Victor Hugo
Die Elenden. Zweiter Theil. Cosette
Victor Hugo

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Erstes Buch. Waterloo

I.
Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt

An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 wanderte Jemand, – Derjenige, der diese Geschichte erzählt, – von Nivelles in der Richtung nach La Hulpe. Eine Viertelstunde hinter einem Wirtshause, auf dessen Schild: »Zu den vier Winden. Echabeau, Privatcafé« zu lesen war, gelangte er auf der welligen Chaussee in ein kleines Thal, wo rechts vom Wege eine Herberge lag. Hier zog sich seitwärts neben einem Ententeich ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er daselbst an einer spitzgiebeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert eine Strecke entlang gegangen, sah er ein großes gewölbtes Thor mit geradem Kämpfer, in dem majestätischen Stil Ludwigs XIV., mit einem flachen Rundbild an jeder Seite. Auf der Wiese, die sich vor dem Thor ausdehnte, lagen drei Eggen, durch deren Oeffnungen alle möglichen Maiblumen hindurchgewachsen waren.

Der Wanderer bückte sich und betrachtete aufmerksam das untere Ende des Gurtpfeilers, wo ihm eine merkwürdige rundliche Aushöhlung auffiel. In demselben Augenblick öffneten sich auch die beiden Thorflügel und eine Bäuerin trat heraus.

»Das ist von einer französischen Kanonenkugel!« bemerkte sie zu dem Fremden. »Und das Loch weiter oben, in der Thür, hat eine Kartätschenkugel gemacht. Die ist nicht durchgegangen.«

»Wie heißt dieser Ort?« fragte der Wanderer.

»Hougomont.«

Der Fremde richtete sich wieder auf, warf einen Blick über die Hecken und bemerkte am Horizont, durch die Bäume hindurch, eine Art Hügel und auf diesem Hügel etwas, das aus der Ferne einem Löwen ähnlich sah.

Er stand auf dem Schlachtfeld von Waterloo.

II.
Hougomont

Hougomont war das erste Hindernis, auf das Napoleon, Europas großer Baumfäller, bei Waterloo stieß; der erste Knast, den seine Axt nicht durchhauen konnte.

Ehedem war es ein Schloß, jetzt nur noch ein Gehöft. Hougomont ist für den Alterthumskenner eine von Hugo, dem Herrn von Somerel, erbaute Burg.

Der Wanderer stieß die Thür auf und trat in den Hof. Hier sah er eine Mistgrube, Spaten und Karste, einige Karren, einen alten Brunnen mit Traufrinne und eisernem Drehkreuz, ein hüpfendes Füllen, einen Truthahn, eine Kapelle mit einem Türmchen, einen Birnbaum. Dies also war der Hof, dessen Eroberung für Napoleon ein unerreichbares Ideal blieb! Dieser Fleck Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben.

Hier bewiesen die Engländer eine bewundernswert Tapferkeit. Hier erwehrten sich die vier Kompagnien der Cooke'schen Garden sieben Stunden lang einer ganzen Armee.

Auf der Karte stellt sich Hougomont als ein unregelmäßiges Rechteck dar, dessen eine Ecke abgestumpft ist. Hier befindet sich das Südthor. Denn Hougomont hat zwei Thore, ein südliches, das Schloßthor, und ein nördliches, das in das Gehöft führt. Gegen diesen Ort also sandte Napoleon seinen Bruder Jérôme; hier trafen die Divisionen Guilleminot, Foy und Bachelu zusammen, fast das ganze Armeekorps Reille wurde hier verwendet und zurückgewiesen; Kellermanns Kanonen richteten nichts aus gegen dies tapfere Stück Mauer und es bedurfte der größten Anstrengungen seitens der Brigade Bauduin, um von Norden in Hougomont einzudringen, während die Brigade Soye im Süden sich nur eines geringen Theils bemächtigen konnte.

Ein Bruchstück des Nordthors hängt noch an der Mauer. Es besteht aus vier Brettern samt den zwei Querhölzern, worauf die Bretter aufgenagelt sind; an diesem Bruchstück sieht man noch die Spuren, die von dem Kampfe beredtes Zeugnis; ablegen. Auch der Thürpfosten wies noch lange Zeit nachher Abdrücke von blutigen Händen auf. An dieser Stelle wurde Bauduin getödtet.

Im Jahre 1815 standen auf diesem Hof eine Menge Gebäude, die in der Schlacht als Redouten, Fleschen, Schanzen benutzt wurden. Die Franzosen konnten sie nicht nehmen, nicht behaupten. Von allen Seiten, den Böden, den Kellern, den Fenstern herab beschossen, brachten die Angreifer Faschinen herbei, um die Gebäude in Brand zu stecken, aber ohne Erfolg.

In dem zerfallenen Schloßflügel sieht man durch vergitterte Fenster demolirte Wachtstuben und eine zweistöckige, vom Erdgeschoß bis zum Dach hinauf geborstene Wendeltreppe. Auf den oberen Stufen dieser Treppe belagert, zerstörten die englischen Gardisten die unteren, deren Trümmer, große blaue Fliesen, noch heute zwischen den Brennnesseln liegen.

Auch in der Kapelle haben Franzosen und Engländer sich gemordet. Drinnen sieht es seltsam genug aus. Die Messe ist hier seit dem Gemetzel nicht mehr gelesen worden. Aber der Altar ist stehen geblieben. Vier weiß getünchte Wände, dem Altar gegenüber eine Thür, zwei gewölbte Fensterchen, oben an der Thür ein Krucifix, darüber ein viereckiges mit Heu verstopftes Loch, in einer Ecke ein alter Fensterrahmen: So sieht diese Kapelle jetzt aus. In der Nähe des Altars ist eine Holzstatue der heil. Anna aus dem 15. Jahrhundert angenagelt; der Kopf des Jesuskindes wurde von einer Kanonenkugel abgeschlagen.

Auch durch Feuer ist das Gotteshaus beschädigt worden. Die Franzosen, die sich desselben schon bemächtigt hatten, wurden hinausgetrieben, kehrten aber wieder zurück und warfen Feuer hinein. Das ganze Gebäude brannte wie ein Hochofen, die Thür, die Dielen brannten, nur das hölzerne Christusbild nicht. Zwar die Füße hat das Feuer arg mitgenommen, aber sonst ist es unbeschädigt geblieben. Ein Wunder! sagen die Leute der Umgegend. Ja, aber das Jesuskind, dem der Kopf abgerissen wurde, ist doch nicht so glücklich gewesen, wie das Christusbild!

Die Wände der Kapelle sind mit Inschriften bedeckt. Nahe den Füßen des Christusbildes liest man den Namen Henquinez. Und viele andere: Conde de Rio Maior, Marques y Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit wüthenden Ausrufungszeichen.

An der Thür der Kapelle wurde ein Leichnam aufgelesen, der eine Axt in der Hand hielt. Es war die Leiche des Unterlieutenants Legros.

Tritt man hinaus, so sieht man links einen Brunnen. Auf dem Hofe ist noch ein anderer. Man fragt: »Wozu zwei Brunnen? Warum ist der hier nicht mit Rolle und Eimer versehen?« »Ja, der ist voller Skelette!«

Der Letzte, der Wasser aus diesem Brunnen geschöpft hat, hieß Wilhelm van Kylsom. Er war ein Bauer, der in Hougomont wohnte und die Gärtnerei betrieb. Seine Familie flüchtete sich am 18. Juni 1815 in den Wald, der damals mehrere Tage und Nächte die obdachlose Bevölkerung der Umgegend aufnahm und noch viele Jahre nachher Spulen dieses Aufenthalts, namentlich verkohlte alte Baumstümpfe, aufwies.

Wilhelm van Kylsom dagegen blieb in Hougomont, um »das Schloß zu hüten« und – verkroch sich in einen Keller. Hier entdeckten ihn die Engländer, holten ihn aus seinem Schlupfwinkel heraus und bedeuteten ihm, indem sie mit den flachen Klingen auf ihn losschlugen, daß sie Wasser haben wollten. Dies brachte er ihnen dann aus dem erwähnten Brunnen.

Nach der Schlacht hatte man Eile, die Leichen wegzuschaffen. Denn der Tod verfolgt auch nachher noch den Sieger, indem er die Pest gegen ihn ausschickt. Der Typhus ist eine Ergänzung des Triumphes. Da kam also den Siegern der Brunnen, der sehr tief ist, recht gelegen. Er nahm dreihundert Leichen auf. Waren auch Alle, die hineingeworfen wurden, wirklich schon Leichen? Manche behaupten »Nein!« Die Nacht darauf ließen sich im Brunnen schwache Stimmen, die um Hilfe riefen, vernehmen.

Ein Haus auf dem Gehöft ist noch bewohnt. An der Thür dieses Hauses ist eine kunstvolle Klinke, Diese ergriff der hannoversche Lieutenant Wilda, um sich in das Haus zu flüchten, als plötzlich ein Sappeur ihm die Hand abhieb.

Die Familie, die in diesem Hause wohnt, stammt von dem erwähnten Gärtner Wilhelm van Kylsom, der nun schon längst gestorben ist. Eine Frau in grauen Haaren erzählte mir, als ich mich 1861 dort aufhielt: »Ich war damals drei Jahre alt. Meine Schwester, die größer war als ich, fürchtete sich und weinte. Man trug uns weg, in den Wald. Mich nahm meine Mutter auf den Arm, Alles legte sich platt auf die Erde und horchte. Ich machte den Kanonendonner nach: Bumm! Bumm!«

Durch die eine Thür des Hofes gelangt man in den Garten, einen wahren Schreckensort,

Er besteht aus drei Theilen. In dem einen, dem Blumengarten, der tiefer gelegen ist, fingen sich sechs Voltigeure des ersten Regiments der Chevaux-legers wie Bären in einer Grube, und nahmen den Kampf gegen zwei Kompagnieen Hannoveraner auf, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war. Die Angreifer, zweihundert an der Zahl, legten sich hinter das Steingeländer, das den Blumengarten umgiebt, und schossen von oben auf die Sechs hinab, die, nur von den Sträuchern geschützt, sich eine Viertelstunde lang wehrten, ehe sie unterlagen.

Von dem Blumen- zu dem Obstgarten hinauf führen einige Stufen. Hier fielen binnen einer Stunde, auf einem Raum, der nur wenige Quadratklafter mißt, fünfzehnhundert Mann, Noch steht die Mauer so vertheidigungsfähig wie damals, mit den achtunddreißig Schießscharten, die von den Engländern in verschiedenen Höhen angebracht wurden. Vor der Mauer, nach Süden zu, ist eine hohe Hecke, die sie dem Blick entzieht, und als die Franzosen den Ort stürmten, glaubten sie, sie hätten es nur mit diesem Hindernis zu thun. Plötzlich aber sahen sie die Mauer vor sich, und aus den Schießscharten prasselte ein fürchterliches Kanonen- und Gewehrfeuer auf sie hernieder, so daß der Angriff der Brigade Soye hier scheiterte. So fing Waterloo an.

Dennoch wurde der Baumgarten genommen. Da sie keine Leitern hatten, krallten sich die Franzosen mit den Nägeln ein. Dann wurde Mann gegen Mann unter den Bäumen gekämpft. Alles Gras bethaute sich mit Blut. Ein Nassausches Bataillon, siebenhundert Mann stark, wurde da über den Haufen geschossen. Nach außen zu, wo Kellermann das Gemäuer mit zwei Batterien bearbeitete, trägt es die Spuren von Kartätschenkugeln.

Dieser Garten ist im Monat Mai so idyllisch und friedlich wie jeder andere. Hier blühen Maßliebchen, weiden Pferde, trocknen Frauen ihre Wäsche, wühlen Maulwürfe ihre Gänge unter der Erde. Aber im Grase liegt ein entwurzelter, noch lebensfähiger Baumstamm. An diesen hat sich damals der Major Blackman angelehnt, um zu sterben. Unter einem andern großen Baum fiel der deutsche General Duplat, ein Sprößling einer französischen Hugenottenfamilie, die durch das Edikt von Nantes heimatlos wurde. Neben diesem Baum steht ein anderer, ein Apfelbaum, dem nach der Schlacht ein Verband aus Stroh und Lehm angelegt wurde, und so wie er erhielten alle andern Bäume mehr oder minder schwere Wunden durch Gewehr- und Kanonenkugeln.

Also Bauduin getötet, Foy verwundet, Brand, Mord, Ströme von französischem, englischem, deutschem Blut, ein Brunnen voll Leichen, das Regiment Nassau und das Regiment Braunschweig vernichtet, Duplat, Blackman getötet, die englische Garde decimirt, zwanzig Bataillone von den vierzig des Reille'schen Armeekorps niedergemacht, dreitausend Menschen allein in der alten Baracke Hougomont niedergesäbelt, ‑geschossen; ‑gestochen und verbrannt, und wozu das alles? Damit jetzt ein Bauer zu einem Fremden sagen kann: »Mein Herr, wenn Sie mir drei Franken geben, zeige ich Ihnen das Schlachtfeld von Waterloo!«

III.
Am 18. Juni 1815

Kehren wir, wie es das Recht des Erzählers ist, in die Vergangenheit zurück, versetzen wir uns in das Jahr 1815 und sogar noch vor die Zeit, wo die in dem ersten Theil dieses Buches erzählte Handlung beginnt.

Hätte es nicht in der Nacht vom 17. auf dem 18. Juni 1815 geregnet, so hätte sich die Zukunft Europas anders gestaltet. Einige wenige Tropfen Wasser haben die Wagschale des Geschicks zu Ungunsten Napoleons geneigt. Damit Austerlitz in Waterloo ausmündete, bedurfte die Vorsehung ein wenig Regen, und eine Wolke, die in einer gewöhnlich heitern Jahreszeit über den Himmel strich, genügte eine Welt zu zertrümmern.

Die Schlacht bei Waterloo hat erst um halb zwölf Uhr Morgens ihren Anfang nehmen können, was Blücher die Zeit gab, zur rechten Stunde hinzuzukommen. Warum nicht früher? Weil der Erdboden aufgeweicht war. Man mußte warten, bis er wieder etwas fester wurde, und die Artillerie manövriren konnte.

Napoleon war ursprünglich Artillerieoffizier, und davon blieb zeitlebens etwas an ihm haften. Das Wesen seines gewaltigen Feldherrngenies lag schon in dein Bericht, den er über Abukir verfaßte: »Manche von unsern Kanonenkugeln haben je sechs Mann getötet.« Alle seine Schlachtpläne haben die Leistungsfähigkeit der Geschütze zur Voraussetzung. Die Artillerie auf einen gegebenen Punkt wirken zu lassen, darin bestand das Geheimnis seiner Siege. Er überschüttete den schwachen Punkt der feindlichen Schlachtordnung mit Kartätschen, durchbrach die Reihen seiner Gegner, zermalmte, zerstreute sie mit Kanonenschüssen. Eine furchtbare Methode! Im Verein mit dem Genie hat sie fünfzehn Jahre lang diesen gewaltigen Kriegesathleten unbesiegbar gemacht.

Am 18. Juni 1815 verließ er sich um so mehr auf die Artillerie, als er in dieser Hinsicht dem Gegner überlegen war. Wellington verfügte nur über hundertneunundfünfzig Feuerschlünde, Napoleon über zweihundertvierzig.

Wäre der Erdboden trocken gewesen, hätten die Geschütze die erforderliche Manövrirfähigkeit besessen, so konnte die Schlacht um sechs Uhr Morgens anfangen. Sie war dann um zwei Uhr Nachmittags beendet, drei Stunden, ehe die Preußen in den Kampf eingriffen.

Wieviel Schuld an den Verlust der Schlacht muß Napoleon beigemessen werden? Hat hier der Lootse den Schiffbruch veranlaßt?

Bedingte damals bei Napoleon der entschiedene Verfall seiner körperlichen Gesundheit zugleich eine Schwächung seiner Geisteskräfte? Hatten die zwanzig Kriegsjahre die Klinge ebenso stark, wie die Scheide, Leib und Seele gleich abgenutzt? Machte sich der Veteran in dem Feldherrn bemerkbar? Kurz, verdunkelte sich sein Genie, wie viele tüchtige Geschichtskenner angenommen haben? Verlor er die Herrschaft über sich selbst und suchte er sich über seinen moralischen Niedergang hinwegzutäuschen? Rechnete er zu sehr auf den Zufall? War er sich, was bei einem Feldherrn gefährlich ist, nicht mehr der Gefahr bewußt? Giebt es bei den großen Männern der materiellen That ein Alter, wo ihr Genie seine Sehkraft einbüßt? Den idealen Genies kann das Greisenalter nicht beikommen; die Dantes und die Michelangelos wachsen, je älter sie werden: Ist bei einem Hannibal und einem Bonaparte Altern gleichbedeutend mit Abnehmen? Und war Napoleon als Sechsundvierziger nur noch ein thörichter Wagehals?

Wir glauben das nicht.

Sein Schlachtplan war, wie allgemein zugestanden wird, ein Meisterwerk. Gerade auf das Centrum der verbündeten Armeen losgehen, ein Loch in den Feind bohren, ihn in zwei Stücke zerhauen, die brittische Hälfte nach Hal und die preußische nach Tongres hindrängen, Mont-Saint-Jean nehmen, auf Brüssel marschiren, den Deutschen in den Rhein und den Engländer in das Meer werfen, darauf kam es Napoleon an. Nachher wollte er weiter sehen.

Selbstredend maßen wir uns hier nicht an, eine Beschreibung der Schlacht bei Waterloo liefern zu wollen. Ein für unsere Erzählung wichtiges Ereigniß bildet nur eine Scene in dem großen Schlachtendrama. Die Geschichte dieser Schlacht selbst aber wollen wir nicht schreiben, weil sie schon geschrieben ist, einerseits von Napoleon und, von einem andern Standpunkt aus, von einer ganzen Plejade von Historikern, Walter Scott, Lamartine, Vaulabelle, Charras, Quinet, Thiers. Was uns anbetrifft, so lassen wir die Geschichtsschreiber ihren Streit unter sich ausmachen; wir sehen nur von Ferne zu, wandern über das blutgetränkte Gefilde von Waterloo als Neugieriger und halten vielleicht Schein für Wirklichkeit; wir haben nicht das Recht im Namen der Wissenschaft einer Gesamtheit von Thatsachen zu widersprechen, die höchst wahrscheinlich dem Forscher Wahngebilde vorspiegeln, und besitzen weder militärische Praxis, noch theoretische Kenntnisse, um uns ein System zu machen. Unseres Erachtens leitete bei Waterloo ein besondere Verkettung von Zufällen die beiden Feldherren, und wir urtheilen, wenn es sich um eine Anklage gegen das geheimnißvolle Schicksal handelt, wie das naive Volk.

IV.
A

Wer sich ein klares Bild von dem Schlachtfeld bei Waterloo machen will, der stelle sich ein auf die Erde gelegtes, lateinisches A vor. Der linke Schenkel bedeutet dann die Landstraße von Nivelles, der rechte die Straße von Genappe, der Verbindungsstrich ist der Hohlweg zwischen Ohain und Braine-l'Alleud. Die Spitze des A stellt Mont-Saint-Jean vor, wo Wellington stand; an dem linken unteren Ende liegt Hougomont, dort war Reille und Jérôme Bonaparte; das rechte untere Ende ist La Belle-Alliance. Etwas unter dem Punkt, wo der Verbindungsstrich den rechten Schenkel schneidet, liegt La Haie-Sainte. In der Mitte des Querstrichs ist der Punkt, wo das letzte Wort der Schlacht gesprochen wurde. Dort hat man das Denkmal aufgerichtet, einen Löwen, ein unfreiwilliges Symbol des heldenmüthigen Widerstandes der kaiserlichen Garde.

Das von den beiden Schenkeln und dem Querstrich gebildete Dreieck ist die Hochebene von Mont-Saint-Jean. Um den Besitz dieser Hochebene drehte sich die ganze Schlacht.

Die Flügel der beiden Armeen dehnten sich rechts und links von den beiden Landstraßen, der von Nivelles und der von Genappe, aus. D'Erlon stand Picton und Reille Hill gegenüber.

Hinter der Spitze des A, also hinter dem Plateau von Mont-Saint-Jean, liegt der Wald von Soignes.

Was die Ebene betrifft, so denke man sich ein welliges Terrain, wo die nächste Erhöhung immer mehr emporsteigt, als die vorhergehende, bis sie hinter Mont-Saint-Jean, in dem Walde, enden.

Beide Generäle hatten die Ebene von Mont-Saint-Jean, die man heutzutage die Ebene von Waterloo nennt, auf's sorgfältigste studirt, Wellington schon im Jahre vorher, für den Fall einer großen Entscheidungsschlacht. Er hatte sich auch die vortheilhafteste Seite gewählt; denn am 18. Juni standen die Engländer oben und die Franzosen unten.

Hier ein Bild von Napoleons äußerer Erscheinung zu Pferde, mit dem Fernrohr in der Hand, zu entwerfen, ist fast überflüssig. Man kann ihn nicht mehr zeigen, alle Welt hat ihn schon gesehen. Das ruhige Profil unter dem kleinen Hute, die grüne Uniform mit den weißen Aufschlägen, der Rock, das rothe Ordensband, die Lederhose, der Schimmel mit der purpurnen Sammtschabracke, dem gekrönten N und den Adlern, die Reitstiefel über den langen seidenen Strümpfen, die silbernen Sporen, der Degen, den er einst bei Marengo getragen; kurz, die ganze Gestalt des letzten Cäsar steht vor dem Geiste Aller Derer, die ihn in den Himmel erheben, und Derer, die ihn verdammen.

Diese Gestalt erschien lange nur in ungetrübtem Glanze, weil der Ruhm der meisten Helden aus einem Gewebe von Sagen besteht, das die Wahrheit verschleiert; aber heutzutage ist dieser Schleier gefallen.

Die Geschichte ist unerbittlich und bringt, eben weil sie das Licht ist, oft Schatten dorthin, wo man bisher nur blendende prahlen sah. Aus einem Menschen macht sie zwei, die einer den andern bekämpfen und richten, der schändliche Despot den ruhmgekrönten Feldherrn. So gewinnen die Völker einen Maßstab, mit dem sie die großen Männer richtig und endgültig beurtheilen. Der Brand Babylons mindert Alexanders Größe; Roms Ketten machen Caesar Vorwürfe; Jerusalems Zerstörung ist ein Flecken auf Titus Ehrenschild,

V.
Das Quid obscurum der Schlachten

Jedermann kennt das erste Stadium der Schlacht bei Waterloo, mit seinen unaufgeklärten und schwer verständlichen Einzelheiten, die für beide Theile, am meisten aber für die Engländer, eine bedrohliche Gestalt zeigten.

Es hatte die ganze Nacht geregnet; die Wege waren grundlos; alle tieferen Stellen der Ebene waren wie Waschbecken mit Wasser angefüllt; hier und da versanken die Trainfuhrwerke bis an die Achsen im Schlamm, und wenn nicht die Menge Wagen das Getreide niedergedrückt und so die Geleise ausgefüllt, sich eine Unterlage geschaffen hätten, so wäre jedes Vorrücken, namentlich in der Gegend von Papelotte, unmöglich gewesen. Der Kampf begann spät, denn Napoleon, der erst die gesammte Artillerie bei der Hand haben wollte, hatte beschlossen zu warten, bis die Geschütze sich schnell und sicher bewegen könnten. Dazu war aber nöthig, daß die Sonne schien und die Erde trocknete. Allein die Sonne, die dem Kaiser bei Austerlitz geleuchtet, ließ sich nicht blicken, und so trat eine verhängnisvolle Verzögerung ein. Als der erste Kanonenschuß gelöst wurde, sah der englische General Colville nach seiner Uhr und konstatirte, daß es fünfunddreißig Minuten nach elf war.

Das Gefecht entbrannte mit großer Heftigkeit, heftiger, als es Napoleon wohl wünschte; auf dem linken Flügel der Franzosen, der Hougomont angriff. Zur selben Zeit drang Napoleon gegen das feindliche Centrum vor, indem er die Brigade Quiot auf La Haie-Sainte stürzte, und Ney rückte mit dem rechten Flügel gegen den linken der Engländer, der sich an Papelotte anlehnte.

Der Angriff auf Hougomont bezweckte eine Täuschung Wellingtons: Er sollte sich nach links ziehen. Der Plan wäre auch gelungen, wenn die vier Kompagnien der englischen Garde und die tapfern Belgier der Division Perponcher nicht erfolgreichen Widerstand geleistet und sich in ihrer Stellung behauptet hätten. So aber konnte Wellington, statt das Gros seiner Armee dorthin zu verschieben, sich mit der Absendung von vier andern Gardekompagnien und einem Bataillon des Regiments Braunschweig als Verstärkung begnügen.

Der Angriff des rechten Flügels auf Papelotte sollte die Entscheidung herbeiführen. Es galt den linken Flügel der Engländer zurückzudrängen, die Straße nach Brüssel zu besetzen, den Preußen den Weg zu verlegen, Mont-Saint-Jean zu erstürmen, Wellington auf Hougomont, von dort auf Braine-l'Alleud und von da auf Hal zurückzutreiben. Abgesehen von einigen Zwischenfällen gelang der Angriff auch. Papelotte und La Haie-Sainte wurden genommen.

Eine beachtenswerte Merkwürdigkeit: Die englische Infanterie, besonders die Brigade Kempt, bestand zum großen Theil aus Rekruten. Diese jungen Menschen hielten sich gut gegen unsere tüchtigen, alten Infanteristen. Unerfahren, wie sie waren, wußten sie sich zu helfen, indem sie als Tirailleure in aufgelöster Ordnung fochten. In einem solchen Kampfe ist aber der Soldat mehr auf sich selbst angewiesen, wird so zu sagen sein eigener General, und die englischen Rekruten bewiesen so etwas wie französische Initiative und Schneidigkeit. Dies nun mißfiel Wellington!

Nach der Erstürmung von La Haie-Sainte gerieth die Schlacht ins Stocken.

Die Geschichte dieses Tages enthält eine Art Lücke; wie zwischen zwölf und vier Uhr die verschiedenen Theile der beiden Armeeen sich bewegten, läßt sich nicht verfolgen. Dergleichen wirre, unbestimmbare Details, quid obscurum, quid divinum, weist eine jede Schlacht auf. Wie sorgfältig auch die beiden Heerführer am Studirtisch Alles vorausberechnet haben mögen, im Gefecht erleidet ein Plan durch den andern die mannigfaltigsten Abänderungen. Dieser Theil des Schlachtfeldes verschlingt mehr Kämpfer, als jener, wie auch der Erdboden an einer Stelle schwammiger ist und mehr Wasser einsaugt, als an einer andern. Man muß also an einen solchen Punkt mehr Soldaten nachschicken, als man möchte, hat Ausgaben, die nicht vorgesehen waren. Die Schlachtordnung verschiebt sich hier nach vorn, dort nach hinten; das Blut fließt unlogisch; die beiden Fronten wallen hin und her, bilden Buchten und Vorgebirge. Wo die Infanterie war, kommt Artillerie hin; auf die Artillerie folgt Kavallerie; Bataillone zerstieben wie Rauch. Endlich artet auch jede Schlacht früher oder später in ein Handgemenge aus, löst sich in eine Menge Einzelkämpfe auf, die, um mit Napoleon selbst zu reden, eher der Biographie der Regimenter als der Geschichte des Heeres angehören. Der Historiker muß also das Recht haben, die Thatsachen kurz zusammenzufassen. Er kann eine Schlacht nur in ihren Hauptumrissen schildern, und kein Erzähler, so gewissenhaft er auch sein mag, vermag alle Vorgänge, aus denen sie sich zusammensetzt, aufzählen, so wenig ein Meteorologe die fortwährenden Gestaltverändrungen einer Wolke feststellen kann.

Dies gilt von allen großen Treffen, besonders aber von der Schlacht bei Waterloo.

Zu einer gewissen Stunde des Nachmittags indessen nahm sie eine konkretere Gestalt an.

VI.
Vier Uhr Nachmittags

Gegen vier Uhr war die Lage der englischen Armee eine recht kritische. Der Prinz von Oranien kommandirte das Centrum, Hill den rechten, Picton den linken Flügel. »Nassau! Braunschweig! Nur nicht rückwärts!« rief der unerschrockne Oranien den Holländern und Belgiern zu; Hill, der schwere Verluste erlitten hatte, lehnte sich jetzt an Wellington an; Picton war gefallen. Eine Kugel hatte ihn in demselben Augenblick niedergestreckt, wo die Engländer die Fahne des 105. französischen Linienregiments eroberten. Wellingtons Schlachtlinie hatte als Stützpunkte Hougomont und La Haie-Sainte; Das erstere hielt sich, aber La Haie-Sainte war nicht mehr im Besitz der Engländer. Von dem deutschen Bataillon, das letzteren Ort vertheidigt hatte, waren nur zweiundvierzig Mann übrig; alle Offiziere, mit Ausnahme von fünfen, waren tot oder gefangen. Dreitausend Mann waren in dieser Scheune ums Leben gekommen. Ein Gardesergeant, Englands erster Boxer, der bei seinen Kameraden für unverwundbar galt, ward hier von einem kleinen französischen Trommler getötet. Baring hatte seine Stellung geräumt, Alten war niedergehauen worden. Mehrere Fahnen waren verloren, darunter eine von der Division Alten und eine vom Bataillon Lüneburg, die ein Prinz des Hauses Zweibrücken getragen hatte. Die grauen Schotten existirten nicht mehr; Ponsonby's schwere Dragoner waren in Stücke gehauen. Diese tapfere Kavallerie wurde von Bro's Lanzenreitern und Travers' Kürassieren niedergeworfen; von zwölfhundert Pferden waren nur noch sechshundert übrig geblieben; von den drei Oberstlieutenants lagen zwei an der Erde, Hamilton verwundet, Mater getötet. Ponsonby war, von sieben Lanzenstichen durchbohrt, gefallen, Gordon tot, Marsch gleichfalls. Zwei Divisionen, die fünfte und die sechste, vernichtet.

Allein der Knotenpunkt der feindlichen Stellung, das Centrum, war noch unerschüttert. Wellington verstärkte es noch. Er zog Hill aus Merbe-Braine und Chassé aus Braine-l' Alleud an sich.

Das Centrum der englischen Armee, das eine konkave Gestalt hatte und eng zusammengedrängt war, hatte eine sehr starke Stellung. Es hielt das Plateau von Mont-Saint-Jean besetzt und hatte hinter sich das Dorf, vorn den Abhang, der damals ziemlich steil war. Es lehnte sich an einen starken Steinbau, an dem die Kanonenkugeln ohnmächtig abprallten. Um das ganze Plateau herum hatten die Engländer stellenweise Lücken in die Hecken gehauen und Kanonen darin aufgepflanzt. Diese mit wahrhaft punischer, aber im Kriege zulässiger Heimtücke ausgeklügelten Fallen waren so gut versteckt, das Haro, den der Kaiser um neun Uhr Morgens zur Rekognoscirung der feindlichen Batterieen ausgesandt hatte, keine Lunte roch und Napoleon meldete, es sei kein Hindernis vorhanden, außer den beiden Verhauen auf der Landstraße von Nivelles und von Genappe. Es war die Zeit, wo das Korn sehr hoch steht, und am Saume des Plateaus lag, versteckt im Getreide, ein mit Karabinern ausgerüstetes Bataillon der Brigade Kempt, das fünfundneunzigste.

Die Stellung des englischen Centrums war also vorzüglich gesichert.

Doch hatte sie auch eine schwache Seite, den Wald von Soignes, der damals bis an das Schlachtfeld reichte, und der von den Teichen Groenendael und Boitsfort durchschnitten war. Bei einem etwaigen Rückzüge hätte in diesem Walde die englische Armee ihren Zusammenhang nicht bewahren können; die Infanterie hätte sich aufgelöst, die Geschütze wären in den Sümpfen stecken geblieben, und eine wilde Flucht das Ende gewesen.

Wellington verstärkte das Centrum mit einer Chasséschen Brigade, die er dem rechten, und einer Winckeschen Brigade, die er dem linken Flügel entnahm, und außerdem mit der Division Clinton. Mit seinen Engländern, dem Halkettschen Regiment, der Mitchellschen Brigade, den Maitlandschen Garden vereinigte er die Braunschweigsche Infanterie, das Nassausche Kontingent, Kielmannsegge's Hannoveraner und Ompteda's Deutsche. So hatte er hier sechsundzwanzig Bataillone beisammen. Es wurde, wie Charros bemerkt, der rechte Flügel hinter das Centrum gezogen. An der Stelle, wo heute das sogenannte Museum von Waterloo steht, befand sich eine gewaltige, mit Erdsäcken maskirte Batterie. Außerdem lagen in einer Bodenfalte Somerset's Gardedragoner, vierzehnhundert Mann stark. Es war diejenige Hälfte der berühmten englischen Kavallerie, die nach Ponsonby's Vernichtung übrig geblieben war.

Die Batterie, die, fertig gebaut, fast eine Redoute abgegeben hätte, lag hinter einer niedrigen Gartenmauer, die mit einer starken Erdschicht bekleidet war; Palissaden zu pflanzen hatte es an Zeit gefehlt.

Wellington, der sehr besorgt, aber äußerlich ruhig war, saß den ganzen Tag über auf dem Pferde, vor der alten Mühle von Mont-Saint-Jean, die heute noch steht, unter einer Ulme, die seitdem ein Engländer, ein begeisterter Vandale, für zweihundert Franken gekauft, abgesägt und nach England mitgenommen hat. Wellington bewies hier einen kaltblütigen Heldenmuth. Es hagelte Kugeln um ihn. Der Adjutant Gordon wurde an seiner Seite getötet. Da fragte ihn Lord Hill, indem er auf eine eben geplatzte Granate hinwies: »Mylord, welche Instruktionen und Befehle geben Sie uns für den Fall, daß Sie getötet werden?« »Dasselbe zu thun wie ich,« antwortete Wellington. Zu Clinton sagte er lakonisch: »Bis zum letzten Mann ausharren.« Die Schlacht nahm eine gefährliche Wendung, und er feuerte seine alten Waffenbrüder, mit denen er bei Talavera, Vittoria, Salamanca gesiegt hatte, mit dem Zuruf an: »Kinder, Ihr werdet doch nicht weichen? Denkt an das Vaterland!«

Gegen vier Uhr fingen die Engländer an zurückzugehen. Plötzlich sah man auf dem Kamm des Plateaus nur noch Artillerie und Schützen; die von dem französischen Geschützfeuer vertriebenen Regimenter hatten sich in den Thalgrund verzogen. – »Der Anfang des Rückzuges!« rief Napoleon.

VII.
Napoleon bei guter Laune

Obgleich krank und durch eine lokale Beschwerde am Reiten behindert, war Napoleon nie so gut aufgelegt gewesen, wie an jenem Tage. Der Mann, der bei Austerlitz ein düsteres Gesicht gezeigt, lächelte bei Waterloo.

»Lacht Cäsar, so wird Pompejus weinen«, meinten die Soldaten der Legio fulminatrix. Dies Mal brauchte Pompejus nicht zu weinen, aber so viel steht fest, daß der Cäsar lachte.

Am Abend und in der Nacht zuvor, als er im Gewitterregen mit Bertrand die Hügel bei Rossomme rekognoscirte und die Feuer der Engländer von Frischemont bis Braine-l'Alleud den Horizont erleuchten sah, hatte er gemeint, das Schicksal, das er zu diesem Tage auf das Feld von Waterloo bestellt habe, sei pünktlich gewesen, darauf sein Pferd angehalten und die fatalistischen Worte gesprochen: »Wir sind einig.« Er irrte sich. Das Schicksal und er waren nicht mehr einig.

Er hatte keine Minute geschlafen und war die ganze Nacht hindurch so lustig gewesen, daß er in allem Möglichen Anlaß fand, die Dinge im rosigsten Lichte zu schauen. So hatte er um halb drei bei dem Gehölz von Hougomont ein Geräusch von Schritten gehört: »Das ist die englische Nachhut«, meinte er, »die will ausreißen. Ich werde die sechstausend Engländer, die in Ostende gelandet sind, abfassen.« Ueberhaupt war er sehr redselig und hatte seine alte Lebhaftigkeit wiedergewonnen, dieselbe, die er bei seiner Landung in Cannes bewies, als er dem Großmarschall einen enthusiastischen Bauern zeigte mit den Worten: »Sehen Sie, Bertrand, da kommt schon Verstärkung!« In der Nacht vom 17. zum 18. Juni spöttelte er ebenso vergnügt über Wellington: »Das Engländerchen bedarf einer Lektion!«

Aber schon um halb vier zerstob eine Illusion: der Feind, so meldeten zur Rekognoscirung ausgesandte Offiziere, rührte sich nicht. Kein Bivouacfeuer erlosch. Die englische Armee schlief. Tiefes Stillschweigen herrschte auf der Erde, nur im Himmel rumorte es. Um vier Uhr brachten ihm Streifreiter einen Bauer, der einer englischen Kavalleriebrigade als Führer gedient hatte. Um fünf meldeten ihm belgische Ueberläufer, die englische Armee sei auf die Schlacht vorbereitet. – »Desto besser!« rief Napoleon. »Ich werde sie um so gründlicher verhauen können!«

Am Morgen stieg er an der Biegung des Weges, der nach Planceroit führt, ab, ließ sich aus dem Pachthof von Rossomme einen Küchentisch und einen Stuhl bringen, nahm ein Bund Stroh als Teppich unter seine Füße und entfaltete auf dem Tisch den Plan des Schlachtfeldes, indem er zu Soult sagte: »Ein hübsches Schachbrett!«

In Folge des nächtlichen Regens hatten die Wagen mit den Lebensmitteln nicht am Morgen eintreffen können; der Soldat hatte nicht geschlafen, war durchnäßt und ausgehungert; aber auch das hatte den Kaiser nicht mißgestimmt, und er bemerkte vergnügt zu Rey: »Wir haben neunzig Chancen gegen zehn.« Um acht Uhr wurde ihm ein Frühstück angerichtet, bei dem mehrere seiner Generäle zu Gaste waren. Bei Tische wurde erzählt, Wellington sei am zweiten Abend zuvor auf dem Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel gewesen und Soult scherzte: »Der Ball ist heute!« Ueber Ney, der gesagt hatte: »Wellington wird nicht so einfältig sein, Ew. Majestät zu erwarten«, lachte Napoleon. Uebrigens war dies seine Art. »Er scherzte gern«, sagt Fleury de Chaboulon. »Er war von Natur sehr lustig«, erzählt Gourgaud. »Er liebte zu spaßen, aber seine Späße waren eher sonderbar, als witzig«, behauptet Benjamin Constant. Auf diesen Charakterzug des Gewaltigen näher einzugehen, verlohnt sich wohl der Mühe. »Alte Brummbären!« titulirte er seine Grenadiere, kniff sie ins Ohr, zupfte sie am Schnurrbart. »Der Kaiser hatte immer einen kleinen Schabernack mit uns vor«, erzählte Einer von ihnen. Als während der verstohlenen Ueberfahrt von der Insel Elba nach Frankreich die französische Brigg der »Zephyr« dem »Inconstant« begegnete, auf dem sich Napoleon befand, und sich nach Napoleon erkundigte, hatte Napoleon lachend das Sprachrohr ergriffen und selber geantwortet: »Der Kaiser befindet sich wohl.« Wer so scherzt, steht auf vertraulichem Fuße mit dem Schicksal.

Nach diesem Frühstück, wo es sehr lustig herging, sammelte er eine Viertelstunde lang seine Gedanken und diktirte dann zwei Generälen den Schlachtplan.

Um neun Uhr, als die französische Armee staffelförmig aufgestellt in fünf Kolonnen, die Divisionen auf zwei Linien, die Artillerie zwischen den Brigaden, die Musikbanden vorn, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel sich entfaltet hatte, da rief Napoleon bei dem Anblick des Gewoges von Helmen, Säbeln und Bajonetten: »Herrlich! Herrlich!«

Zwischen neun und halb elf stellte sich die Armee in sechs Linien auf, die, wie Napoleon sich ausdrückte, die Gestalt von sechs V aufwiesen.

In der sichern Erwartung des Sieges hatte er den Sapeuren, die gleich nach der Erstürmung von Mont-Saint-Jean den Ort befestigen sollten, bei ihrem Vorbeimarsch ermuthigend zugelächelt. Derselben Stimmung entstammte auch das hochmüthige Mitleid, das er beim Anblick der grauen Schotten und ihrer prächtigen Pferde empfand: »Schade!« rief er aus.

Nun stieg er zu Pferde und nahm Stellung vor Rossomme, auf einer schmalen, grasigen Kuppe, rechts von der Landstraße, die von Genappe nach Brüssel führt. Dies war die zweite Stelle, von der aus er den Gang der Schlacht beobachtete. Der dritte Standort, wo er sich um sieben Uhr Abends befand, ein Hügel, der zwischen La Belle-Alliance und La Haie-Sainte gelegen ist, war ein sehr gefährlicher. Um diese Erhöhung fielen Kanonenkugeln nieder, die von dem Pflaster der Chaussee abgeprallt waren. Dicht bei der Stelle, wo die Füße seines Pferdes standen, sind rostige Kugeln und Säbelklingen aufgelesen worden. Vor einigen Jahren grub man auch eine Granate aus, deren Zünder abgebrochen war. An demselben Ort sagte Napoleon zu seinem Führer Lacoste, der, an den Sattel eines Husaren festgebunden, sich hinter ihn zu verstecken suchte, wenn Kugeln geflogen kamen: »Schafskopf! Schämst Du Dich nicht? Willst Du denn durchaus eine Kugel von hinten bekommen?«

Die wellenartigen Erhöhungen der nach verschiedenen Seiten abgedachten Ebenen, wo Napoleon und Wellington sich begegneten, sind, wie allgemein bekannt, nicht mehr so, wie sie am 18. Juni 1815 waren. Um Material zu einem Denkmal herbeizuschaffen, hat man dem Gelände seine ursprüngliche Gestalt genommen, so daß der Historiker sie nicht wiedererkennt. Um das Schlachtfeld zu verherrlichen, hat man es entstellt. Wellington, als er zwei Jahre nachher Waterloo wieder besuchte, rief aus: »Man hat mein Schlachtfeld verändert.« Wo gegenwärtig die große Erdpyramide mit dem Löwen steht, war damals ein Höhenzug, der nach der Landstraße von Nivelles sanft abfiel, aber nach der Chaussee von Genappe sehr steil war. Seitdem aber tausend und abertausend Wagenladungen Erde zur Errichtung des hundert und fünfzig Fuß hohen Denkmalhügels verwendet worden sind, ist die Hochfläche von Mont-Saint-Jean sanft abgedacht, während sie am Tage der Schlacht, besonders nach La-Haie-Sainte hin, sehr schroff abfiel. Hier konnten die englischen Kanoniere nicht den unten im Thal gelegenen Pachthof sehen, der den Mittelpunkt des Kampfes bildete. Am 18. Juni 1815 hatte noch dazu der Regen in dieser Schroffe tiefe Rinnen gewühlt. Endlich zog sich oben, am Rande des Höhenzuges, ein Graben hin, den man aus der Ferne nicht wahrnehmen, noch errathen konnte.

Was war dies für ein Graben? Wir müssen ihn etwas näher beschreiben. Die Dörfer Braine-l'Alleud und Ohain sind in einer Vertiefung gelegen und durch einen etwa sechs Kilometer langen Weg miteinander verbunden. Hie und da windet er sich zwischen zwei Hügeln hindurch, so daß an diesen Stellen tiefe Schluchten entstehen. 1815, wie noch heutzutage, durchschnitt dieser Weg den Kamm des Plateaus von Mont-Saint-Jean zwischen den Chausseen von Genappe und Nivelles; nur daß er heutzutage, seitdem man, behufs Errichtung des Denkmalhügels, seine Böschungen abgetragen hat, auf gleichem Boden mit der Ebene liegt; damals war er ein Hohlweg, der gut versteckt lag und in Folge dieses Umstandes am Tage der Schlacht zu einer fürchterlichen Bedeutung gelangte.

VIII.
Eine Frage Napoleons an seinen Führer Lacoste

Also Napoleon war guter Dinge am Morgen der Schlacht bei Waterloo.

Er hatte Recht, war doch der von ihm entworfene Schlachtplan vorzüglich.

Die für ihn ungünstigen Vorfälle, der vergebliche Sturm auf Hougomont, La Haie-Sainte's hartnäckiger Widerstand, Bauduin's Tod, Foy's Verwundung, der Mißerfolg der Brigade Soye vor der Mauer, deren Existenz man nicht geahnt hatte, Quilleminot's Leichtsinn, der Petarden und Pulversäcke mitzunehmen vergessen hatte, die schwere Beweglichkeit der Geschütze im Koth, die geringe Wirksamkeit der Bomben, die fast nur den Schlamm um sich herumspritzten, die unnütze Demonstration Pirés gegen Braine-l'Alleud, die Vernichtung von fünfzehn Schwadronen, die Geringfügigkeit der Erfolge gegenüber den beiden Flügeln der feindlichen Linie, die Formirung geschlossener Kolonnen bei Ney's Truppentheil, der auf diese Weise der feindlichen Artillerie die Möglichkeit gewährte, ausgiebige Resultate zu erzielen, die plötzliche Demaskirung der schrägen Batterie in der einen Flanke, die gefährliche Lage Bourgeois', Donzelot's und Durutte's, die Zurückweisung Quiot's, die Einklemmung der Division Marcognet zwischen feindliche Infanterie und Kavallerie, die Aussagen eines preußischen schwarzen Husaren, der zwischen Wavre und Plancenoit von französischen Streifreitern abgefangen worden war, Grouchy's Verzug, die Niedermetzlung von fünfzehnhundert Mann im Garten von Hougomont, der Verlust von achtzehnhundert beim Sturm auf La Haie-Sainte, – alle diese unglücklichen Vorfälle hatten Napoleon nicht irre gemacht in seiner Sicherheit. War er doch gewöhnt, dem Kriege ruhig ins Auge zu sehen, sich nicht mit der Addition kleiner Posten zu befassen. Was kümmerten ihn die einzelnen Summanden, wenn sie nur das Facit Sieg ergaben! Mochte auch der Anfang der Schlacht mißrathen, wenn er nur des Ausgangs sicher war. Er verstand zu warten, so ruhig, als ginge ihn die Sache nichts an, und als sei das Schicksal nur Seinesgleichen, als könne es sich nicht an ihn heranwagen.

Wenn aber ein Feldherr Schlachten, wie die an der Beresina, bei Leipzig und bei Fontainebleau hinter sich hat, so sollte man meinen, er hätte bei Waterloo ein gelindes Mißtrauen hegen können. Der Himmel hatte doch schon angefangen, ihn finster anzublicken.

Als Wellington zurückzuweichen begann, schrak Napoleon freudig zusammen. Er sah die feindliche Front verschwinden. Die englische Armee versammelte sich enger, entzog sich aber seinen Blicken. Der Kaiser richtete sich in den Steigbügeln empor, und Siegesfreude blitzte in seinen Augen auf.

Wurde Wellington in den Wald von Soignes zurückgedrängt, so war er verloren, so wurde England von Frankreich für immer überwunden, so waren die Niederlagen bei Crécy, Poitiers, Agincourt, Malplaquet und Ramiéllies gerächt.

Jetzt richtete der Kaiser zum letzten Mal sein Fernrohr auf alle Punkte des Schlachtfeldes und überlegte, während seine Garde, hinter ihm das Gewehr ab, mit andächtiger Ehrfurcht zu ihm emporblickte. Er überschaute die Abhänge, durchforschte die Waldstücke und Getreidefelder, folgte den Pfaden, zählte so zu sagen jeden Strauch. Besonders aufmerksam betrachtete er die englischen Verhaue an den Chausseen. In der Nähe des einen sah er die weiß angestrichene, alte Kapelle des heil. Nikolaus, die an dem Querweg nach Braine-l'Alleud liegt, und neigte sich zu seinem Führer Lacoste nieder, um leise eine Frage an ihn zu richten. Dieser schüttelte den Kopf, als sagte er nein, wahrscheinlich ein hinterlistiges Nein.

Dann richtete der Kaiser sich wieder empor und sammelte seine Gedanken.

Nun Wellington zurückwich, konnte es sich nur noch darum handeln, ihn zu vernichten.

Plötzlich wandte sich der Kaiser um und fertigte eine Stafette nach Paris aus, mit der Meldung, daß die Schlacht gewonnen sei.

Der Blitz, der Wellington zerschmettern sollte, war fertig. Napoleon befahl Milhaud's Kürassieren das Plateau von Mont-Saint-Jean zu nehmen.

IX.
Etwas Unerwartetes

Es waren ihrer dreitausend fünfhundert, Riesenmenschen auf Riesenpferden. Sie bildeten sechsundzwanzig Schwadronen und zur Verstärkung folgten ihnen die Division Lefebvre-Desnouettes, die hundertsechs Elitegendarmen, die Gardejäger, 1197 Mann, die Lanzenreiter der Garde, 880 Mann stark. Die Kürassiere trugen einen Helm ohne Busch und einen Küraß aus Schmiedeeisen, Sattelpistolen in Halftern und Pallasch.

Der Adjutant Bernard überbrachte dieser Truppe den Befehl des Kaisers, Ney trat mit gezogenem Degen an ihre Spitze und die gewaltige Masse setzte sich in Bewegung.

Es war ein imposantes Schauspiel.

Mit erhobenem Pallasch, mit entfalteten Standarten und unter Trompetengeschmetter stürzte die Menschenmasse in zwei Kolonnen mit der Präzision eines Sturmblockes den Hügel von La Belle-Alliance hinab, verschwand in Thalgrund, tauchte auf der anderen Seite des Thales wieder empor und sprengte, noch immer in festgeschlossener Ordnung, den kothigen Abhang nach Mont-Saint-Jean hinauf, während die feindliche Artillerie und Infanterie sie mit einem Hagel von Kugeln überschüttete.

Oben, hinter dem Kamm der Hochfläche, warteten ihrer sechsundzwanzig Bataillone in dreizehn Carrés und in zwei Treffen, das Gewehr im Anschlag, stumm, unbeweglich, kaltblütig. Sie sahen die Kürassiere, und diese sahen sie nicht. Sie hörten nur, wie die Menschenfluth heranbrauste, hörten das Pferdegetrappel, das Säbelgeklirr, das grimme Gekeuche und Geschnauf von Menschen und Thieren. Dann tauchten plötzlich über den Höhenkamm Säbel, Arme, Helme empor, Trompeten erklangen, Standarten wehten im Winde und tausendstimmig hallte der Ruf: »Es lebe der Kaiser!«

Plötzlich bäumte sich zur Linken der Engländer die Spitze unserer rechten Kolonne mit Schreckensgeschrei zurück. Auf der Höhe angelangt, bemerkten die Kürassiere zwischen sich und den Engländern einen Graben, eine Grube. Es war der Hohlweg von Ohain.

Keine Möglichkeit zurückzugehen, anzuhalten! Die zweite Reihe stieß die erste, die dritte die zweite hinein und erst, als der Graben mit toten und lebendigen Menschen und Pferden gefüllt war, konnte der Rest hinüberkommen. Fast ein Drittel der Brigade Dubois ging so zu Grunde.

Dies war die Einleitung zum Verlust der Schlacht.

In der Umgegend des Schlachtfeldes geht eine Sage um, in dem Hohlweg von Ohain seien auf diese Weise zweitausend Pferde und fünfzehnhundert Menschen gestürzt. Wahrscheinlich begreift diese Zahl alle Leichname ein, die Tags darauf in diese Schlucht geworfen wurden.

Napoleon hatte wohl, bevor er Milhauds Kürassiere zur Erstürmung des Plateaus aussandte, das Terrain sorgfältig durchforscht, konnte aber den Hohlweg, der vollständig verdeckt war, nicht sehen. Allerdings machte ihn die Lage der Kapelle stutzig, die den Kreuzungspunkt des Hohlwegs und der Chaussee von Nivelles bezeichnet. Deshalb fragte er auch den Führer Lacoste, wahrscheinlich, ob dort ein Hindernis sei. Dieser hatte Nein geantwortet und vielleicht hat das Nein dieses Bauern Napoleons Untergang heraufbeschworen.

Noch andere Eingriffe des Schicksals standen bevor.

War es möglich, daß Napoleon die Schlacht gewann? Wir antworten: Nein! Nicht weil er Wellington oder Blücher, sondern weil er Gott zum Feinde hatte.

Ein Sieg Bonapartes bei Waterloo hätte zu der Entwicklung und Umwälzung, die das neunzehnte Jahrhundert bringen sollte, nicht gepaßt. Es war Zeit, daß der Ungeheure fiel. Er wog zu schwer in der Wagschale der Weltgeschichte. Es häufte sich in diesem einen Kopf ein zu großer Theil der Lebenskraft des Menschengeschlechts an, als daß die Civilisation nicht darunter hätte leiden sollen. Der höchste Richter mußte Abhülfe schaffen. Wahrscheinlich beschwerten sich die Mächte, von denen die moralische Ordnung abhängt, über das viele Blutvergießen. Auf diese Anklage hin wurde Napoleons Sturz beschlossen. Er fiel, weil er dem Herrgott im Wege war.

X.
Die Hochfläche von Mont-Saint-Jean

Zu derselben Zeit, wo die Schlucht sichtbar wurde, demaskirte sich auch die englische Batterie.

Außer den dreizehn Infanteriecarrés beschoß die Artillerie mit sechzig Geschützen die Kürassiere aus nächster Nähe. Der unerschrockene General Delord grüßte die Batterie.

Aber die Kürassiere hielten mit ihrem Ansturm nicht inne. Die Katastrophe im Hohlwege hatte sie dezimirt, aber nicht entmuthigt. Im Gegentheil. Sie gehörten zu Denen, deren Muth wächst, wenn ihre Zahl zusammenschmilzt.

Auch war nur die Kolonne Wathier in den Graben gestürzt; Delord's Division hatte Ney nach links abschwenken lassen, und so war sie unversehrt geblieben.

Jetzt stießen die Kürassiere auf die englischen Carrés.

In gestrecktem Galopp, mit verhängtem Zügel, den Pallasch zwischen den Zähnen, die Pistolen in den Fäusten, so griffen sie den Feind umfassend, von allen Seiten zugleich an.

Aber die englische Infanterie empfing sie mit unerschütterlicher Ruhe. Die erste Reihe lag auf den Knieen und streckte dem Feind die Bajonette entgegen, die zweite Reihe schoß, hinter der zweiten Reihe luden die Kanoniere ihre Geschütze, dann öffnete sich die Front des Carrés, die Feuerschlünde spieen ihre Kartätschen aus und das Carré schloß sich wieder. Die Kürassiere ihrerseits suchten die Engländer niederzureiten. Ihre gewaltigen Pferde bäumten sich hoch auf, sprangen über die Bajonette mitten zwischen die vier Menschenmauern hinein. Ganze Reihen wurden von den Pferden niedergeworfen oder erdrückt, und die Bajonette schlugen den französischen Centauren so gräßliche Wunden, wie man deren sonst wohl nicht gesehen hat.

Das äußerste Carré zur Rechten, das am meisten gefährdet war, weil es von den übrigen zu weit ab lag, wurde gleich bei dem ersten Zusammenstoß fast völlig vernichtet. Es bestand aus dem 75. Hochländerregiment. Hier saß in der Mitte, unbekümmert um Alles, was um ihn vorging, die Augen schwermuthsvoll auf die Erde gerichtet und Bilder der heimathlichen Berge und Seen in der Seele, ein Musikant und spielte auf dem Dudelsack, den er unter dem Arm hielt. Da fiel ein Pallasch nieder, hieb den Arm samt dem Dudelsack ab und machte dem Sänger, wie dem Gesang ein Ende.

Nicht mehr sehr zahlreich, hatten die Kürassiere fast mit der ganzen englischen Armee zu thun; aber sie verstanden ihre Zahl zu multipliciren, indem Jeder für Zehn kämpfte. Einige hannoversche Bataillone wichen auch zurück. Wellington sah es und dachte an seine Kavallerie. Hätte Napoleon sich ebenso seiner Infanterie erinnert, so wäre die Schlacht gewonnen worden. Daß er dies versäumte, war der verhängnisvollste Fehler, den er beging.

Plötzlich wurden die Angreifer ihrerseits von der englischen Kavallerie im Rücken angegriffen. Vor ihnen die Carrés, hinter ihnen Somerset mit vierzehnhundert Gardedragonern, mit deutschen Chevaux-legers und belgischen schweren Reitern. Von Infanterie und Kavallerie hinten, vorn in den Flanken angefallen, wendeten sich die Kürassiere nach allen Seiten. Was kümmerte sie die Zahl der Feinde? Sie wirbelten nur um so schneller herum und kämpften noch heroischer.

Außerdem hatten sie das Geschützfeuer der schrägen Batterie auszuhalten. So mußte es wohl kommen, wenn solche Männer Wunden im Rücken davontragen sollten. Noch kann man im Museum von Waterloo einen hinten von einer Kartätschenkugel durchschossenen Küraß sehen.

Gegen solche Franzosen bedurfte es solcher Engländer.

In wenigen Augenblicken waren von den vierzehnhundert Dragonern nur noch achthundert übrig; ihr Oberstlieutenant Fuller stürzte tot vom Pferde. Jetzt griff auch Ney ein mit Lefebvre-Desnouettes' Lanzenreitern und Jägern. Das Plateau von Mont-Saint-Jean wurde genommen, verloren, wieder gewonnen, wieder verloren. Die Kürassiere wandten sich von der feindlichen Kavallerie ab, um sich die Infanterie wieder vorzunehmen, oder besser gesagt, die beiden Gegner ließen Einer den Andern nicht los. Zwölf Angriffe hatten die Carrés auszuhalten. Ney wurden vier Pferde unter dem Leibe getötet, und die Hälfte der Kürassiere blieb auf dem Platze. Zwei Stunden lang dauerte der Kampf.

Die englische Armee wankte stark. Wären ihre Verluste in dem Hohlweg nicht so groß gewesen, so hätten die Kürassiere sicherlich das Centrum der Engländer zurückgeschlagen und die Schlacht entschieden. Ueber diese großartige Kavallerie war Clinton, der doch die Schlachten bei Talavera und Badajoz mitgemacht, starr vor Staunen, und Wellington ehrte, als echter Held, die Männer, die ihm beinah den Sieg entrissen, mit dem Ausruf: »Famos.«

Die Kürassiere sprengten sieben Karrés unter dreizehn, nahmen oder vernagelten sechzig Geschütze, und eroberten sechs Fahnen, die drei Kürassiere und drei Gardejäger nach dem Pachthof La Belle-Alliance zu dem Kaiser brachten.

Wie weit die Kürassiere vordrangen, weiß Niemand zu sagen. Gewiß ist nur, daß am nächsten Tage ein Kürassier mit seinem Pferde an einem Punkte gefunden wurde, wo die Straßen von Nivelles, Genappe, La Hulpe und Brüssel sich schneiden. Der Mann war durch die englischen Linien hindurchgedrungen.

Wellington fühlte, daß die Entscheidung nahe war.

Allerdings war die Offensive der Kürassiere insofern gescheitert, als das englische Centrum nicht durchbrochen war. Da Jeder das Plateau hatte, gehörte es Keinem und zum größten Theil verblieb es im Besitz der Engländer. Ney behauptete sich nur auf dem Kamm und dem Abhang. Beide Theile waren wie fest gewurzelt in dem blutgetränkten Boden.

Aber die Verluste der Engländer überstiegen das Maß des Schrecklichen. Als Kempt auf dem linken Flügel Verstärkungen verlangte, antwortete Wellington: »Ich kann ihm keine schicken. Er soll ausharren bis auf den letzten Mann.« Fast in derselben Minute ließ auch Ney Napoleon um Infanterie bitten und auch Napoleon rief: »Infanterie? Wo soll ich Infanterie hernehmen? Soll ich denn welche aus der Erde stampfen?«

Indessen hatte die englische Armee am schwersten gelitten. Hier bezeichnete eine Fahne, um die ein paar Mann standen, die Stelle, wo zuvor ein Regiment gekämpft hatte; dort kommandirte nur ein Hauptmann oder ein Lieutenant ein ganzes Bataillon; die schon bei La Haie-Sainte arg mitgenommene Division Alten war vernichtet; die unerschrockenen Belgier der Brigade Van Kluze lagen im Roggen, längs der Straße von Nivelles; von den holländischen Grenadieren, die 1811 in unseren Reihen gegen die Spanier gekämpft hatten, waren nicht mehr viel übrig. Auch die Verluste an Offizieren beliefen sich sehr hoch. Endlich – und dies war das Schlimmste – begann die englische Armee sich aufzulösen. Cumberland's hannoversche Husaren, ein ganzes Regiment unter Oberst Hacke, der später kassirt wurde, hatte das Hasenpanier ergriffen und floh durch den Wald von Soignes nach Brüssel zu. Von Vert-Coucou bis Groenendael war Alles mit Flüchtlingen überfüllt. So groß war die Panik, daß sie sich dem Prinzen Condé in Mecheln und Ludwig XVIII. in Gent mittheilte. Mit Ausnahme der schwachen Reserven, die hinter der Ambulanz bei Mont-Saint-Jean stand, und der Brigaden Vivcan und Vandeleur hatte Wellington keine Kavallerie mehr. Desgleichen waren ganze Batterien demontirt. Trotz dieser entsetzlichen Verluste bewahrte der eiserne Herzog seine äußere Ruhe, aber aus seinen Lippen war alles Blut gewichen. Um fünf Uhr sah er nach der Uhr und murmelte: »Wenn doch Blücher oder die Nacht käme!«

Aber um diese Zeit sah man auch in der Ferne auf den Höhen bei Frischemont eine langgestreckte Reihe von Bajonetten funkeln. Ihnen war es beschieden den Knoten des großen Dramas zu zerhauen.

XI.
Ein Führer, von dem viel abhing

Jedermann hat von dem traurigen Irrthum gehört, der Napoleon verleitete, Blücher mit Grouchy, das Verderben mit der Rettung zu verwechseln.

Das Schicksal ist verschwenderisch mit derartigen Ueberraschungen. Man greift nach der Weltherrschaft und erhascht ein Gefängniß auf Sankt Helena.

Wenn der Hirtenjunge, der Bülow, Blüchers Stellvertreter, führte, ihm gerathen hätte, über Frischemont, statt unter Plancenoit aus dem Walde herauszumarschieren, so hätte die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts eine andere Gestalt angenommen, denn alsdann würde die Entscheidung bei Waterloo zu Gunsten Napoleons gefallen sein. Auf jedem anderen Wege nämlich, als dem bei Plancenoit, wäre das preußische Heer auf eine Schlucht gestoßen, die für die Artillerie unüberschreitbar war und Bülow wäre nicht zur rechten Zeit gekommen.

Nur noch eine Stunde Verzögerung, so war Wellington, wie der preußische General Muffling erklärt, über den Haufen gerannt, die Schlacht verloren.

Es war also hohe Zeit, daß Bülow eintraf. Er hatte übrigens viel Aufenthalt gehabt. Zwar war er schon mit dem Morgengrauen von Dion-le-Mont aufgebrochen, aber die Fahrzeuge konnten sich nur mit Mühe durch den Koth hindurcharbeiten. Außerdem mußte die Dyle auf der engen Brücke in Wavre überschritten werden; die Straße aber, die zur Brücke führte, war von den Franzosen in Brand gesteckt worden und mit der Munition konnte man sich nicht zwischen zwei brennende Häuserreihen wagen. Man mußte also warten, bis der Brand gelöscht war. Um zwölf Uhr Mittags hatte Bülows Vorhut noch nicht Chapelle-Saint-Lambert erreicht.

Hätte die Schlacht zwei Stunden früher angefangen, so wäre sie um vier Uhr zu Ende gewesen und Blücher hätte die Schlacht schon zu Napoleons Gunsten entschieden gefunden. Von derartigen räthselhaften Zufällen läßt Gott das Schicksal von Nationen abhängen.

Schon um Mittag hatte der Kaiser mit seinem Fernrohr am Rande seines Gesichtsfeldes etwas bemerkt, das ihm auffiel. – »Ich sehe da eine dunkle Masse. Das müssen Soldaten sein.« Darauf fragte er den Herzog von Dalmatien: »Soult, was sehen Sie in der Gegend von Chapelle-Saint-Lambert?« »Vier- bis fünftausend Mann. Doch ganz gewiß Grouchy.« Aber die »dunkle Masse« rührte sich nicht und viele Generalstabsoffiziere meinten, es seien blos Bäume. Um die Wahrheit zu erfahren, schickte der Kaiser dann Domon mit einer Division leichter Kavallerie zur Recognoscirung nach der betreffenden Richtung.

In der That hatte Bülow, der mit der schwachen Vorhut nichts ausrichten konnte, sich nicht weiter vorgewagt. Er mußte auf das Gros der Armee warten; aber um fünf Uhr befahl ihm Blücher, in Anbetracht der gefährlichen Lage Wellingtons, die Offensive zu ergreifen. »Wir müssen der englischen Armee Luft schaffen«, ermahnte er.

XII.
Die Garde

Was nun geschah, ist allbekannt. Eine dritte Armee erschien auf dein Kampfplatz, eine neue Schlacht begann, als schon sie Nacht hereinbrach, gegen unsere erschöpften und stark zusammengeschmolzenen Regimenter; die ganze englische Armee nahm die Offensive wieder auf, die französische Armee wurde durchbrochen. Da, als Alles verloren war, rückt die Garde vor.

Wohl wissend, daß sie in den Tod geht, ruft sie: »Es lebe der Kaiser!« Die Geschichte kennt nichts Ergreifenderes, als diesen Zuruf.

Den ganzen Tag über war der Himmel bedeckt gewesen. Jetzt, um acht Uhr Abends, zertheilte sich am Horizonte das Gewölk und durch die Ulmen der Landstraße von Nivelles flutheten unheimlich die rothen Strahlen der untergehenden Sonne. Bei Austerlitz hatte man sie aufgehen sehen.

Jedes Bataillon der Garde war bei diesem letzten Waffengange von einem General kommandirt. Friant, Michel, Roguet, Harlet, Mallet, Poret de Morvan waren da. Als die hohen Mützen mit dem Adler auf dem Metallschild in untadeliger Ordnung, kühn und stolz, durch den Wirrwar heranschritten, empfand der Feind Achtung vor Frankreich. Traten doch die Sieger von zwanzig Schlachten auf den Kampfplatz! Da wichen, die schon die Schlacht gewonnen hatten, als hielten sie sich für die Besiegten, aber Wellington rief seiner Garde zu: »Aufgestanden und zielt gut, Kinder!« Darauf erhob sich das rothe Garderegiment, das hinter Hecken lag; ein schreckliches Feuer prasselte auf die Franzosen los und ein allgemeines Gemetzel begann. In der Dunkelheit sah, fühlte die kaiserliche Garde, wie Alles um sie her floh, hörte den Angstschrei: »Rette sich, wer kann!« und rückte dennoch vor, während der Tod bei jedem Schritt, den sie that, immer gräßlicher in ihren Reihen wüthete. Keiner wich oder wankte. Der Gemeine eben so wenig, wie der General. Nicht ein Soldat entzog sich dem großen Selbstmord dieser Elitetruppe.

Vor Allen bot Ney, die Brust von edlem Stolz geschwellt, dem Tode, der ihn in diesem rasenden Wirrwarr auf allen Seiten umtobte, eine kühne Stirn. Sein fünftes Pferd wurde ihm hier unter dem Leibe getötet. Mit Schweiß, Koth und Blut bedeckt, Schaum auf den Lippen, mit wild flammenden Augen, mit aufgeknöpfter Uniform und abgerissenen Epauletten, den zerbrochenen Degen in der Hand, rief er: »Seht, wie ein Marschall von Frankreich auf dem Schlachtfeld stirbt!« Und Drouet d'Erlon fragte er: »Du willst doch auch hier sterben?« Aber so verstört er auch herumraste, den Tod zu suchen, er fand ihn nicht. »Ist denn für mich keine Kugel da? O wenn mir doch all' die englischen Kartätschen in den Leib fahren möchten!«

Unglücklicher, du wurdest für französische Kugeln aufgespart!

XIII.
Die Katastrophe

Hinter der Garde herrschte unterdessen schauerliche Verwirrung.

Das französische Heer ging auf allen Punkten zu gleicher Zeit zurück, aus Hougomont, aus La Haie-Sainte, aus Papelotte, aus Plancenoit. Erst hieß es: »Verrath!« Dann schrie man: »Rette sich, wer kann!« Eine Armee, deren Gefüge auseinander geht, gleicht der Eisdecke eines Flusses bei eintretendem Thauwetter. Zuerst zerbricht sie in größere Stücke, dann krachen und bersten auch diese, die nun ihrerseits sich in immer kleinere Theile auflösen und, nachdem sie unzählige Male auf einander geprellt, verschwinden.

Vergebens mühen sich einzelne Heerführer ab, der allgemeinen Verwirrung Einhalt zu gebieten. Ney leiht sich ein Pferd, schwingt sich hinauf und stellt sich ohne Hut, ohne Halstuch, ohne Degen mitten auf die Brüsseler Chaussee, um die Engländer und Franzosen zugleich aufzuhalten. Er will die Flüchtlinge aufhalten, ruft sie zurück, schimpft sie aus. Aber die Fluth wogt an ihm vorüber. Die Soldaten laufen vor ihm mit dem Ruf: »Es lebe der Marschall Ney!« Zwei Regimenter des Generals Durutte eilen, sinnlos vor Schrecken, zwischen den preußischen Ulanen und den englischen Brigaden Kempt, Best, Pack und Rylandt hin und her, wie Bälle, die kräftige Spieler einander zuschleudern. Und nun der Kampf gegen den Feind zu Ende ist, töten sich die Freunde unter einander, um sich einen Weg zur Flucht zu bahnen; Schwadronen und Bataillone stoßen auf einander, durchbrechen und durchkreuzen sich wie die Wogen auf dem sturmgepeitschten Meere und Lobau's Division an dem einen wie Reille's an dem anderen Ende werden in den Strudel hineingezogen. Umsonst stemmt sich Napoleon mit den Ueberbleibseln seiner Garde dem Strom entgegen; umsonst setzt er die Schwadronen seiner Leibwache ein. Quiot wird von Vivian, Kellermann von Vandeleur, Lobau von Bülow, Morau von Pirch, Domon und Subervic von dem Prinzen Wilhelm von Preußen zurückgedrängt. Guyot, der mit den Schwadronen des Kaisers gegen den Feind vorgegangen ist, fällt unter die Hufe der englischen Dragonerpferde. Napoleon galoppirt an dem Schwarm der Flüchtlinge entlang, mahnt, droht, bittet. Sie, die am Vormittag nicht müde werden konnten »Es lebe der Kaiser!« zu rufen, starren ihn jetzt mit offenem Munde an und erkennen ihn kaum. Da stürmt die preußische Kavallerie heran und haut ein. Die Fahrzeuge und Kanonen stürzen fort, aber die Trainsoldaten spannen die Pferde aus, um auf ihnen davon zu reiten, und umgestürzte Wagen halten die Flüchtlinge auf, die vom Feinde eingeholt und niedergemacht werden. Einer reißt oder tritt den Anderen zu Boden und Keiner fragt, ob wer an der Erde liegt, tot ist oder noch lebt, er marschirt über ihn hinweg. Die geängstigte, wie von einem Schwindel ergriffene Menge erfüllt die Straßen, die Pfade, die Brücken, die Berge, die Thäler, die Wälder. Ihrer vierzig Tausend, wälzen sie sich mit Verzweiflungsgeschrei dahin, werfen Tornister und Gewehr ins Korn, fragen nicht mehr nach ihren Kameraden, ihren Offizieren, ihren Generälen. Nur der Schrecken herrscht unter ihnen. Frankreichs Söhne werden von den Ziethen'schen Husaren niedergesäbelt, die Löwen sind zu Rehen geworden: So endete die Schlacht.

In Genappe wurde ein Versuch gewagt, Halt zu machen, dem Feind die Stirn zu bieten, ihn aufzuhalten. Lobau brachte dreihundert Mann zusammen, errichtete einen Verhau am Eingang des Dorfes, aber bei dem ersten Kanonenschuß, den die Preußen auf die Verschanzung abfeuerten, wandte sich Alles wieder zur Flucht und Lobau wurde gefangen genommen. Noch heute sieht man die Spur dieser Kartätschenkugeln am Giebel eines alten Gebäudes, das rechts von der Landstraße noch eine Strecke vor Genappe liegt. Die Preußen drangen in das Dorf ein und waren um so wüthender, je weniger ruhmvoll ihr Sieg gewesen war. Die Verfolger machten sich einer entsetzlichen Ruchlosigkeit schuldig: Blücher gab den Befehl, daß kein Pardon gegeben werden solle. Allerdings war ihm Roguet mit einem schauderhaften Beispiel vorangegangen: Er hatte jeden französischen Grenadier, der ihm einen gefangenen Preußen zuführen würde, mit dem Tode bedroht. Allein Blücher überbot Roguet. Der General der jungen Garde Duhesme, der von den Verfolgern an das Thor der Herberge zu Genappe gedrängt wurde, übergab seinen Degen einem schwarzen Husaren. Dieser nahm den Degen an und – tötete seinen Gefangenen. Die Feinde krönten ihren Sieg mit der Ermordung der Besiegten. Sprechen wir, da uns, als Vertretern der Geschichte, diese Befugniß zusteht, das Urtheil über sie aus: Der alte Blücher befleckte seine Ehre. In Folge dieser erbarmungslosen Grausamkeit des Feindes nahm die Verwirrung noch mehr zu. Von Verzweiflung gepackt, rannten die Flüchtlinge über Genappe, Quatre-Bras, Gosselies, Frasnes, Charleroi, Thuin der Grenze zu. Und die so flohen, waren einst die große Armee!

Hat diese Haltlosigkeit, diese Angst, dieser Verfall der größten Tapferkeit, die je die Welt in Erstaunen gesetzt, keine Ursache? Nein. Auf das Gefilde von Waterloo fiel der Schatten einer allgewaltigen Hand, die in das Geschick des Tages eingriff. Hoc erat in fatis. Die Besieger Europas fühlten, daß Gott gegen sie war und deshalb warfen sie ihre Waffen weg.

Beim Hereinbruch der Nacht hielten auf einem Felde bei Genappe Bernard und Bertrand einen Mann an seinen Rockschößen fest, der, von der Masse der Flüchtlinge fortgerissen, soeben vom Pferde abstieg. Jetzt nahm er den Zügel unter den Arm und wollte allein nach Waterloo zurückkehren. Es war Napoleon, der noch immer vorwärts wollte, von dem Traum der Weltherrschaft verlockt, der ihn doch so vollständig betrogen hatte.

XIV.
Das letzte Karré

Einige Karrés der Garde hielten sich unerschütterlich wie Felsen, bis die Nacht hereinbrach. Von der Armee im Stich gelassen, von der Dunkelheit umfangen, erwarteten sie muthvoll den Tod, die einen auf den Anhöhen bei Rissomme, die andern auf der Hochebene von Mont-Saint-Jean.

Hier blieb gegen neun Uhr Abends nur noch eins übrig, das in dem Grunde des Todesthals am Fuß des von den Kürassieren erstiegnen Abhangs rings von feindlicher Artillerie und Infanterie umzingelt, einen hoffnungslosen Kampf kämpfte. Es war von einem sonst unbekannten Offizier, Namens Cambronne, befehligt. Bei jeder Salve wurden die Seiten des Karrés kleiner und das Gewehrfeuer, womit sie auf die Kartätschen antworteten, schwächer.

Als diese Legion zu einem geringen Häuflein zusammengeschmolzen, als ihre Fahne zu einem Lumpen zerschossen, als aus Mangel an Munition ihre Gewehre nutzlos wie Stöcke geworden, als der Leichen mehr waren, wie der Lebenden, ergriff die Sieger ehrfurchtsvolle Bewunderung und die englische Artillerie stellte einen Augenblick ihr Feuer ein. Ueberall von drohenden Kanonenrohren umgeben, von feindlichen Reitern umwimmelt, wußten die Helden, daß über ihnen der Tod schwebte. Sie hörten, wie die Geschütze geladen wurden, konnten mit den Blicken den angezündeten Lunten folgen, die wie Tigeraugen auf sie niederschauten, sahen, wie die Zündstöcke den Kanonen genähert wurden. In diesem fürchterlichen Augenblick trat ein englischer General – nach den Einen war es Colville, nach den Andern Maitland – vor und rief: »Tapfere Franzosen, ergebt Euch!« Die Antwort Cambronnes lautete: »Sch–ße.«Nicht: »Die Garde stirbt, sie ergiebt sich nicht!« wie in allen Geschichtsbüchern zu lesen ist. Der Kaiser brauchte das Wort ganz gewöhnlich, wenn er wüthend war, und seinem Beispiel folgten die Generäle, Offiziere u. s. w. Daß Victor Hugo es in die höhere Litteratur einführte, ist ihm von vielen seiner Landsleute als eine Großthat angerechnet worden. (Der Uebersetzer).

XV.
Cambronne

Da der Leser auf Anstand hält, so soll das großartigste Wort, das wohl je ein Franzose ausgesprochen hat, nicht vor ihm citirt werden. Die Bücher der Geschichte sind Oerter, die nicht verunreinigt werden dürfen.

Wir wagen es, dieses Anstandsgebot zu übertreten.

Unter diesen Giganten war ein Titan, Cambronne.

Dieses Wort sprechen und dann sterben – Giebt es etwas Großartigeres? denn auch hier gilt der gute Wille für die That: Es war nicht seine Schuld, wenn die feindlichen Kugeln ihn verfehlten.

Die Schlacht bei Waterloo hat nicht Napoleon gewonnen, der fliehen mußte; nicht Wellington, der um vier Uhr zurückging und um fünf Uhr sich der Verzweiflung hingab; nicht Blücher, der überhaupt nicht gekämpft hat. Die Schlacht bei Waterloo hat Cambronne gewonnen.

Mit einem solchen Wort feindliche Donnerkeile pariren, heißt siegen.

Der Katastrophe eine solche Antwort entgegensetzen, so dem Schicksal heimleuchten, dem zukünftigen Löwendenkmal eine solche Grundlage geben, solch eine Widerlegung dem verhängnißvollen Regen, der tückischen Mauer von Hougomont, dem Hohlweg von Ohain, der Verzögerung Grouchy's, der Ankunft Blüchers entgegenschleudern, im Grabe den Feind verhöhnen, stolz vor der Nachwelt sich wieder aufrichten, nachdem man unterlegen ist, das verbündete Europa mit zwei Silben erdrücken, mit der Schlagfertigkeit des französischen Genius das gemeinste Wort zu dem erhabensten machen, die Waterloosche Tragödie keck mit einem Fastnachtswitz beschließen, Leonidas' Heldenkühnheit mit Rabelais'schem Ulk verquicken, den Sieg der Feinde so kurz und treffend mit einem unmöglichen Wort charakterisiren, das Schlachtfeld verlieren und die Geschichte für sich gewinnen, nach einem solchen Blutbad die Lacher auf seine Seite bringen, – das ist eine ungeheure Leistung. Das ist aeschyleisch!

Cambronne's Antwort entstammt einem Gefühl der Verachtung, das mit urplötzlicher Gewaltsamkeit erquillt. Wer hat gesiegt? Wellington? Nein. Ohne Blücher war er verloren. Blücher? Nein. Hätte Wellington die Schlacht nicht angefangen, so würde Blücher sie nicht haben beenden können. Die Waterloosche Katastrophe, der Sieg der Verbündeten ist mit einem Widerspruch, einer Lüge behaftet. Dies fühlt Cambronne, der bescheidene unbekannte Soldat, diese winzigste unter den Kriegsgrößen, und in dem Augenblick, wo er vor Wuth darüber platzen möchte, bietet man ihm, wie zum Hohne, das Leben an. Wer sollte da nicht wild werden? Sie stehen ihm gegenüber, die Könige Europas, die glücklichen Generäle, die Jupiter mit ihren Donnern, sie haben da hunderttausend siegreiche Soldaten und hinter denen noch eine Million Anderer, sie halten ihre Kanonen bereit, sie haben ihren Fuß auf die kaiserliche Garde und die große Armee gesetzt, Napoleon niedergeworfen, und Cambronne allein steht noch aufrecht. Kein Anderer ist mehr übrig, der protestiren könnte, als er, ein Wurm. Gut, so wird er diese Pflicht erfüllen. Während er nun schon lange über einen passenden schneidigen Ausdruck für seinen Protest nachsinnt, wird er plötzlich zur Wuth gereizt, und da platzt das richtige Wort heraus. Gegen diesen absonderlichen und erbärmlichen Sieg, gegen diesen Sieg, wo Keiner Sieger ist, lehnt er verzweifelt sich auf; er muß das ungeheuerliche Ereignis über sich ergehen lassen, aber nicht ohne den Unwert dieser Art Sieg konstatirt zu haben. Er läßt sich nicht daran genügen, darauf zu speien: Er nimmt Exkremente, um den von der Uebermacht und dem plumpen Stoffe erdrückten Geist zu rächen. Wir wiederholen es: Solch einen Ausdruck finden, solch eine Antwort geben, heißt Sieger sein.

Gottes Odem war es, der in dem entscheidenden Augenblick diesen unbekannten Mann durchwehte und ihm das rechte Wort eingab, wie er seiner Zeit Ruoget de l'Isle zur Dichtung der Marseillaise begeisterte. Mit diesem Wort der Verachtung spricht er nicht nur Europa Hohn, im Namen des napoleonischen Kaiserthums, was wenig genug wäre; nein, er trotzt damit auch den reaktionären Mächten der Vergangenheit im Namen der großen Revolution. Cambronnen erinnert an die Geistesriesen, die jene große Zeit erzeugt hat an Dantons Donnerreden und an Kleber's Wuth.

Als Cambronne seine Antwort ertheilt, kommandirte der Engländer: »Feuer!« und es flammte aus den ehernen Schlünden, der Hügel erbebte, eine Rauchvolke stieg im Mondenlicht empor, und als sie sich verzogen, war Alles vorbei. Das Häuflein Helden war vernichtet, die Garde war tot. Die vier Mauern des lebendigen Bollwerks lagen auf der Erde; kaum, daß sich hier und da noch etwas in dem Leichenhaufen bewegte. So verschieden die französischen Legionen, ruhmvoller als einst die römischen, bei Mont-Saint-Jean auf dem vom Regen durchweichten, mit Blut besprengten Boden an dem Wege, wo heutzutage um vier Uhr Morgens der Postillon Joseph seine Pferde zu schnellem Trabe anfeuert und ein Liedchen dabei pfeift.

XVI.
Quot libras in duce?

Die Schlacht bei Waterloo ist ein Räthsel, das den Siegern eben so dunkel war, wie den Besiegten. Napoleon behauptete, er habe den Sieg schon in Händen gehabt, als ein panischer Schreck alle seine erfolgreichen Maßnahmen vernichtete. Blücher konnte sich keinen Vers aus der Geschichte machen. Wellington kapirte nichts. Man lese nur die officiellen Berichte, die konfusen Depeschen, die verworrenen Beschreibungen der Historiker. Jomini theilt die Schlacht in vier Stadien; Wuffling konstatirt drei Phasen; nur Charras hat, obwohl wir in einigen Punkten von ihm abweichen, mit scharfem Auge diesen Kampf eines großen Menschengenies gegen den von Gott gesandten Zufall in seinen Hauptzügen richtig erfaßt. Alle andern Gesichtsschreiber sind gleichsam wie geblendet und tappen unsicher nach der Wahrheit herum. Wie ein Blitz allerdings kam das große Ereigniß, der Untergang der Militärmonarchie, die, zum Entsetzen der höchlich erstaunten Könige, in ihrem Sturze auch die Herrschaft der Gewalt und des Krieges vernichtete.

An dieser von einem höheren Willen herbeigeführten Katastrophe haben Menschen keinen Antheil.

Nimmt, wer Wellington und Blücher den Sieg bei Waterloo abspricht, den Engländern und Deutschen etwas? Nein. Weder der Ruhm Englands, noch die Achtung, auf die Deutschland Anspruch macht, kommen bei dem Waterlooschen Problem in Frage. Beide sind, – dem Himmel sei's gedankt – auch abgesehen von den thränenreichen Kriegesabenteuern große Nationen. Zu jener Zeit, wo der Name Waterloo nur durch Säbelgeklirr berühmt wurde, hatte Deutschland einen größern Mann als Blücher, Goethe, und England's Wellington wurde von seinem Byron in den Schatten gestellt. Unserm Jahrhundert ist eine Fülle von neuen Ideen eigenthümlich, die zum ersten Male mit ihrem Licht die Welt erhellen, und nicht wenige von diesen Ideen sind von England und Deutschland hervorgebracht worden. Diese beiden Länder gebieten uns Ehrfurcht, weil sie im Reiche des Geistes glänzen. Wenn sie das Niveau der Zivilisation erhöht haben, so verdanken sie dies sich selber, nicht einem Zufall. Der Zuwachs an geistiger Größe, den sie im neunzehnten Jahrhundert erzielten, ist nicht auf ihren Sieg bei Waterloo zurückzuführen. Nur barbarischen Völkern verleihen Erfolge auf dem Schlachtfelde eine – rasch vergängliche – Größe, wie ein Gewitterregen armselige Bäche auf eine kurze Spanne Zeit schwellt. Civilisirte Nationen, besonders zu heutiger Zeit, werden durch das Glück oder Unglück eines Feldherrn nicht größer und nicht kleiner. Es gehört etwas mehr dazu, als eine Schlacht, wenn sie in der Wagschale des Menschengeschlechts schwerer wiegen sollen, als andere Völker. Ihre Ehre, ihr Ansehen, ihre Bildung, ihr Genie sind keine Einsätze, die Helden und Eroberer von den Launen eines Lotteriespiels abhängig machen können. Oft hat der Verlust einer Schlacht einen Fortschritt auf geistigem und moralischem Gebiet zur Folge. Je weniger Ruhm, desto mehr Freiheit. Schweigt die Kriegstrommel, so kommt die Vernunft zu Worte. Wer verliert, gewinnt. Bewahren wir also auf beiden Seiten, wenn wir auf Waterloo zu sprechen kommen, hübsch unsere Ruhe. Geben wir dem Zufall, was des Zufalls, und Gott, was Gottes ist: Bei Waterloo erkämpften die Verbündeten nicht einen Sieg, sondern hatten einen glücklichen Treffer, den Frankreich bezahlen mußte.

Darum ein Löwenbildniß zu errichten, verlohnte wahrlich nicht der Mühe.

Nichts Sonderbareres übrigens, als die Begegnung zweier solcher Menschen wie Napoleon und Wellington. Nicht zwei Feinde, zwei Gegensätze traten bei Waterloo einander gegenüber. Niemals sonst hat Gott, der doch Antithesen liebt, zwei so schroffe Kontraste neben einander gestellt. Auf der einen Seite die eingefleischte Vorsicht, mathematische Präcision, kluge Sicherung des Rückzuges und Zurückhaltung der Reserven, Hartnäckigkeit und Kaltblütigkeit, starre Methodik, wohl überlegte Strategik, die das Terrain richtig zu wählen, verständige Taktik, die richtig die Bataillone zu vertheilen weiß, sorgfältige Berechnung, die nichts dem Zufall überläßt, und absolute Korrektheit. Auf der anderen Seite ein übermenschlich sicherer Instinkt, Erfindergenie, eine auf's höchste gesteigerte Fähigkeit, Alles rasch zu überschauen und das Richtige auszuwählen, tiefsinnige Kunst bei kühnem Ungestüm, ein mystisches Vertrauen auf Naturmächte, auf Flüsse, Ebenen, Wälder, Hügel, die dem Willen des Despoten gehorchen sollen, der Glaube an das Schicksal neben gründlichster Kenntniß der Strategik, die durch diesen Glauben geadelt, aber auch getrübt wird. Wellington war der Barême, Napoleon der Michelangelo des Krieges und dies Mal wurde das Genie von dem Rechenmeister überwunden.

Beide hofften auf eine Verstärkung: Das Glück begünstigte den exakten Rechner. Napoleon wartete auf Grouchy, der nicht kam; Wellington auf Blücher, – Der kam!

In Wellingtons Person nahm die althergebrachte Kriegswissenschaft ihre Rache. Diese war von Bonaparte in Italien widerlegt worden. Die alte Eule war vor dem jungen Geier geflohen. Und die alte Taktike war nicht blos über den Haufen gerannt, sie hatte auch tiefe sittliche Entrüstung über den Sieger und seine Methode empfunden. Was war denn das für ein Mensch, dieser sechsundzwanzigjährige Korse? Wie kam der Ignorant dazu, unter den allerungünstigsten Bedingungen, ohne Lebensmittel, ohne Munition, ohne Geschütze, ohne Stiefel, mit einer Handvoll Menschen über das verbündete Europa herzufallen und auf eine ganz unvernünftige Weise die unmöglichsten Siege zu gewinnen? Wo hatte der Tollkopf die Kriegskunst erlernt, der fast ohne Athem zu schöpfen und mit denselben Karten in der Hand, nach einander fünf Armeen des Kaisers von Deutschland zermalmte? Diese Erfolge konnte der alte Cäsarismus dem neuen, die Mathematiker dem Genie nicht vergeben. Am 18. Juni 1815 machte dieser lang verhaltene Groll sich Luft und tilgte die Schmach von Lodi, Montebello, Montenotte, Mantua, Marengo, Arcole mit dem Ruhm von Waterloo, ein Triumph der Mittelmäßigkeit, an dem die Majoritäten ihre Freude haben. Das Schicksal hieß diese Ironie gut. Es stellte Napoleon vor seinem Untergang wieder einem verjüngten Wurmser gegenüber.

Denn Wellington gleicht dem alten Pedanten Wurmser auf ein Haar, – wenn man ihn sich mit grauen Haaren denkt.

Bei Waterloo wurde eine Schlacht ersten Ranges geschlagen und von einem Feldherrn zweiten Ranges gewonnen.

Bewunderungswürdig zeigte sich bei Waterloo England, die englische Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Kaltblütigkeit. Das Herrlichste, das England dort aufwies, war, ob es dies nun wahr haben will oder nicht, Englands eigenstes Selbst. Nicht sein Feldherr, sondern seine Armee.

Mit einem seltsamen Undank erklärt Wellington in einem Briefe an Lord Bathurst, seine Armee, dieselbe, die am 18. Juni 1815 kämpfte, sei eine erbärmliche Armee gewesen. Was wohl die auf Waterloos Gefilden verscharrten Gebeine dazu sagen würden, wenn sie es vernehmen könnten?

England ist Wellington gegenüber zu bescheiden gewesen. Wellington allzu sehr erhöhen, heißt England zu tief erniedrigen. Wellington war nur ein Tapferer, wie es deren Viele giebt. Wahrhafte Größe dagegen zeigten die grauen Schotten, die Gardekavallerie, Maitland's und Mitchells Regimenter, Pack's und Kempt's Infanterie, Ponsonby's und Somerset's Reiter, die Hochländer, die unter dem Geschützfeuer den Dudelsack spielten, Rylandt's Bataillone, jene jungen Rekruten, die kaum die Gewehrgriffe kannten und doch den graubärtigen Veteranen Napoleons Stand hielten. Wellington hat sich ja als einen zähen Gegner gezeigt und es fällt uns nicht ein, ihm dies Verdienst streitig zu machen, aber der geringste seiner Leute war eben so hartnäckig wie er. Der eiserne Soldat ist eben so tüchtig gewesen, wie der eiserne Herzog. Lag also überhaupt Veranlassung zur Errichtung einer Trophäe vor, so gebührt die Ehre England. Die Säule von Waterloo hätte mehr Berechtigung, wenn sie statt der Statue eines Individuums, die eines Volkes in den Himmel emporheben wollte.

Ueber diese unsere Behauptung wird sich allerdings das große England ärgern. Es ist trotz seines 1688 und unseres 1789 noch immer in feudalen Anschauungen befangen. Es hat noch die Primogenitur und die Ordnung der Stände. Dieses Volk, das von keinem andern an Macht und Ruhm überboten wird, achtet sich nur in seiner Gesamtheit; der Einzelne hält nicht viel auf sich. In England läßt sich der Arbeiter Verachtung, der Soldat Stockschläge gefallen. In der Schlacht bei Inkermann, erzählt man, rettete ein Sergeant die ganze Armee, durfte aber von Lord Raglan nicht in seinem Bericht erwähnt werden. Verbieten doch die Gesetze der militärischen Hierarchie in einem Bericht den Namen eines Helden anzuführen, der dem Range nach unter den Offizieren steht.

Was wir an der Geschichte der Schlacht bei Waterloo vor Allem bewundern, ist die wunderbare Kunst, womit der Zufall die eigentümlichsten Ereignisse hervorgebracht und zu einem Ganzen verwoben hat. Der nächtliche Regen, die Mauer von Hougomont, der Fahrweg von Ohain, Grouchy's Saumseligkeit, die Täuschung Napoleons durch seinen Führer, Bülow besser zurecht gewiesen von dem seinigen, Alles dies mußte wohl eine Katastrophe herbeiführen.

Im Großen und Ganzen fand auch bei Waterloo mehr ein Schlachten, als eine Schlacht statt.

Nie haben sich zwei Heere mit einer so schmalen Front und in solcher Tiefe gegenübergestanden, als bei Waterloo. Daher denn auch das furchtbare Gemetzel.

Man beachte folgende Berechnung: Bei Austerlitz betrugen die Verluste der Franzosen vierzehn Procent ihres Gesamtbestandes, die der Russen dreißig Procent, die der Oesterreicher vierundvierzig. – Bei Wagram verloren die Franzosen dreizehn Procent, die Oesterreicher vierzehn. – An der Moskwa die Franzosen siebenunddreißig, die Russen vierundvierzig Procent. – Bei Bautzen die Franzosen dreizehn, die Russen und Preußen vierzehn Procent. – Bei Waterloo dagegen stiegen die Verluste der Franzosen auf sechsundfünfzig, die der Verbündeten auf einunddreißig Procent. Es kamen also, da jeder Theil 72,000 Mann im Felde hatte, auf 144,000 Kämpfer 60,000 Tote.

XVII.
Ueber die Folgen der Schlacht bei Waterloo

Eine sehr achtbare Fraktion der liberalen Partei ärgert sich nicht über die Waterloosche Katastrophe. Wir gehören nicht zu ihr. Unseres Erachtens ist dieses Unglück nur vermöge eines staunenswerten Zufalls der Freiheit förderlich gewesen. Nichts Merkwürdigeres in der That, als daß aus solch einem Ei ein herrlicher Adler gekrochen ist!

Formulirt man die Frage richtig, so muß die Antwort lauten, daß für die Sieger die Schlacht bei Waterloo einen Sieg der Gegenrevolution bedeutete. Nun, meinten sie, konnte Frankreich entwaffnet werden, nun erlag der Fortschritt der Reaktion, der unbändigen französischen Freiheitsliebe konnte man jetzt beikommen. Seit sechsundzwanzig Jahren tobte nun schon dieser Vulkan, jetzt konnte der so lange gehegte Wunsch, ihn auszulöschen, in Erfüllung gehen. Die Braunschweig, die Nassau, die Romanow, die Hohenzollern, die Habsburger hatten ja dieselben Interessen mit den Bourbons. Allerdings mußte das Königthum, da das Kaiserthum despotisch gewesen war, vermöge eines natürlichen Rückschlags, sich wohl oder übel liberal gebaren, und so ergab sich, als Folge der Schlacht bei Waterloo, zum größten Leidwesen der Sieger eine konstitutionelle Verfassung. Die Revolution kann ja nicht wirklich unterdrückt werden, sie ist ein Werk der Vorsehung und des Schicksals, sie drängt sich immer wieder vor und bedient sich vor der Schlacht bei Waterloo Bonapartes, um die alten Königsthrone umzuwerfen, nachher Ludwigs XVIII., der eine Verfassung oktroyirt und duldet. Bonaparte setzt einen Postillon auf den Thron von Neapel und einen Sergeanten auf den Thron von Schweden, um vermittelst der Ungleichheit das Recht auf Gleichheit darzuthun. Ludwig XVIII. seinerseits unterzeichnet in Saint-Ouen die Erklärung der Menschenrechte. Wollt Ihr Euch klar machen, was die Revolution bedeutet, so nennt sie »Fortschritt«, und wollt ihr verstehen, was der Fortschritt ist, so nennt ihn »Morgen«. Das Morgen thut unaufhaltsam sein Werk und thut es schon heute. Auf die eine oder andere, gewöhnlich aber seltsame Weise kommt es zum Ziel. Es gebraucht Wellington, um aus Foy, der bis dahin nur ein Soldat war, einen Redner zu machen. So geht der Fortschritt zu Werke. Er ist ein Handwerker, dem kein Werkzeug zu schlecht ist. Der Sieg bei Waterloo hat also zwar den Königen Ruhe vor dem Schwert des Erobrers verschafft, aber das Werk der Revolution ist dann nach einer andern Richtung hin weiter geführt worden. Auf die Herrschaft der Säbelhelden folgte die Herrschaft der Denker.

Was also bei Waterloo triumphirte, was Wellington mit Marschallsstäben belohnte, sogar, heißt es, mit dem französischen, was vergnügt Erde und Menschengebeine zu dem Löwendenkmal aufhäufte, was von dem Plateau von Mont-Saint-Jean raubgierig auf Frankreich herabsah, das war die Gegenrevolution. Die Gegenrevolution war es, die ruchlos die Losung: »Zerstücklung Frankreichs« ausgab. In Paris angelangt, sah sie den Krater aus der Nähe, fühlte die Asche unter ihren Füßen brennen und besann sich eines Andern. Sie ließ sich jetzt die bescheidene Verfassungsurkunde gefallen.

Messen wir also der Schlacht bei Waterloo nicht eine Bedeutung bei, die sie nicht hat. Eine mit Ueberlegung gewollte Freiheit ist nicht aus ihr hervorgegangen. Die Gegenrevolution war gegen ihren Willen liberal, so wie vermöge eines ähnlichen Phänomens Napoleon wider Willen revolutionär verfuhr. Am 18. Juni 1815 wurde der »Robespierre zu Pferde« aus dem Sattel geworfen.

XVIII.
Die Wiederbelebung des Gottesgnadenthums

Mit dem Ende der Diktatur brach ein ganzes Staatensystem zusammen, und das Dunkel, das sich auf einige Zeit über die Welt verbreitete, glich demjenigen, das nach dem Sturz des römischen Reiches die Civilisation umnachtete. Nur daß die Barbarei von 1815, d. h. die Gegenrevolution, kurzatmig war und nicht weit kam. Dem Kaiserthum wurden, wir müssen es gestehen, Thränen, und zwar von Heldenaugen, nachgeweint. Wenn die Verwandlung eines Schwertes in ein Scepter etwas Ruhmreiches ist, so ist das napoleonische Kaiserthum der verkörperte Ruhm gewesen. Es hatte über die Erde alles Licht verbreitet, das die Tyrannei spenden kann, allerdings ein Licht, das die Seele nicht befriedigt. Ja, wir dürfen sogar sagen, ein schwaches Licht, ein Licht, das mit dem Tag verglichen, sich wie Nacht ausnimmt.

Und doch war es, nachdem diese Nacht beseitigt war, als sei eine tiefe Finsterniß eingetreten.

Ludwig XVIII. kehrte nach Paris zurück. Die Verbannten gelangten zur Herrschaft. Von den Schlachten bei Bouvines und Fontenoy wurde gesprochen, als hätten sie Tags zuvor stattgefunden, während Austerlitz als etwas Altes angesehen wurde. Altar und Thron schlossen feierlich Bruderschaft. Und diese große Umwälzung geschah, all diese Könige stiegen wieder auf ihre Throne, der Gebieter Europas wurde eingekerkert, das alte Regime wurde das neue, Licht und Schatten wechselten ihre Plätze, blos weil eines schönen Nachmittags in einem Walde ein Hirt zu einem Preußen sagte: »Gehen Sie da und nicht da lang!«

1815 leitete eine Periode der Verlegenheit ein. Alte Mißbräuche kleideten sich in ein neues Gewand. Das Gottesgnadenthum vermählte sich mit der Revolution, indem es eine Verfassung bewilligte; die Vorurtheile, der Aberglaube und tückische Hintergedanken überfirnißten sich mit Liberalismus. Kurz, eine Schlangenhäutung!

Napoleon hatte die Menschheit zugleich erhoben und erniedrigt. Dem Idealen war unter seiner Regierung, wo die Materie glanzvoll herrschte, der seltsame Name Ideologie angehängt worden. Wie unklug, so die Zukunft zu verhöhnen. Und dennoch sehnte sich das Volk nach dem Mann, der es so trefflich verstanden, es als Kanonenfutter zu verwenden. Wo ist er? Was treibt er? »Napoleon ist gestorben?« meldete Jemand einem Invaliden, der bei Marengo und Waterloo mitgekämpft hatte. »Der soll gestorben sein? Da kennen Sie ihn schlecht!« entgegnete der Soldat. Die Phantasie der Menschen erhob den Gestürzten zu einem Gotte.

Napoleons Fall bewirkte eine große Lücke, in die sich die Könige drängten. Sie benutzten die gute Gelegenheit, eine »Heilige Allianz« zu schließen. Der Name La Belle-Alliance eines Ortes bei Waterloo ward also symbolisch.

Angesichts dieses wiederbelebten alten Europas begann Frankreich eine neue Gestalt anzunehmen. Die von dem Kaiser bespöttelte Zukunft hielt ihren Einzug. Auf ihrer Stirn leuchtete der Stern der Freiheit. Begeistert wandte sich ihr die Tugend zu. Merkwürdiger Weise schwärmte man zu gleicher Zeit für die Zukunft, nämlich für die Freiheit, und für die Vergangenheit, Napoleon. Seine Niederlage hatte den Besiegten in den Augen der Menge erhöht. Nach seinem Falle erschien Bonaparte größer, als Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht. Den siegreichen Verbündeten wurde bange. England ließ ihn durch Hudson Lowe bewachen und Frankreich durch Montchenu bespioniren. Passiv wie er sich verhielt, zitterten doch die Könige vor ihm. Alexander von Rußland nannte ihn seinen Schlafstörer. War und blieb er doch ein Vertreter der Revolution! Dies erklärt und rechtfertigt auch den liberalen Bonapartismus. Man konnte mit seinem Namen die Welt erschrecken.

Während Napoleon zu Longwood langsam hinstarb, verwesten gemüthlich die Sechzigtausend, die auf dem Gefilde von Waterloo dahingesunken waren, und die Friedfertigkeit ihrer Grabesruhe theilte sich der Welt mit. Daraus entstanden die Wiener Verträge des Jahres 1815, die Europa die Restauration betitelte.

Dies ist die Bedeutung der Schlacht bei Waterloo.

Aber ob der Unendliche all dies Getriebe beachtete? Ist doch in seinen Augen ein Blattfloh, der von einem Grashalm auf einen andern hüpft, so viel wert wie ein Adler, der die Türme von Notre-Dame umfliegt.

XIX.
Das Schlachtfeld bei Nacht

Kehren wir noch einmal, da der Gang unserer Erzählung uns diese Notwendigkeit auferlegt, im Geiste auf das Schlachtfeld zurück.

In der Nacht des 18. Juni 1815 war Vollmond. Dies begünstigte die Blutgier Blüchers, indem so die Verfolger in Stand gesetzt wurden, die Fährten der Flüchtlinge leichter aufzuspüren, und die preußische Kavallerie ihnen bequemer nachsetzen konnte.

Nach dem letzten Kanonenschuß war die Ebene von Mont-Saint-Jean menschenleer. Die Engländer rückten in die Gegend vor, die im Besitz der Franzosen gewesen; so will es ja der Brauch, daß der Sieger im Bett des Besiegten schläft. Sie lagerten jenseits von Rossomme, während die Preußen gegen die geschlagene Armee losgelassen wurden. Wellington begab sich nach dem Dorfe Waterloo, um dort seinen Bericht an Lord Bathurst abzufassen.

Wenn jemals Virgils Sic vos non vobis auf irgend etwas gepaßt hat, so war dies sicherlich das Dorf Waterloo. Waterloo hat mit der Schlacht gar nichts zu thun, nichts zu leiden gehabt. Mont-Saint-Jean ist kanonnirt, Hougomont, Papelotte, Plancenoit niedergebrannt, La Haie-Sainte erstürmt worden, La Belle-Alliance hat sehen müssen, wie die beiden siegreichen Feldherren sich in die Arme sanken; aber wie viele kennen diese Namen? Und Waterloo, das nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist die ganze Ehre zugefallen.

Wir gehören nicht zu denen, die den Krieg nur zu loben verstehen; wir sagen ihm, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, unschmackhafte Wahrheiten. Ist ihm viel grausig Schönes eigen, das wir nicht verhehlt haben, so hat er auch einige recht häßliche, abscheuliche Seiten. In letzterer Hinsicht ist die erstaunliche Thatsache hervorzuheben, daß nach dem Siege die Toten so rasch ausgeplündert werden. Die Sonne, die am Morgen nach einem Schlachttage aufgeht, bescheint immer nackte Leichen.

Wer begeht diesen Frevel? Wer besudelt so den Triumph? Wer sind die Spitzbuben, die sich hinter dem Siege herschleichen und den Ruhm ausbeuten? Einige Philosophen, unter Andern Voltaire behaupten, eben diejenigen, die sich Ruhm erworben haben. Am Tage ein Held, bei Nacht ein Vampyr. Wer einen Andern kalt gemacht, dem gehört doch wohl die Leiche und – Alles, was der Leiche gehört hat. Was uns anbelangt, so können wir dies nicht glauben. Lorbeeren pflücken und einem Toten die Stiefel ausziehen ist, dünkt uns, ein und derselben Hand unmöglich.

Soviel ist sicher, den Siegern folgen die Spitzbuben auf dem Fuße.

Jede Armee zieht Gesindel hinter sich her, und hier sind die Schuldigen zu suchen. Den Fledermäusen vergleichbare menschliche Wesen, die von dem Kriege lebten, halb Räuber, halb Diener, Leute in Uniform, die keine Kombattanten waren, falsche Kranke, sehr gefährliche Krüppel, zweideutige Marketender mit ihren Frauen, Bettler, die sich den Offizieren als Führer anboten, Troßbuben, Maraudeure folgten ehemals in Menge jeder Armee – denn wir lassen die Heere der Gegenwart außer Spiel – und wurden mit der Benennung Nachzügler bezeichnet. Für diese Halunken konnte man keine Nation, keine Armee verantwortlich machen; Kerle, die italienisch sprachen, zogen mit deutschen Heeren; Andere sprachen französisch und folgten Engländern. Von einem dieser Elenden, einem Spanier, wurde der Marquis von Fervacques, der sich durch sein pikardisches Kauderwälsch täuschen ließ und ihn für einen Franzosen hielt, auf hinterlistige Weise bei Cerisoles ermordet und ausgeplündert.

Diesen Auswuchs des Krieges verdankte man dem Grundsatz, eine Armee müsse sich immer von ihren Feinden ernähren lassen. Nur eine strenge Disciplin konnte hier Abhülfe schaffen, aber sonst sehr tüchtige Generäle traten in dieser Hinsicht nicht energisch auf, was ihnen bei ihren Soldaten große Beliebtheit verschaffte. Turenne z. B. war der Abgott seiner Leute, weil er Plünderung erlaubte. Wer Böses zuläßt, gilt für gut und Turenne war so gut, daß er in der Pfalz seine Soldaten sengen und brennen ließ. Daher marschirten auch hinter einer Armee mehr oder weniger Maraudeure her, je milder oder strenger der Befehlshaber war. Hoche's und Marceau's Heeren folgten keine Nachzügler. Wellington ließ es, um der Gerechtigkeit die Ehre zu geben, in dieser Hinsicht auch nicht an der nöthigen Energie fehlen.

Dennoch wurden in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni die Leichen geplündert. Wellington trat dagegen mit großer Strenge auf und befahl Jeden zu erschießen, der auf der That ertappt würde; aber derartiges Raubgesindel ist zähe. Wurden die Spitzbuben von dem einen Theil des Schlachtfeldes verscheucht, so stahlen sie anderwärts.

Kurz, der Mond bekam schauerliche Dinge in jener Nacht zu sehen.

Um Mitternacht ging oder schlich und kroch vielmehr solch' ein Unhold, weder ein Engländer noch ein Franzose, weder ein Bauer noch ein Soldat, in der Nähe des Fahrwegs von Ohain herum. Er trug einen Kittel, der eine gewisse Verwandtschaft mit einem Regenmantel hatte. Einen Sack hatte er nicht, wohl aber große Taschen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, ließ seine Blicke über die Ebene schweifen, ob ihn auch Niemand sehe, bückte sich dann rasch, hantirte einen unbeweglichen Gegenstand an der Erde, richtete sich dann empor und machte sich davon.

Nicht weit davon erkannte man durch den Nebeldunst hinter dem Gebäude, das an der Vereinigung der Chaussee von Nivelles des Mont-Saint-Jean und Braine-l'Alleud verbindenden Weges gelegen war, eine Art Marketenderwagen mit einem getheerten Verdeck aus Weidengeflecht. Die vorgespannte dürre Mähre fraß Brennnesseln, und in dem Wagen saß eine Frau auf Koffern und Packeten. Vielleicht stand das Fuhrwerk in Beziehung zu dem Strolch.

Die Nacht war eine heitere, ruhige. Keine Wolke am Zenith. Was macht es aus, wenn die Erde geröthet ist; der Mond bleibt darum so weiß, wie sonst. Diese Gleichgültigkeit bekundet der Himmel ja oft. Von Kugeln durchgebrochene, aber vom Baum noch nicht abgefallene Zweige und Aeste schaukelten sich leicht im Winde, und die Sträucher wogten hin und her.

Aus der Ferne ließ sich ein unbestimmtes Geräusch vernehmen. Es waren die Patrouillen und Majorsronden des englischen Lagers.

In Hougomont und La Haie-Sainte brannte es noch, und zwischen diesen beiden großen Feuerherden zogen sich, gleichsam wie zwischen zwei Karfunkeln aufgereihte Rubinen, in einem mächtigen Halbkreise die Wachtfeuer der Engländer hin.

Wir haben die Katastrophe, die sich im Hohlweg von Ohain abspielte, beschrieben. Das Herz schnürt sich zusammen bei dem Gedanken, wie den Tapfern bei ihrem Sturz zu Muthe gewesen sein muß.

Wenn es etwas so Schreckliches giebt, daß auch die kühnste Phantasie es sich nicht mehr auszumalen vermag, so ist es dies: Leben, sich des Sonnenlichts erfreuen, im Vollbesitz der Manneskraft, gesund und munter sein, dem Ruhm entgegenstürmen, der freundlich winkt, eine kräftige Lunge und ein muthiges Herz in seiner Brust fühlen, Vernunft und Willen haben, sprechen, denken, lieben, hoffen können, eine Mutter, Weib und Kind haben – und dann in der Zeit, die der Mensch braucht, einen Ruf zu thun, im Laufe von noch nicht einer Minute in einen Abgrund stürzen, hinabkollern, erdrücken und erdrückt werden, nach Halmen, Blumen, Blättern greifen, ohne einen Halt zu finden, sich wehr- und hilflos fühlen, Menschen- und Pferdeleiber über und unter sich haben, einen Hufschlag gegen die Brust bekommen, daß die Rippen brechen, Fußtritte, daß Einem die Augen aus dem Kopfe fliegen, voller Angst und Wuth um sich beißen – auf ein Hufeisen in irgend etwas, – schreien, sich krümmen, ersticken und dabei denken: »So eben lebte ich noch!«

An der Stelle, wo so Viele so grausig verröchelt hatten, herrschte jetzt tiefe Stille. Der Hohlweg war mit Leichen bis zum Rande angefüllt, wie ein gestrichen gemessener Scheffel Getreide. Von diesem Leichenhaufen rieselte das Blut nach dem tiefer gelegenen Theil des Fahrwegs, bis auf die Landstraße hinab und sammelte sich in einer Vertiefung vor dem Verhau, an einer Stelle, die man noch heute den Fremden zeigt. Wo der Fahrweg am tiefsten war, nach der Landstraße von Genappe zu, war die Leichenschicht am dicksten; in der Mitte, wo Delord mit seiner Division hinüberritt, nahm sie ab.

Nach dieser Stelle hin lenkte der unheimliche Geselle, den wir dem Leser so eben vorgestellt haben, seine Schritte, durchforschte, die Füße im Blut, das große Grab, musterte die Toten.

Plötzlich blieb er stehen.

Einige Schritte vor ihm, an der Grenze des Leichenhaufens, ragte eine vom Mondlicht beschienene Hand hervor.

An dem einen Finger dieser Hand glänzte etwas, ein goldener Ring.

Der Räuber bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete, war der Ring vom Finger verschwunden.

Ganz richtete er sich freilich nicht auf. Er lag vielmehr auf den Knieen und stützte sich, nach vorn gebeugt, auf seine beiden Zeigefinger, während er den Kopf über den Rand des Hohlwegs erhob und in die Ferne blickte. Schakale laufen eben auf vier Füßen.

Endlich entschied er sich dafür aufzustehen.

Da fuhr er vor Schreck heftig zusammen. Hinten hielt ihn Jemand fest.

Er drehte sich um; die eben noch offene Hand hatte sich geschlossen und krampfhaft seinen Mantelzipfel gepackt.

Ein ehrlicher Mensch hätte sich gefürchtet. Der hier lachte.

»I, das ist ja nur der Tote. Besser, als wenn es ein Gendarm wäre.«

Aber jetzt sank die Hand kraftlos herab und ließ ihn los.

»Nanu!« rief der Strolch. »Ist denn der Tote lebendig? Da will ich doch mal näher zusehen.«

Er beugte sich abermals nieder, durchwühlte den Leichenhaufen, schob alles, was ihm hinderlich war, weg, packte die Hand, den Arm, machte den Kopf frei und schleifte den Leblosen oder wenigstens Ohnmächtigen einige Schritte weit fort. Es war ein Kürassieroffizier von höherem Range, wie man schon an den goldenen Epauletten erkannte. Er hatte keinen Helm mehr und über sein Gesicht zog sich eine weit klaffende Wunde, die von einem Säbelhieb herrührte. Zerbrochen war wohl nichts, weder Arme noch Beine, und dank einem glücklichen Zufall – wenn in solch' einem Zusammenhange das Wort glücklich gebraucht werden darf – hatten einige Leichen über ihm eine Art Dach gebildet und ihn so vor dem Erstickungstode bewahrt.

Auf dem Küraß trug er das silberne Kreuz der Ehrenlegion.

Dieses Kreuz riß der Spitzbube ab und ließ es in eine seiner ungeheuren Taschen hinabgleiten.

Darauf betastete er die Hosentasche des Offiziers, fühlte eine Uhr und eignete sie sich an. Dann kamen die Westentaschen an die Reihe. Er fand die Börse und steckte sie gleichfalls ein.

Während er noch dem Verwundeten diese Sorte Hülfeleistung angedeihen ließ, schlug dieser die Augen auf und sagte mit schwacher Stimme:

»Vielen Dank!«

Durch die heftigen Manipulationen, die der Spitzbube mit ihm vorgenommen hatte, die Kühle der Nacht, die Zufuhr an frischer Luft, war er wieder zum Bewußtsein gebracht worden.

Statt zu antworten, hob der Räuber den Kopf empor. Es wurden in der Ebene Schritte, wahrscheinlich von einer Patrouille, vernehmbar.

Der Offizier fuhr mit noch immer schwacher Stimme fort:

»Wer hat die Schlacht gewonnen?«

»Die Engländer«, antwortete der Strolch.

»Suchen Sie in meinen Taschen. Sie werden eine Börse und eine Uhr finden. Nehmen Sie die.«

Das war nun schon besorgt, aber der Spitzbube stellte sich, als thue er, wie ihm geheißen war.

»Ich finde nichts.«

»So bin ich bestohlen worden. Das thut mir leid.«

Die Schritte kamen näher und näher.

»Da kommen Leute«, sagte der Strolch und machte Anstalt zu gehen.

Der Offizier hob mühsam den Arm und hielt ihn zurück.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Wer sind Sie?«

Der Strolch antwortete rasch und mit leiser Stimme:

»Ich gehörte wie Sie der französischen Armee an. Ich muß Sie verlassen. Wenn man mich hier fände, würde ich erschossen werden. Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Helfen Sie Sich jetzt selber weiter.«

»Welchen Rang haben Sie?«

»Ich bin Sergeant.«

»Wie heißen Sie?«

»Thénardier.«

»Ich werde den Namen nicht vergessen«, versicherte der Offizier. »Und Sie, behalten Sie meinen. Ich heiße Pontmercy.«


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