Victor Hugo
Die Elenden. Zweiter Theil. Cosette
Victor Hugo

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Sechstes Buch. Das Kloster Petit-Picpus

I.
In der Rue Picpus Nr. 62

Nichts unterschied vor fünfzig Jahren die Hausthür der Nr. 62 Rue Picpus von andern, gewöhnlichen Hausthüren. Meistenteils halb offen, als lade sie Jederman freundlichst ein, näher zu treten, ließ sie drinnen zweierlei Dinge sehen, die nichts weniger, als trauervoll anzuschauen sind, einen Hof, dessen Umfassungsmauern mit Weinreben bewachsen waren, und das feiste Gesicht eines faulen Portiers. Die hinterste Hofmauer überragten hohe Bäume. Wenn fröhlicher Sonnenschein den Hof erhellte, wenn guter Wein den Pförtner erheiterte, konnte man nicht an jenem Hause vorübergehen, ohne einen freundlichen Eindruck mitzunehmen. Und doch herrschte hier düstere Trübsinnigkeit.

Nur der Eingang war einladend; im Innern wurde gebetet und geweint.

Wenn man an dem Pförtner vorbeikam, was nicht leicht war, denn man mußte mit einem Erkennungswort ausgerüstet sein, wenn man dann eine ausnehmend schmale Treppe bis zum ersten Stock erstieg, gelangte man in einen Korridor, der wie die Treppe sein Licht durch ein schönes Fenster hindurch bekam, bis zu einer Ecke, wo er dunkel wurde. Hier war eine unverschlossene Thür. Man stieß auf und befand sich in einem mit Fliesen, gepflasterten, saubern, kalten, mit billigen hellgelben Tapeten beklebten winzigen Zimmerchen. Durch die kleinen Scheiben des großen Fensters, das links die ganze Breite des Raumes einnahm, fiel ein mattes, weißes Licht. Man sah Niemand, mochte man noch so gespannt horchen. Man hörte weder Menschentritte, noch Stimmen. Die Wände waren kahl, und kein Möbel war zu sehen, nicht einmal ein Stuhl.

In der Wand aber, die der Thür gegenüber lag, war eine viereckige Oeffnung von ungefähr einem Quadratfuß angebracht, die durch ein gekreuztes Gitter versperrt war. Die soliden, schwarzen Eisenstäbe desselben bildeten Vierecke, man könnte beinahe sagen, Maschen, deren Diagonale kaum anderthalb Zoll maß. Wäre also auch ein menschliches Wesen so wunderbar mager gewesen, daß es sich durch die Oeffnung hätte hindurchzwängen können, so hätte das Gitter es daran verhindert. Indessen konnten noch durch das Gitter die Augen, also der Geist, hindurchblicken. Aber auch hiergegen war eine Vorkehrung getroffen, denn hinter dem Gitter war ein Blech in die Mauer eingelassen, worin viele winzige Löchelchen gebohrt waren, wie in einem Siebe. In dem unteren Theil dieser Platte befand sich eine Oeffnung, die wie der Spalt in den Briefkasten aussah.

Rechts von dem Gitter hing an einem Draht eine Klingel. Setzte man diese in Bewegung, so hörte man dicht vor sich eine sanfte Frauenstimme, eine Stimme von einer Sanftheit, daß man Wehmuth dabei empfinden konnte.

»Wer ist da?« fragte sie.

Auch hier mußte man eine Zauberformel aussprechen, damit »Sesam Sesam« sich öffnete. Sonst schwieg die Stimme, und es wurde wieder so still, als sei hinter der Wand ein großes Grab.

Kannte man aber die Losung, so lautete der Bescheid:

»Gehen Sie rechts hinein!«

Rechts, dem Fenster gegenüber, war eine grau angestrichene Glasthür. Machte man diese auf, so empfing man genau denselben Eindruck, als wenn man im Theater eine vergitterte Parterreloge betritt, ehe das Gitter heruntergelassen und der Kronleuchter angezündet ist. Dieser enge Raum, der ein mattes Licht durch die Glasthür empfing, war mit zwei alten Stühlen und einer schadhaften Strohmatte versehen.

Nach Verlauf einiger Minuten, wenn das Auge sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, ging es auf Entdeckungen hinter das gewaltige Eisengitter aus, aber sechs Zoll jenseit desselben traf es auf schwarze Fensterläden, die durch pfefferkuchengelbe Querlatten zusammengehalten wurden.

Nach einer Weile ließ sich hinter diesen stets geschlossenen Fensterläden eine Stimme vernehmen:

»Hier bin ich. Was wünschen Sie?«

Es war diejenige, die man hier aufsuchte. Aber man sah sie nicht. Kaum daß man ihren Athem hörte. Man hatte den Eindruck, als spreche ein aus dem Grabe heraufbeschworner Geist.

War man im Besitz gewisser – selten gewährter – Vorrechte, so wurde eins der schmalen Brettchen, aus denen der Fensterladen in seiner Länge zusammengesetzt war, zurückgeklappt, und statt des Geistes erschien ein Körper. Man sah dann einen Kopf oder vielmehr blos ein Kinn und einen Mund, denn alles Uebrige war mit einem schwarzen Schleier verhüllt. Man erkannte auch noch einigermaßen einen schwarzen Busenschleier und eine mit einem schwarzen Grabtuch bekleidete Gestalt. Der Kopf sprach mit dem Besucher, sah ihn aber nie an und lächelte Einem nie zu.

Das Licht, das von hinten herein kam, fiel so, daß die Gestalt hinter dem Fensterladen von Helligkeit umgeben, und der Besucher für sie im Dunkel stand. Diese Einrichtung hatte eine symbolische Bedeutung.

Von dem, was die Gestalt umgab, von dem Raum, in dem sie sich befand, bemühte man sich vergeblich, sich eine Vorstellung zu machen. Was man sah, war Dunkelheit, Schatten, Nacht. In diesem düstern Hause wohnten Bernhardinerinnen von der ewigen Anbetung. Die Loge, in der man sich befand, bildete das Sprechzimmer.

In dieses Kloster nun, das strenger als andere von der Außenwelt abgeschlossen war, wollen wir jetzt eindringen und dem Leser Dinge berichten, die noch keine Erzähler gekannt und gesehen hat.

II.
Die Obedienz Martin Verga's

Dieses Kloster, das 1824 schon seit langer Zeit bestand, gehörte zu der Obedienz Martin Verga's.

Die Bernhardinerinnen also, die es bewohnten, folgten der Regel des heil. Benedikt, nicht des heil. Bernhard.

Nächst der Regel der Carmeliter, die barfuß gehen und sich nie setzen, ist die strengste die der Benediktinerinnen von der Observanz des heil. Verga. Sie gehen schwarz gekleidet und tragen einen Busenschleier, der nach der ausdrücklichen Vorschrift des heil. Benedikt bis zum Kinn reicht. Ein Serschekleid mit weiten Aermeln, ein großer wollener Kopfschleier, ein nach unten gradlinig abschneidender Busenschleier, eine bis zu den Augen herabgehende Stirnbinde bilden ihre Ordenskleidung, die mit Ausnahme der weißen Binde vollständig schwarz ist. Die Novizen tragen denselben Habit, aber weiß, die Ordensschwestern außerdem noch einen Rosenkranz an der Seite.

Was ihre Observanz betrifft, so fasten Martin Verga's Benediktinerinnen das ganze Jahr hindurch, enthalten sich an gewissen Tagen überhaupt aller Nahrung, stehen um 1 Uhr Nachts auf, um zwei Stunden lang das Brevier zu lesen und die Frühmette zu singen, schlafen in jeder Jahreszeit auf Serschelaken und auf Stroh, nehmen nie ein Bad, heizen nie, geißeln sich jeden Freitag, üben Stillschweigen, sprechen mit einander nur in den sehr kurzen Erholungspausen, tragen sechs Monate lang, vom 14. September, dem Feste der Kreuzeserhöhung, bis Ostern wollene Hemden. Hierin liegt eine Milderung, denn nach der ursprünglichen Regel soll der Wollstoff das ganze Jahr hindurch getragen werden. Aber im Sommer war er unerträglich warm und verursachte Fieber und nervöse Krämpfe. Auch so bekommen die Nonnen, wenn sie am 14. September anfangen, die wollenen Hemden zu tragen, drei bis vier Tage lang Fieber.

Ihre durch die Regel stark verschärften Gelübde beziehen sich auf Gehorsam, Armuth, Keuschheit, Klosterzwang.

Sie sehen nie den Messe haltenden Priester, der ihren Augen immer durch einen neun Fuß hohen Vorhang entzogen ist. Bei der Predigt in der Kapelle lassen sie den Schleier herab. Sie müssen immer leise sprechen, beim Gehen den Blick auf die Erde richten und den Kopf gesenkt halten. Ein einziger Mann hat Zutritt in das Kloster, der Erzbischof der Diöcese.

Ein zweiter allerdings auch noch, der Gärtner; dieser muß aber ein alter Mann sein, und ein Glöckchen am Knie tragen.

Der Gehorsam gegen die Priorin ist ein absoluter und passiver, der die strengste kanonische Selbstverleugnung erfordert. Ut voci Christi, als riefe sie Christus; ad nutum, ad primum signum, auf ein Zeichen, auf einen Wink; prompte, thilariter, perseveranter et caeca quadam oboedientia, sofort, mit Freudigkeit, zu jeder Zeit und blindlings; quasi limam in manibus fabri, wie eine Feile in der Hand eines Arbeiters. Auch darf keine Nonne etwas lesen oder schreiben, ohne die ausdrückliche Erlaubnis ihrer Oberin.

Eine der Uebungen, die sie abwechselnd halten, besteht in der sogenannten großen Genugthuung. Das Gebet nämlich für alle Sünden, Gewaltthaten, Ungerechtigkeiten, Verbrechen, die auf Erden begangen werden.

Zwölf Stunden hintereinander, von vier Uhr Nachmittags bis vier Uhr Morgens, oder umgekehrt, kniet die Schwester, die gerade an der Reihe ist, mit gefalteten Händen, einen Strick um den Hals, auf den harten Steinen vor dem allerheiligsten Sakrament. Wird die Anstrengung unerträglich, so legt sie sich der Länge nach mit ausgestreckten Armen und nach unten gewendeten Gesicht auf die Erde, die einzige Bequemlichkeit, die sie sich gestatten darf. In dieser Haltung betet sie für alle Sünder der Welt. Dieser Gedanke ist groß, ist erhaben.

Da diese Handlung vor einer Richtsäule, auf der oben eine Wachskerze brennt, vollzogen wird, so sagt man statt »die große Genugthuung halten« auch »an der Richtsäule« knieen. Letztere Formel wird sogar von den Schwestern aus Demuth bevorzugt, da er den Begriff der Strafe und Erniedrigung in sich faßt.

Die Genugthuung nimmt das ganze Denken völlig in Anspruch. Eine Schwester, die vor der Richtsäule kniet, würde sich nicht umdrehen, wenn auch der Blitz hinter ihr in die Erde führe.

Außerdem liegt immer noch eine Schwester vor dem hochehrwürdigsten Gut auf den Knieen. Dieser Dienst dauert eine Stunde lang. Die Nonnen lösen sich hierbei ab wie Schildwachen. Man nennt dies die ewige Anbetung.

Wenn man sie zu sprechen bekommt, lassen sie fast nur ihren Mund sehen. Sie haben alle gelbe Zähne, denn nie kommt eine Zahnbürste in ihr Kloster; die Mundpflege ist eine Sünde, die das Seelenheil gefährdet.

Das Wort »mein« ist bei ihnen nicht im Gebrauch. Sie haben nichts zu eigen. Sie sagen »unser« statt mein: »unser Schleier, unser Rosenkranz« und spräche eine von ihrem Hemde, so würde sie auch sagen: »unser Hemd.« Bisweilen widerfährt es ihnen, daß sie irgend einen unbedeutenden Gegenstand, ein Gebetbuch, eine Reliquie, eine geweihte Münze, lieb gewinnen. Werden sie aber dessen inne, so verschenken sie dieselben sofort. »So? Euch ist etwas ans Herz gewachsen? Dann tretet nicht in unsern Orden ein!« So antwortete einst die heilige Theresa einer vornehmen Dame, die um die Erlaubniß bat, eine »ihr ans Herz gewachsene« Bibel in das Kloster mitbringen zu dürfen.

Ein Heim, ein trauliches, abgeschlossenes Zimmer zu haben, ist verboten. Ihre Zellen stehen immer offen. Wenn sie sich begegnen, sagt die Eine: »Gelobt und angebetet sei das allerheiligste Sakrament des Altars!« »Immerdar!« ergänzt die Andre. Desgleichen, wenn Eine bei der Andern an die Thür klopft. Die Insassin antwortet eiligst: »Immerdar!« Wie alle Gewohnheiten, bekommt auch diese mit der Zeit etwas Maschinenmäßiges, und manchmal sagt Eine: »Immerdar!« noch ehe die Erste mit ihrem – ziemlich langen – Gruße zu Ende gekommen ist.

Jedes Mal, wenn die Uhr der Klosterkirche voll schlägt, giebt sie noch drei andere Schlage an. Sind diese verklungen, so unterbrechen Alle, die Priorin, die Mütter, die Schwestern, Conversen, Novizen, Postulantinnen, was sie sagen, thun oder denken, mit den Worten: »In der fünften Stunde und zu jeder Stunde sei das allerheiligste Sakrament gepriesen und angebetet;« bezw.: »In der achten Stunde u. s. w.«

Die Benediktinerinnen, die sich vor fünfzig Jahren in der Rue Picpus niederließen, psalmodiren beim Gottesdienst in der alten, eintönigen Weise und immer mit voller Stimme. Bei jedem Sternchen in dem Meßbuch halten sie an und sagen: »Jesus, Maria, Joseph.« Beim Totenamt steigen sie mit der Stimme so tief hinab, daß man Frauenkehlen so tiefe Töne kaum zutrauen sollte. Dieser Gesang macht einen ergreifenden, schwermüthigen Eindruck.

Die Benediktinerinnen des Klosters Petit-Picpus hatten unter dem Hauptaltar ein Grabgewölbe anlegen lassen. Aber »die Regierung«, wie sie sich ausdrückten, erlaubte nicht, daß Särge in dieser Gruft beigesetzt wurden. Sie mußten demzufolge, wenn sie gestorben waren, aus dem Kloster hinaus. Dies betrübte sie und erschien ihnen ein Frevel.

Ein schwacher Trost für sie war das Zugeständniß, daß sie ihre Toten zu einer besonderen Stunde und in einer besonderen Ecke in dem alten Kirchhof Vaugirard, dessen Erde einst der Genossenschaft gehört hatte, begraben lassen durften.

Des Donnerstags wohnen diese Nonnen dem Hauptamt, der Vesper bei und überhaupt ist der Gottesdienst der selbe, wie des Sonntags. Außerdem beobachten sie gewissenhaft alle kleinen Feste, die wir Laien nicht kennen, und deren ehedem die Kirche in Frankreich und noch jetzt in Italien und Spanien in großer Menge feiert. In der Kapelle verweilen sie jedes Mal eine unendlich lange Zeit, entsprechend der Zahl und der Länge ihrer Gebete.

Einmal wöchentlich wird ein Ordenskapitel gehalten; die Priorin führt den Vorsitz, die stimmberechtigten Mütter assistiren. Die Schwestern knieen der Reihe nach auf die bloßen Steine nieder und beichten laut die Vergehen und Sünden, die sie im Laufe der Woche begangen haben. Die stimmberechtigten Mütter rathschlagen dann nach jeder Beichte und bestimmen laut die zu leistende Buße.

Neben der lauten Beichte, die alle schwereren Vergehen betrifft, besteht für die läßlichen Verstöße die sogenannte Culpa. Dabei wirft sich die Sünderin während des Gottesdienstes vor der Priorin auf die Erde lang nieder, bis Diese auf das Holz ihres Sitzes einen Schlag thut und sie damit benachrichtigt, daß sie aufstehen darf. Auf diese Weise büßt man z. B., wenn man ein Glas zerschlagen, seinen Schleier zerrissen hat, zur Kirche zu spät gekommen ist, falsch gesungen hat. Die Sühne ist in diesem Falle eine durchaus freiwillige. Charakteristisch für die Culpa ist folgender Vorfall: An Sonn- und Festtagen psalmodiren vier Mütter an einem großen Chorpult. Einer von diesen Sängerinnen passirte es nun eines Tages, daß sie einen Psalm nicht mit dem Wort ecce begann, sondern statt dessen die Namen der betreffenden Noten ce, ha, ge absang. Diese Zerstreutheit sühnte sie mit einer Culpa, die bis zu Ende des Gottesdienst dauerte. Das Vergehen war nämlich deshalb so schwer, weil das Kapitel gelacht hatte.

Mit der Außenwelt darf nur die Priorin sprechen, die anderen Klosterangehörigen nur mit ihren nächsten Blutsverwandtinnen. Wollen andere Auswärtige eine Nonne sprechen, die sie seiner Zeit in der Welt gekannt haben, so bedarf es weitläufiger Verhandlungen. Einer Frau oder einem Fräulein wird die Erlaubniß bisweilen ertheilt, einem Mann niemals.

Dies ist die von Martin Verga verschärfte Regel des heiligen Benedikt.

Diese Religiösen sind nicht lustig, sehen nicht frisch und gesund aus, wie die Angehörigen anderer Orden. Sie sind blaß und ernst. In dem Zeitraum von 1825 bis 1830 haben drei den Verstand verloren.

III.
Strenge Observanz

Die Probezeit der Postulantinnen dauert wenigstens zwei, oft vier Jahre, die der Novizen vier. Selten werden die endgiltigen Gelübde vor dem drei- oder vierundzwanzigsten Lebensjahr abgelegt. Witwen finden bei den Benediktinerinnen keine Aufnahme.

In ihren Zellen unterziehen sie sich vielen Kasteiungen, deren sie nie Erwähnung thun dürfen.

An dem Tage, wo eine Novize ihre Ordensgelübde ablegt, kleidet man sie in ihren schönsten Putz, schmückt ihr Haar mit weißen Rosen, legt es in Locken, dann wirft sie sich auf den Boden nieder, worauf ein großer, schwarzer Schleier über sie gebreitet und die Totenmesse gesungen wird. Dann theilen sich die Nonnen in zwei Reihen, von denen eine an ihr vorüberzieht und im Klageton sagt: »Unsere Schwester ist gestorben!« Die andere aber antwortet nachdrucksvoll: »Sie lebt in Jesus Christus!«

Zu der Zeit, wo unsere Geschichte spielt, war mit diesem Kloster ein Erziehungsinstitut für adelige, junge Mädchen verbunden. Auch diesen wurde von den Nonnen ein unglaublicher Abscheu gegen die Welt und ihren Tand anerzogen. Eine von ihnen erzählte uns eines Tages: »Wenn ich das Straßenpflaster zu Gesicht bekam, erschauerte ich von Kopf bis zu Fuß.« An großen Festtagen, besonders am Tage der heiligen Martha, gestattete man ihnen zum Zeichen besonderer Gunst und als ein hohes Glück sich als Nonne zu kleiden und den ganzen Tag über den Gottesdienst und die Uebungen des heiligen Benedikt zu halten. In der ersten Zeit liehen ihnen die Nonnen sogar ihre schwarzen Ordenskleider. Dies sah aber einer Entweihung ähnlich und die Priorin verbot es. Nur den Novizen wurde es gestattet, ihre Kleider dazu herzugeben. Merkwürdiger Weise waren diese Vorstellungen, die man duldete und ermuthigte, um Proselytinnen für den Orden zu gewinnen und die kleinen Mädchen mit den heiligen Kleidern vertraut zu machen, für die Schülerinnen ein wirkliches Glück, eine wahre Erholung, die ihnen Freude machte. Es war etwas Neues, eine Abwechselung. Naive Gründe, die uns Weltkinder nicht überzeugen können, daß es ein Vergnügen ist, einen Weihwedel zu halten und Stunden lang zu Vieren vor einem Chorpult zu stehen.

Die Zöglinge machten alle klösterlichen Gebräuche mit, außer der strengen Observanz. So manche junge Frau hat sich nach ihrer Rückkehr in die Welt und nachdem sie schon Jahre lang verheiratet war, noch nicht abgewöhnen können, wenn Jemand an ihre Thür klopfte, »Immerdar!« zu rufen. Wie die Nonnen, so sprachen auch die Schülerinnen mit ihrer Mutter nur im Sprechzimmer, und diese bekam nicht die Erlaubniß ihre Tochter zu umarmen. Wie strenge in dieser Hinsicht verfahren wurde, beweist folgender Vorfall. Eines Tages bekam eine Schülerin Besuch von ihrer Mutter und ihrer dreijährigen Schwester. Die Schülerin weinte und bat flehentlich, man möge ihr gestatten ihr Schwesterchen zu umarmen. »Unmöglich!« lautete der Bescheid. Nun bat sie, man möchte der Kleinen erlauben ihr Händchen zwischen die Gitterstäbe hindurch zu stecken, damit sie ihr diese wenigstens küssen könnte. Auch diese Bitte wurde abgeschlagen und erregte sogar Aergerniß!

IV.
Erholungen

Trotzdem haben die Kinder angenehme, freundliche Erinnerungen in dem ernsten Hause hinterlassen. Waren doch die Zwischenstunden, wo die muntere Jugend sich in dem Klosterhof tummelte, auch eine Erholungspause, eine Abwechslung in dem öden Dasein der Erwachsenen. Vollends aber erlangten gewisse naive und komische Bemerkungen der kleinen Mädchen die Wichtigkeit historischer Ereignisse, und wurden eifrig besprochen und belacht. In dem Erziehungsinstitut dieses düstern Klosters war es, wo u. a. ein fünfjähriges Mädchen folgende, für sie erfreuliche Thatsache konstatirte: »Denken Sie, hochehrwürdige Mutter, eine Große hat mir eben gesagt, ich brauche blos noch neun Jahr und zehn Monat hier zu bleiben. Wie mich das freut!«

Hier fand eines Tages auch folgender denkwürdiger Dialog statt:

Nonne: »Warum weinen Sie mein Kind?«

Die Kleine, (sechs Jahre alt:) »Ich habe zu Alix gesagt, ich weiß die Geschichte von Frankreich.«

Alix (die Große, neun Jahre alt:) »Nein, sie weiß sie nicht.«

Nonne: »Warum denn?«

Alix: »Sie hat gesagt, ich soll das Buch aufschlagen, wo ich will, und sie würde auf die erste Frage antworten, die ich finden würde.«

»Nun, und . .?«

»Sie hat nicht antworten können.«

»Was haben Sie denn gefragt?«

»Ich habe ihr die erste Frage vorgelegt, die ich gefunden habe: Was geschah darauf?«

Hier wurde auch eine tiefsinnige Bemerkung über den leckermäuligen Papagei einer Dame des Instituts gemacht:

»Er ist allerliebst! Er frißt den Belag und läßt das Brod liegen, wie ein Mensch.«

Auf einer Fliese las man einst in diesem Kloster eine Beichte, die eine siebenjährige Sünderin vorher aufgeschrieben hatte, um sie nicht zu vergessen:

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich der Habsucht an.«

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich des Ehebruchs an.«

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich an, meine Augen zu den Herren erhoben zu haben.«

Auf der Rasenbank eines Gartens in diesem Kloster erzählte ein sechsjähriges Kind einigen vier bis fünfjährigen Kameradinnen folgendes Märchen:

»Es waren einmal drei Hähnchen, die hatten ein Land, da waren viele Blumen. Sie haben die Blumen gepflückt und sie in ihre Taschen gesteckt. Dann haben sie die Blätter abgepflückt und sie in ihre Spielsachen gesteckt. In dem Land war auch ein Wolf und ein großer Wald, und der Wolf war in dem Wald, und hat die Hähnchen aufgefressen.«

Eine nicht minder schöne Erzählung lautet:

»Es kam mal ein Stockhieb, den hat Hanswurst der Katze gegeben. Er hat ihr nicht gefallen. Er hat ihr weh gethan. Da hat eine Dame den Hanswurst ins Gefängniß gesteckt.«

Hier that auch ein elternloses Kind, ein unglücklicher Findling, den das Kloster aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte, einen Ausspruch, der das Herz mit Weh erfüllt. Als sie ihre Spielgefährtinnen von ihren Müttern sprechen hörte, meinte sie:

»Wie ich geboren wurde, ist meine Mutter nicht da gewesen!«

Der Speisesaal, ein großer länglicher rechteckiger Raum, zu dem das Tageslicht nur von einem mit dem Garten auf gleichem Boden liegenden Kreuzgang gelangte, war voller Ungeziefer, das ihm von allen Seiten zuströmte. Jede Ecke dieses Saales wurde von dem Zöglingen nach den Insekten benannt, die sich daselbst vorzugsweise aufhielten. Es gab eine Spinnen-, eine Raupen-, eine Asseln- und eine Grillenecke. Die Grillenecke war die beliebteste, weil sie der Küche zunächst lag und man dort weniger fror. Nach diesen Ecken nannte sich auch die Zöglinge, die bei der Mahlzeit ihre Plätze da hatten. Eines Tages sah der Erzbischof bei einer Visitation ein sehr hübsches, blondes Kind und fragte eine kleine Brünette, die neben ihm stand:

»Wer ist die Kleine?«

»Eine Spinne!«

»I was! Und die da?«

»Das ist eine Grille.«

»Und Die?«

»Eine Raupe.«

»Wirklich! Und Sie?«

»Ich bin ein Assel.«

Dergleichen Eigenthümlichkeiten hat jedes Erziehungsinstitut aufzuweisen. So gab es zu Anfang dieses Jahrhunderts eine solches in Ecouen, wo die Schülerinnen bei Prozessionen, je nach ihrer Rolle, die Jungfrauen, die Blumenmädchen, die Baldachine, die Weihrauchfässer genannt wurden. Die vier Jungfrauen gingen an der Spitze des Zuges, und man hörte am Morgen eines solchen Tages im Schlafzimmer ganz gewöhnlich die Frage: »Wer ist Jungfrau?«

Und eines Tages sagte eine siebenjährige zu einer Großen, sechzehnjährigen:

»Du bist Jungfrau, ich nicht.«

V.
Zerstreuungen

Ueber der Thür des Speisesaals stand mit großen Buchstaben ein Gebet angeschrieben, welches solche Kraft besaß, daß, wer es hersagte, geradeswegs in den Himmel kommen konnte.

Ein großes, an der Mauer befestigtes Krucifix vervollständigte die Dekoration des Speisesaals, dessen einzige Thür, wie schon erwähnt, nach dem Garten ging. Zwei schmale Tische mit je zwei Holzbänken bildeten zwei lange Parallelen von dem einen bis zum anderen Ende des Saales. Die Wände waren weiß, die Tische schwarz, andere als diese Trauerfarben kommen ja in Klöstern kaum zur Verwendung. Bei Tische ging es sehr frugal zu. Ein aus Fleisch und Gemüse bestehendes Gericht oder gesalzener Fisch galten schon als Luxus, der auch nur den Zöglingen als eine Ausnahme zugestanden wurde. Die kleinen Mädchen mußten schweigen und wurden von einer Nonne überwacht, die nicht einmal einer Fliege erlaubte, laut zu summen, sondern, indem sie ein Buch geräuschvoll zuklappte, dergleichen ungezogene Störenfriede zur Ruhe verwies. Das schweigsame Mahl wurde gewürzt mit Vorlesungen aus dem Leben der Heiligen, wozu eine »Große« jede Woche kommandirt wurde. Sie saß zu Füßen eines Krucifixes auf einem Katheder. Auf den ungedeckten Tischen standen hier und da glasirte Näpfe, in denen die Zöglinge ihr Geschirr und ihren Becher selber waschen mußten. Sie warfen aber auch bisweilen Speisen hinein, die sie nicht essen mochten, ungares Fleisch, faule Fische u. s. w., aber hierauf stand Strafe.

Brach eine Schülerin das Stillschweigen, so mußte sie ein Kreuz mit der Zunge machen, d. h. den Staub an der Erde auflecken. Der Staub, das Ende aller irdischen Freuden, diente auch hier dazu, jugendlichem Muthwillen eine Grenze zu setzen.

In dem Kloster befand sich ein Buch, von dem nur ein einziges, gedrucktes Exemplar existirt und das zu lesen verboten ist, nämlich die Regel des heiligen Benedikt, ein Geheimniß, in das Laien nicht eingeweiht werden dürfen.

Dieses Buch stahlen eines Tages die Zöglinge auf einige Augenblicke und lasen darin mit großer Neugierde, wobei sie fortwährend, aus Furcht ertappt zu werden, ihre sträfliche Lektüre unterbrachen. Das Vergnügen aber, das ihnen ihre Wagemuth einbrachte, war ein sehr mäßiges. Ein paar unverständliche Abschnitte, die von den Sünden der Knaben handelten, bildeten noch das »Interessanteste.«

Eine Allee des Gartens, wo sie spielten, war mit armseligen Obstbäumen eingefaßt. Hier glückte es ihnen bisweilen, der strengen Aufsicht und den harten Strafbestimmungen zum Trotz, wenn der Wind die Bäume geschüttelt hatte, einen unreifen Apfel, eine angefaulte Aprikose, eine wurmstichige Birne aufzulesen. Wie man es alsdann anfing, um zum Genuß dieser süßen, verbotenen Frucht zu gelangen, geht aus dem Briefe einer ehemaligen Schülerin des Klosters, der jetzigen Herzogin von — hervor: »Die Birne oder den Apfel versteckt man, wie man kann. Wenn man vor dem Abendessen in das Schlafzimmer hinaufgeht, um den Schleier auf das Bett zu legen, steckt man seinen Raub unter das Kopfkissen und verspeist ihn nachher im Bett, und geht das nicht an, so ißt man die Frucht auf dem Abtritt.« Dies galt für eins der herrlichsten Vergnügen.

Eines Tages, als wieder der Erzbischof das Kloster besuchte, wettete ein junges Mädchen aus einer der vornehmsten Familien des Landes, ein Fräulein Bouchard, sie würde den Erzbischof bitten, einen Tag frei zu geben. Das war in einem so streng gehaltenen Institut eine ungeheure Kühnheit und Niemand glaubte, daß Fräulein Bouchard Ernst damit machen würde. Aber als der Erzbischof an den Zöglingen vorüberschritt, trat zum allgemeinen Schrecken das kecke Mädchen aus ihrer Reihe hervor und sagte: »Ew. Erzbischöfliche Gnaden, geben Sie uns einen Tag frei!« Fräulein Bouchard war ein allerliebstes Kind mit rosigen Backen und der Erzbischof antwortete lächelnd: »Gewiß, mein liebes Kind. Sie sollen sogar drei Tage frei haben.« Da der Erzbischof gesprochen hatte, mußte die Priorin wohl oder übel schweigen.

Die Umgebung des Klosters war eine überaus stille. Doch drang in dem einen Jahr der Klang einer Flöte hinein, ein Ereigniß, dessen sich die damaligen Zöglinge noch heute erinnern.

Die Flöte spielte zwei bis drei Mal täglich, und immer dieselbe Melodie, eine jetzt veraltete: »Meine Zetulbe, komm und herrsche über mein Herz!« Diesen Klängen lauschten die jungen Mädchen Stunden lang, die Religiösen warm entsetzt, denn alle Gehirnchen waren in Aufruhr, und es regnete Strafen. Mehrere Monate hindurch waren sämtliche Fräulein des Instituts in den unbekannten Musiker verliebt. Jede wünschte, sie wäre Zetulbe. Sie hätten, wer weiß was, gegeben, hätten alles Mögliche riskirt, um nur eine Sekunde lang den »jungen Mann« zu Gesicht zu bekommen, der so schön die Flöte – und mit ihren Herzen – spielte. Manche schlichen sich zu einer nur von dem Gesinde benutzten Nebenthür hinaus und stiegen bis ins dritte Stockwerk empor. Aber umsonst. Eine steckte den Arm durch ein Gitter und schwenkte ihr weißes Taschentuch. Zwei waren noch dreister. Sie kletterten auf ein Dach, und hatten endlich das Glück den »jungen Mann« in Gestalt eines blinden, alten, ruinirten Edelmanns zu entdecken, der in einer Dachstube aus purer Langerweile die Flöte blies.

VI.
Das kleine Kloster

Auf dem Grundstück in der Rue Picpus standen drei, von einander gesonderte Gebäude, das große Kloster, das die Benediktinerinnen bewohnten, das Pensionat und das sogenannte kleine Kloster. Hier wohnten Angehörige der verschiedensten Orden, deren Klöster durch die Revolution aufgehoben worden waren.

Schon unter Napoleon war allen diesen armen Frauen die Erlaubnis ertheilt worden, sich hierher unter die Fittiche der Benediktinerinnen zu flüchten. Die Regierung zahlte ihnen eine kleine Pension, und das Kloster Picpus gab ihnen eine Wohnung. Hier sah man alle möglichen Ordenstrachten, und die Zöglinge des Instituts betrachteten es als eine Erholung, wenn ihnen die Erlaubniß gegeben wurde, diese Religiösen zu besuchen.

Unter den Nonnen, die dort eine Zuflucht gefunden, war auch eine von dem Orden der heil. Aura, die einzige ihrer Art, die damals noch existirte. Zu arm, um den prächtigen Habit ihres Ordens, ein weißes Kleid mit scharlachrotem Skapulier, zu tragen, zog das fromme Fräulein es einer Modellpuppe über, die sie Besucherinnen wohlgefällig zeigte und bei ihrem Tode dem Kloster vermachte. 1824 war also von dem Orden der heil. Aura noch eine Nonne, heutzutage ist nur noch eine Puppe übrig.

Außer diesen Religiösen hatten noch einige vornehme Laiendamen von der Priorin die Erlaubniß erhalten, sich in das kleine Kloster zurückzuziehen, darunter Madame de Beaufort d'Hautpoul und die Frau Marquise Dufresne. Eine von diesen Damen war bei den Zöglingen des Pensionats wegen des großen Lärms berühmt, den sie machte, wenn sie sich die Nase schnaubte, und erhielt davon einen Spitznamen. Um das Jahr 1820 oder 1821 bat Frau de Genlis, die zu jener Zeit eine unbedeutende Zeitschrift, l'Intrépide, redigirte, um Aufnahme in das kleine Kloster. Diese von dem Herzog von Orleans unterstützte Bitte verursachte einen gewaltigen Aufruhr, die Nonnen zitterten. Hatte doch Frau von Genlis Romane geschrieben! Aber sie erklärte, sie verabscheue noch mehr, als Andere es thun könnten, diese sündhaften Werke, und ihre Frömmigkeit hatte damals eine solche Intensität erreicht, daß sie von einer Abweisung nichts hören wollte. Mit Hülfe Gottes – und des Prinzen – setzte sie ihren Willen durch, verließ aber das Kloster schon nach sechs bis acht Monaten, weil der Garten keinen Schatten hätte.

VII.
Einige Silhouetten

In den Jahren 1819 bis 1825 stand dem Kloster die Priorin Fräulein de Blemeur vor, mit ihrem Klosternamen Mutter Innocentia. Sie war ungefähr sechzig Jahr alt, klein und dick von Gestalt, sang wie eine »gesprungene Glocke« laut dem schon citirten Briefe und war, zum Unterschied von allen andern Nonnen, von liebenswürdigem, heiterem Wesen und deshalb allgemein beliebt.

Mutter Innocentia glich ihrer Ahne, Marguerite de Blemeur, der Verfasserin des »Lebens der Heiligen von dem Orden des heil. Benedikt,« d. h. sie galt als eine große Gelehrte, die Geschichte und alte Sprachen aufs Gründlichste studirt hatte.

Die Unterpriorin war eine alte, halb erblindete spanische Nonne, die Mutter Cineres.

Mutter Sancta-Mechtilda, die den Solo- und Chorgesang dirigirte, nahm dazu mit Vorliebe Pensionärinnen, deren Stimmen eine Art vollständiger Tonleiter bildeten, also sieben Mädchen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren. Diese reihte sie neben einander auf nach der Größe wie Orgelpfeifen.

Alle diese Nonnen waren sehr liebreich gegen die Mädchen und nur gegen sich selber streng. Nur im Pensionat wurde geheizt, und die Kost war gut, im Vergleich mit der des Klosters. Dazu eine liebevolle Behandlung. Freilich, wenn ein Mädchen einer Nonne begegnete und sie anredete, antwortete diese nicht.

Die Regel des Stillschweigens hatte die Wirkung hervorgebracht, daß in dem ganzen Kloster allen menschlichen Wesen das Wort entzogen und unbelebten Gegenständen gegeben war. Bald redete die Glocke in der Kirche, bald die Glocke des Gärtners. Außerdem verkündete eine sehr helle Klingel, die im ganzen Hause gehört werden konnte, vermittelst mannichfacher Kombinationen, welche eine Art akustischen Telegraphen darstellen, die Thätigkeit des Klosterlebens und berief im Nothfall diese oder jene Bewohnerin des Hauses nach dem Sprechzimmer. Jeder Insassin des Klosters und jedem Dinge entsprach ein bestimmtes Signal. Ein Schlag und wieder einer bezog sich auf die Priorin. Klingelte es fünf und dann sechs Mal, so war damit gemeint, daß der Unterricht wieder anfing. Neunzehn Schläge kündeten ein großes Ereigniß an, nämlich die Ankunft des Erzbischofs, vor dem allein das große Klausurthor um seine Angeln gedreht wurde.

Außer dem Erzbischof und dem Gärtner bekamen die Pensionärinnen noch zwei andere Männer zu sehen, den Almosenpfleger Abt Banès, einen häßlichen Alten, den sie durch ein Gitter im Chor betrachten durften, und den Zeichenlehrer Ansiaux, einen »abscheulichen alten Buckligen.« Wie man sieht, lauter auserlesene Vertreter des männlichen Geschlechts.

VIII.
Post corda lapides

Nachdem wir die Bewohner des Klosters geschildert haben, ist es nicht überflüssig, seine materielle Gestalt mit einigen Worten anzugeben.

Das Kloster Petit-Picpus-Saint-Antoine füllte fast vollständig das große Trapez aus, das von der Rue Polonceau, der Rue Droit-Mur, der Rue Picpus und der ehemaligen, damals schon dem öffentlichen Verkehr entzogenen Rue Aumarais gebildet wird. Das Hauptgebäude, das aus mehreren verschiedenartigen Häusern bestand, lag an der Rue Droit-Mur zwischen der Rue Picpus und der Rue Polonceau, das kleinere an der Rue Picpus, der es eine hohe, Fassade strengen Stils zukehrte. Es endete mit einem Thorweg Nr. 62; in der Mitte befand sich ein altes, bestaubtes Thor, das sich nur des Sonntags auf eine oder zwei Stunden öffnete und außerdem nur noch, wenn der Sarg einer Nonne aus dem Kloster hinausgetragen wurde. Es war der für das Publikum bestimmte Eingang zur Kirche. An der Ecke der Rue Picpus und der Rue Droit-Mur, wo die beiden Gebäude ein Knie bildeten, war die Speisekammer. Außerdem befanden sich in diesem Nebenbau die Küchen, der Speisesaal nebst dem Kreuzgang und die Kirche. Zwischen dem Thor Nr. 62 und der Ecke der Rue Aumarais lag das von außen nicht sichtbare Pensionat. In dem Hauptgebäude wohnten die Ordensangehörigen und die Novizen. Den Rest des Trapezes füllte der Garten aus, der tiefer lag als die Rue Polonceau, so daß die Mauern von innen aus höher waren, als an der Straße. In der Mitte des leicht gewölbten Gartens stand auf einer Erderhöhung eine konische, spitze Tanne, von der, wie von einem Schildnabel, vier große Alleen ausgingen, sowie acht kleine, die, je zwei, zwischen den großen lagen. Diese Alleen waren wegen der Unregelmäßigkeit der Gartenmauern von sehr verschiedener Länge und mit Johannisbeesträuchern eingefaßt. Im Hintergrund zog sich, von den Ruinen des alten Klosters, das die Ecke der Rue Droit-Mur einnahm, bis zu dem kleinen, an der Ecke der Rue Aumarais gelegnen Kloster, eine Pappelallee hin. Vor dem kleinen Kloster lag der sogenannte kleine Garten. Dazu ein Hof, allerhand Ecken, wo die verschiedenen Gebäulichkeiten innen zusammenstießen, Gefängnismauern und eine Aussicht auf die lange Reihe schwarzer Dächer an der gegenüberliegenden Seite der Rue Polonceau; so ergiebt sich ein vollständiges Gesamtbild des Klosters Petit Picpus, wie es um das Jahr 1825 sich dem Auge des Beschauers darbot.

IX.
Ein Jahrhundert im Kloster

Da wir uns einmal auf die Schilderung von Einzelheiten eingelassen haben, bitten wir den Leser, uns noch eine Abschweifung zu gestatten, die mit unserer Erzählung in keiner Beziehung steht, aber insofern charakteristisch und nützlich ist, als sie zeigt, daß auch das Kloster seine Originale hat.

In dem kleinen Kloster wohnte eine Hundertjährige, die aus der Abtei Fontevrault stammte. Vor der Revolution hatte sie in der Welt gelebt. Sie sprach oft von Herrn de Miromesnil, Siegelbewahrer unter Ludwig XVI., und einer Präsidentin Duplat, mit der sie freundschaftlich verkehrt hatte. Ihre Eitelkeit gefiel sich sehr darin, die Rede auf diese beiden Namen zu bringen.

Oder sie erzählte Geschichten aus der Champagne und Burgund, namentlich die von der Darreichung der vier Weine. Wenn nämlich eine hohe Persönlichkeit, oder ihren Einzug in eine Stadt hielt, begrüßten sie die Behörden der Stadt und überreichten ihm in vier Trinkgefäßen vier verschiedene Weine. Auf dem ersten stand geschrieben: Affenwein; auf dem zweiten: Löwenwein; auf dem dritten: Schafwein; auf dem vierten: Schweinewein. Diese vier Inschriften bezeichneten vier verschiedene Stadien der Trunkenheit: Zu Anfang eines Rausches ist der Mensch lustig, dann händelsüchtig, dann stumpf und endlich gemein.

Sie hielt in einem Schrank einen geheimnißvollen Gegenstand verschlossen, den sie sehr hoch schätzte, was ihr die Regel von Fontevrault nicht untersagte, und zeigte Niemandem diesen Schatz. Sie schloß sich ein, was die Regel von Fontevrault ihr erlaubte, um sich an seinem Anblick zu weiden und machte den Schrank schleunigst zu, wenn sie Tritte im Flur hörte. Brachte man das Gespräch auf dies Thema, so schwieg sie, so redselig sie auch sonst war. Alle Neugierde, alle Zähigkeit scheiterte an ihrem hartnäckigen Widerstande. Natürlich machte Alles, was in dem Kloster an Müßiggang und Langeweile litt, seine Glossen über die sonderbare Geheimthuerei der alten Dame, handelte es sich um ein religiöses Buch, einen kostbaren Rosenkranz, eine echte Reliquie? Kurz, man erschöpfte sich in Vermuthungen. Als die Alte starb, eilte man, vielleicht schneller als es sich schickte, nach ihrem Schrank und schloß ihn auf. Das geheimnißvolle Stück war, wie ein Hostienteller, dreifach eingewickelt; es war aber eine Schüssel aus Faenza-Porzellan mit einem derb komischen Bilde: Liebesgötter, verfolgt von Apothekergesellen, die mit ungeheuren Klystieren bewaffnet sind. Einer der Liebesgötter ist schon aufgespießt und bemüht sich vergeblich davonzufliegen; der böse Scherzbold, der ihn eingefangen hat, läßt ihn nicht los und freut sich diebisch über seinen Sieg. Moral: Der Sieg der Kolik über die Liebe. Diese sehr merkwürdige Schüssel, die vielleicht die Ehre gehabt hat, Molière eine Idee an die Hand zu geben, existirte noch im September 1845: sie stand damals bei einem Trödler auf dem Boulevard Beaumarchais zum Verkauf aus.

X.
Der Ursprung der beständigen Anbetung

Der Orden von der ewigen Anbetung ist nicht sehr alten Ursprungs. Im Jahre 1649 wurde in Paris binnen wenigen Tagen das heilige Sakrament zwei Mal entweiht, ein abscheulicher Frevel, der die ganze Stadt in Aufregung versetzte. Der Prior und Großvikar der Kirche Saint-Germain-des-Prés veranstaltete mit seiner ganzen Geistlichkeit eine Prozession, bei der der Nuntius des Papstes das Hochamt hielt. Aber diese Sühne genügte zwei wackren Frauen, der Madame Courtin, Marquise de Boucs und der Gräfin de Châteauvieux, nicht. Die dem hochehrwürdigsten Gut angethane Beschimpfung ließ diesen frommen Seelen keine Ruhe. Sie schenkten der Mutter Catherine de Bar bedeutende Gelder behufs Gründung eines Klosters vom Orden des heil. Benedikt. Die erste Ermächtigung zu dieser Stiftung ertheilte der Mutter Catherine de Bar Herr de Metz, Abt von Saint-Germain, »unter der Bedingung, daß keine Nonne aufgenommen werden solle, die nicht ein Einkommen von dreihundert Franken, was also ein Kapital von sechstausend Franken repräsentire, mitbrächte.« Nach dem Abt von Saint-Germain ertheilte der König seinen Freibrief und 1654 wurden beide Urkunden von der Rechnungskammer und dem Parlament bestätigt.

XI.
Das Ende des Klosters Petit-Picpus

Seit dem Anfang der Restauration ging es mit dem Kloster Petit-Picpus bergab, wie überhaupt mit dem ganzen Orden und allen anderen religiösen Genossenschaften. Die beschauliche Betrachtung ist, wie das Gebet, ein Bedürfnis der Menschheit; aber sie erfuhr wie Alles, dessen sich die Revolution bemächtigt hat, eine Umwandlung und wurde aus einer dem Fortschritt feindlichen Macht eine ihm förderliche.

Das Ordenshaus in der Rue Picpus entvölkerte sich rasch. 1840 war sowohl das kleine Kloster, als auch das Pensionat nicht mehr vorhanden.

Die Regel der beständigen Anbetung ist von abschreckender Strenge und dies ist der Grund, warum seit 1845 wohl noch Conversschwestern rekrutirt wurden, keine neuen Chordamen aber mehr eintraten. Um das Jahr 1823 zählte das Kloster etwa hundert Nonnen; fünfundzwanzig Jahre später findet man deren nur noch achtundzwanzig. 1847 stand dem Hause eine junge Priorin vor, ein Zeichen, daß weniger Auswahl war. Sie war keine vierzig Jahre alt.

Wir möchten an diesem merkwürdigen und unbekannten Hause nicht vorübergehen, ohne den Lesern sein Inneres zu zeigen. – Wir haben uns mit alten Bräuchen und Anschauungen vertraut gemacht, die gegenwärtig neu erscheinen. Wir haben Sonderbarkeiten ausführlich besprochen, aber ohne den ihnen gebührenden Respekt aus dem Auge zu lassen. Halten wir uns doch grundsätzlich gleich fern von dem Hosiannah Joseph de Maistre's, der den Henker verherrlicht, und von dem Hohngrinsen Voltaire's, der das Krucifix verspottet.

Das neunzehnte Jahrhundert ist eine Zeit der Krisis für die Religion, Man verlernt heutzutage manche Dinge und thut gut daran, wofern man an Stelle des Verlernten Neues zulernt. Das Herz des Menschen kann nicht leer bleiben. Alte Häuser müssen abgebrochen, aber durch neue ersetzt werden.

Mittlerweile wollen wir aber das Gewesene prüfen. Wir müssen es kennen lernen, wäre es auch nur, um es zu meiden. Legen sich doch Nachahmungen der Vergangenheit oft falsche Namen bei und geben sich für die Zukunft aus! Hüten wir uns vor derartigen Fallstricken! Die Vergangenheit hat ein Antlitz, dessen Name Aberglaube ist: Wir müssen es brandmarken. Es trägt eine Maske, die Heuchelei, die wir ihm entreißen müssen.

Was die Klöster betrifft, so ist die Frage nach ihrer Berechtigung eine verwickelte. Die Civilisation verurtheilt sie; das Prinzip der Freiheit erheischt, daß sie geduldet werden.


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