Hans Hopfen
Robert Leichtfuß
Hans Hopfen

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156 Wieder waren ein paar Monate vergangen. Der Winter hatte seine herbste Kälte verbraucht. Erna war von ihrer argen Halskrankheit glücklich genesen. In Roberts Kamin prasselte flackerndes Feuer, in seinen Lampen war Oel, auf seinem Tische stand Brot und Fleisch und Wein, auf seiner Staffelei eine buntbemalte Leinwand, der Triumph der Welkeblätterfarbe, die Symphonie in Gelb.

In der Tiergartenstraße zu Berlin wohnte keine verwitwete Frau Kommerzienrat Meyer mehr, sondern nur eine unnahbar vornehme Freifrau Hermione von dem Stumpe-Wanzebökh, die sich allen und jeden bürgerlichen Verkehrs in kürzester Zeit so vollkommen entwöhnt hatte, daß sie ihrem duldsameren Gatten, wenn er ihr zu größeren Diners und Abendunterhaltungen abwechselungshalber einen ihrer Verwandten aus erster Ehe, oder auch einen vielvermögenden Mann der Stadtverwaltung, oder einen berühmten Künstler, angesehenen Gelehrten, oder sonst bedeutenden Menschen, der nicht von Adel war, einzuladen vorschlug, jedesmal ablehnend die Richtung gab: »Laß doch, Kuno! Wir wollen lieber behaglich unter uns bleiben, und keine Bürgerlichen heranziehen.«

Unweit von der nunmehr hochgebornen Frau Mama, aber nicht mehr im nämlichen Hause mit derselben, wohnte die Freifrau Emma von Wolkenfels, noch ganz erschöpft von der Genugthuung, ihrem zweiten Gatten ein Zwillingspaar, ein schmächtiges Barönchen und ein noch schmächtigeres Baroneßchen, geschenkt zu haben.

Beide Damen hatten sich, offen gestanden, der kleinen Erna in der langen Zeit ihrer Abwesenheit ziemlich entwöhnt und wären, ganz unter uns gesagt, mehr befangen als erfreut gewesen, hätte ein überraschender Wind des Schicksals diese der einen oder der andern wieder in die so ganz veränderte Häuslichkeit hineingeweht. Seit es ruchbar geworden, daß Robert Leichtfuß in Paris gar nicht mehr am Hungertuche nagte und zwar kein gutes, aber wie es schien, doch immerhin ein Auskommen habe, hielt sich die zartfühlende Großmama auch moralisch nicht mehr zu fruchtlosen Versuchen verpflichtet, das kleine Wesen an sich zu ziehen. Es war ja auch hundert zu eins zu legen, daß das kleine, allen väterlichen Eindrücken freigegebene Wesen in der langen Zeit so viel von den Anschauungen, Gewohnheiten und Gepflogenheiten seiner jetzigen Umgebung angenommen habe, daß es nur schwer, nur mit vieler Mühe und nicht weniger Verdruß in die vornehmere Häuslichkeit einzugewöhnen sein, und auch dann vielleicht mehr zu Zwietracht 157 und Beschämung als zu Frieden und Freude beitragen würde. Mein Gott, der Mensch nimmt eben von seiner Umgebung an, im Guten wie im Schlimmen! Die beiden Damen erfuhren die Wahrheit dieses naturwissenschaftlichen Satzes ja eben an sich selbst – wohlverstanden im Guten!

Von keiner der beiden Damen hatte, wie nunmehr die Dinge lagen, Robert Leichtfuß eine Behelligung im Besitze des geliebten Kindes zu besorgen. Um ihn herum war jetzt Frieden und Sicherheit und in seiner Murillostraße vor der Staffelei mit dem Triumph der Welkeblätterfarbe stand so manchmal hinter dem Stuhl des Malers, Erna an der Hand, das schöne Fräulein Sophie Martin, das noch immer einen dicken, blonden Zopf über die vollen Schultern hängen ließ und bei einem Bruder wohnte, welcher die breitesten weißen Krawatten in ganz Paris trug und allsonntäglich in einer protestantischen Gemeinde frommer Schweizer Predigten von mäßiger Langeweile und üblicher Länge hielt.

Als Robert vor dritthalb Monaten mit dem berühmten Kinderarzt zu der kleinen Kranken gekommen war, die von der Wartung und Tröstung der schwatzhaften Aglaë geängstigt und an liebreichere Pflege gemahnt sein mochte, hatte sein Töchterchen plötzlich ganz bestimmt nach Sophien verlangt. Sie bat mit Thränen, der Vater möge ihr doch gleich Sophien holen. Sophie würde gewiß kommen, sie zu pflegen. Sophie würde sich ihrer Erna in so schwerer Krankheit nicht versagen. Sophie hatte ja erst neulich einen so artigen Brief geschrieben und darin gebeten, ob Erna nicht eine und andre Nachmittagsstunde bei ihr verbringen dürfte. Sie wohnte nun nicht mehr in der Rue de Rivoli bei der dicknäsigen Dame mit den zwinkernden Augen, mit welcher sie ein Jährlein als Gesellschafterin Reisen gemacht hatte, sondern bei ihrem Bruder, dem Prediger, welchem sie in der Rue Chauchat die Wirtschaft führte, und ihre Adresse stand genau und deutlich in dem artigen Briefe. Papa hatte gar keine Ausrede, den Brief nicht so zu beantworten, wie Erna nicht müde ward, in ihren Thränen zu erbitten.

Robert konnte seinem kranken Kinde diesen Herzenswunsch nicht abschlagen. Er würde Sophiens Brief ja längst beantwortet haben, wenn sein Elend ihn nicht stumpf und scheu gemacht hätte.

Auf die erste Kunde von ihres Lieblings Gefahr war Sophie in die Rue Murillo geeilt und hatte alsbald Robert Leichtfuß erklärt, daß sie vom Bette ihres ehemaligen Zöglings nicht weichen werde, bis er genesen, und daß der Vater nicht der 158 Mann sei, bei dem kranken Kinde zu wachen und zu warten. Da dieser sich ob solchen Urteils zur Wehre setzen wollte, verbesserte sie ihren Ausspruch dahin, daß er es nicht mehr sei, sie führte ihn vor einen Spiegel und zeigte ihm seine blassen Wangen, seine eingefallenen Augen und riet ihm, wenn er dem mutterlosen Würmchen den Vater erhalten wollte, sich selbst mit aller Aufmerksamkeit zu pflegen. Es sei Gefahr im Verzuge.

Da aber Fräulein Martin durchaus nicht gesonnen sein konnte, mit einem Menschen, wie Robert Leichtfuß immerhin war und sich seinerzeit ihr gegenüber bewiesen hatte, unter einem Dach zu hausen, so ward mit Hilfe des herbeigerufenen Bruders noch am ersten Tage der Ausgleich zu stande gebracht, daß Sophie in die Rue Murillo übersiedelte, während Robert dem Pastor . . . zwar nicht die Wirtschaft führte – die wäre schlimm dabei geraten – wohl aber sein Fremdenstübchen in der Rue Chauchat bezog.

Er konnte trotz der Dankbarkeit, die er der Schwester mit vollem Bewußtsein schuldig war, zu dem Bruder kein herzliches Verhältnis finden. Die steifen Formen einer nach außen gekehrten Frömmigkeit, vielleicht auch das beim Pastor unwissentlich durchscheinende Mißbehagen an der häuslichen Gemeinschaft mit einem so wenig mit dem Wirt übereinstimmenden, nur den weltlichsten Dingen, der scheinenden, gleißenden, in Farben und Formen schwelgenden Kunst wie einer Religion hingegebenen Seele, ließen Robert nicht warm werden in diesem Verkehr. Und wäre der Pfarrer auch ein Engel an Herzensgüte und ein Virtuose des Umgangs und voll Kunstsinn wie seine Schwester gewesen, Robert Leichtfuß war zu sehr im Innersten gedemütigt und verbittert, er fühlte den Druck der eben erst von ihm genommenen Last des Elends noch so schmerzlich und war von den jüngsten Sorgen um seines Kindes Befinden noch so ganz erfüllt im Geiste, daß er doch nur mit halbem Ohr auf den andern gehört und keine Anregung in seiner Gesellschaft gefunden hätte. Sobald die Stunde schlug, da er am Vormittage den Besuch des Arztes bei seiner Erna erwarten durfte, war Robert auch schon in der Murillostraße und verließ dieselbe erst, wenn bei eintretender Dämmerung ihm Sophie lächelnd andeutete, daß nun für die Kranke Nacht und Nachtruhe beginnen müsse.

Die Zwischenzeit kam dem geängstigten Vater sehr kurz vor, und doch war sie lang genug, um die Neigung, die er einst für Sophie empfunden, in Verehrung, und das Wohlgefallen, dem er sich bei der ersten Begegnung nicht entschlagen hatte, in Bewunderung zu verkehren. Er war gerührt, wenn 159 er ihr helfen durfte, und pries Erna glücklich, daß sie von so zarten unermüdlichen und geschickten Händen gepflegt wurde. Das war Hilfe in der Not! Und die beste, die er je von Gott gesandt erhalten!

Dem Diener Gottes, will sagen dem Prediger Martin, gefiel dieser Samariterdienst seiner Schwester ganz und gar nicht. Fühlte sie durchaus den Beruf in sich, Werke der Barmherzigkeit zu üben, so fanden sich ja zu dessen Bethätigung in Paris der Gelegenheiten genug und zu viel. Aber gegen das Kind einer Familie, welche sie in so unschönen Formen verabschiedet hatte, brauchte sie keinerlei Verpflichtungen zu übernehmen, geschweige gar solche Verpflichtungen, welche sie übler Nachrede und Gefahr aussetzten.

Ja wohl, Gefahr! So viel Seelenkenner war Herr Prediger Martin schon von Beruf als Geistlicher im allgemeinen und von Natur als Bruder im besondern Falle, daß er bei jedem Besuche merkte, wie seine Schwester ihre Gedanken nur mehr aus dem Umgang mit Robert und dessen Kinde schöpfte, wie sie mit ihrem ganzen Wesen nur in der Luft dieser engen Krankenstube, die eigentlich eine Malerwerkstatt war, sich heimisch fühlte. Von seinem Standpunkt nahm sich solch ein Gemütszustand wie Verirrung aus, er fürchtete für Sophiens Herzensruhe und nannte Robert Leichtfuß in aller Stille einen Verführer.

Er that ihm unrecht. Robert Leichtfuß hätte von den vierundzwanzig Stunden des Tages jede Minute Sophien gegenüber verbringen dürfen, und es wäre ihm doch nie eine Silbe über die Lippen geschlüpft, welche die Samariterin an einst gehörte Worte gemahnt und ihr die langen Wimpern über die geliebten blauen Augen gesenkt hätte. Er verehrte sie wie eine Heilige, wie die Verkörperung aller Güte, Selbstaufopferung und Nächstenliebe . . . und er verachtete sich selbst.

Da half kein Deuteln, keine Sophisterei, keine Entschuldigung, Robert Leichtfuß sagte sich jetzt jeden Tag wohl hundertmal, daß er mit seiner Kunst nichts weiter sei, als der Handlanger eines Fälschers.

Er war nicht der Mann, zu bereuen. Was er gethan hatte, konnte nicht ungethan bleiben. Wär' es erst zu thun, läge sein Kind wieder hilflos in Todesgefahr vor ihm, und er hätte kein andres Mittel, ihm des Lebens Notdurft und die Sorgfalt eines tüchtigen Arztes angedeihen zu lassen, als daß er seine Hände dem Spitzbuben Lefranc verpachtete, er würde genau wieder so handeln, wie vor dritthalb Monaten geschehen war.

Aber das schloß das Urteil über sich selbst nicht aus. Es 160 ekelte ihn vor seinem Tagewerk, er hatte jeden Morgen stundenlang gegen den Ekel zu kämpfen, mit welchem ihn der Terpentingeruch seiner Farben belästigte, und wenn er sich einmal im Spiegel sah, schlug er den Blick nieder, als fürchtete er auf seiner Stirn ein Brandmal zu gewahren, wie es Sklaven und Sträflinge trugen.

Sein Stolz litt furchtbar unter der Frohne des Händlers, litt still und stumm und in seinen Gram verbissen. Der Gedanke war ihm unfaßbar, daß ein in seiner Selbstachtung so tief erniedrigter Mensch sich um die Liebe eines Mädchens bewerben dürfte, das als ein Muster aller Tugend und Liebenswürdigkeit sich unter seinen Augen erprobt hatte.

Nun war sie lange fort und kam nur ab und an auf einige Minuten mit dem steifen Pastor herauf, um die Genesene ein Viertelstündchen heimzusuchen oder das Kind aus der eintönigen Langweile der Malerstube auf einen Spaziergang oder auch zu längerem Verweilen in der Pfarrerswohnung abzuholen. Robert dachte an Sophie, wie man an Liebes und Gutes denkt. Aber er begehrte ihrer nicht. Er wollte nichts mehr vom unfreundlichen Schicksal begehren als das tägliche Brot und seines Kindes Gesundheit.

Das Schicksal hatte ihn hart geschlagen. Er dachte nur mit Scheu daran, was es ihm noch für die Zukunft aufbewahren möge. Er sah wie eine gewitterschwere Wolke etwas Unbekanntes, Unvermeidliches am Horizonte seines Daseins schweben, was den einst so leichtsinnigen Mann mit Angst beschlich.

Er sagte sich, daß sein Thun und Treiben Strafe verdiene, daß der Frevel an der Ehrlichkeit des Malerhandwerks, zu dem Lefranc seine Bilder verdamme, an ihm nicht ungerochen bleiben werde. Er malte mit der Hast und dem Eifer eines Besessenen, aber er sagte sich, die Strafe wird nicht ausbleiben und diese Strafe wird schwer sein, schwer wie die Vergehen gegen die heilige Kunst, gegen den heiligen Geist!

Wohl zog er sein R und sein L mit brennendem Rot rechts unten in die gelben Blätter seiner Landschaft, er hätte es am liebsten eingeritzt und eingeätzt, wenn es die Leinwand vertragen hätte, allein so oft er dies Zeichen besah, schien es sich ihm vor dem Pinsel zu verzerren, zu zerfließen und einem anderen verlogenen Platz zu machen, das er nicht wegzuwischen vermochte.

Dieser selbstquälerische Gram ging bei dem überreizten Manne manchmal bis zu wirklicher Sinnestäuschung, und er mußte vom Malerstuhl aufstehen und sich die Augen zuhalten, wenn er dem Spuk seiner Einbildungskraft nicht unterliegen 161 und nicht mit dem ersten besten Messer gegen die mühsam hergestellte Schilderei wüten sollte.

Ach, er fühlte sich so jämmerlich, so elend, so geschwächt im Kerne seines Wesens, so krank, daß er sich auch darum verachtete. In seinem Leben hatte nur das Schöne und Gesunde Geltung gehabt. Er war nicht schön und nicht gesund mehr; er war eine Maschine, die mit lächerlicher Virtuosität gelbe Tinten auf gelbe Tinten legte, und darüber hinaus zu nichts mehr gut war und sich nichts Gutes mehr zutraute. Es war ihm, als hätte man ihm das Herz aus dem Leibe genommen, das alte brave, frohsinnige, leichtfertige Herz.

Woher war denn sein Leichtsinn gekommen? Von jener schwindelfreien Sicherheit, damit er auch das schmalste Brett über dem tiefsten Abgrund auf seinem Lebenswege betrat. . . . Wo war jetzt seine Sicherheit hin? Wo war der Wagemut hin? Er hatte die Furcht vor dem nächsten Schicksalsschlag in allen Knochen, wie ein einmal vom Blitz Getroffener sich vor dem aufziehenden Gewitter fürchtet. Diese Furcht war eine physische Empfindung, und er verachtete sich auch wegen dieser körperlichen Schwäche.

Robert war nicht furchtsam geboren. Die Krankheit fürchtete in ihm. Er war krank; ach, so krank, kränker, als Sophie bemerkt hatte, kränker, als irgend jemand wußte.

Auch er wollte lange nichts davon wissen. Wenn er die Nächte schlaflos lag, erst nach seinem Kinde hinüberhorchend, dann seinen eigenen Zustand beachtend, da griff er immer wieder nach einer neuen Zigarrette und rauchte sie langsam zu Ende, er wäre sonst aus dem Bette gesprungen, er hätte aufgeschrieen und sich ein Leids gethan. Er rauchte nächtelang. Wenn er dann eine reichliche Anzahl solcher Dinger in Rauch hatte aufgehen lassen, dann kam so gegen Morgen eine halbe Betäubung über ihn, die er statt des ausbleibenden Schlafes über sich ergehen ließ.

Es erschien ihm selber seltsam, wenn er darüber nachdachte, Tabak und schwarzer Kaffee, zwei Reizungsmittel, die er sonst nie von nöten gehabt und gern entbehrt hatte, waren jetzunder, was er allein zu sich nahm. Das lange Fasten hatte ihn verdorben. Er hatte sich das Essen abgewöhnt. Nun er sich wieder durch Lefrancs Vorschüsse anständig nähren konnte, ging nichts mehr recht in ihn hinein. Er wollte schon, um sich zu besserer Ernährung zu reizen, sich manchmal etwas recht Schmackhaftes, eins seiner alten Lieblingsgerichte, vorsetzen lassen; aber er hatte, wenn die Schüssel erst unter seiner Nase dampfte, keine Freude daran, und zwang er sich die Brocken in den Rachen, 162 so vertrug er sie doch nicht. Sein verdorbener Magen assimilierte nichts mehr. Da halfen denn schwarzer Kaffee und Zigarretten wieder aus. Er wunderte sich, daß man dabei bestehen konnte, aber er kam doch merklich genug immer tiefer herunter.

Sophie und der Pastor stellten ihn wohl zur Rede, weil er so blaß aussah und abmagerte. Was half ihr Reden! Robert konnte nicht mehr ohne schwarzen Kaffee und ohne Zigarretten arbeiten. Und er mußte mit aller Anstrengung arbeiten.

Um das gelbe Bild zu vollenden, hatte er nicht nur bei dem kurzen winterlichen Tageslicht, sondern auch tief in die Nacht hinein beim grellen Schein der Reflektoren gemalt, die Farbenskizzen, die er noch während Ernas Krankheit im Freien voraus gemacht hatte, lagen zu Dutzenden um ihn herum. Sie schienen ihm aufzuleben wie die Natur, wenn er eine nach der andern in die Hand nahm und sie unter dem unerbittlichen grellen Lampenschimmer mit seinem Bilde verglich. Es war in kurzer Zeit zur Vollendung gebracht worden. Dies war aber nur durch Ueberspannung seiner Kräfte möglich gewesen. Gleichviel, wenn er den Frondienst nur erst vom Halse hatte!

Nun es aber fertig vor ihm lag, wollt' er das Bild nicht sogleich weggeben. Lefranc, der anfangs um seinen Vorschuß sehr besorgt gewesen, war bald nach Ernas Genesung unversehens in Roberts Wohnung gekommen, und da das Bild ihn wider eigenes Erwarten schon im unvollendeten Zustande gefangen nahm, kam er öfters. Leichtfuß that keinen Schritt mehr auf den Boulevard des Italiens, da mußte sich eben Lefranc selbst die fünf Treppen der Rue Murillo hinaufbemühen, um sich zu überzeugen, daß sein Handlanger flott bei der Arbeit und das Bild, darein er keine geringen Hoffnungen setzte, nicht etwa andre Wege ginge, die seiner Bude seitab führten.

Lefranc traute keinem Menschen. Auch Robert nicht ganz. Robert sah so elend aus, daß dem Händler manchmal bange wurde, ob jener die ausbedungenen drei Bilder hintereinander zu malen fähig sein werde. Daß ein Maler rauchte und schwarzen Kaffee trank, wenn solche Reizmittel seine Kräfte auffrischten, fand er ganz gewöhnlich. Er stritt sich ab und an auch mit Sophien und dem Pastor darüber. Und konnte er auch die schädliche Einwirkung auf den Organismus des Malers nicht ganz leugnen, so meinte er, großmütig, wie er war, aus der Kunstgeschichte beweisen zu dürfen, daß die Künstler eben auf die Welt kämen, um verbraucht zu werden, nicht um sich zu schonen. Das sei Naturgesetz!

Und nun war das gelbe Bild wirklich fertig, und Robert 163 Leichtfuß wollte es nicht abgeben! Der Maler fand immer noch etwas zu tüfteln, zu stricheln, zu vollenden daran! »Reiner Eigensinn, pure Thorheit!« rief der Händler. Meinte man doch die welken Blätter von diesen Zweigen fallen zu sehen, ach, man meinte schier zu hören, wie sie durch die Herbstluft so leise an unsern Ohren vorbeischwirrten und an den andern älteren Blätterwust sich rauschend anschmiegten. Und dieses herbstlich milde Licht über dem Ganzen! Lefranc verstand was von der Sache, er versicherte Robert, das Gemälde sei fertig, sei vollendet, sei einer der besten Tiburtins, die er je gesehen hätte!

Wie viel Zeit hatte der leichtsinnige Robert verloren! Er solle nicht weiter Zeit verlieren, sondern an das zweite Bild sich machen. Das zweite Bild: Wald und Fluß bei einbrechender Nacht!

Seit Lefranc die Symphonie in Gelb so über Erwarten gelungen vor sich sah, versprach er sich von der nächsten Arbeit ein ebenbürtig Meisterstück – Tiburtins.

Robert ließ ihn reden, und als er gegangen war, fing er an, in alten Sachen zu kramen, bis er ein Bild fand, das er im ersten oder zweiten Jahr nach seiner Hochzeit in einer wunderlichen Anwandlung, wie zur Erholung von seinen verdammten monumentalen Preisbewerbungen, auf dem Lande nach der Natur gemalt hatte. Jene Spreelandschaft, in der Niederlausitz begonnen, aber nicht ganz vollendet.

Er wischte von dem Bilde den Staub und betrachtete es lange, lange. Das war aus jener Zeit, wo er, wie es die Leute nennen, eine reiche Heirat gemacht hatte und solch eine Landschaft ohne Zweck, wie um sich selbst auszuhöhnen, hinpinselte. Und daran hatt' er seitdem nicht mehr gedacht! Eine recht eigentümliche, recht unbehagliche Regung seiner Gedanken rief ihm dies Machwerk ins Gedächtnis, einst halb verworfen, jetzt ein Fund, der Lefranc an die Decke springen lassen möchte, wenn es nur eine französische Landschaft wäre. Freilich, in der Niederlausitz war Tiburtin nie gewesen! Robert vollendete das fast schon vollendete Bild in wenigen Wochen neben dem Entwurf eines andern. Dazu nahm er alle Motive aus der Spreelandschaft, nur setzte er sie aus Tag in Dämmerung, aus sonnigem Frieden in wehenden Sturm über. Er hatte eine eigene Freude daran, eine bittre Freude, sich also an alten Gedanken festzuhalten, und dabei gestand er sich, daß er im Augenblick sich nicht mehr für fähig hielt, neue Gedanken zu schöpfen. Er fühlte sich unfähig, ein neues Bild zu 164 komponieren. Aber das alte regte ihn an, dieselben Motive in anderer Beleuchtung und Stimmung wiederzugeben. Er war in seiner Not auch das zufrieden. Er malte sozusagen, während er sich von der Vergangenheit die Hand führen ließ. Doch machte das zweite Bild langsam Fortschritte.

»Was schaffen Sie denn da?« fragte Sophie, als sie bei einem Besuch im Februar den fertigen Wald und den werdenden nebeneinander auf den Staffeleien sah.

»Setzen Sie sich, verehrte Freundin!« antwortete Robert, indem er ihr einen Stuhl zu seinem Schemel rückte. »Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, eine recht traurige Entdeckung, deren ich mich schon nicht mehr erwehren kann. . . . Aber wir wollen Erna für ein Weilchen in die Schlafstube schicken. Sie macht mit der kleinen Harmonika, die Sie ihr mitgebracht haben, zu viel Lärm bei unserm Reden. Komm, Mäuschen!«

Wie jämmerlich er aussieht! Und was für schleppenden Gang er hat! dachte Sophie, während sie ihn betrachtete, da er Erna bis zur Thüre des Nebenzimmers geleitete und dieselbe dann hinter ihr zuschloß. Was er Sophie zu sagen hatte, war nicht für des Kindes zärtliche Ohren.

Er schien ihr, wie er, mit den Händen voraus, von der Thüre zu seinem Schemel zurückschlich, noch blässer und magerer und betrübter geworden, als da er eben vom Schemel zur Thüre geschlichen war, und unwillkürlich rief sie das lachende Bild des aufrechten Mannes vor ihre Erinnerung, der an einem Maienabend im Atelier der Tiergartenstraße vor ihr stand und nach ihrem Herzen zielte, lächelnd, strotzend in Kraft und Gesundheit, selbstsicher, siegesgewiß wie eine apollinische Erscheinung.

Der blasse Mann von heute brach auf seinem Schemel zusammen, schöpfte mühsam Atem und fuhr dann mit hastiger, flackernder Stimme zu reden fort:

»Sie fragen mich, was ich schaffe? Ich sorge vor, meine Liebe. Sorge vor für einen bedenklichen Moment, der nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Lefranc darf dies Bild hier . . . dies zur Linken, das fertige mein' ich, nicht sehen. Noch nicht sehen! Er wird es später teuerer bezahlen, als er es jetzt bezahlen würde. Er wird es vielleicht sehr teuer bezahlen . . .«

»Später? wann? Sie ängstigen mich mit solchen dunklen Andeutungen . . .«

»Lassen Sie mich ausreden, teure Freundin . . . ich darf doch Freundin zu Ihnen sagen? Nicht wahr? Sie sind ja Ernas 165 Freundin, lassen Sie mich ein bißchen teilhaben an Ihrem reichen Herzen . . . und hören Sie geduldig zu. Ich habe Lefranc drei Bilder in der Weise eines hier und in Amerika bei Sammlern sehr beliebten Landschafters zu malen versprochen. . . . Ob ich das zweite – dies hier auf der Staffelei rechts von mir – das im vorigen Monat begonnene, vollenden werde, weiß ich nicht. . . . Ich hoff' es. . . . Es wäre traurig, wenn ich es nicht vollenden könnte, denn was ich am ersten Bilde verdient habe, würde nicht lange vorhalten, mich und Erna vor Not zu schützen. Aber, wie gesagt, ich hoffe, dies noch so oder so vollenden zu können. Ich bin Tag und Nacht dabei . . .« (Er zögerte sichtlich, das zu sagen, was er sagen wollte. Darum schob er noch dies und das ein, bis er endlich fortfuhr.) »Für das dritte Bild kann vielleicht, wenn ich außer stande sein würde, dasselbe zu malen, dies da aus meiner Berliner Zeit eintreten. Aber Lefranc darf vorher nicht wissen, daß es da ist, sonst jagte er mir's gleich jetzt ab und zu seinem Spottpreise. Wenn ich aber kein andres mehr malen kann, wird es bei ihm im Preise steigen . . . daß ich aber das dritte Bild zu malen nicht in der Lage sein werde, das, teure Freundin, weiß ich gewiß!«

»Wie sollen Sie das wissen!« entgegnete Sophie, welche die Verpflichtung fühlte, mit ihm wie mit einem Kranken nur von froher Hoffnung zu reden. »Freveln Sie nicht!«

»Mir ist nicht frevelhaft zu Mute, wahrlich nicht!«

»Nicht? Ich nenn' es so, wenn Sie glauben, Sie werden, ehe Sie das dritte Bild vollenden, sterben!«

»Sterben? Schlimmer, Sophie! . . . Ich werde erblinden!«

»Um Gotteswillen, was reden Sie?«

»Und ich glaub' es nicht nur, ich weiß es bereits! . . . O Sophie, es ist schrecklich, nicht sehen zu können! Nicht sehen, wenn man sein ganzes Lebelang nur durch die Augen gelebt hat! . . . Des Künstlers vornehmstes Werkzeug, weit wichtiger als seine Hand, sind seine Augen. Die packenden Maleraugen, mit denen er in die Welt sieht wie ein König, dem alles unterthan ist, mit denen er aus der Welt herausgreift, was der Verewigung wert ist, mit denen er gestaltet, neu schafft, was der Verewigung, der Wiedergeburt durch die Kunst geweiht werden soll. Mit diesem vornehmsten Werkzeug des Künstlers habe ich gefrevelt. Ich hab' es entwürdigt, indem ich es in den Dienst eines Spitzbuben gestellt habe, der davon lebt, daß er den Leuten überm Meer meine Bilder als Bilder eines andern verkauft. Ich habe mich des eigenen Sehens entschlagen, um mit den Augen eines andern zu sehen. Nun straft mich 166 Gott an meinen Augen. Er will solchen Mißbrauch nicht, er will nicht, daß man sein eigenstes Selbst preisgebe und als Affe eines andern auf dem Markte fremde Kunststücke mache. Und Sie wissen als fromme Bibelgläubige, es ist ein strenger grausamer Gott. Er straft mich hart. Er schlägt mich mit Blindheit und schlägt mir damit den Pinsel aus der Hand. Ich werde nicht lange mehr an der Kunst und an der Wahrheit freveln.«

»Sie freveln an Gott, wenn Sie so reden, wenn Sie so denken! Mein Gott ist ein Gott der Liebe, der Barmherzigkeit und der Nachsicht. Er ist kein heidnischer Moloch, er wird Sie nicht strafen, weil Sie Ihr Kind vom Tod und vom Hunger errettet haben, indem Sie einem Meister nacheiferten, der es wohl verdient, daß man in seine Schule gehe!«

»Sie werden aus Freundschaft zur Sophistin.«

»Ich werde recht behalten in meinem Glauben, und Sie werden ihrer entsetzlichen Hirngespinste mannhaft Herr werden und Sie werden nicht erblinden!«

»Ich bin es schon!« sagte Robert, und Sophie schrie laut auf und sprang empor, ihm in die Augen zu starren.

Er fuhr fort: »Ich bin es stückweise . . . minutenlang . . . viertelstundenlang. Ich glaubte anfangs selber nicht daran. Der Gedanke ist ja zu gräßlich, um leicht gefaßt zu werden. Ich hielt es für vorübergehende Störung, für Einbildung, für Gott weiß was. . . . Mir wird manchmal, als schiebe mir einer eine Hand vor die Augen, eine weiße, flache, runzellose Hand. Und die Hand wächst in die Breite, in die Länge, es ist kein Ende abzusehen, sie bedeckt das ganze Sehfeld. Das kam erst nur so im Husch und war vorüber. Und dann kam's öfter und blieb länger. Entsetzlich lange! Dem Blinden dehnen sich die Minuten . . . und nun . . .« (Er schlug die Hände vor beide Augen und hatte Mühe, seine Erregung zu bemeistern und weiterzufahren.) »Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt, wenn ich gesagt, daß ich minutenlang, viertelstundenlang blind sei. Das war früher. Jetzt ist es anders. Ich sehe für gewöhnlich nichts, und nur durch Kaffee- oder Theetrinken verschaffe ich mir die Fähigkeit, eine, oder anderthalb Stunden sehen und malen zu können. Ich kann nichts anders mehr zu mir nehmen, aber durch den Kaffee kläre ich mir die Augen und banne die Blindheit auf Stunden. Das heiße Getränk allein gewährt mir die Möglichkeit, mit Pinsel und Farben auf der Leinwand zu arbeiten. Aber auch dies Reizmittel wird seine Kraft abstumpfen. Ich habe schon jetzt die fatale Bemerkung machen müssen, daß die Gnadenfristen kürzer werden, 167 daß die Wirkung zusammenschwindet. Wo ich vordem für mehrere Stunden fähig war, den bösen Geist der Finsternis zu bannen, ist es jetzt kaum eine Stunde mehr. Manchmal wenig über eine halbe! Ich verdopple die Kaffeeportionen, ich wechsle mit Thee, manchmal auch mit heißer Suppe ab. Die Wirkung dehnt sich doch nicht auf längere Zeit mehr aus. Sie schrumpft merklich ein. Eines Tages wird sie ganz ausbleiben. Dann bin ich gerichtet und dann gute Nacht, Kunst! Gute Nacht, Sophie! Gute Nacht, Erna! Gute Nacht, Liebe und Leben!«

Er vermochte nicht weiter zu sprechen. Er schluchzte in sich hinein und starrte vor sich hin.

Sophie fragte: »Aber haben Sie sich denn keinem Arzt anvertraut? Es gibt ja in Paris vorzügliche Augenärzte! Ihnen muß doch noch zu helfen sein!«

Robert schüttelte verneinend das Haupt. »Ich habe einen und andern freilich gefragt. Sie haben mir die Augen untersucht nach allen Regeln der Wissenschaft; der eine meinte, er fände nichts Anormales in meinem Gesicht; der andre meinte, ich wäre nervenkrank; beide wußten mir nicht viel anders zu raten, als für Jahre das Malen aufzugeben, aber keiner konnte mir anvertrauen, wovon ich dann mein Kind und mich ernähren sollte. Und da auch keiner mir die Versicherung geben konnte, daß ich, wenn ich ihm folgte und die Hände in den Schoß legte, meine alte Sehkraft unverkürzt wiedergewinnen würde, so bleibt mir als ehrlicher Mann nichts andres übrig, als zu malen und zu malen, solang es eben einigermaßen noch geht, und den völligen Einbruch der Nacht und der Verzweiflung mit gefaßtem Herzen zu erwarten. Ich will wenigstens Künstler sein bis zum letzten Augenblick, der mir noch vergönnt ist!«

Sophie war so entsetzt von der schrecklichen Enthüllung, daß sie keinen Trost zu finden und keinen zu geben vermochte. Sie wußte, Robert war ein wahrhafter Mensch und nicht von der Art, die mit Leiden prunkt und mit Hoffnungslosigkeit wichtig thut. Er sagte eher weniger, als er litt, nie mehr! Das wußte sie. Selbst der schwache Schimmer von Hoffnung, daß ihr Freund sich wider Willen über seinen Zustand täuschte, hielt nicht vor. Wer so in seinen Augen lebt, wie ein Maler, kann flüchtige Anwandlungen nicht für ein mehr und mehr um sich greifendes Leiden erachten. So blieb ihr nur die eine Hoffnung auf die tüchtigsten Aerzte, und sie sprach es aus, daß sie nicht ruhen und rasten werde, bis sie ihm diesen und jenen berühmten Mann ins Atelier schleppe, wenn er selbst sich nicht dazu verstehen wolle, die gelehrten Leute in ihren Sprechzimmern aufzusuchen.

168 »Ich kann mir die Zeit nicht zu solchen brotlosen Versuchen nehmen,« erwiderte Robert trotzig. »Ich muß malen, malen, sonst wird Lefranc böse. Den Kerl aber muß ich mir bei liebenswürdiger Laune erhalten, denn er ist der einzige Mensch in Paris, der mir für meine Pinselstriche Geld gibt. Und ich muß jetzt für ein paar Jahre vorsorgen, bis ich ganz und gar einem Blindeninstitut verfalle.«

»O über den Leichtsinn, der unausrottbar in Ihnen ist!« jammerte Sophie. »Wie vordem mit Ihrem Glück, Ihrem Leben, Ihrem Talent, so verfahren Sie jetzt mit Ihrer Gesundheit! Ihr Augenlicht muß noch zu retten sein! Ich will, ich werde es retten, wenn ich auch noch nicht weiß wie. Aber wenn ich Sie einsperren und binden lassen müßte, um Sie zu heilen, ich will es!«

»Sie sind hart gegen mich in ihrer Teilnahme,« sagte Robert. »Und doch macht mich Ihre Teilnahme noch mitten im Elend glücklich.«

Sophie senkte den Blick zur Erde und stand mit sich selbst ringend vor ihm da. Er suchte nach ihrer Hand und hielt sie fest, indem er fortfuhr, zu sprechen: »Wenn ich Ihnen nach und nach wirklich etwas geworden bin, und Sie mir Ihr Mitleid, Ihre Freundschaft nicht mehr entziehen wollen, auch – nachher nicht, so erhören Sie eine Bitte! Ein Erblindeter darf ja fast wie ein Sterbender kühne Bitten wagen. Gönnen Sie mir in den Tagen, die schon gezählt sind, gönnen Sie mir in den lichten Stunden, die ich noch haben werde, die Wonne und Weihe ihres Anblickes! Sophie, lassen Sie mich in die Nacht, die mir bevorsteht, die Erinnerung an Ihr liebes Gesicht so klar und sicher mit hinübernehmen, als es einem Menschen möglich ist, sich mit den letzten Kräften seines Sehvermögens an einem holden Anblick vollzusaugen. Dann wird meine Nacht nicht ganz finster sein. Die erloschenen Augen wird noch ein Licht der Erinnerung erhellen, die Erinnerung, wie Sie und das Kind ausgesehen haben! Geizen Sie jetzt nicht mit Ihrem Anblick! Kommen Sie alle Tage, bleiben Sie stundenlang! Ich bitte Sie, Sophie! Sitzen Sie neben meiner Arbeit hin, sie wird mir so leichter werden, sie wird mir flinker von der Hand gehen, wenn ich die armen Augen von der Staffelei auf Ihre geliebte Erscheinung und von Ihnen wieder auf die Staffelei wenden kann. Sie sind so schön jetzt, Sophie! So schön, wie Sie nie vordem gewesen sind, nie wieder werden werden, in der vollen glücklichen Entfaltung aller äußeren Gaben, die Ihnen die ungleich verteilende Mutter Natur zuerkannt hat. 169 Ich werde Ihr Bild in meinem Gedächtnis behalten so schön, wie Sie jetzt sind. Sie werden mir nicht altern! Niemals! Ewig jung und schön werden Sie neben mir stehen! Sehen Sie, das ist auch wieder so ein Glück im Unglück! . . . Nicht wahr, Sophie, Sie gewähren mir diese Gnade? Nicht wahr, Sophie, Sie kommen täglich, auch wenn Ihr Bruder Sie nicht begleiten kann? Was soll Ihnen ein Schutz gegen den gebrochenen geschlagenen Mann, der kaum der Schatten mehr von Robert Leichtfuß ist! Der bald nur tastend sich von Ort zu Ort behelfen können wird! . . .« Der Gedanke schien ihn jetzt furchtbar zu erregen. Er schlug ungeduldig vor seinem Kinn mit den Knöcheln der Finger gegeneinander. In seinen Zügen malte sich eine Angst, die er bislang nicht hatte Herr über sich werden lassen. Er sah sich in seinen Gedanken offenbar ganz hilflos. »Sophie!« schrie er auf, »nicht wahr, wenn die große Nacht einbricht, Sie werden mich nicht verlassen!«

Sie hob ihr Angesicht jetzt empor, und wie heftig auch der Kampf in ihrer Brust gewogt hatte, derweil er gesprochen, jetzt war sie klar und fest, und mit der ruhigen hellen Stimme der Entschlossenheit sagte sie: »Ich werde Sie nicht verlassen. Ich will die lichten Tage, die Ihnen noch geschenkt sein werden – und ich hoffe zu meinem Gott, daß es noch viele, viele sein werden – neben Ihrer Staffelei sitzen; und sollte das Entsetzliche, was Sie kommen fühlen und was Gott gnädig abwenden möge, wirklich eintreten, nein, Robert Leichtfuß, ich werde Sie nicht verlassen, sondern Ihr Stab und Ihre Stütze sein, bis diese Stütze selbst einmal zerbricht!«

»Sophie!« rief Robert, der die Kraft des Glaubens verloren hatte.

»Hier meine Hand darauf, hier meine beiden Hände!« sagte das Mädchen, und er sank vor ihr zusammen, die schönen kleinen Hände an seinen Lippen. Seine Kraft war erschöpft. Die heftige Gemütsbewegung brachte ihn einer Ohnmacht nahe. Er sah Sophien nicht mehr vor sich und hielt sich an ihren Faustgelenken fest, als müßt' er sonst vor ihr in bodenlose Tiefe fallen.

Da pochte man an die Thüre des Nebenzimmers. Klein-Erna ward denn doch die Zeit zu lang, und sie beklagte sich laut, daß man sie unerbittlich von Sophien abschließe, die ohnehin ein so seltener Gast sei.

Die Schweizerin ließ ihre kleine Freundin ein und sagte ihr, daß sie nun oft, daß sie täglich kommen und ihren armen Papa pflegen würde.

170 »Und du wirst ihn auch wieder essen lehren!« rief das Kind, »nicht wahr? Wenn ich so wenig äße, möcht' ich die Schelte sehen! Papa ißt eigentlich gar nichts mehr. Schilt ihn einmal!«

Sophie legte den Finger auf den Mund und wies ihr die zusammengekauerte Gestalt des Vaters. Das Kind stürzte auf Robert zu und umschlang ihn und Sophie mit klammernden Aermchen, seine Küsse zwischen beiden teilend. Nie ist eine Verlobung unter so tiefer Wehmut vollzogen, nie so viel Wehmut mit so durchdringendem Gefühl geheiligt worden, wie in diesem Augenblick.

Das Abendrot warf seine vergoldenden Strahlen über die drei in Leid und Lust verbundenen Menschen, auf die Symphonie in Gelb, auf Wald und Fluß im Sonnenschein, auf Wald und Fluß im Sturme und die übrige so bescheidene Häuslichkeit des armen Malers.

Noch einige Minuten in schweigendem Einverständnis miteinander zugebracht, dann wand sich Sophie aus den Armen Ernas. »Auf Wiedersehen morgen, ihr meine Lieben!« sagte sie und ging. Das Kind schmiegte sich an den Vater, der stumm sein Haupt verhüllte.

Langsam kam die Nacht.



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