nein! Was für komische Dinge auf der Welt passieren!, Vater Mestienne ist also gestorben! Na, wenn Vater Mestienne tot ist, so lebe Väterchen Lenoir! Sie wissen doch, was man so nennt? Ein famoses Weinchen! Echter Suresne, der in Paris nicht leicht aufzutreiben ist! Also der alte Mestienne ist gestorben! Das thut mir leid. Er war ein gemüthliches Haus. Aber das sind Sie gewiß auch, nicht wahr, Kamerad? Wir machen uns doch gleich auf den Weg und gießen uns was Gutes hinter die Binde. Was meinen Sie?«

Der Totengräber antwortete: »Ich bin ein studirter Mann. Habe die Quarta eines Gymnasiums durchgemacht. Ich trinke nie.«

Mittlerweile hatte sich der Wagen wieder in Bewegung gesetzt und rollte seinem Bestimmungsorte zu.

Fauchelevent ging langsamer und hinkte vor Angst noch mehr als gewöhnlich.

Der Totengräber ging vor ihm her.

Fauchelevent musterte seinen Gegner noch einmal.

Es war einer von jenen Leuten, die schon in der Jugend alt aussehen und bei aller Magerkeit sehr stark sind.

»Kamrad!« rief ihn Fauchelevent wieder.

Der Angeredete wendete sich um.

»Ich bin der Totengräber des Klosters.«

»Also mein Kollege.«

Fauchelevent war schlau genug, zu begreifen, daß er mit einem gefährlichen Gegner zu thun habe, Einem, der sich ihm gegenüber auf seine Bildung etwas zu Gute that.

»Also, Vater Mestienne ist gestorben!«

»Absolut gestorben. Der liebe Gott hat sein Verfallbuch nachgesehn und gefunden, daß Vater Mestienne an der Reihe war.«

Fauchelevent wiederholte mechanisch:

»Der liebe Gott . . .«

»Der liebe Gott,« wiederholte energisch der Büchermann, »den die französischen Philosophen den Ewigen Vater, die Jakobiner das höchste Wesen nennen.«

»Machen wir denn nicht Bekanntschaft?«

»Ist schon geschehen. Ich weiß, daß Sie ein Bauer, und Sie wissen, daß ich ein Pariser bin.«

»So lange man nicht gemächlich zusammen gekneipt hat, kennt man einander nicht. Erst wenn man einige Glas Wein in die Kehle geschüttet hat, schüttet man auch sein Herz aus. Sie kommen mit und trinken ein Fläschchen mit mir. Solch eine Bitte schlägt Niemand ab.«

»Erst die Arbeit.«

»Ich bin verloren!« dachte Fauchelevent.

Denn sie waren schon dicht in der Nähe der Begräbnisstätte.

Der Totengräber hob wieder an.

»Guter Freund, ich habe sieben Bälge, deren Mäuler ich füllen muß. Da sie essen wollen, darf ich nicht trinken.«

Und da ihm, als Schönredner, dieser Gedanke zu einfach ausgedrückt schien, wiederholte er ihn mit stolzer Selbstgefälligkeit in einer geistreicheren, mehr rhetorischen Form:

»Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen bog jetzt um eine Cypressengruppe in eine kleinere Allee ein und fuhr dann quer über ein wegeloses Feld und Gebüsch hindurch. Dies bedeutete, daß man an die Begräbnisstätte dicht herangekommen war. Fauchelevent ging immer langsamer, konnte aber damit leider nicht bewirken, daß auch der Leichenwagen langsamer fuhr. Glücklicher Weise konnten sich die Räder durch das lockere, vom Winterregen aufgeweichte Erdreich nur schwer hindurcharbeiten, und Fauchelevent gewann so etwas Zeit.

Er machte sich wieder an den Totengräber heran.

»Ich kenne einen ganz ausgezeichneten Wein. Echter Argenteuil, kann ich Sie versichern!«

»Guter Alter, so was dürfte nicht vorkommen, daß ein Mann wie ich, den Totengräber spielen muß. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum und bestimmte mich für den Litteratenstand. Aber er hat Unglück gehabt. Verluste an der Börse erlitten. Deshalb habe ich der Schriftstellerei entsagen müssen. Indessen bin ich doch noch öffentlicher Schreiber.«

»Also sind Sie nicht Totengräber? fragte Fauchelevent in der schwachen Hoffnung, er habe einen Zweig gefunden, an den er sich anklammern könne.«

»Man kann das Eine thun und das Andere nicht lassen. Ich kumulire die beiden Beschäftigungen.

Fauchelevent verstand das Wort kumuliren nicht und sagte wieder einmal mechanisch seinen alten Vers her:

»Kommen Sie mit und trinken Sie ein Gläschen mit mir.«

Hier müssen wir eine Bemerkung einfügen. So groß seine Angst war, erklärte sich Fauchelevent, indem er den Andern nach der Schänke locken wollte, doch nicht über die wichtige Frage, wer bezahlen würde. Für gewöhnlich hatte Fauchelevent eingeladen und Vater Mestienne bezahlt. Die durch die Einsetzung eines neuen Totengräbers geschaffene Lage motivirte ja allerdings zur Genüge die Aufforderung, und ließ sie sogar geboten erscheinen, aber der alte Gärtner ließ, nicht ohne Absicht, die unheimliche Berappungsfrage im Dunkeln.

Der Totengräber docirte weiter:

»Der Mensch muß essen, und wenn Jemand das Gymnasium zum größten Theil absolvirt hat, muß er sich so weit auf die Philosophie verstehen, daß er sich in das Unvermeidliche mit Würde zu schicken weiß. Deswegen habe ich denn auch Vater Mestiennes Amt übernommen und verbinde körperliche mit geistiger Arbeit. Ich habe meinen Stand auf dem Markt in der Rue de Sévres, dem Regenschirmmarkt. Alle Köchinnen von La Croix-Rouge wenden sich an mich, wenn sie ihren Militärs süße Geheimnisse mitzutheilen haben. Des Vormittags also setze ich Liebesbriefe auf und des Nachmittags grabe ich. Ja ja, Alter, so geht's im Leben.«

Unterdessen hatte Fauchelevent's Angst den denkbar höchsten Grad erreicht. Er sandte verzweifelte Blicke nach allen Seiten und dicke Schweißtropfen perlten seine Stirn herunter.

»Indessen,« fuhr der Totengräber fort, »kann Niemand zweien Herren dienen. Ich werde mich entweder für die Hacke oder für die Feder entscheiden müssen. Vom Graben bekommt man eine schwere Hand, was der richtigen Führung der Feder Eintrag thut.«

Hier hielt der Zug an.

Der Chorknabe stieg aus der Equipage, und ihm folgte der Priester.

Eins der Vorderräder des Leichenwagens stand auf einem Haufen Erde, hinter dem man eine offene Grube erblickte.

»Der Spaß kann gut werden!« stöhnte Fauchelevent.

VI.
Zwischen vier Brettern

Jean Valjean hatte sich in seinem Sarge einigermaßen eingerichtet, und es fehlte ihm nicht ganz an Athmungsluft.

Merkwürdig, wie ruhig ein gutes Gewissen einen Menschen machen kann! Alles ging, wie sich Jean Valjean es gedacht hatte; er verließ sich, ebenso wie Fauchelevent, auf Vater Mestienne und zweifelte nicht an dem guten Ausgang des Abenteuers.

Die Grabesruhe, die, so zu sagen, die Bretter des Sarges um sich verbreiteten, hatte sich ihm mitgetheilt und hinderte ihn, an die Gefährlichkeit seiner Lage zu denken.

Er beobachtete also mit größter Sorglosigkeit die Entwicklung des Spieles, dessen Einsatz sein Leben war.

Bald nachdem Fauchelevent den Sarg zugenagelt hatte, fühlte Jean Valjean, wie der Sarg getragen, und dann gefahren wurde. Er schloß auch, als er weniger gestoßen und geschüttelt wurde, daß er auf dem besser gepflasterten Boulevard angelangt war. Ein dumpfes Geräusch benachrichtigte ihn dann, daß er die Brücke von Austerlitz unter sich hatte. Endlich, als der Wagen zum ersten Mal anhielt, wußte er, daß der Zug vor dem Kirchhof angekommen war, und das zweite Mal, daß der Wagen an der Grube stand.

Plötzlich fühlte er, daß die Leichenträger den Sarg hantirten und hörte ein Reibegeräusch außen an den Brettern. Das kam offenbar von dem Strick, der um den Sarg geschlungen wurde.

Dann überkam ihn eine Art Betäubung.

Wahrscheinlich hatte der Leichenträger und der Totengräber den Sarg schief gehalten, so daß der Kopf vor den Füßen unten anlangte. Jean Valjean kam aber wieder zu völligem Bewußtsein, als er eine wagerechte Lage einnahm und der Sarg unbeweglich unten stand.

Hier hatte er ein gewisses Kältegefühl.

Alsbald erhob sich ein feierliche Stimme, und langsam, so daß er sie einzeln hören konnte, erklangen an sein Ohr lateinische Worte, die er nicht verstand:

»Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt; ali in vitam aeternam et ali in opprobrium, ut videant semper.«

Worauf eine Kinderstimme sich vernehmen ließ:

»De profundis

Die tiefe Stimme hob dann wieder an:

»Requiem aeternam Dona ei, Domine

Die Kinderstimme antwortete:

»Et lux perpetua luceat ei

Dann kam ein leichtes Geräusch, als fielen Wassertropfen auf den Sargdeckel.

»Nun wird's bald zu Ende sein,« dachte er. »Nur noch ein wenig Geduld. Der Priester muß gleich fertig sein. Dann nimmt Fauchelevent Vater Mestienne nach der Schenke, und ich bleibe allein. Endlich kommt Fauchelevent allein zurück und erlöst mich. Aber freilich, eine gute Stunde wird's wohl noch dauern.«

Jetzt hörte er wieder die tiefe Stimme:

»Requiescat in pace

Und die Kinderstimme:

»Amen

Indem er wieder angestrengt lauschte, hörte er ein Geräusch von Schritten, die bald verhallten.

»Jetzt gehen sie,« dachte er, »Ich bin allein.«

Plötzlich hörte er über seinem Kopf ein starkes Geräusch, das ihn wie der Donner des jüngsten Gerichts erschreckte.

Es war ein Spatenvoll Erde, die auf den Sarg niederfiel.

Es folgte ein zweiter Spatenvoll, und verstopfte eins von seinen Luftlöchern.

Ein dritter und ein vierter Spatenvoll Erde donnerte nieder.

Es giebt Dinge, die stärker sind als der stärkste Mann. Jean Valjean fiel in Ohnmacht.

VII.
Eine verlorne Karte

Oben trug sich währenddessen Folgendes zu.

Als der Leichenwagen sich entfernt, der Priester und der Chorknabe in der Equipage davongefahren waren, sah Fauchelevent, der kein Auge von dem Totengräber verwandte, wie derselbe sich bückte und seinen Spaten packte, der in dem Haufen Erde steckte.

Da faßte Fauchelevent einen heldenmüthigen Entschluß, stellte sich zwischen die Grube und den Totengräber, kreuzte die Arme und rief:

»Ich bezahle.«

Der Andere sah ihn erstaunt an und fragte:

»Was?«

Fauchelevent wiederholte.

»Ich bezahle!«

»Was?«

»Den Wein!«

»Was für Wein?«

»Marke Argenteuil.«

»Wo denn? Wieso denn?«

»Im Guten Keil.«

»Hol' dich der Teufel!« schimpfte der Totengräber und warf einen Spatenvoll Erde auf den Sarg.

Der Sarg dröhnte. Fauchelevent schlotterten die Kniee und er war nahe daran, selber in die Grube zu fallen. Er rief mit einer Stimme, die vor Angst fast wie ein Röcheln klang:

»Schnell, Kamerad, ehe der ›Gute Keil‹ zugemacht wird.«

Der Totengräber stieß den Spaten zum zweiten Mal in die Erde. Da packte ihn Fauchelevent am Arm und schrie:

»Ich bezahle! – So hören Sie doch, guter Freund. Ich bin der Totengräber des Klosters und hierher geschickt, damit ich Ihnen helfen soll. Die Arbeit kann im Dunkeln gemacht werden. Erst aber lassen Sie uns eins trinken!«

Aber während er sich noch so krampfhaft an den letzten Strohhalm anklammerte, legte er sich schon die heikle Frage vor: – »Gesetzt auch, er kommt mit – ob ich ihn auch dahin bringe, daß er sich um den Verstand trinkt? Der sieht mir ganz danach aus, als könnte er einen größeren Stiebel vertragen, als ich!«

»Alterchen«, sagte herablassend der Totengräber, »wenn Sie's denn durchaus wollen, will ich Ihnen den Gefallen thun. Aber nach der Arbeit, keinesfalls vorher.«

Und er schwang schon wieder den Spaten mit Erde, als Fauchelevent ihn zurückhielt.

»Famoser Argenteuil zu sechs Sous!«

»Hören Sie mal, Sie sind ja wie die Glockenläuter. Bimbam! Bimbam! Immer dasselbe Lied! Lassen Sie mich endlich ungeschoren!«

Damit schleuderte er eine zweite Tracht Erde hinab.

Jetzt war Fauchelevent so weit, daß er selber nicht mehr wußte, was er sagte.

»So kommen Sie doch endlich! Ich bezahle ja!«

»Sobald wir die Dame zur Ruhe gebracht haben.«

Und ein dritter Spatenvoll flog hinab; dann aber hielt Gribier einen Augenblick inne und fügte hinzu:

»Es wird nämlich diese Nacht frieren und die Tote würde ein großes Geschrei erheben, wenn wir sie nicht warm zudeckten.«

Damit bückte er sich wieder und belastete den Spaten zum vierten Mal mit Erde. Dabei klaffte aber eine von seinen Taschen weit auseinander.

Da sah Fauchelevent, dessen Blicke unstät hin- und herwanderten etwas Weißes in der Tasche.

Denn die Sonne war noch nicht unter dem Horizont verschwunden, und es leuchtet noch hell genug, daß man einen Gegenstand von greller Farbe in einer offenen Tasche wahrnehmen konnte.

Ein glücklicher Gedanke blitzte in Fauchelevent's anschlägigem Hirn auf.

Er langte, ohne daß der mit seiner Arbeit beschäftigte Totengräber es merkte, in dessen Tasche von hinten hinein und holte den weißen Gegenstand heraus.

Während nun der Totengräber den vierten Spatenvoll hinuntersandte, und sich anschickte ihm einen fünften folgen zu lassen, sah ihn Fauchelevent mit aller Ruhe an und fragte:

»Sagen Sie mal, Herr Anfänger, haben sie ihre Karte bei sich?«

»Was für eine Karte?«

»Sie sehen doch, daß die Sonne untergeht.«

»Meinetwegen; wenn sie müde ist!«

»Der Kirchhof wird gleich zugemacht.«

»Was schadet das?«

»Haben Sie Ihre Karte bei Sich?«

»Meine Karte . . .!« sagte nachdenklich der Totengräber und griff in eine Tasche, darauf in eine andere. Alsdann kamen die Beinkleidertaschen an die Reihe. Aber er mochte sie drehen und wenden, wie er wollte; er fand die Karte nicht.

»Ich muß sie vergessen haben!«

»Macht fünfzehn Franken Strafe!«

Dem Totengräber wich alle Farbe aus dem Gesicht. D. h. er wurde, da er von Natur blaß war, grün.

»Heiliges kreuzschockschweres Donnerwetterpech!« fluchte er »Fünfzehn Franken!«

»Drei schöne, große Fünffrankenstücke!« rechnete ihm Fauchelevent vor, um den Stachel noch tiefer in die schmerzhafte Wunde zu bohren.

Dem Totengräber entsank der Spaten aus den kraftlosen Händen.

Jetzt triumphirte Fauchelevent.

»Na na! Nur keine Verzweiflung, junger Freund. Sie brauchen Sich nicht aufzuhängen, und um die Strafe können Sie auch herumkommen. Ein alter Praktikus wie ich kennt manchen Kniff und manchen Pfiff, der Anfängern unbekannt ist, und ich will Ihnen einen Freundesrath geben. So viel ist zunächst klar, daß die Sonne dem Untergang nahe ist, sie berührt schon den Invalidendom, und in fünf Minuten wird der Kirchhof geschlossen.«

»Sehr wahr!« ächzte der Totengräber.

»In fünf Minuten kriegen Sie die Grube nicht voll, die hat's in sich, und Sie kommen nicht mehr zur rechten Zeit hinaus.«

»Stimmt!«

»Aber Sie haben noch so viel Zeit, daß Sie . . . Wo wohnen Sie?«

»Dicht bei der Barriere. Eine Viertelstunde von hier. Rue de Vaugirad, Nr. 87.«

»Sie haben noch so viel Zeit, daß Sie jetzt gleich hinauskönnen, wenn Sie Ihre Spazierhölzer fix zu bewegen verstehen.«

»Ja natürlich!«

»Sind Sie draußen, so galloppiren Sie nach Hause, holen Ihre Karte und zeigen Sie dem Pförtner, damit er Sie wieder hereinläßt. Zu bezahlen haben Sie dabei nichts. Dann können Sie in aller Gemüthlichkeit Ihre Tote begraben. Ich aber bleibe hier und passe auf, damit sie nicht davonläuft.«

»Sie retten mir das Leben, guter Alter!«

»Jetzt aber socken Sie schleunigst ab!«

Aber der Totengräber drückte ihm noch voll dankbarer Rührung die Hand, ehe er davon trabte.

Fauchelevent wartete, bis Gribier seinen Blicken entschwunden und seine Schritte vollständig verhallt waren und neigte sich dann über die Grube:

»Vater Madeleine!« rief er halblaut.

Keine Antwort.

Fauchelevent erschrak, stürzte mehr in die Grube, als daß er hinabstieg, warf sich ans das Kopfende des Sarges und schrie:

»Vater Madeleine!«

In dem Sarg blieb Alles still.

Fauchelevent, der wie Espenlaub zitterte und vor Bangigkeit kaum Luft bekommen konnte, nahm Stemmeisen und Hammer zur Hand und brach den Deckel los. Jetzt zeigte sich in dem unheimlichen Halbdunkel Jean Valjeans Gestalt, der bleich und mit geschlossenen Augen regungslos da lag.

Dem Alten standen die Haare zu Berge, er reckte sich empor, taumelte aber sofort an die Wand der Grube zurück und starrte fassungslos Jean Valjean an.

»Er ist todt!« hauchte er, richtete sich auf, kreuzte die Arme heftig über einander und schrie:

»So rette ich also die Leute, die sich auf mich verlassen!«

Nach diesen Worten begann er zu schluchzen und machte seinem Schmerz in einem langen Monologe Luft, denn daß der Mensch keine Selbstgespräche hält, ist ein Irrthum. Bei besonders heftiger Erregung spricht man laut, auch wenn man allein ist.

»Das ist Vater Mestienne seine Schuld. Warum ist der Schafskopf gestorben? Wozu muß er gerade krepiren, wenn kein Mensch an so was denkt. Er hat Vater Madeleine umgebracht. – Vater Madeleine! – Er ist wirklich tot. Die Grube kann zugescharrt werden. Die Komödie ist aus. – Es war aber auch ein unvernünftiges Stück. Ach, du mein Gott, er ist tot! Was soll ich nun mit dem kleinen Mädchen anfangen? Was wird die Gemüsehändlerin sagen? Ist das menschenmöglich, daß so ein Mann sterben kann! Wenn ich daran denke, wie er den Karren hochgehoben hat! – Vater Madeleine! Vater Madeleine! – Ja ja! Er ist erstickt. Ich dacht' es mir ja gleich. Er hat nicht auf mich hingehört. Das war mal ein dummer Streich! Er ist tot, der allerguteste von allen guten Leuten, die den guten Herrgott seine Sonne je beschienen hat. Und die Kleine! Na, so viel weiß ich, nach Hause gehe ich nicht. Ich bleibe hier. Wenn man so etwas auf dem Gewissen hat! Also dazu haben wir zwei alten Kerle unsere Köpfe zusammengesteckt, damit wir uns wie zwei Verrückte benehmen?! Daß er so ins Kloster hineingehagelt ist, war schon der Anfang des Blödsinns. So was läßt man hübsch bleiben! – Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister! Er hört mich nicht. Da hab' ich mich in eine schöne Lage gebracht!«

Und er riß sich vor Verzweiflung die Haare aus.

In der Ferne wurde ein scharfes Geknarr lautbar. Das Thorgitter wurde zugemacht.

Fauchelevent beugte sich jetzt wieder über Jean Valjean, sprang aber alsbald so weit zurück, als es der beschränkte Raum erlaubte. Jean Valjean hatte die Augen aufgeschlagen und sah seinen alten Freund an.

Eine Auferstehung ist beinah ebenso schrecklich anzusehen, wie eine Sterbeszene. Fauchelevent blickte, noch verstörter und blasser als bisher, unfähig zu untersuchen, ob er es mit einem Lebenden oder einem Toten zu thun habe, regungslos Jean Valjean an, der ihm sein Gesicht zugewandt hielt, und bald zu sprechen anfing:

»Ich war im Begriff einzuschlafen!«

Mit diesen Worten setzte er sich im Sarge aufrecht.

Fauchelevent fiel auf die Knie:

»Gerechte, gütige Mutter Gottes! – Haben Sie mir einen Schreck eingejagt!«

Dann stand er auf und rief:

»Ich danke Ihnen, Vater Madeleine!«

Jean Valjean war nur bewußtlos gewesen, und die frische Luft hatte ihn wieder hergestellt.

Die Freude macht auf den Menschen einen ebenso gewaltsamen Eindruck, wie der Schreck, und Fauchelevent wurde es beinah ebenso schwer wieder zu sich zu kommen, wie Jean Valjean.

»Sie sind also nicht gestorben! Nein, was Sie für ein gescheidter Mann sind! Ich habe so lange gerufen, bis Sie wieder zu sich gekommen sind. Als ich Ihre Augen sah, dachte ich mir: ›So ist's gut! Nun ist er erstickt!‹ Ich wäre verrückt geworden, so verrückt, daß sie mich in eine Zwangsjacke und ins Irrenhaus gesteckt hätten! Was hätte die Gemüsefrau dazu gemeint, daß man ihr ein Kind zu ernähren giebt und ihr sagt, der Großvater ist gestorben. Das wäre eine erbauliche Geschichte gewesen, barmherzige Heilige des Himmels! Sie leben also! Na, das ist die Hauptsache!«

»Mich friert!« seufzte Jean Valjean.

Diese Mahnung erinnerte Fauchelevent an die Wirklichkeit, die unerquicklicher Natur war. Beide Männer standen, auch nachdem sie das Aergste hinter sich hatten, noch unter dem Banne der gewaltsamsten, grausigsten Empfindungen, und ihre Umgebung war nicht danach angethan, ihnen ihre volle Geistes- und Körperkraft wiederzugeben.

»Wir müssen machen, daß wir von hier fortkommen!« rief Fauchelevent. »Aber erst eine Stärkung!«

Mit diesen Worten holte er eine Korbflasche aus der Tasche hervor und reichte sie Jean Valjean.

Was die frische Luft angefangen, vollendete der Branntwein. Jean Valjean gelangte vollständig zum Bewußtsein.

Dann stieg er aus dem Sarge und war Fauchelevent beim Zunageln behilflich.

Nach wenigen Minuten waren sie aus der Grube hinausgeklettert.

Sie ließen sich Zeit. Der Kirchhof war zu, und es stand nicht zu fürchten, daß der Totengräber Gribier sie überraschen könnte. Der Arme war jetzt zu Hause und sollte es wohl bleiben lassen, seine Karte, die in Fauchelevent's Tasche steckte, zu finden. Ohne Karte hatte er aber keinen Zutritt auf den Kirchhof.

Fauchelevent ergriff also ruhig den Spaten, Jean Valjean die Hacke, und begruben den leeren Sarg.

Als sie die Grube bis zum Rande gefüllt hatten, sagte Fauchelevent zu Jean Valjean:

»Ich behalte den Spaten; nehmen Sie die Hacke mit.«

Es dunkelte jetzt schon stark.

Jean Valjean wurde das Gehen sauer. Er mußte die Todeskälte des Grabes abschütteln, gewissermaßen aufthauen.

»Sie sind eingefroren! Schade, daß ich lahm bin; wir würden sonst tapfer traben!«

»Das Unglück ist nicht groß!« tröstete Jean Valjean. »Noch ein Paar Schritte, so bin ich wieder an das Gehen gewöhnt.«

Sie kehrten auf dem Wege, den der Leichenwagen gekommen war, zurück. Vor dem Gitter und dem Pavillon angelangt, warf Fauchelevent die Karte des Totengräbers in den Kasten, der Pförtner zog am Thürstrick, und Beide konnten hinaus.

»Das geht ja Alles wie geschmiert!« jubilirte Fauchelevent. »Sie haben da wirklich einen prächtigen Einfall gehabt, Vater Madeleine!«

Durch die Barriere Vaugirard kamen sie gleichfalls unbehelligt. In der Nähe eines Kirchhofs sind eine Hacke und ein Spaten so gut, wie zwei Pässe.

Die Rue de Vaugirard war menschenleer.

»Vater Madeleine,« sagte unterwegs Fauchelevent, »Sie haben bessere Augen als ich. Zeigen Sie mir doch Nr. 87.«

»Hier ist es schon.«

»Es ist kein Mensch auf der Straße«, hob Fauchelevent wieder an, »geben Sie mir die Hacke und warten Sie hier ein paar Minuten.«

Fauchelevent trat in das Haus ein, stieg mit dem sichern Instinkte Jemandes, der einen armen Teufel aufsucht, ohne Weiteres bis zum Dach empor und klopfte im dunkeln an eine Stubenthür.

»Herein!«

Es war Gribiers Stimme.

Fauchelevent stieß die Thür an. In der Wohnung des Totengräbers sah es so trostlos und öde aus, wie es nur bei den Aermsten unter den Armen möglich ist. Großer Mangel an Möbeln und dabei Ueberfüllung des Jammerstübchens. Eine Kiste, – wenn's nicht ein Sarg war, diente als Kommode, ein Buttertopf als Wasserbehälter, ein Strohsack als Bett, die Dielen als Tisch und Stühle. In einer Ecke saß auf einem zerlumpten Teppich eine magere Frau, umgeben von einem Haufen Kinder, Alle zu einem Klumpen geballt. Die ganze, armselige Wirthschaft befand sich in der wildesten Unordnung. Alles war durcheinander geworfen, als wenn eben ein Erdbeben über das Land gegangen wäre. Die Deckel waren von den Gefäßen abgenommen, die Lumpen zerstreut, ein Krug entzwei, die Mutter hatte verweinte Augen, die Kinder waren offenbar geprügelt worden. Augenscheinlich hatte der Totengräber seine Karte mit sinnloser Wuth und Angst gesucht und alles Mögliche für seinen Verlust verantwortlich gemacht, u. a. auch seinen Krug und seine Frau. Er sah ganz unglücklich aus.

Aber Fauchelevent lag zu sehr daran, mit seinem Abenteuer zu Ende zu kommen, als daß er auf diese Kehrseite seines Erfolges hätte achten können.

Er trat rasch ins Zimmer hinein und sagte:

»Ich bringe Ihre Hacke und Ihren Spaten.«

Gribier sah ihn erstaunt an:

»Sie sind es, Alter?«

»Und morgen früh können Sie Sich Ihre Karte bei dem Kirchhofspförtner abholen.«

Mit diesen Worten legte er Hacke und Spaten auf den Fußboden nieder.

»Was soll denn das bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Ihre Karte Ihnen aus der Tasche gefallen war, daß ich sie gefunden habe, nachdem Sie weg waren, daß ich die Grube zugeschüttet, daß ich ihre Arbeit gethan habe, daß der Pförtner Ihnen Ihre Karte wiedergeben wird, und daß Sie keine fünfzehn Franken Strafe zu bezahlen brauchen. Sind Sie nun zufrieden, junger Freund?«

»Ich danke Ihnen, Alterchen!« rief Gribier außer sich vor Freude. »Das nächste Mal ponire ich!«

VIII.
Ein gut bestandenes Verhör

Eine Stunde nachher, als schon stockfinstere Nacht herrschte, erschienen vor Nr. 62 in der kleinen Rue Picpus zwei Männer mit einem kleinen Mädchen. Der Aelteste von ihnen hob den Thürklopfer und schlug damit kräftig an.

Es waren Fauchelevent, Jean Valjean und Cosette.

Die beiden Alten hatten Cosette aus der Wohnung der Gemüsehändlerin abgeholt, wo Fauchelevent sie Tags zuvor unterbrachte. Cosetten waren diese vierundzwanzig Stunden sehr traurig vergangen; sie verstand nicht, was vorging, und ängstigte sich unsäglich. Vor lauter Zittern war sie nicht zum Weinen gekommen, und hatte weder gegessen, noch geschlafen. Ihre gute Wirtin hatte sie mit Fragen über die Ursachen ihres Leids bestürmt, aber keine Antwort bekommen, abgesehen von trostlos traurigen Blicken. Cosette hatte von dem, was sie seit zwei Tagen sah und hörte, kein Wort verlauten lassen. Sie errieth, daß eine Gefahr im Anzuge war, und begriff, daß sie »recht artig« sein müsse. Wer hat nicht die Zaubermacht der Worte: »Sage nichts!« erprobt, wenn sie einem geängstigten, kleinen Wesen mit der erforderlichen Betonung in die Ohren geflüstert werden! Die Furcht macht stumm. Hütet doch Niemand ein Geheimniß so gut, wie manches Kind!

Allein, als sie nach vierundzwanzig Stunden schwermüthigen Wartens Jean Valjean wiedersah, entfuhr ihr ein solcher Freudenschrei, daß man daraus leicht erschließen konnte, was sie so eben in ihrem Innern durchgemacht hatte.

Da Fauchelevent ein Klosterinsasse war, kannte er auch die Losungsworte und öffnete alle Thüren damit.

Der Pförtner, der seine Instruktionen für den betreffenden Fall schon empfangen hatte, schloß die für das Dienstpersonal bestimmte, kleine Thür auf, die aus dem Hofe in den Garten führte und dem Thorweg gegenüber lag. Durch diese Thür also wurden jetzt alle Drei eingelassen und gelangten in das innere Sprechzimmer, wo Fauchelevent Tags zuvor die Befehle der Priorin eingeholt hatte.

Die Priorin wartete hier schon, den Rosenkranz in der Hand, auf sie. Eine der stimmberechtigten Mütter, von ihrem Schleier verhüllt, stand neben ihr. Ein bescheidenes Talglicht beleuchtete, – oder that wenigstens so, als beleuchtete es, – das Gemach.

Die Priorin musterte Jean Valjean – so aufmerksam, wie dies nur Leute vermögen, die immer die Augen zur Erde senken und nie etwas zu sehen scheinen.

Dann begann sie das Verhör:

»Sie sind der Bruder?«

»Ja wohl, hochwürdige Mutter!« antwortete Fauchelevent.

»Wie heißen Sie?«

»Ultime Fauchelevent,« antwortete wieder Fauchelevent.

Er hatte in der That einmal einen Bruder mit diesem Vornamen gehabt.

»Wo sind Sie her?«

Fauchelevent antwortete:

»Aus Picquigny bei Amiens.«

»Wie alt sind Sie?«

»Fünfzig Jahre.«

»Was für eine Beschäftigung haben Sie?«

»Gärtner.«

»Sind Sie ein guter Christ?«

»Wie alle Andern in unsrer Familie.«

»Ist das Ihre Kleine?«

»Ja wohl, hochwürdige Mutter.«

»Sie sind der Vater?«

»Ihr Großvater.«

Die nebenstehende Mutter bemerkte jetzt zu Priorin:

»Seine Antworten sind sehr befriedigend.«

Und doch hatte Jean Valjean noch nicht den Mund aufgethan!

Nun betrachtete die Priorin aufmerksam die kleine Cosette und sagte halblaut zu ihrer Gehülfin:

»Sie wird häßlich werden.«

Darauf besprachen sie sich noch sehr leise einige Minuten in einer Ecke des Sprechzimmers, worauf die Priorin sich wieder an Fauchelevent wandte:

»Vater Fauvent, besorgen Sie ein zweites Knieleder nebst Glocke.«

Am nächsten Tage erklangen im Garten zwei Glocken, und die Nonnen vermochten es nicht, ihre Augen vollständig von den beiden Männern abzuwenden, die nebeneinander mit dem Spaten arbeiteten. Es war aber auch ein zu großartiges Ereigniß, dem gegenüber auch die Regel des Stillschweigens nicht Stand halten konnte. Wenigstens flüsterte man sich leise zu:

»Ein Gärtnergehülfe. Ein Bruder von Vater Fauvent.«

Auf diese Weise wurde also Jean Valjean im Kloster unter dem Namen Ultime Fauchelevent offiziell als Gärtner eingesetzt.

Die beste Empfehlung war für ihn Cosettens Häßlichkeit gewesen. Die geringe Aussicht, die das kleine Mädchen hatte, je schön zu werden, verschaffte ihr sofort die Gunst der Priorin und eine Freistelle in dem Erziehungsinstitut.

Das war durchaus logisch. Auch wenn sie keinen Spiegel im Kloster haben dürfen, wissen die jungen Mädchen doch, wie sie aussehen. Die da wissen, daß sie hübsch sind, werden nicht leicht Nonnen; die Vorliebe für das Klosterleben steht vielmehr durchaus im umgekehrten Verhältniß zu der Schönheit der Gestalt, und häßliche, junge Mädchen lassen sich am leichtesten bekehren.

Bei dem ganzen Abenteuer fiel auch große Ehre für Fauchelevent ab. Sein Erfolg war ein dreifacher, denn er verdiente sich den Dank Jean Valjean's, den er rettete; Gribier's, der glaubte, er habe ihm die fünfzehn Franken Strafe erspart; des Klosters, das er in Stand setzte, dem Kaiser das Seinige zu nehmen und es Gott zu geben. Daß unter dem Altar ein Sarg mit einer Leiche aufgestellt und auf dem Kirchhof Vaugirard ein leerer Sarg begraben wurde, war ja freilich eine schreckliche Störung der öffentlichen Ordnung, aber kein Mensch merkte was davon. Was die Klosterangehörigen anbelangt, so fühlten sie sich Fauchelevent zu besonderm Dank verpflichtet; er galt für einen tüchtigen Diener, einen ganz kostbaren Gärtner. Bei der ersten Visitation des Erzbischofs erzählte die Priorin ihm den Vorfall, zum Theil als Beichte, zum Theil um ihr Lob aus dem Munde des hochwürdigen Herrn zu vernehmen. Der Erzbischof erzählte den Vorfall unter dem Siegel der Verschwiegenheit und mit beifälligem Kommentar Herrn de Latil, Beichtvater des Bruders des Königs, und nachmals Erzbischof zu Reims und Kardinal, und schließlich erscholl der Ruhm von Fauchelevent's Thaten sogar in Rom. Wir haben einen Brief eingesehen, den der damalige Papst Leo XII. an einen von seinen Verwandten, einen Monsignore der Pariser Nuntiatur und gleichfalls Mitglied der Familie Della Genga richtete, und citiren daraus folgende Zeilen: »In einem Kloster zu Paris soll sich ein vortrefflicher Gärtner, ein Mann von großer Frömmigkeit, Namens Fauvent, befinden.« In Fauchelevents Baracke selber drang allerdings kein Ton von all diesen Lobgesängen; er fuhr fort zu pfropfen, und zu jäten, seine Melonen einzuwickeln, ohne sich seiner Trefflichkeit und Frömmigkeit bewußt zu sein.

IX.
In der Klausur

Im Kloster beobachtete Cosette nach wie vor Stillschweigen über ihre Geheimnisse.

Selbstredend hielt sie sich für Jean Valjean's Enkelin. Da sie übrigens nichts wußte, konnte sie ja auch nichts sagen, und sie hätte, so wie so, nichts gesagt! Wie wir schon bemerkt haben, kann kein Lehrmeister Kinder in der Kunst zu schweigen so gut unterweisen, wie das Unglück. Cosette war so viel Ungemach widerfahren, daß sie sich vor Allem fürchtete, daß sie zu sprechen, ja zu athmen Bedenken trug. Wie oft hatte ein Wort von ihr eine Lawine ins Rollen gebracht und auf sie herabgestürzt! Kaum daß sie jetzt, wo sie unter Jean Valjean's Obhut lebte, anfing ruhiger zu sein! Sie gewöhnte sich schnell genug ans Kloster. Nur daß sie nach Kathrine Sehnsucht hatte, indessen wagte sie nicht von ihrem Liebling zu sprechen. Nur einmal sagt sie zu Jean Valjean: »Großvater, wenn ich es gewußt hätte, würde ich sie mitgebracht haben.« .

Als Zögling des Klosters mußte Cosette auch die Tracht des Erziehungsinstituts anlegen. Jean Valjean erhielt die Erlaubniß, die Kleider, in denen sie gekommen war, behalten zu dürfen. Es war die noch wenig abgenützte Trauerkleidung, die er für sie nach der Herberge der Thénardiers mitgebracht hatte. Den ganzen Anzug legte er mit Kampfer und andern Riechstoffen, an denen in Klöstern Ueberfluß herrscht, in einen, eigens zu diesem Zweck angeschafften, kleinen Koffer, dessen Schlüssel er beständig bei sich trug, und den er auf einem Stuhl in der Nähe seines Bettes zu stehen hatte. »Großvater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »was riecht denn da so gut in dem Koffer?«

Vater Fauchelevent wurde, abgesehen von der schon erwähnten, ihm unbekannten Berühmtheit, noch auf andere Weise für seine gute Handlung belohnt. Erstens machte ihm die Erinnerung daran Vergnügen; ferner hatte er, nun ihm ein Gehülfe beigegeben war, weit weniger Arbeit. Endlich zog er noch einen dritten, besonders großartigen. Vortheil daraus, daß Herr Madeleine bei ihm war. Er konnte nämlich jetzt drei Mal so viel Tabak schnupfen, wie früher und mit unendlich mehr Genuß, denn Herr Madeleine hielt ihn in dem Artikel frei.

Der Vorname Ultimus kam bei den Ordensschwestern nicht in Gebrauch; sie nannten Jean Valjean »Fauvent den Zweiten.«

Hätten die frommen Mädchen etwas von Javert's Beobachtungsgabe besessen, so würde es ihnen aufgefallen sein, daß alle Gänge von Fauvent dem Ersten, dem Alten, Gebrechlichen, Lahmen, nie von dem Jüngern besorgt wurden. Aber sei es, daß beständig auf Gott gerichtete Augen nicht zu spioniren verstehen, sei es, daß die Aufmerksamkeit der Schwestern zu sehr durch gegenseitige Beobachtung in Anspruch genommen war, genug, sie merkten nichts.

Es wäre Jean Valjean auch schlecht bekommen, hätte er sich aus seinem Schlupfwinkel hervorgewagt. Denn Javert behielt das Stadtviertel einen langen Monat speziell im Auge.

Das Kloster war für Jean Valjean gleichsam eine von gefährlichen Tiefen umgebene Insel. Der Raum zwischen den vier Gartenmauern bildete jetzt seine ganze Welt. Hier sah er genug vom Himmel, um Seelenfrieden zu haben, und kam oft genug mit Cosette zusammen, um sich freuen zu können.

Er führte jetzt wieder ein recht angenehmes Leben.

In der alten, baufälligen Baracke, die noch 1845 existirte, blieb er wohnen und wurde von seinem alten Freund gezwungen, sich das beste von den drei kahlen Zimmern des Gebäudes auszuwählen. An der Mauer desselben sah man, außer einem zur Aufnahme einer Kiepe und einem, für das Knieleder bestimmten Nagel, noch einen, über dem Kamin angeklebten königlichen Tresorschein aus dem Jahre 1793. Diese Verzierung hatte Fauchelevent's Vorgänger, ein ehemaliger Chouan, der in der Vendee gegen die Republikaner gekämpft hatte und im Kloster gestorben war, hier hinterlassen.

Jean Valjean arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. War er doch von Beruf Baumputzer und fand Gefallen an der Gärtnerei. Seine Kenntnisse und Geheimnisse ließen sich jetzt verwerten. So veredelte er namentlich die zahlreichen Wildlinge des Baumgartens und machte sie fähig, vorzügliche Früchte zu tragen.

Cosette hatte die Erlaubniß, täglich eine Stunde bei ihm zu verweilen. Da die Schwestern melancholisch und schweigsam und er freundlich zu ihr war, stellte das kleine Mädchen Vergleiche an, liebte ihn sehr und versäumte es nie, ihn zur festgesetzten Stunde in seiner Baracke aufzusuchen, die dann für ihn zum Paradiese wurde. Dann erweiterte sich sein Inneres und wurde Glücksgefühlen um so zugänglicher, je mehr er fühlte, daß Cosette durch ihn glücklicher war. Hat doch die Freude, die wir Andern einflößen, die reizende Besonderheit, daß sie, statt sich wie jede Ausstrahlung abzuschwächen, noch heller zu uns zurückstrahlt. Auch außer der Besuchszeit war sie ihm nicht ganz entzogen, wenigstens nicht in den Erholungspausen, wo er aus der Ferne ihr zusah und sie an ihrer Stimme, ihrem frohen Lachen erkannte.

Denn Cosette hatte jetzt lachen gelernt, so vollständig, daß ihre Gesichtszüge ganze andere geworden waren. Der finstere Ausdruck, der früher in ihren Mienen lag, war verschwunden. Das Lachen ist wie die Sonne; es verjagt den Winter aus dem menschlichen Antlitz.

Waren die Erholungsstunden vorbei und Cosette in das Haus zurückgekehrt, so blickte Jean Valjean nach den Fenstern ihres Schulzimmers, ja stand des Nachts auf, um nach dem Schlafsaal hinaufzusehen.

Gottes Wege sind wunderbar; der Aufenthalt im Kloster trug, wie die Liebe zu Cosette, dazu bei, das Vervollkommnungswerk des Bischofs an Jean Valjean zu stärken und weiter zu führen. Bekanntlich zweigen sich von dem Pfade der Tugend vom Teufel gebaute Nebenwege ab, die zum Hochmuth führen. Vielleicht war auch Jean Valjean, als die Vorsehung ihn in das Kloster Petit-Picpus trieb, ohne es zu ahnen, im Begriff, sich auf einen solchen Nebenweg zu verirren. So lange er sich nur mit dem Bischof verglichen hatte, war er, weil ihm seine Verdienste unzulänglich dünkten, bescheiden geblieben. Allein seit einiger Zeit fing er an, sich auch mit den Menschen seiner Umgebung zu vergleichen, und daraus konnte natürlich nur Hochmuth entstehen. Wer weiß, ob er auf diese Weise nicht die Welt wieder hassen gelernt hätte?

Aber von der Gefahr, in diesen Abgrund wieder zurückzugleiten, bewahrte ihn das Kloster.

Es war sein zweites Gefängniß. In dem ersten, wo die Justiz mit unvernünftiger Unbilligkeit und das Gesetz in seiner verbrecherischen Bosheit Schrecken auf Schrecken häufte, hatte er den Anfang seines Lebens, den sogenannten Lenz seines Daseins, zugebracht. In seinem zweiten Gefängniß, dem Kloster, war er zwar nur passiver Zuschauer, lernte aber von den Qualen dieses Kerkers genug kennen, um sich zu fruchtbaren Vergleichen angeregt zu fühlen.

Oft vergaß er darüber seine Arbeit und ging, auf seinen Spaten gestützt, den verschlungenen Windungen seiner Gedanken nach.

Er gedachte dann seiner ehemaligen Leidensgefährten. Wie unglücklich Die waren! Sie standen in aller Frühe auf und arbeiteten bis zum Einbruch der Nacht. Kaum daß man ihnen die Zeit ließ auszuschlafen in ihren eisernen Bettstellen, auf Matratzen, die nur zwei Zoll dick waren, in Sälen, die nur in der allerrauhesten Jahreszeit geheizt wurden. Sie waren bekleidet mit abscheulichen, rothen Jacken; bei großer Hitze wurde ihnen aus Gnade eine leinene Hose und im Winter ein wollener Kittel zugestanden. Wein bekamen sie nicht, und Fleisch nur, wenn besonders schwere Arbeit zu verrichten war. Sie lebten ohne Namen, nur als Nummern, als herumgehende Ziffern, mit obligatorisch gesenkten Augen, mit dumpfer Stimme, mit geschorenem Kopf, in beständiger Angst vor dem Stock des Profossen, mit Schande und Schmach bedeckt.

Nachher wanderten dann seine Gedanken zu den Wesen hinüber, die er gegenwärtig vor Augen hatte.

Auch diese trugen kurze Haare, senkten die Augen, sprachen leise, hatten, zwar nicht die Schande, wohl aber den Hohn der Welt zu fürchten, zitterten nicht vor dem Stock, wohl aber vor der Geißel. Auch ihnen war ihr Name, den sie in der menschlichen Gesellschaft führten, genommen; sie existirten nur unter abstrakten Benennungen. Sie aßen nie Fleisch und tranken nie Wein, enthielten sich oft den Tag über aller Nahrung. Bekleidet waren sie nicht mit einer rothen Jacke, wohl aber mit einem schwarzen, wollenen Tuch, das im Sommer zu schwer, im Winter zu leicht war, durften sich also überhaupt nicht nach der Temperatur richten, und trugen sechs Monate im Jahre Serschehemden, die Fieber verursachten. Sie wohnten nicht in Sälen, die nur bei strenger Winterkälte geheizt waren, aber in Zellen, in denen nie ein Feuer angezündet wurde; sie schliefen nicht auf zwei Zoll dicken Matratzen, sondern auf Stroh. Endlich gönnte man ihnen nicht einmal den Schlaf; jede Nacht, nach des Tages Arbeit und Mühe, mußten sie, wenn die erste Ruhe ihre Glieder erschlafft hatte, wenn sie eben eingeschlafen und nothdürftig warm geworden waren, sich Gewalt anthun, aufstehen und in einer eiskalten düstern Kapelle, auf Fliesen knieend, Gebete verrichten.

Außerdem mußte Jede von ihnen an gewissen Tagen, sobald sie an die Reihe kam, zwölf Stunden lang auf einem Stein knieen, oder mit ausgebreiteten Armen an der Erde liegen.

Jene waren Männer; Diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Gestohlen, genothzüchtigt, geraubt, gemordet. Was hatten die Frauen verbrochen? Nichts.

Einerseits Raub, Betrug, Hinterlist, Gewalt, Wollust, Todtschlag, alle Arten von Kirchenentweihung, alle erdenkbaren Frevel; auf der andern Seite nichts, als Schuldlosigkeit.

Eine vollkommene Unschuld, kraft deren die frommen Schwestern schon halb dem Himmel angehörten.

Einerseits leise geflüsterte Bekenntnisse von Verbrechen; andererseits öffentliche Beichten von geringfügigen Vergehen.

Einerseits Miasmen, andererseits süßer Duft. Dort Finsterniß, hier Schatten, aus dem hier und dort ein heller Glanz hervorbricht.

Zweierlei Sklaverei, aber bei der einen die Möglichkeit der Befreiung, die Gunst einer gesetzlichen Beschränkung und außerdem die Hoffnung entspringen zu können. Bei der zweiten lebenslängliche Gefangenschaft, nur die schwache, ferne Hoffnung auf jenes Freiheitslicht, das die Menschen den Tod nennen.

Dort mit Ketten, hier durch den Glauben gebunden.

Welche Erfolge wurden in dem einen Gefängniß erzielt? Ein ungeheurer Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweifelte Bosheit, ein Schrei der Wuth gegen die menschliche Gesellschaft, der Lästerung und des Hohnes gegen den Himmel.

In dem zweiten gipfelte Alles in Segen und Liebe.

Und an beiden so ähnlichen und so verschiedenen Orten widmete man sich demselben Werke, der Buße.

Die Natur der einen Buße begriff Jean Valjean sofort: Die Galeerensklaven büßten für eine persönliche Schuld. Aber wofür büßten denn die Andern, die frei von jedem Makel waren? Was war das für eine Sühnung?

In seinem Innern antwortete eine Stimme: »Die göttlichste, hochherzigste, die der Mensch übernehmen kann, die Büßung fremder Schuld.«

Hier sprechen wir mit Vorbehalt unserer persönlichen Ansicht und treten nur als Erzähler auf, stellen uns auf Jean Valjean's Standpunkt, und berichten seine Eindrücke und Empfindungen.

Sahen doch seine Augen den höchsten Gipfel der Selbstverleugnung, die Unschuld, die den Menschen ihre Sünden vergiebt und an ihrer Stelle Genugthuung leistet, unendliche Liebe zur Menschheit, verbunden mit unendlicher Liebe zu Gott, sanfte, schwache Wesen, beladen mit dem Elend Derer, die Strafe verdient haben, und heiter lächelnd wie Solche, denen ein hoher Lohn zu Theil geworden ist.

Und er entsann sich, daß er sich einst unterfangen hatte zu klagen!

Oft erhob er sich mitten in der Nacht von seinem Lager, um den Dankgesängen der schuldlosen und doch so schwer bestraften Wesen zu lauschen, und es rieselte ihm kalt durch die Adern bei dem Gedanken, daß diejenigen die gerechte Züchtigung erlitten, die ihre Stimme nur zur Lästerung erhoben, und daß er, ein Elender, Gott mit der Faust gedroht hatte.

Was ihm auffällig schien und ihm als eine leise Mahnung der Vorsehung tief zu denken gab, war auch der Umstand, daß die schwierige und gefahrvolle Erklimmung der Mauern dieselbe Art Anstrengung war, der er sich unterzogen hatte, um aus dem ersten Büßungsort zu entspringen, und um in den zweiten zu gelangen. Ob dies nicht ein Symbol seines Schicksals sein sollte?

Dieses Haus hier war gleichfalls ein Gefängniß und hatte eine schaurige Ähnlichkeit mit der andern Behausung, aus der er entflohen war, und doch hatte er nie eine Vorstellung von etwas Derartigem gehabt.

Er sah hier wieder Gitter, Riegel, Eisenstangen, und gegen wen waren diese Schranken aufgerichtet? Gegen engelmilde Wesen.

Dieselbe Art Mauern, die er einst um seinen Tigerzwinger gesehen, hielt hier Lämmer gefangen.

An diesem Ort wurde Buße geleistet, nicht Strafen erduldet, und doch ging es hier noch strenger, trauervoller, erbarmungsloser her. Diese jungen Mädchen trugen ein schwereres Joch, als die Galeerensklaven. Warum?

Wenn er über dieses erhabene Räthsel nachsann, versank alles Andere davor, wie ein wesenloses Nichts.

Bei diesen Betrachtungen verschwand aller Hochmuth. Er hielt fleißige Einkehr in sich selbst, dünkte sich gering und weinte recht oft. Alles, was seit einem halben Jahr in seinem Leben Neues aufgetreten war, führte ihn auf den Weg zurück, den der fromme Bischof ihm gezeigt; die Begegnung mit Cosette, indem sie ihn Liebe, der Aufenthalt im Kloster, der ihn Demuth lehrte.

Wenn der Abend dämmerte, und sich Niemand im Garten aufhielt, sah man Jean Valjean bisweilen in der Allee, die an der Kapelle entlang führte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft in den Saal geschaut hatte, auf den Knieen liegen. Hier betete er, das Gesicht der Stelle zugewendet, wo die Genugthuung geleistet wurde. Es war, als wagte er es nicht, vor Gott direkt zu knieen.

Seine ganze Umgebung, der friedliche Garten, die duftigen Blumen, die kleinen Mädchen mit ihrem frohen Geschrei, die ernsten und schlichten Nonnen, der stille Kreuzgang, erzeugten in seiner Seele eine ähnliche ruhevolle, heitere Stimmung. So hatten ihn also zwei Häuser Gottes an gefährlichen Wendepunkten seines Lebens aufgenommen; das erste, als alle Thüren sich vor ihm verschlossen, und die menschliche Gesellschaft ihn von sich stieß; das zweite, als die menschliche Gesellschaft sich wieder anschickte ihn zu verfolgen, und das Bagno sich wieder vor ihm aufthat. So war er zweimal gerettet worden; das erste Mal vor der Gefahr, wieder ein Verbrecher zu werden; das zweite Mal vor den physischen Qualen, die ihm drohten.

Da schmolz sein ganzes Herz in Dankbarkeit und ward der Liebe immer mehr theilhaftig.

Auf diese Weise verflossen alsdann mehrere Jahre, während deren Cosette zum jungen Mädchen heranwuchs.

 


 


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