Victor Hugo
Die Elenden. Zweiter Theil. Cosette
Victor Hugo

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Fünftes Buch. Eine stumme Meute

I.
Strategischer Zickzack

Hier müssen wir, des besseren Verständnisses wegen, eine persönliche Bemerkung einschalten.

Der Verfasser dieses Buches weilt nun schon viele Jahre fern von Paris, und während dieser Zeit hat sich die Stadt sehr verändert. Vielleicht nennt er dem Leser Straßen und führt ihn in Häuser, die gegenwärtig nicht mehr existiren, und die man jetzt vergeblich suchen würde. Er kennt die neue Stadt nicht, ihm schwebt nur das alte Paris vor, und man gestatte ihm deshalb von dieser Vergangenheit zu sprechen, als wenn sie in die Gegenwart hineinreiche.

Jean Valjean wandte sich sofort von dem Boulevard in die Straßen, wobei er eine gebrochene Linie beschrieb und öfters eine Strecke zurückging, um zu sehen, ob ihm Niemand folge.

Es ist dies eine List, der sich der Hirsch bedient, um seine Verfolger zu täuschen. Er geht erst nach der einen Richtung, dann noch einmal nach der entgegengesetzten über eine Strecke Erdreich hin, in dem seine Fährte sichtbar bleibt. Jäger und Hunde wissen dann nicht, nach welcher Gegend er sich definitiv gewendet hat. Man nennt dies die falsche Rückkehr des Hirsches.

Es war Vollmond, ein für Jean Valjean vorteilhafter Umstand. Denn da der Mond noch weit unten am Horizont stand, warfen die Häuser in vielen Straßen auf der einen Seite breite Schatten, während die andere Seite desto greller beleuchtet wurde. Jean Valjean suchte natürlich die dunklen Stellen auf und behielt von dort aus die helle Seite der Straße im Auge. Vielleicht beobachtete er dabei nicht genug die beschatteten Stellen. Aber in den Nebenstraßen der Rue de Poliveau glaubte er gewiß zu sein, daß Niemand ihm folge.

Cosette marschirte neben ihm, ohne Fragen zu thun. In Folge des Ungemachs, das sie während der ersten sechs Jahre ihres Lebens erduldet hatte, war sie eine peinlich passive Natur geworden. Deshalb hatte sie sich, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, an die Sonderbarkeiten ihres Beschützers und die Launen des Schicksals gewöhnt. Uebrigens hatte sie ja auch in seiner Nähe das Gefühl der Sicherheit.

Jean Valjean wußte ebenso wenig wie Cosette, wo er hinging. Wie sie auf ihn, so verließ er sich auf Gott. Ihm war, als werde auch er an der Hand geführt, von Einem, der größer war als er und unsichtbar. Ein bestimmtes Ziel, ein richtiger Plan schwebte ihm nicht vor. Ja, er war nicht einmal fest überzeugt, daß Daumont und Javert ein und dieselbe Person seien. Und gesetzt auch, es war Javert, so brauchte dieser ihn darum noch nicht erkannt zu haben. War er doch verkleidet und unkenntlich! Galt er doch allgemein für tot! Allerdings, seit einigen Tagen passirten Dinge, die ein bedenkliches Aussehen hatten. Mehr bedurfte er aber auch nicht. Er war entschlossen, nicht mehr in das Gorbeausche Haus zurückzukehren. Wie ein aus seinem Bau aufgescheuchtes Thier suchte er zunächst einen Versteck, um sich später nach einer neuen Wohnung umzusehen.

Jean Valjean durchwanderte kreuz und quer das Quartier Mouffetard, wo schon Alles schlief. Es herrschten hier noch förmlich mittelalterliche Bräuche. Herbergen gab es wohl, aber er ging nicht hinein, da keine ihm zusagte. Denn daß er seine etwaigen Verfolger von seiner Spur abgelenkt hätte, bezweifelte er nicht im Geringsten.

Als die Uhr der Kirche Saint-Etienne-du-Mont elf schlug, kam er Rue de Pontrise Nr. l4, an dem Polizeibureau, vorbei. Instinktmäßig wendete er sich noch einmal um und sah deutlich, dank der Laterne, die sie beschien, drei Männer, die ihm dicht auf den Fersen waren, hintereinander an der Laterne vorbeikommen. Einer von ihnen trat in das Haus hinein. Derjenige, der an der Spitze marschierte, sah ihm höchst verdächtig aus.

»Komm, Kind!« sagte er zu Cosette und eilte aus der Rue de Pontoise hinaus.

Er machte einen Umweg, umging die Passage des Patriarches, die wegen der Nacht geschlossen war, durchmaß die Rue de l'Epée de Bois und die Rue de l'Arbalète und bog in die Rue des Postes ein.

In letzterer Straße ist ein Kreuzweg, an der Stelle, wo heutzutage das Rollinsche Gymnasium steht und die Rue Neuve-Sainte-Geneviève sich abzweigt.

An dieser Ecke angelangt, wo der Mond sehr hell schien, verbarg sich Jean Valjean in einem Thorweg. Falls die Drei ihm noch nachsetzten, sagte er sich, würde er sie gut sehen können, sobald sie auf den grell beleuchteten Platz treten würden.

In der That verstrichen kaum drei Minuten, so wurde er seiner Verfolger ansichtig. Es waren jetzt ihrer vier, alle vier von hohem Wuchse, mit langen braunen Röcken bekleidet, mit runden Hüten auf dem Kopfe und mit gewichtigen Stöcken bewaffnet.

Sie blieben mitten auf dem Platz stehen und traten einander gegenüber, als wollten sie berathschlagen. Sie sahen unentschieden aus. Derjenige, der der Anführer zu sein schien, wandte sich zu den Andern um und wies nach der Richtung, die Jean Valjean eingeschlagen hatte; ein Anderer zeigte mit einer gewissen Beharrlichkeit nach der entgegengesetzten Gegend. In dem Augenblick aber, wo der Erste sich umdrehte, fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht, und Jean Valjean erkannte deutlich Javert.

II.
Ein Glück, daß auf dem Pont d'Austerlitz Wagen fahren

Für Jean Valjean war es also mit aller Ungewißheit vorbei, zu seinem Glück aber keineswegs für seine Verfolger. Er machte sich diesen Umstand zu Nutze und gewann Zeit, die sie verloren. Rasch kam er aus dem Thorweg hervor und eilte die Rue des Postes entlang in der Richtung des Jardin des Plantes. Cosette fing jetzt an müde zu werden, und er mußte sie tragen. In der Straße war keine Menschenseele zu erblicken, und die Laternen waren wegen des hellen Mondscheins nicht angezündet.

Er verdoppelte seine Schritte und eilte an der Gobletschen Fabrik vorbei, ließ die Rue de la Clef und die Fontaine Saint-Victor hinter sich, und ging an dem Jardin des Plantes entlang, bis er an das Ufer der Seine gelangte. Hier wandte er sich um. Aber nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Er athmete auf und rannte nach dem Pont d'Austerlitz.

Hier wurde damals noch Brückengeld erhoben.

Er legte dem Zollwächter einen Sou hin.

»Es kostet zwei Sous!« sagte der Invalide. »Sie tragen da ein Kind, das gehen kann.«

Er legte also noch einen Sou hin, ärgerte sich aber, daß sein Uebergang über die Brücke nicht glatt und in unauffälliger Weise abgegangen war. Wer auf der Flucht ist, darf sich nirgends aufhalten, Niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Zufälliger Weise fuhr gerade ein großer Wagen nach dem rechten Seineufer hinüber. Dies war ein günstiger Umstand, denn er konnte die Brücke im Schatten des Wagens überschreiten.

Ungefähr auf der Mitte der Brücke äußerte Cosette, der die Füße erstarrt waren, den Wunsch gehen zu dürfen. Er ließ sie herunter und nahm sie bei der Hand.

Drüben angekommen, bemerkte er vor sich, ein wenig rechts, Zimmerplätze, von denen ihn ein ziemlich breiter, hell erleuchteter Raum trennte. Er trug aber kein Bedenken, sich dorthin zu wagen. Seine Verfolger hatten gewiß seine Spur verloren, und er war außer Gefahr. Suchen mochten sie ihn ja noch; aber sie waren ihm nicht mehr auf den Fersen.

Auf der anderen Seite lag zwischen zwei Mauern eine enge, dunkle Straße, wie er sie brauchte. Aber ehe er sie betrat, sah er sich noch einmal um.

Von dem Punkte, wo er sich befand, konnte er die Brücke in ihrer ganzen Länge überblicken.

Da sah er an dem anderen Ende derselben vier Schatten.

Er erschrak heftig. So waren sie also doch hinter ihm her!

Aber noch blieb ihm eine Hoffnung. Vielleicht kamen sie nicht herüber, vielleicht hatten sie ihn nicht bemerkt, als er mit Cosette an der Hand den hellen Platz durchquert hatte.

War dies der Fall, so brauchte er blos die kleine Straße vor ihm entlang zu gehen und glückte es ihm, die Zimmerplätze, die Gemüsefelder, die unbebaute Gegend zu erreichen, so konnte er seinen Feinden entrinnen.

Er wollte es also darauf ankommen lassen und wagte sich in die Straße hinein.

III.
Siehe den Plan von Paris aus dem Jahre 1727

Nachdem Jean Valjean ungefähr dreihundert Schritte gegangen war, kam er an eine Stelle, wo die Straße, der Chemin-Vert-Saint-Antoine, sich spaltete, und links den Namen Rue Picpus, rechts den Namen Rue Polonceau annahm.

Er zögerte nicht und wählte die Straße rechts.

Warum?

Weil die linke Abzweigung nach der Vorstadt führte, während das unbebaute Land rechts lag.

Sie kamen nicht sehr schnell vorwärts. Cosette war sehr müde, und ihr Pflegevater mußte sie wieder auf den Arm nehmen.

Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und überschaute die Straße, die ganz gerade war. Mehrere Male bemerkte er nichts Verdächtiges und schon fühlte er sich etwas beruhigt. Da sah er plötzlich hinter sich in der Dunkelheit einen Gegenstand, der sich bewegte.

Er stürzte mehr vorwärts, als daß er ging, in der Hoffnung eine Seitenstraße zu finden und seine Verfolger von seiner Spur ablenken zu können.

Am Ende der Rue Polonceau angelangt, konnte er nicht weiter nach derselben Richtung gehen, denn vor ihm versperrte ihm eine Mauer den Weg. Aber rechts und links lag eine Querstraße.

Es galt also wieder die Frage lösen, ob er rechts oder links gehen sollte.

Er blickte nach rechts. Dieser Theil der Querstraße, wo nur Schuppen und Scheunen lagen, war eine Sackgasse, der Cul-de-Sac Genrot. Die große weiße Mauer, die sie hinten absperrte, hob sich deutlich genug ab.

Nun blickte er nach links. Diese Straße, die Rue Droit-Mur, war offen; sie mündete in die schon erwähnte Rue Picpus, deren links gelegenes Ende in den Chemin-Vert-Saint-Antoine zurückführte, während man rechts nach dem Markt Lenoir gelangte. Hier also winkte dem Verfolgten die Rettung.

In dem Augenblick aber, wo er sich nach dieser Richtung wandte, sah er an dem Ende der Rue Droit-Mur und an einer Ecke der Rue Picpus zweihundert Schritte vor sich eine Art schwarze Bildsäule, eine bewegungslose Gestalt.

Er fuhr zurück. Also auch nach dieser Seite hin war ihm der Weg abgeschnitten.

Gefangen wie ein Fisch im Netze! Er warf einen verzweifelten Blick zum Himmel empor.

IV.
Umhertastend

Um das Folgende zu verstehen, bedarf es einer richtigen Vorstellung von der Rue Droit-Mur und besonders des an der Ecke dieser Straße und der Rue Polonceau gelegnen Winkels. Die rechte Seite der Rue Droit-Mur nahmen bis zur Rue Picpus armselige Häuser ein; links stand ein großer Bau strengen Stils, der in mehrere Theile zerfiel. Diese Theile waren von verschiedener Höhe; der höchste grenzte an die Rue Picpus, das nächste war ein Stockwerk niedriger, und das letzte, nach der Rue Polonceau gelegne, hatte nur die Höhe der Umfassungsmauer. Dieselbe bildete da, wo die Rue Polonceau und die Rue Droit-Mur zusammenstießen, eine tief einspringende, verbrochne Ecke. Den einspringenden Winkel konnte man also von den beiden eben erwähnten Straßen aus nicht sehen.

Von der Spitze des einen vorspringenden Winkels erstreckte sich die Mauer an der Rue Polonceau bis zu einem Hause Nr. 49, und von der Spitze des andern, an der Rue Droit-Mur, bis zur Schmalseite des großen Gebäudes, mit der sie einen zweiten einspringenden Winkel bildete.

In der verbrochnen Ecke befand sich etwas, das einer kolossalen Thür ähnlich sah, eine Reihe senkrecht stehender Bretter, die durch eiserne, platte Querstäbe zusammengehalten wurden. Daneben war ein Thor von gewöhnlicher Größe.

Ueber die verbrochene Ecke ragten die Aeste einer Linde und nach der Rue Polonceau zu war die Mauer mit Epheu bewachsen.

Bei der Nähe der Gefahr hatte das düstere große Gebäude, das unbewohnt schien, etwas Verlockendes für Jean Valjean. Er überflog es mit einem Blick und sagte sich, wenn es ihm gelänge, da hineinzukommen, so würde er vielleicht gerettet sein.

In dem mittleren Theil der Straßenfront dieses Baues sah man an den Fenstern der verschiedenen Stockwerke alte bleierne Dachrinnenkessel. Von denselben liefen Leitungsröhren aus, die alle in eine Hauptgosse mündeten. Das ganze System von kleinen Canälen glich also einem Baum mit seinen Aesten,

Auf dieses eigenthümliche Spalier richtete Jean Valjean zuerst sein Augenmerk. Aber die Gosse war altersschwach, sämmtliche Fenster solide vergittert, die Façade hell erleuchtet, so daß der Mann an der Ecke der Rue Picpus Jean Valjean hätte beobachten können. Und Cosette oben hinauszuschaffen war auch ein Ding der Unmöglichkeit.

Er gab also diesen Gedanken auf und schlich sich an der Mauer entlang, zu Cosette zurück, die er in dem einspringenden Winkel der Rue Polonceau zurückgelassen.

Dort konnte er nicht beobachtet werden und befand sich im Schatten. Außerdem waren hier die beiden erwähnten Thore. Vielleicht gelang es ihm, eins davon zu forciren. Offenbar lag hinter der Mauer, über der er die Krone der Linde und den Epheu sah, ein Garten, in dem er sich vielleicht verstecken und den Rest der Nacht bleiben konnte.

Er versuchte es zunächst mit dem Thorweg. Diese Thür aber war von innen und außen verrammelt, so daß gegen sie nichts auszurichten war.

Eine Untersuchung der andern flößte ihm anfangs mehr Hoffnung ein. Sie war alt und morsch, die Bretter verfault, die Eisenbänder verrostet.

Aber eine genauere Prüfung ergab, daß diese Thür überhaupt keine Thür war. Sie hatte keine Angeln, kein Bandwerk, kein Schloß und durch die Ritzen zwischen den Brettern konnte man leicht erkennen, daß es ganz einfach die Holzbekleidung eines Gebäudes war.

V.
Ein Königreich für einen Strick!

Jetzt hörte Jean Valjean ein dumpfes Geräusch in einer gewissen Entfernung. Er lugte vorsichtig hinter der Ecke hervor und erblickte sieben oder acht Soldaten, die soeben in die Rue Polonceau hineinmarschirten. Deutlich sah er die Bajonette im hellen Mondlicht blinken.

Der Trupp, an dessen Spitze er Javerts hohe Statur unterschied, rückte langsam vorwärts. Die Soldaten und die drei Polizisten durchforschten sorgsam alle Thorwege, Winkel und andere möglichen Verstecke und brauchten voraussichtlich eine Viertelstunde, ehe sie bis zu Jean Valjean herankamen. Eine so kurze Zwischenzeit trennte ihn von dem Abgrund, in den er nun zum dritten Mal gestürzt werden sollte. Und dies Mal stand ihm außer den Schrecknissen des Bagnos, noch die Trennung von Cosette bevor, ohne die ihm die Welt wie ein großes Grab erschien.

Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit auf Rettung übrig.

Jean Valjean war u. a. wie der Leser sich erinnern wird, ein vollendeter Meister in der unglaublichen Kunst, sich nur vermittelst seiner Muskelkraft, indem er sich mit dem Nacken, den Schultern, den Hüften, den Knieen anstemmte, und unter Benutzung weniger Erhabenheiten in einer rechtwinkligen Ecke bis zum Dach eines sechsstöckigen Gebäudes emporzuschieben, eine Leistung, der bekanntlich der zum Tode verurtheilte Battemolle seine Rettung aus der Conciergerie verdankte.

Jean Valjean maß mit den Augen die Mauer, über welche die Linde hervorragte. Sie mochte ungefähr achtzehn Fuß hoch sein. Der Winkel, den sie mit der Schmalseite des großen Gebäudes bildete, war unten bis zu fünf Fuß Höhe mit einer dreieckigen Mauermasse ausgefüllt, eine in Paris häufige Vorrichtung, deren Zweck es ist, die Verunreinigung des betreffenden Ortes unmöglich zu machen.

Von diesem Absatz aus brauchte Jean Valjean nur noch dreizehn Fuß hoch zu klimmen. Die Frage war nur, was er mit Cosette anfangen sollte. Die Mauer allein erklettern konnte sie nicht. Sie im Stich zu lassen fiel ihm nicht ein. Sie mitzunehmen war unmöglich. Zu einer solchen Mauerbesteigung bedarf auch der stärkste Mann aller seiner Kräfte. Die geringste Last würde sein Gleichgewicht gefährden.

Mit einem Strick dagegen war die Rettung Beider leicht zu bewerkstelligen. Aber wo einen hernehmen, um Mitternacht, in der Rue Polonceau?

In allen Augenblicken der höchsten Gefahr durchzucken unser Hirn Einfälle, die es entweder umnachten oder erhellen.

Indem Jean Valjean's verzweifelte Blicke nach allen Seiten umherirrten, fielen sie plötzlich auf die Laterne der Sackgasse Genrot.

Damals gab es noch keine Gasbeleuchtung; die Laternen hingen an Stricken, die quer über die Straße gespannt wurden, und konnten heruntergelassen werden, wenn man den Strick von einer in einem Schrank verschlossenen Haspel loswand.

Mit wenigen gewaltigen Sätzen stürzte Jean Valjean auf den Schrank zu, der sich unter der Laterne befand, sprengte den Riegel mit seinem starken Messer und kehrte im Nu zu Cosette zurück.

Das Kind fing jetzt an sich zu ängstigen, zupfte aber nur, statt wie andere Kinder zu schreien, Jean Valjean am Rock und flüsterte:

»Vater, ich fürchte mich. Wer kommt denn da?«

Denn das Geräusch, das die Patrouille machte, wurde immer deutlicher.

»Pst! Die Thénardier!« antwortete der geängstigte Mann.

Cosette erschrak.

»Sprich kein Wort und laß mich nur machen. Wenn Du schreist, wenn Du weinst, hört Dich die Thénardier und nimmt Dich wieder mit.«

Nun band er, ohne zu hasten, aber auch ohne irgendwie Zeit zu verlieren, mit einer um so merkwürdigeren Besonnenheit, als er von Javerts Patrouille jeden Augenblick überrascht werden konnte, sein Halstuch ab, umschlang damit sorgsam Cosette unter den Armen, knüpfte es an das eine Ende des Stricks, nahm das andere Ende zwischen die Zähne, warf seine Schuhe und Strümpfe über die Mauer und erklomm sie von dem Absatz aus mit eben solcher Strammheit und Sicherheit, als hätte er Leitersprossen unter seinen Füßen gehabt. Es verging keine halbe Minute, so kniete er schon oben auf der Mauer.

Cosette sah ihm, starr vor Verwundrung und ohne einen Laut von sich zu geben, zu. Die Erinnerung an Frau Thénardier hatte ihre Wirkung gethan.

Plötzlich hörte sie Jean Valjean's Stimme, der ihr sehr leise zurief:

»Lehne dich an die Mauer!«

Sie gehorchte.

»Sprich kein Wort und fürchte dich nicht.«

Darauf schwebte sie empor und erreichte, ehe sie Zeit fand sich zu besinnen, den Gipfel der Mauer.

Jetzt lud Jean Valjean sie auf seinen Rücken, umfaßte ihre beiden Händchen mit seiner Linken, legte sich platt auf die Mauer und kroch bis zur verbrochenen Ecke hin. Wie er es richtig vermuthet hatte, war hier ein Gebäude, dessen Dach nach innen schräg abfiel und, die Linde streifend, beinahe bis zur Erde hinabreichte.

Noch hatte er dies Gemäuer nicht losgelassen, als gewaltiger Lärm die Ankunft der Patrouille verkündete. Man hörte Javert mit Donnerstimme kommandiren:

»Sucht in der Sackgasse. Die Rue Picpus und die Rue Droit-Mur werden beobachtet. Ich bürge dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Dorthin stürzten auch die Soldaten. Jean Valjean aber glitt mit Cosette auf dem Rücken, das Dach hinunter, bis er die Linde erfassen und auf die Erde hinunter springen konnte. Cosette hatte, sei es vor lauter Angst, sei es mit verständigem Bedacht, keinen Laut von sich gegeben und war wohlbehalten. Nur die Hände hatte sie sich etwas zerschunden.

VI.
Anfang eines Räthsels

Jean Valjean befand sich in einem sehr großen Garten, der recht sonderbar, recht öde aussah; einer, den man eigentlich blos bei Nacht und im Winter besehen dürfte. Er war von rechteckiger Gestalt; im Hintergrunde zog sich eine Pappelallee hin; in den Ecken standen ziemlich hohe Bäume, in der Mitte war ein schattenloser Raum, wo man einen sehr großen vereinzelten Baum, einige verkrümmte Obstbäume, Gemüsebeete, ein Melonenbeet mit seinen vom Monde hell beleuchteten Glasglocken und eine alte Senkgrube sah. Hier und da standen mit Moos bewachsene Steinbänke. Die Alleen waren mit Sträuchern eingefaßt, ganz gerade und von Gras oder Pilzen überwuchert.

Neben sich hatte Jean Valjean das Gebäude, auf dessen Dach er herabgestiegen war, einen Haufen Reisig und dahinter, an der Mauer, eine steinerne Bildsäule mit einem arg verstümmelten Gesicht.

Das Gebäude war eine Art Ruine mit Räumlichkeiten, von denen die eine als Schuppen zu dienen schien.

Das nach der Rue Droit-Mur gelegene Hauptgebäude bog an der Rue Picpus etwas um und bildete somit nach dem Garten zu, zwei zu einander rechtwinklig gestellte Façaden, die sich noch schauriger ausnahmen, als die Façade der Rue Droit-Mur. Alle Fenster waren vergittert und ohne Licht. In den höheren Stockwerken sah man Wasserwannen, wie sie bei Gefängnissen angebracht sind.

Das Erste, was Jean Valjean that, war, daß er seine Schuhe suchte und anzog. Dann begab er sich mit Cosette in den Schuppen. Ein Flüchtling hält sich nirgends für genug versteckt. Auch Cosette, die sich Frau Thénardiers widerwärtiges Bild nicht aus dem Sinne schlagen konnte, hatte denselben Instinkt, sich so gut wie möglich zu verkriechen.

Das Kind zitterte und drückte sich an ihn. Von der Straße her vernahm man den Lärm der Patrouille, Kolbenstöße gegen die Steine, Javerts wilde Flüche und Worte, die man nicht verstand.

Nach einer Viertelstunde nahm das Getöse draußen ab, während in dem großen Gebäude und im Garten dieselbe merkwürdige Stille herrschte.

Plötzlich aber erscholl aus dem großen Gebäude ein Gesang, der ebenso lieblich und rührend war, wie das Gebrüll auf der Straße den Verfolgten grausig geklungen hatte. Es waren Frauen, die eine Hymne sangen und, Engeln vergleichbar, die Teufel wegscheuchten.

Cosette und Jean Valjean fielen auf die Kniee.

Sie wußten nicht, was das bedeutete; sie wußten nicht, wo sie waren, aber Beide, der reuige Mann und das unschuldsvolle Kind, hatten das Gefühl, daß sie niederknieen müßten.

Trotz des Gesanges schien das Haus ebenso öde, wie zuvor. Es war, als gehe darin etwas Uebernatürliches vor.

So lange sich die Stimmen vernehmen ließen, dachte Jean Valjean an nichts Anderes. Seine Augen sahen nicht mehr die Nacht, sie sahen den Himmel offen. Ihm war, als entfalteten sich in ihm die Flügel, die wir Alle in unserem Innern haben.

Endlich verstummte der Gesang. Er hatte vielleicht lange gedauert, aber darauf gab Jean Valjean nicht Acht. Die Stunden der Andacht verrinnen schnell.

Jetzt herrschte überall tiefe Stille. Nur die Blätter und Halme rauschten leise im Winde.

VII.
Die Fortsetzung des Räthsels

Der Morgenwind hatte sich erhoben, es mußte also ungefähr ein oder zwei Uhr sein. Die arme Cosette verhielt sich still und da sie den Kopf an ihn gelehnt hatte, glaubte Jean Valjean, sie sei eingeschlummert. Als er sich aber niederneigte und ihr ins Gesicht sah, fand er ihre Augen weit offen. Sie sah so schwermüthig aus, daß es Jean Valjean in die Seele schnitt.

Auch zitterte sie noch immer.

»Schläfert Dich?« fragte er.

»Mich friert so sehr.«

»Ist sie noch immer da?« fuhr sie dann fort.

»Wer denn?«

»Frau Thénardier.«

Jean Valjean dachte schon nicht mehr an die List, deren er sich bedient hatte, um Cosette Stillschweigen aufzuerlegen.

»O die ist weg. Du brauchst Dich nicht mehr zu fürchten.«

Das Kind seufzte auf, als wäre ihr eine schwere Last von der Brust abgewälzt worden.

Der Erdboden war feucht, der Schuppen auf allen Seiten offen, der Wind wurde jeden Augenblick rauher. Da zog der gute Jean Valjean seinen Rock aus und wickelte die Kleine darin ein.

»Friert Dich so weniger?«

»Ach ja, Vater!«

»Gut, dann warte hier. Ich komme gleich wieder.«

Damit ging er zum Schuppen hinaus und schlich das Hauptgebäude entlang, um ein besseres Obdach zu suchen. Er kam an Thüren, aber sie waren verschlossen, und die Fenster im Erdgeschoß waren mit starken Eisenstäben versehen.

Aber als er bei dem inneren Winkel des Gebäudes angelangt, sah er einige Bogenfenster, die schwach erleuchtet waren. Er erhob sich auf die Fußspitzen und gewahrte einen ziemlich geräumigen, mit großen Fliesen gepflasterten, mit Pfeilern und Arkaden geschmückten Saal, in dem man nur ein schwaches Licht und große Schatten wahrnahm. In einer Ecke brannte eine Nachtlampe. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Geräusch ließ sich vernehmen. Doch als Jean Valjean seine Augen anstrengte, glaubte er eine menschliche Gestalt zu erkennen, die mit einem Leichentuch bedeckt war. Sie lag, mit dem Gesicht nach unten gekehrt, auf den Steinen, bildete mit ihren ausgestreckten Armen die Kreuzesform nach und schien unbeweglich, wie ein Leichnam. Ein Ding, das wie eine Schlange aussah und neben ihr lag, ließ darauf schließen, daß die unheimliche Gestalt einen Strick um den Hals trug.

Jean Valjean hatte viel Schauriges in seinem Leben gesehen, niemals aber etwas Grausigeres und Schrecklicheres, als jenes räthselhafte Wesen, das in dem düstern Raum ein unbekanntes Mysterium vollzog. Der Gedanke war unheimlich, daß es ein Leichnam sei, und noch entsetzlicher war es zu denken, daß dort ein lebendes Wesen liege.

Er hatte den Muth, die Stirn an die Fensterscheibe zu drücken und aufzupassen, ob die Gestalt sich bewegen würde. Aber ob er gleich eine geraume Zeit wartete, sie regte sich nicht. Plötzlich aber packte ihn ein unüberwindliches Grausen, und er lief davon, nach dem Schuppen zu, ohne daß er sich umzuschauen wagte. Er hatte die Empfindung, als komme die Gestalt hinter ihm her und schlenkere die Arme.

Bei seiner Ankunft in dem verfallenen Gebäude flog ihm der Athem, schlotterten ihm die Kniee, floß ihm der Schweiß den Rücken hinunter.

Wo war er denn? Wer hätte sich solch' eine Art Grab mitten in Paris vorstellen können? Merkwürdiges Haus, wo liebliche Engelstimmen ihn angelockt hatten, um ihm die grauenvollen Pforten des Todes zu zeigen!

VIII.
Immer mehr Räthsel

Cosette hatte sich unterdessen mit dem Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen.

Er setzte sich neben sie, und ihr Anblick beruhigte allmählich den Sturm in seinem Innern, so daß er seiner Gedanken wieder Herr wurde.

Er war sich jetzt der Thatsache klar bewußt, die fortan den Inhalt seines Lebens ausmachen sollte: So lange sie da sein, so lange sie bei ihm sein würde, bedurfte er nichts, als was sie brauchte, fürchtete er nichts, als was sie bedrohte. Er merkte nicht, nachdem er seinen Rock ausgezogen hatte, um sie vor der Kälte zu schützen, daß er fror.

Während so sein Geist in Grübeleien befangen war, drang von Zeit zu Zeit ein merkwürdiges Geräusch an sein Ohr, ein deutliches, wenn auch leises, Geklingel, wie es die Kühe auf der Weide mit ihren Glöckchen hervorbringen.

Auf dieses Geräusch wurde Jean Valjean endlich aufmerksam und als er sich umwandte, sah er, daß Jemand im Garten war.

Zwischen den Glasglocken des Melonenbeets ging ein Mann, der lahm zu sein schien, langsam dahin, richtete sich auf, bückte sich, blieb stehen, machte regelmäßige Bewegungen, als schleppte oder breitete er etwas auf der Erde aus.

Jean Valjean erschrak. Ist doch Unglücklichen Alles feindlich und verdächtig. Sie mißtrauen dem Tage, weil das Licht sie ihren Verfolgern zeigt, und der Nacht, weil sie in der Dunkelheit überrascht werden können. Eben noch schauderte er, weil der Garten so still war; jetzt bebte er, weil jemand da war.

Nach den eingebildeten Schrecknissen ängstigte ihn jetzt der Gedanke an die Wirklichkeit. Vielleicht waren die Polizisten noch nicht weggegangen; jedenfalls aber hatte Javert Leute in der Nähe postirt, und wenn der Mann da ihn im Garten entdeckte, so war vorauszusehen, daß er ihn für einen Dieb halten und als solchen der Polizei übergeben würde. Er nahm also die schlafende Cosette sacht in seine Arme und trug sie hinter einen Haufen alter Möbel, die in der verborgensten Ecke des Schuppens standen.

Von hier aus setzte er dann seine Beobachtungen fort. Sonderbarer Weise folgte das Geklingel allen Bewegungen des Mannes. Kam er näher, so wurde das Geräusch stärker; ging er zurück, so nahm es ab; machte er eine hastige Bewegung, so erfolgte ein rasches Tremolo; stand er still, so hörte das Geklingel auf. Sicherlich war das Glöckchen dem Mann angebunden, wie einem Leithammel oder einer Kuh. Was in aller Welt konnte das bedeuten?

Während sich ihm diese Frage aufdrängte, berührte er zufälliger Weise die Hände Cosettens. Sie waren eiskalt.

»Herr des Himmels!« sagte er erschrocken und rief mit leiser Stimme:

»Cosette!«

Sie that die Augen nicht auf.

Er schüttelte sie tüchtig.

»Ist sie denn tot?« dachte er und zitterte vor Angst am ganzen Leibe.

Allerhand schreckliche Gedanken durchkreuzten plötzlich sein Hirn, wie eine Horde von Furien, und raubten ihm alle ruhige Besinnung. Gilt es das Wohl derer, die wir lieben, so erfindet unsere Klugheit alle möglichen Thorheiten. So erinnerte sich jetzt Jean Valjean, daß der Schlaf im Freien, wenn es kalt ist, den Tod bringen kann.

Cosette lag blaß und regungslos an der Erde.

Er horchte nach ihrem Athem. Es schien ihm, als würde sie bald aufhören, überhaupt zu athmen.

Wie sollte er sie wärmen? Wie sie ins Bewußtsein zurückrufen? Diese Fragen verdrängten jetzt alle andern Rücksichten. Cosette mußte, ehe eine Viertelstunde um war, in einem warmen Bett liegen.

Mit diesem Gedanken stürzte er in sinnloser Angst aus seinem Versteck heraus.

IX.
Der Mann mit dem Glöckchen

Mit ein paar Sätzen war er bei dem Schellenträger, der jetzt gerade gebückt stand und ihn nicht bemerkte.

»Hundert Franken!« schrie Jean Valjean und hielt ihm die Rolle Geld hin, die er sich zu Hause in seine Westentasche gesteckt hatte.

Der Mann fuhr rasch empor und sah zu ihm empor.

»Hundert Franken können Sie Sich verdienen, wenn Sie mir für diese Nacht ein Obdach geben!«

Während er diese Worte angstvoll hervorstieß, beschien der Mond gerade sein Gesicht.

»Ei der Tausend! Vater Madeleine!« rief der Angeredete.

Jean Valjean war auf Alles gefaßt, nur nicht darauf, daß er an diesem unbekannten Orte, von diesem Unbekannten, gerade diesen Namen zu hören bekommen sollte.

Der ihn erkannt hatte, war ein von den Jahren gebeugter Greis, welcher am linken Bein ein Knieleder mit einer Glocke trug. Sein Gesicht, das im Schatten war, konnte Jean Valjean nicht erkennen.

Der Alte nahm die Mütze ab und sagte zitternd vor Freude:

»Ach, Du mein Gott! Wie kommen Sie hierher, Vater Madeleine? Herrjeses! Wo sind Sie hereingekommen? Sind Sie denn vom Himmel gefallen? Von Ihnen freilich würde es mich nicht wundern, wenn Sie aus dem Himmel kämen. Wie sehen Sie denn aber aus? Kein Halstuch! Kein Hut! Kein Rock! Wissen Sie, Einer, der sie nicht kennte, würde sich vor Ihnen fürchten! Kein Rock! Gott erbarme sich! Verlieren denn die Heiligen im Paradies den Verstand, daß sie so etwas geschehen lassen!«

Dieser Wortschwall kam so naiv und gutmüthig heraus, daß Jean Valjean in dem Augenblick alle Furcht fahren ließ.

»Wer sind Sie, und was ist das für ein Haus?« fragte er.

»Na das ist aber stark! Ich bin derjenige, dem Sie die Stelle hier verschafft haben, und das Haus ist dasjenige, wo ich die Stelle gekriegt habe. Kennen Sie mich denn nicht?«

»Nein! Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?«

»Sie haben mir das Leben gerettet!«

In diesem Augenblick wendete er sein Profil dem Monde zu, und Jean Valjean erkannte den alten Fauchelevent.

»Ach, Sie sind's? Ja, jetzt erkenne ich Sie!«

»Ein wahres Glück!« murrte der Alte.

»Was machen Sie denn aber hier?«

»Na, ich decke meine Melonen zu!«

In der That hielt der alte Gärtner eine Strohhülle in der Hand, die er eben über eine Glasglocke und die darunter befindliche Melone ausbreiten wollte. Er hatte auch schon in der Zeit, wo er im Garten war, eine ziemliche Anzahl Melonen so bekleidet, und diese Beschäftigung veranlaßte die Bewegungen, die vorhin Jean Valjeans Verwundrung erregten.

»Ich sagte so bei mir,« fuhr der Alte fort, »der Himmel ist ja so klar, es wird wohl frieren. Da wäre es ganz gut, wenn ich meinen Melonen ihre Röcke anzöge. – Und Sie,« fuhr er fort und lachte vergnügt, »Sie hätten sich auch einen Rock anziehen sollen! Aber wie in aller Welt sind Sie hier hereingekommen?«

Da der Mann ihn kannte, wenigstens unter dem Namen Madeleine, hielt Jean Valjean es für gerathen, Vorsicht zu gebrauchen. Statt zu antworten, that er Frage auf Frage. Die Rollen waren umgekehrt. Er, der Eindringling, verlangte Rechenschaft von dem Andern.

»Was haben Sie denn da für eine Glocke am Knie?«

»Ja, die trage ich, damit man vor mir davonläuft?«

»Was?!«

Der Alte zwinkerte schelmisch mit den Augen.

»Ja, sehen Sie, es sind hier nur Frauenzimmer im Hause, darunter viel junge Mädchen. Denen könnte ich gefährlich werden, meint man. Daher die Glocke. Da weiß man, wenn ich komme, und kann bei Zeiten davonlaufen.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Na, das wissen Sie ja!«

»Wirklich nicht!«

»Sie haben mich doch hierher empfohlen.«

»Antworten Sie, als wenn ich nichts wüßte.«

»Na, es ist ja das Kloster Petit-Picpus.«

Jetzt entsann sich Jean Valjean. Der Zufall, d. h. die Vorsehung, hatte ihn gerade in das Kloster des Quartiers Saint-Antoine gerathen lassen, wo der alte Fauchelevent vor zwei Jahren, nachdem er sich durch seinen Sturz unter den Wagen eine Steifheit des Knies zugezogen, auf seine Verwendung als Gärtner angestellt worden war. »Also das Kloster Petit-Picpus«, sagte er sinnend vor sich hin.

»Aber wie zum Teufel sind Sie eigentlich hier hereingekommen, Vater Madeleine? Sie sind ja ein Heiliger, aber Sie sind doch auch ein Mann, und Mannsvolk darf hier nicht herein.«

»Sie sind ja doch hier!«

»Ich ganz allein!«

»Bei alledem muß ich hier bleiben!«

»Ach Du mein Gott!«

Jean Valjean trat näher an den Alten heran und sagte zu ihm in ernstem Tone:

»Vater Fauchelevent, ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

»Ich habe mich zuerst daran erinnert«, antwortete Fauchelevent.

»Gut. Heute können Sie für mich thun, was ich seiner Zeit für Sie gethan habe.«

Fauchelevent ergriff zitternd Jean Valjean's Hände und brauchte einige Sekunden, ehe er ein Wort vorbringen konnte. Endlich rief er:

»O wie dankbar würde ich dem lieben Gott sein, wenn er mir die Gelegenheit geben wollte, Ihnen meine Erkenntlichkeit dafür zu bezeigen. Herr Bürgermeister, verfügen Sie über mich armen, alten Mann!«

Der Alte war wie verklärt, solche Freude leuchtete ihm aus den Augen.

»Was muß ich dazu thun?«

»Das will ich Ihnen auseinandersetzen. Sie haben doch ein Zimmer?«

»Ich habe da hinter dem verfallenen, alten Kloster eine ganz einsam stehende Baracke, in einem Winkel, wo kein Mensch hinkommt. Es sind drei Zimmer darin.«

Sie war in der That so gut versteckt, daß Jean Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut. Jetzt bitte ich Sie um Zweierlei.«

»Um was, Herr Bürgermeister?«

»Erstens dürfen Sie Niemand sagen, was Sie von mir wissen. Zweitens suchen Sie nicht, mehr über mich zu erfahren.«

»Wie Sie wünschen. Ich weiß, daß Sie nur thun können, was Sie verantworten können, und daß Sie immer ein lieber, guter Mann gewesen sind. Uebrigens haben Sie mir ja die Stelle hier verschafft. Also stehe ich Ihnen zu Diensten.«

»Also, das wäre abgemacht. Jetzt kommen Sie mal mit mir mit. Wir wollen das Kind holen.«

»I was? Das Kind?«

Er fragte aber nicht weiter und folgte Jean Valjean, wie ein treuer Hund seinem Herrn.

Ehe eine halbe Stunde vergangen war, schlief Cosette, nachdem sie sich an einem tüchtigen Kaminfeuer neue Lebenswärme geholt hatte, in dem Bett des alten Gärtners. Jean Valjean hatte sich sein Halstuch wieder umgebunden und seinen Rock wieder angezogen; der Hut, den er über die Mauer geworfen, war wieder gefunden. Fauchelevent hatte sein Knieleder samt der Glocke abgenommen und nun saßen die beiden Männer vor dem Kamin an einem Tisch, auf dem Fauchelevent ein Frühstück servirt hatte – ein Stück Käse, Schwarzbrot und eine Flasche Wein.

»Also, Vater Madeleine,« meinte der alte Gärtner und legte gemüthlich seine Hand auf das Knie des Angeredeten, »Sie haben mich nicht gleich erkannt. Sie retten Einem das Leben und nachher vergessen Sie Einen. Das ist nicht hübsch von Ihnen. Unsereins denkt ja an Sie! Sie sind ein undankbarer Mann!«

X.
Wie es kam, daß Javert den Vogel nicht fing

Die Vorgänge, von denen wir sozusagen eben die eine Seite gesehen haben, waren auf sehr einfache Weise zu Stande gekommen.

Als Jean Valjean aus dem Stadtgefängnis von Montreuil-sur-Mer entsprang, vermuthete die Polizei, er werde sich nach Paris gewandt haben. In Paris verliert sich ja und verschwindet Alles, wie in einem Malstrom. Kein Wald gewährt so sichere Verstecke, wie diese volkreiche Weltstadt. Das wissen auch alle Diejenigen, die einen Zufluchtsort brauchen und lassen sich, um ihren Verfolgern zu entgehen, von dem großen Strudel verschlingen. Aber die Polizei weiß dies auch und sucht deshalb, was ihr irgendwo entschlüpft ist, in Paris. So wurde denn auch Javert nach Paris berufen, um Nachforschungen nach dem Verbleib des Exbürgermeisters von Montreuil-sur-Mer anzustellen, und er trug auch viel dazu bei, daß Jean Valjean wieder eingefangen werden konnte. Der Eifer und die Klugheit, die er bei dieser Gelegenheit entfaltete, veranlaßten den Präfektursekretär Chabouillets ihm eine Anstellung bei der pariser Polizei zu verschaffen. Hier machte sich auch Javert auf mannigfaltige und achtbare Weise nützlich, – wenn solche Dienste mit dem Wort Achtung in Verbindung gebracht werden können.

Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, als er im Dezember 1823 eine Zeitung las. Das pflegte er sonst nicht zu thun; aber dies Mal wollte er als guter Monarchist die Berichte über den Triumpheinzug des Generalissimus in Bayonne lesen. Als er mit dem betreffenden Artikel fertig war, fiel ihm der Name Jean Valjean in die Augen. Es war die Notiz, daß Jean Valjean ums Leben gekommen sei, und die Nachricht wurde mit solcher Bestimmtheit angekündigt, daß Javert keinen Zweifel empfand. »Desto besser!« dachte er blos. »Da wird er nicht mehr auskneifen!«

Kurze Zeit darauf sandte die Präfektur des Seine-et-Oise Departements bei der Pariser Polizeipräfektur einen Bericht über die Entführung eines Kindes ein, die sich unter eigenartigen Umständen in der Commune Montfermeil zugetragen hatte. Ein sieben- bis achtjähriges Mädchen, das von ihrer Mutter einem dortigen Gastwirt anvertraut worden, so meldete der Bericht, wäre von einem Unbekannten gestohlen worden. Die Kleine antworte auf den Namen Cosette und sei die Tochter einer gewissen unverehelichten Fantine, die im Spital verstorben sei, man wisse weder wann noch wo. Dieser Bericht kam nun auch Javert unter die Hände und gab ihm zu denken.

Der Name Fantine war ihm wohl bekannt. Er entsann sich, daß er über die dreitägige Frist gelacht hatte, um die ihn Jean Valjean gebeten, damit er das Kind der Dirne holen könne. Es fiel ihm auch ein, daß Jean Valjean gerade in dem Augenblick verhaftet wurde, als er mit der Diligence nach Montfermeil abfahren wollte. Einige Anzeichen wiesen auch damals darauf hin, daß er dieselbe Diligence schon einmal benutzt hatte. Was er in Montfermeil zu thun hatte, konnte man damals nicht errathen. Jetzt begriff es Javert. Fantinens Kleine wollte er holen. Nun war diese von einem Unbekannten gestohlen worden. Von Jean Valjean? Aber der war ja gestorben. – Trotzdem fuhr Javert nach Montfermeil.

Statt hier über die Sache aufgeklärt zu werden, fand er, daß sie in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt war.

In den ersten Tagen plauderten die Thénardiers aus Aerger einen Theil der Wahrheit aus, und es bildeten sich sofort mehrere Sagen, unter denen schließlich die Entführungsgeschichte vorwog, und auf dieser fußte auch der Polizeibericht. Nachdem aber seine erste, üble Laune verflogen, begriff der pfiffige Thénardier, daß es niemals zu etwas Gutem führen kann, wenn man den Herrn Staatsanwalt neugierig macht. Die erste Folge, die seine Klagen über Cosettens Entführung haben mußte, war doch offenbar die, daß Frau Justiz ihr scharfes Auge auf ihn, Thénardier, und seine – nichts weniger als klaren – Angelegenheiten richten würde. Wie sollte er es namentlich rechtfertigen, daß er die fünfzehnhundert Franken angenommen hatte? Er stimmte also rasch ein anderes Lied an, verschloß seiner Frau den Mund und that erstaunt, wenn man von der »Entführung« des Kindes sprach. Natürlich hatte er sich beklagt, daß man ihm die liebe Kleine so schnell »entführt« hatte; er hätte sie gerne noch zwei bis drei Tage bei sich behalten; aber, da ihr Großvater sie holte, so hatte er doch nichts machen können, Diese Lesart der Geschichte bekam auch Javert zu hören.

Er sondirte die Sache aber doch etwas mit einigen Fragen: Wie der Großvater heiße? Was er sei? U. s. w. Thénardier antwortete mit gut erheuchelter Unbefangenheit: »Ein reicher Landwirt, Ich habe seinen Paß gesehen. Er hieß Guillaume Lambert, wenn mich mein Gedächtniß nicht täuscht.«

Lambert ist ein sehr ordinärer, spießbürgerlicher Name, der nicht verdächtig klingt, und Javert kehrte beruhigt nach Paris zurück.

»Jean Valjean ruht im Grabe,« dachte er, »und ich bin ein Narr.«

Wieder fing er an, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen, als er im Lauf des März 1824 von einem sonderbaren Kauz sprechen hörte, der in dem Sprengel Saint-Médard wohnte, dem sogenannten »Bettler, der Almosen gab,« Diese Persönlichkeit, hieß es, sei ein Rentier, dessen Namen man nicht mit Sicherheit wüßte. Er lebe allein mit einem kleinen Mädchen, die auch nichts wüßte, außer daß sie aus Montfermeil sei. Montfermeil! Der Name machte Javert stutzig. Ein alter Bettler, der früher Kirchendiener gewesen und gegenwärtig im Dienste der Polizei stand, erzählte ihm noch etwas mehr. Der Rentier sei ein Menschenfeind, gehe nur des Abends aus, rede mit Niemand, außer vielleicht mit Bettlern. Er trüge einen greulichen, alten, gelben Rock, in den mehrere Millionen in Kassenscheinen eingenäht seien. – Diese merkwürdige Erzählung reizte Javerts Neugierde und um den sonderbaren Rentier aus nächster Nähe zu sehen, ohne ihn kopfscheu zu machen, entlieh er eines Tages von dem Kirchendiener seine Kleider und vertrat seine Stelle.

Das »verdächtige Individuum« stellte sich auch ein und spendete dem verkleideten Javert ein Almosen. Dieser erstaunte ebenso, wie Jean Valjean erschrak. Er glaubte, Jean Valjeans Gesicht erkannt zu haben.

Indessen hatte die Dunkelheit ihn täuschen können. Jean Valjeans Tod war doch officiell gemeldet, Javert hegte Zweifel, und wenn er seiner Sache nicht ganz sicher war, pflegte der gewissenhafte Mann Niemand beim Kragen zu nehmen.

Er ging also dem Unbekannten bis zum Gorbeauschen Hause nach und forschte die alte Vicewirtin aus, was keine großen Schwierigkeiten hatte. Die Alte bestätigte die Geschichte von dem Rock und erzählte ihm, wie sie Jean Valjean beobachtet habe. Sie hatte den Tausendfrankenschein mit eignen Augen gesehen, den Rock mit ihren eigenen Händen befühlt! Daraufhin miethete Javert ein Zimmer in dem Hause, lauschte an Jean Valjeans Thür, ob er vielleicht seine Stimme hören würde, aber vergeblich, weil Jean Valjean auf seiner Hut war und nicht laut sprach.

Am nächsten Tag hörte die Vicewirtin den Klang des Geldstücks, das Jean Valjean hatte fallen lassen, und stattete darüber Javert Bericht ab, in dem Glauben, daß ihr Miether ziehen wolle. Javert lauerte also mit zwei Mann Jean Valjean am Abend hinter den Bäumen des Boulevard auf.

Er hatte aber auf der Präfektur nicht den Namen des Individuums angegeben, das er arretieren wollte. Dieser Verschwiegenheit lagen dreierlei Ursachen zu Grunde. Jean Valjean hätte erstens erfahren können, was ihm bevorstand; ferner war die Festnahme eines ehemaligen, totgeglaubten Galeerensklaven, eines von der Justiz für besonders gefährlich erklärten Verbrechers ein Erfolg, den die alten Pariser Polizisten einem Neuling, wie Javert, nicht gönnen und ihm daher seinen Fang vor der Nase wegschnappen würden. Endlich war Javert eine Künstlernatur; er liebte Knalleffekte und haßte Erfolge, denen durch vorzeitige Indiskretionen der Reiz der Ueberraschung abgestreift worden. Am schwersten aber wog wohl ein anderes Bedenken.

Man erinnere sich, daß zu jener Zeit die liberale Presse der Polizei das Leben schwer machte. Die Zeitungen hatten gerade über einige willkürliche Verhaftungen großen Lärm geschlagen und die Kammer aufrührig gemacht, so daß die Polizeipräfektur Angst bekam. Ein Attentat auf die persönliche Freiheit eines Staatsbürgers war eine bedenkliche Sache. Die Polizisten sahen sich vor, denn fiel ein Irrthum vor, so wurden sie dafür verantwortlich gemacht und ohne Weiteres abgesetzt. – Man stelle sich doch die Wirkung vor, die folgende, von zwanzig Zeitungen abgedruckte Notiz auf das Publikum hervorgebracht hätte: »Ein alter Mann in weißen Haaren, ein ehrenwerter Rentier, der mit seinem achtjährigen Töchterchen spazieren ging, ist gestern als entsprungener Galeerensklave verhaftet und in Polizeigewahrsam gebracht worden!«

Rechnet man hierzu Javert's persönliche Zweifel betreffs der Identität Jean Valjeans, so wird es begreiflich werden, warum er seinen Mann nicht sofort in Haft nahm.

Er schlich ihm an jenem Abend von Baum zu Baum, von einer Ecke zur andern nach und verlor ihn keine Minute aus dem Auge, konnte aber lange Zeit hindurch seine Zweifel nicht unterdrücken.

Jean Valjean wandte ihm den Rücken zu und ging im Schatten.

Ferner bewirkte die Sorge, die Angst, die schreckliche Notwendigkeit, plötzlich bei Nacht fliehen und auf's Gerathewohl einen neuen Zufluchtsort suchen zu müssen, endlich der Umstand, daß er seine Schritte denen eines Kindes anpassen mußte, eine solche Veränderung in Jean Valjean's körperlicher Haltung, ließ ihn so greisenhaft erscheinen, daß die Polizei und sogar Javert sich irren konnte und sich auch wirklich irrte.

Einen Augenblick dachte er daran, einfach an ihn heranzutreten und sich seine Papiere zeigen zu lassen. Aber wenn der Betreffende nicht Jean Valjean und nicht ein ehrsamer, alter Rentier war, sondern vielleicht ein gefährlicher abgefeimter Verbrecher, der an der Spitze irgend einer Diebesbande stand? – Der Mensch hatte dann Spießgesellen, Verbündete, bei denen er im Nothfall einen Unterschlupf finden konnte. Daß er so viel Umwege machte, deutete allerdings darauf hin, daß man es nicht mit einem Mann zu thun hatte, der sich keiner Schuld bewußt war. Man durfte ihn also nicht zu früh festnehmen, sonst ließ man sich einen ergiebigeren Fang entgehen. Was konnte es auch schaden, wenn man wartete? Entkommen konnte er ja doch nicht.

Javert's Verlegenheit hielt also an, bis er in der Rue de Pontoise kam, wo sich Jean Valjean nach ihm umwendete. Hier fiel der helle Lichtschein aus einer Schänke so auf Jean Valjean's Gesicht, daß Javert's Zweifel für immer schwanden.

Zwei Wesen erzittern bis ins Innerste hinein: Eine Mutter, die ihr Kind und ein Tiger, der seine Beute wiederfindet. So erzitterte auch in jenem Augenblick Javert.

Nun er den gefürchteten Galeerensklaven Jean Valjean vor sich sah, bemerkte er, daß sie ihrer nur drei waren, und holte sich Verstärkung aus dem Polizeibüreau der Rue de Pontoise. Wer einen Dornenstock anfassen will, muß solide Handschuhe anziehen.

Diese Verzögerung und der Aufenthalt auf dem Platze Rollin, wo er mit seinen Leuten Rath pflog, hätten beinahe die Folge gehabt, daß er die richtige Fährte verlor. Aber er errieth schnell, daß Jean Valjean den Fluß zwischen sich und seine Verfolger bringen würde. Er neigte den Kopf und sann nach, vorsichtig wie ein Leithund, der sich nicht irren will. Dann ging er stracks nach der Bude des Zollwächters und fragte: »Haben Sie einen Mann mit einem kleinen Mädchen gesehen?« »Ja wohl, er wollte blos einen Sou geben, aber ich habe ihn zwei zahlen lassen.« Auf diese Weise kam Javert früh genug auf der Brücke an, um Jean Valjean den von dem Monde beleuchteten Platz durchqueren zu sehen. Als dieser dann in die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine hineinirrte, stellte ihm Javert eine Falle, indem er einen von seinen Leuten auf einem Umwege nach der Ecke der Rue Picpus vorausschickte. Dann wollte es auch noch ein glücklicher Zufall, daß er einer Patrouille Soldaten begegnete. Ein richtiger Waidmann verläßt sich, wenn er einem starken Eber nachsetzt, nicht blos auf die Kniffe seiner edlen Kunst, sondern sorgt auch dafür, daß er recht viel tüchtige Hunde gegen ihn ins Feld führen kann.

Nun er solche Trümpfe in Bereitschaft hatte, nahm er zu seiner Belohnung eine Prise Tabak und genehmigte sich die teuflische Freude, mit seinem Opfer zu spielen. Er ließ ihn noch ruhig weiter gehen und wollte den entscheidenden Augenblick möglichst lange hinausschieben, möglichst lange die Wonne der Spinne genießen, die in ihrem Netze eine Fliege zappeln sieht, es der Katze nachmachen, die sich mit der Maus amüsirt.

Nun stelle man sich die Wuth vor, die ihn befiel, als er an die Falle kam und nichts darin fand!

Es geschieht bisweilen, daß ein Hirsch noch entkommt, nachdem ihn schon die Rüden gepackt haben; ein Fall, den sich die ältesten Jäger nicht zu erklären wissen. Bei einer solchen Gelegenheit rief einst Artonge: »Das war kein Hirsch! Das war ein Hexenmeister!«

So ziemlich denselben Gedanken mochte auch Javert haben.

Es steht fest, daß Napoleon in Rußland, Alexander der Große in Indien, Cäsar in Afrika, Cyrus im Kriege gegen die Scythen Fehler machte. Auch Javert liest sich solche Fehler in seinem Feldzug gegen Jean Valjean zu Schulden kommen. Sogar sehr viele. Er hätte den ehemaligen Galeerensklaven sofort erkennen, ihn sofort in dem Gorbeauschen Hause oder in der Rue de Pontoise dingfest machen sollen. Er durfte nicht auf dem Platz Rollin im hellen Mondenscheine stehen bleiben, keine Zeit mit der Requirirung der Soldaten verlieren und vor allen Dingen sich nicht das kindische Spiel mit einem so gefährlichen Wild gestatten. Er war, was die Jäger einen klugen Hund nennen und dennoch beging er alle diese Fehler. Aber wer ist denn vollkommen aus dieser Welt?

Er verlor auch nicht den Kopf, als er sich getäuscht fand. Jean Valjean konnte nicht weit sein. Er suchte die ganze Umgegend ab und legte Hinterhalte an geeigneten Orten. Einen wichtigen Anhaltspunkt gab ihm der abgeschnittene Laternenstrick. Indessen führte ihn dies Anzeichen insofern irre, als es seine Aufmerksamkeit auf die Sackgasse ablenkte. Hier waren ziemlich niedrige Mauern, hinter denen große Gärten und weiterhin Brachfelder lagen. Dorthin hatte sich also wahrscheinlich Jean Valjean gewendet. Allerdings wäre er auch verloren gewesen, wenn er auf diesen Gedanken verfallen wäre. Denn Javert durchforschte diese Gärten und Felder mit einer Sorgfalt, als suche er eine Stecknadel.

Bei Tagesanbruch postirte er zwei tüchtige Leute zur Beobachtung und kehrte, beschämt, daß ihn ein Spitzbube genarrt, nach der Präfektur zurück.


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