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Zwölftes Kapitel. Das Werk einer Sommernacht

Die schwere tiefe Dunkelheit wurde an einer Stelle unterbrochen, nur an einer kleinen Stelle, durch ein winziges weißglühendes Licht, das nur einen tellergroßen Schein verbreitete. Dieses blendende Atom weißen Lichtes beleuchtete eine kaum sich bewegende Hand, eine genau abwägende Feder auf einem Kreis schneeigen Papiers; auf der andern Seite lag etwas für den ersten Griff bereit, das Licht sprühte auf den vernickelten Stellen auf. Es war Raffles bei seiner neuesten Teufelei. Er hatte mich nicht gehört und konnte mich nicht sehen; hob auch nicht einmal den Blick von seiner Arbeit. Manchmal beugte sich der Kopf tiefer, und ich sah auf seinem Antlitz angestrengteste Aufmerksamkeit. Tiefe Falten zogen sich über die Stirn, die Lippen waren leicht eingezogen und um die Winkel spielte das ruhige, fast verächtliche Lächeln, mit dem er wohl einen bösen Ball beim Kricket warf, oder auch ein Loch in eine Tür bohrte.

Einige Augenblicke stand ich wie gebannt, ehe ich mich näher schlich, um ihm durch ein Flüsterwort meine Gegenwart zu verraten. Diesmal aber hörte er meinen Tritt, riß die elektrische Taschenlampe und den glitzernden Revolver auf und richtete den einen im Schein der andern auf mich.

»A. J. ...« stöhnte ich.

»Bunny!« rief er zugleich erstaunt und ärgerlich. »Was in aller Welt soll das bedeuten?«

»Du bist in Gefahr,« flüsterte ich. »Ich kam, um dich zu warnen.«

»Gefahr? Ich bin immer in Gefahr. Aber woher wußtest du, wo ich zu finden war, und wie kommst du hierher?«

»Das erzähle ich dir ein andermal. Du entsinnst dich der beiden Kerle, die dich neulich verfolgten?«

»Selbstverständlich.«

»Sie warten unten auf dich in diesem Augenblick.«

»So laß sie warten,« sagte er, setzte die Lampe wieder auf den Tisch, legte den Revolver hin und nahm die Feder wieder auf.

»Das sind Detektivs,« sagte ich nachdrücklich.

»Wirklich, Bunny?«

»Was sollten sie sonst sein?«

»Ja, was wohl,« murmelte Raffles, als er sich mit geneigtem Kopf und vorsichtiger Feder wieder an die Arbeit machte.

»Am Freitag bist du ihnen entschlüpft, aber sie müssen wissen, was du vorhast, und seitdem hier auf der Lauer liegen, wenigstens einer von ihnen. Ich glaube, daß Dan Levy sie auf deine Spur gehetzt hat, und die Fabel mit dem Brief sollte dich nur in diese Falle locken, damit du darin gefangen würdest. Er braucht die Kopie sicher nicht; halt dich nur um Gottes willen jetzt nicht damit auf, sie fertig zu stellen.«

»Ich bin nicht deiner Meinung,« sagte Raffles, ohne aufzublicken, »und ich tue nichts halb. Deine braven Detektivs müssen sich gedulden, Bunny, und du auch.« Er hielt seine Uhr in den Lichtschein. »In ungefähr zwanzig Minuten sind wir wirklich in Gefahr, aber selbst in unsern Betten könnten wir während der nächsten zehn nicht sicherer sein als hier. Deshalb störe mich nicht weiter, bis ich fertig bin, oder mach, daß du da wieder hinauskommst, wo du hereingekommen bist.«

Ich wandte mich von Raffles und seinem Licht ab und tappte hinaus auf den Korridor. In meinen Adern kochte das Blut. Ich hatte mir den Weg an seine Seite durch Schwierigkeiten erkämpft, die selbst er schwer überwunden hätte, wie wohl ein Mann mit einem Seil von einem Wrack ans Land schwimmt unter gleicher Lebensgefahr und zu dem gleichen menschenfreundlichen Zweck. Und kein freundliches, kein dankbares Wort, nur »mach, daß du da wieder hinauskommst, wo du hereingekommen bist!« Fast hatte ich Lust, wirklich zu gehen; ja, als ich da auf dem Korridor stand und horchte, hätte mein beleidigtes Gemüt wohl gar die Bluthunde von der Straße mit einem Aufgebot von Polizisten hinter sich willkommen geheißen.

Trotz meines wild kochenden Blutes rann ein kalter Schauer durch mein Gebein, als ich im selben schrecklichen Augenblick einen warmen Hauch auf meiner Wange und eine Hand auf meiner Schulter verspürte.

»Raffles!« rief ich mit versagender Stimme.

»Still, Bunny!« hauchte er mir lachend ins Ohr. »Wußtest du nicht, wer es war?«

»Ich habe dich nicht gehört, weshalb schleichst du dich so an mich heran?«

»Damit du siehst, Bunny, daß du das nicht allein kannst. Aber ich gestehe, daß mir recht geschehen wäre, wenn dein Schrei die ganze Straße alarmiert hätte.«

»Bist du da drinnen fertig?« fragte ich mürrisch.

»Jawohl.«

»Dann eil dich lieber, damit alles wieder so aussieht, wie du es fandest.«

»Ist alles geschehen, Bunny. Ein rotes Bändchen umschlingt eine so vollkommene Fälschung, daß sie sich die Zähne daran ausbeißen sollen, um zu beweisen, daß es eine ist; der Geldschrank ist geschlossen und jedes Papier an seinem Platz.«

»Ich habe keinen Ton gehört.«

»Ich machte kein Geräusch,« sagte Raffles, schob seinen Arm in den meinigen und führte mich die Treppe hinauf. »Du hast meinen Eifer neu aufgestachelt, alter Junge.«

Ich antwortete nicht, bis wir das oberste Stockwerk erreicht hatten; dann aber bat ich Raffles mit ganz leisem Flüsterton, still zu sein.

»Warum, Bunny? Glaubst du denn, daß Leute in der Wohnung sind?«

»Ja! Sind keine da?« rief ich fast laut vor Erleichterung.

»Du bist aber ein Schmeichler, Bunny,« lachte Raffles, als wir uns hineinstahlen. »Hier haust die große Bulldogge, die das Haus bewacht. Wenn der zu Hause wäre, wäre es uns nicht gelungen, hereinzukommen; einer von uns hätte daran glauben müssen, und das wäre wirklich schade gewesen. Ach, Mieze, arme kleine Mieze.«

Wir hatten die Küche erreicht, und die Katze rieb sich schnurrend an Raffles' Bein.

»Aber wie hast du es angestellt, ihn für heute nacht los zu werden?«

»Ich habe mich mit ihm befreundet, als ich neulich meinen Besuch hier machte; habe ich dir nicht erzählt, daß ich eine Verabredung hatte mit diesem aufgeblasenen Haupt der berühmten Firma, als ich so früh von Lords fortging? Ich werde die unvergleichliche Liste seiner Klienten vergrößern, doch das erzähle ich dir später. Heute nachmittag hatte ich noch ein Gespräch mit ihm und fragte ihn so nebenher, ob er zuweilen ins Theater gehe, denn er hatte sich gerade beklagt, daß er niemals Gelegenheit hätte, zu Lords zu kommen. Ich hatte ihm ein paar Plätze besorgt, schwor aber die heiligsten Eide, daß ich sie gerade geschenkt bekommen hätte und sie nicht verwenden könnte. Du hättest nur sehen sollen, wie unser Held strahlte! Dort also ist er mit seiner Frau, oder war – bis der Vorhang fiel.«

»Gott im Himmel, Raffles, ist das Stück zu Ende?«

»Vor ungefähr zehn Minuten; so lange aber brauchen sie sicher, wenn sie sich nicht einen Wagen nehmen.«

Und Raffles saß behaglich auf dem Küchentisch vor dem Feuer und streichelte die Katze, während dieser schreckliche Wächter sich mit jeder Sekunde mehr näherte.

»Aber bester Bunny, ich möchte mich verbürgen, daß ich hinausgelange, ohne einen Laut zu machen, wenn ich jetzt den Edlen den Schlüssel in das Türschloß stecken hörte. Nach dir, Bunny.«

Ich kletterte hinauf mit zitternden Knieen, während Raffles das Seil stramm zog, um es mir leichter zu machen. Wieder stand ich unter dem schimmernden Sternenhimmel und unter dem Netz der Telephondrähte und lehnte mich gegen einen Schornstein, um auf Raffles zu warten. Aber ehe ich ihn sah oder bei seinen unnötig geräuschlosen Bewegungen etwas von ihm hörte, vernahm ich etwas, das mir das Blut gerinnen machte.

Es war nicht das Geräusch eines umgedrehten Schlüssels, sondern etwas viel Schlimmeres. Ich hörte Stimmen auf dem Dach und sich nähernde Tritte wohl in dem nächsten Dächertal.

Ich hockte neben dem Dachfenster nieder, als Raffles mir nachgeklettert kam.

»Sie sind hier oben hinter uns her,« raunte ich ihm zu. »Auf dem nächsten Dach habe ich sie gehört.«

Erst griffen Raffles' Hände nach der Fensterbrüstung, dann zog er die Kniee zwischen den Händen herauf und kam so auf allen vieren in die schmale bleierne Dachrinne, die zwischen den schräg ansteigenden Dachpfannen lag. An der gegenüberliegenden Dachschrägung, ein oder zwei Meter weiter hin, erhob sich ein mächtiges Mauerstück, ein vielköpfiges Ungetüm, das all die Schornsteine des Hauses vereinte. Ohne ein Wort riß Raffles mich hinter dieses häßliche Gebilde, als die murmelnden Stimmen näher und deutlicher klangen. Es waren dieselben Stimmen, die ich schon früher belauscht hatte, aber der Ton schien mir verändert. Man hörte sowohl dem Ton, wie den Worten die Uneinigkeit an.

»Und nun sind wir doch zu weit gegangen,« murrte der, der unten zuletzt eingetroffen war.

»Das sind wir schon in dem Augenblick,« flüsterte der andre, »als wir ihnen nachgestiegen sind. Wir hätten bleiben sollen, wo wir waren.«

»Wenn der andre vorfährt und hineingeht, ohne eine Spur zu hinterlassen?«

Raffles nickte mir zu, und jetzt sah ich ein, was ich verbrochen hatte. Der Schwächere der beiden verteidigte noch weiter den Platz auf der terra firma , den er nur widerstrebend aufgegeben hatte; er war für Umkehren, solange es noch Zeit sei. Bruchstücke dieser Unterredung drangen noch zu uns herüber, als ein leiser Fluch des ersten uns belehrte, daß das offene Fenster und das Seil entdeckt sei.

»Wir haben sie,« erklärte er mit Pathos, »wie Mäuse in der Falle.«

»Du vergißt, was wir zu holen haben.«

»Na, erst müssen wir doch wohl den Mann haben, was? Und weißt du denn, ob sein Kumpan nicht hinging, um ihn zu warnen, daß wir da seien? Wenn er das tat, und wir wären da unten geblieben, dann hätte er uns leicht zum Narren halten können.«

»Noch leichter werden sie mit uns da in der Dunkelheit fertig,« erwiderte der andre mit einem hörbaren Schauder. »Sie hören uns bestimmt und legen sich auf die Lauer. In der Dunkelheit sind wir gewaltig im Nachteil.«

»Gut, mach, daß du wegkommst und deine heile Haut rettest. Ich arbeite zehnmal lieber allein als mit solch elendem Feigling zusammen.«

Wie manches Mal standen die Dinge in vergangener Zeit ähnlich zwischen mir und Raffles. Der arme Kerl, der meine Rolle spielte, fühlte sich durch den Angriff auf seinen Mut ebenso verletzt und angespornt, wie ich es oft getan hatte. Wir hörten das Knirschen der Kleider und Knöpfe des ersten, als er sich über die Fensterbrüstung hinunterließ.

»Wie in alter Zeit,« hörten wir ihn murmeln, und gleich darauf flüsterte der Schwächling eifrig hinunter, ob er nachkommen solle.

Für diesen fühlte ich tiefste Sympathie, weil er gegen seinen Willen und sein besseres Gefühl weiter gezogen wurde. Und mein Mitleid mit ihm sollte sich noch vergrößern. Raffles war wie eine Katze aus unserm Versteck geschlichen, und hielt sich an den Ecken des Schornsteins mit ausgestreckten Armen fest. Der arme Kerl, der meine frühere Rolle spielte, hing halb über der Fensteröffnung, mehr drinnen als draußen. Ich bog mich vor, so daß ich sehen konnte, was vorging. Im Sternenschimmer gewahrte ich auf Raffles' Zügen ein höhnisches Lächeln, sah seinen Fuß in der Luft schweben und zugleich den armen Teufel verschwinden. Dann hörte man einen dumpfen Fall, ein doppeltes Aufschlagen und ein solches Schimpfen, daß mir kein Zweifel blieb, daß der zweite Bursche auf den andern hinabgesaust war. An seinen Schimpfworten erkannte ich jedoch, daß er den Sturz überleben würde.

Raffles warf keinen Blick hinunter, sondern zog schnell das Seil heraus, und löste geschwind das andre Ende.

Hals über Kopf ging es nun zurück über die kleinern Täler und die Berge aus Ziegelpfannen. Der Lärm in der Küche erstarb hinter uns, als wir ein oder zwei Dächer hinter uns hatten.

»Hier bin ich herausgekommen,« rief ich Raffles zu, als er an der Stelle vorübereilte; »ich habe die Leiter auf dem Boden geborgen.«

»Keine Zeit für Leitern,« rief Raffles über die Schulter zurück und hielt nicht einen Moment im Vorwärtsschreiten inne. Aber etwas andres ließ plötzlich seinen Fuß zögern, nämlich Geschrei und darauf der schrille Ton einer Konstablerpfeife; sofort hörte man auch laufende Schritte unten auf der Straße.

»Das gilt uns,« stöhnte ich, »laß uns die Leiter nehmen.«

»Zum Teufel mit deiner Leiter,« sagte Raffles rauh. »Das gilt durchaus nicht uns; das ist mein guter Freund, die Bulldogge, die beim Nachhausekommen die beiden Kerls beim Wickel kriegt.«

»Und sie für Diebe hält?«

»Meinetwegen kann sie sie halten, wofür sie will. Unser Weg geht über all die Dächer auf dieser Seite, dann über die am obern Ende und wenn möglich in dem Eckhaus die Treppe hinunter. Dann brauchen wir diese Sackgasse nur zu durchqueren und kommen bei Verulam Buildings heraus.«

»Ist dort nicht auch ein Tor?« fragte ich, als ich hinter ihm dreinstolperte.

»Ja, aber es ist geschlossen, und der Torwächter verläßt um zwölf seinen Posten; es muß schon recht nah an der Zeit sein. Halt, Bunny! Irgendeiner guckt sicherlich aus einem der obern Fenster an der andern Seite der Straße und wir werden gesehen, wenn wir nicht vorsichtig sind.«

Bisher waren wir auf unsern geräuschlosen Gummisohlen rasch über die Dächer aufrecht dahingeeilt. Um uns aber nicht gegen den Himmel abzuzeichnen, krochen wir nun auf allen vieren, was bedeutend mehr Zeit in Anspruch nahm. Inzwischen hatte das Pfeifen aufgehört, aber die Menschenmenge auf der Straße hatte sich erheblich vergrößert.

Mir schien es eine Ewigkeit, doch waren es wohl nur einige Minuten, bis wir an das letzte Dachfenster gelangten. Ich sah etwas aufleuchten, hörte den Ton splitternden Holzes und folgte Raffles auf Knieen und Händen in eine ähnliche Bodenkammer, wie ich sie mittels der Leiter erstiegen hatte. Die elektrische Lampe zeigte uns die Lukentür, die Raffles sofort öffnete, um das Seil hinunter zu lassen, das er im selben Augenblick aber wieder heraufriß, so daß das geschwungene Ende schmerzhaft mein Gesicht traf.

Auf dem obersten Flur war eine Tür geöffnet worden. Wir horchten über der offenen Luke und wußten, daß unten auf der unsichtbaren Schwelle gleichfalls jemand horchend stand; dann sahen wir ihn die Treppe hinablaufen, und ich atmete wie erlöst auf, weil er nicht ein einziges Mal zurücksah. Noch heute sehe ich ihn deutlich vor mir, etwas verkürzt, da wir aus der Vogelperspektive herabsahen, mit einem türkischen Fes, unter dem langes weißes Haar wie eine Krause hervorsah, einem wallenden Schlafrock und nackten Hacken, die aus Pantoffeln herausguckten; sein Gesicht sahen wir nicht, denn er war ein gebeugter alter Mann, der wohl nie den Blick nach oben richtete.

Raffles warf das Seil beiseite, gab mir statt dessen die Hand und ließ mich sanft auf den Flur hinabgleiten, im nächsten Augenblick war er schon an meiner Seite. Der arme Alte mit dem Fes konnte kaum die Treppen hinunter gelangt sein, als wir schon den Abstieg begannen. Durch das Korridorfenster aber sahen wir ihn auf der Straße hin und her laufen, der Menge am andern Ende der Straße zurufen und winken.

»Er hat uns bemerkt, Bunny!« rief Raffles, nachdem er an der Haustür einen Augenblick gehorcht hatte. »Halte dich zu mir wie mein Schatten und tu alles, was ich tue.«

Er stahl sich hinaus, ich ihm nach und zur Linken fort mit Blitzesschnelle; augenscheinlich hatten wir aber doch die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, denn ein fernes Lärmen und Schreien kam hinter uns her. Ich sah mich um und sah die Menge sich in unsrer Richtung in Bewegung setzen, als ich hinter Raffles in einen engen Torweg einbog.

Es schlug Mitternacht, als wir diese Gasse entlang eilten, und der Wächter am andern Ende war gerade im Begriff fortzugehen, wartete aber, um uns hinauszulassen. Als wir uns bereits in Gray's Inn Road befanden, erreichten die ersten der Meute wohl den Torweg, denn wir hörten sie erst wieder, als das Tor hinter uns zuschlug, und ehe es wieder geöffnet wurde, saßen wir glücklich in einem Hansom.

»King's Croß,« schrie Raffles, daß alle auf der Straße es hören mußten; aber bevor wir Clerkenwell Road erreichten, sagte er dem Kutscher, er habe Waterloo gemeint, und sofort ging es rechts herum den Geleisen der elektrischen Bahn nach. Ich war zu betäubt, um Fragen zu stellen, und Raffles gab mir erst eine Erklärung, nachdem er sich eine Sullivan angezündet hatte. »Das Stückchen in verkehrter Richtung läßt uns vielleicht unsern Zug versäumen,« sagte er, als er das erste Rauchwölkchen von sich blies. »Aber es bringt die ganze Meute nach King's Croß, das ist totsicher. Und wenn wir unsern Zug noch erwischen, Bunny, dann haben wir freie Bahn. Hurra! Da ist Blackfriar's Bridge und noch gut fünf Minuten Zeit.«

»Willst du direkt zu Levy mit dem Brief?«

»Ja, deshalb bat ich dich, mich Schlag zwölf an der Uhr zu erwarten.«

»Aber weshalb in Tennisschuhen?« fragte ich, da mir seine Vorschrift in dem Brief und meine Gedanken dabei einfielen.

»Ich meinte, wir könnten die Nacht vielleicht auf dem Fluß beenden,« war Raffles' rätselhafte Antwort, »und das meine ich noch.«

»Und ich dachte, ich solle dir in Gray's Inn zur Hand gehen!«

Raffles lachte.

»Je weniger du denkst, Bunny, desto besser ist es. Heute abend zum Beispiel hast du meinetwegen Wunder verrichtet in selbstloser Kühnheit, und leider war es gänzlich unnötig.«

»Unnötig, dir mitzuteilen, daß die Kerle unten auf dich warteten?«

»Ja, vollkommen, Bunny. Ich sah den einen der beiden und ließ ihn mich sehen. Ich wußte, daß er sofort nach seinem Gefährten schicken würde.«

»Dann verstehe ich weder dich noch sie.«

»Ich wollte den Weg gehen, den wir nun miteinander gemacht haben. Sie hätten mich vom andern Ende der Straße nicht sehen können; auch wäre es ihnen nicht im Traum eingefallen, mir nachzukommen, wenn sie nicht bemerkt hätten, daß du eindrangst, um mich zu warnen. Ich hätte alles genau so hinterlassen, wie ich es gefunden hatte, und die beiden hohlen Schädel hätte ich gerade so genarrt wie neulich vor dem Albany.«

»Vielleicht wäre ihnen doch der Gedanke gekommen,« sagte ich, »und sie hätten dir nachgespürt, wenn du dich nicht hättest sehen lassen.«

»Die nicht,« sagte Raffles, »der eine war von vornherein dagegen; außerdem hatten sie so etwas gar nicht vor.«

»Dich auf der Tat zu ergreifen?«

»Nein; sie sollten mir nur den Brief abnehmen, sobald ich wieder Boden unter den Füßen hatte, das war alles. Zufällig weiß ich es, daß das ihr Auftrag von Freund Levy war.«

»Was, von Levy?«

»Kam dir nie der Gedanke, daß es seine Spione seien, die mich verfolgten?«

»Seine Spione, Raffles?«

»Er hetzte sie auf meine Spur gleich nach unsrer Unterredung am Sonnabendmorgen. Der Auftrag lautete, sie sollten sich des Briefs bemächtigen, sobald er in meinen Händen sei, mich selbst aber zum Teufel jagen, ohne mir etwas zu tun.«

»Wie kannst du das wissen, A. J.?«

»Mein guter Bunny, was meinst du denn, wo ich die letzten Tage verbracht habe? Glaubst du, ich ließe mich mit einem so schlauen Fuchs wie dem alten Shylock ein, ohne ihn zu beobachten und seine Absichten auszukundschaften. Es sollte eigentlich kaum nötig sein, dir zu erzählen, daß ich den Fluß unsicher gemacht habe,« fügte Raffles lächelnd hinzu, »und zwar in einem Kanu und mit einem Seemannsbart. Ich trieb in der Nähe des Gartens umher, als am Freitag abend einer der famosen Aufpasser erschien, um ihm mitzuteilen, ich sei ihnen entwischt. Ich landete und hörte durch das Fenster des Zimmers, in dem wir ihn heute nacht finden werden, die ganze Geschichte mit an. Levy war es, der ihnen den Platz bezeichnete, wo der Einbruch stattfinden sollte, da sie die Spur des Einbrechers selbst schon verloren hatten; und ahnungslos wiederholte er, zu meinem Besten, seinen ganzen Auftrag. Du wirst hören, wie ich alles mit ihm besprechen werde, daher brauche ich es jetzt nicht zu erzählen.«

»Merkwürdiger Auftrag für ein paar Detektivs von Scotland Yard,« war meine verwunderte Antwort, während Raffles eine etwas ungewöhnliche Bezahlung für den Kutscher hervorholte.

»Scotland Yard?« wiederholte er. »Nein, guter Bunny, das waren keine Augen des Gesetzes; das waren geübte Diebe, die einen andern Dieb fangen sollten und nun für ihre Mühe selbst gefaßt wurden.«

Aber natürlich! In plötzlicher Helle sah ich sowohl ihre Erscheinung wie ihr Benehmen vor mir. Daran hatte ich nie gedacht, ich hatte sie eben nur für die Erzfeinde unsres Berufes gehalten. Weder zum Nachdenken, noch zu einem weitern Wort blieb mir Zeit, denn der Hansom rasselte in den Waterloo-Bahnhof. Und dieser denkwürdige Abend fand seinen Abschluß mit einem scharfen Rennen und gleichzeitigem Sprung in zwei verschiedene Coupés, als der Zug zwölf Uhr zehn in die Nacht hinausglitt.


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